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1894 veröffentlichte Ricarda Huch ihren ersten Roman "Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren", der von allen kompetenten Beurteilern als die erste Probe eines ungewöhnlich starken und eigenartigen Talents erkannt wurde. Die folgenden Romane haben Huchs hervorragende Begabung immer klarer zutage treten lassen und ihr einen Leserkreis gewonnen, der mit Spannung jeder ferneren Gabe der Dichterin harrt. Auch " Von den Königen und der Krone" offenbart in der groß angelegten und durchgeführten Komposition wie in allen Einzelheiten eine reife künstlerische Meisterschaft. Ricarda Huch liebt es, in die Erzählung symbolische Momente einzuführen. Diesmal beginnt sie mit einem halb sagenhaften Geschlecht uralter Herrscher, um uns die Schicksale der letzten Abkömmlinge dieser von ihrer Höhe gestürzten Könige vorzuführen. Der Roman offenbart in jeder Zeile die Eigenart der Dichterin und ihre wunderbare Gestaltungskraft; er ist ganz und gar persönlichste Kunst und fesselt ebenso sehr durch die Kraft der Charakteristik und die Feinheit der psychologischen Beobachtung wie durch die oft an Böcklin gemahnende Glut des Kolorits.
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2025
Von den Königen und der Krone
RICARDA HUCH
Von den Königen und der Krone, Ricarda Huch
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783988681751
Der Text folgt der Ausgabe des Jahres 1922 erschienen im Insel Verlag Leipzig, abrufbar unter https://www.google.de/books/edition/Von_den_K%C3%B6nigen_und_der_Krone/hhJGAQAAIAAJ?hl=de&gbpv=0 (1922).
www.jazzybee-verlag.de
I1
II4
III5
IV.. 7
V.. 9
VI11
VII13
VIII17
IX.. 19
X.. 20
XI23
XII25
XIII27
XIV.. 28
XV.. 29
XVI33
XVII34
XVIII37
XIX.. 41
XX.. 43
XXI47
XXII52
XXIII54
XXIV.. 55
XXV.. 61
XXVI66
XXVII68
XXVIII70
XXIX.. 73
XXX.. 75
XXXI77
XXXII78
XXXIII81
XXXIV.. 83
XXXV.. 85
XXXVI86
XXXVII87
XXXVIII88
XXXIX.. 92
XL.. 94
XLI95
XLII96
XLIII98
XLIV.. 100
XLV.. 101
XLVI104
XLVII106
XLVIII107
XLIX.. 108
L.. 110
LI111
LII114
LIII117
LIV.. 118
LV.. 126
LVI128
LVII129
LVIII131
LIX.. 134
LX.. 137
LXI138
LXII140
LXIII144
LXIV.. 146
LXV.. 148
LXVI150
LXVII151
LXVIII154
LXIX.. 157
LXX.. 159
LXXI161
LXXII163
LXXIII165
LXXIV.. 167
LXXV.. 171
LXXVI173
LXXVII174
LXXVIII176
LXXIX.. 178
LXXX.. 179
LXXXI180
LXXXII184
LXXXIII186
LXXXIV.. 188
LXXXV.. 191
LXXXVI193
LXXXVII194
LXXXVIII195
LXXXIX.. 198
XC.. 201
XCI202
XCII204
In dem ödesten Teil eines furchtbaren Gebirges, das die Küsten des Adriatischen Meeres beschattet, lag das uralte Dorf Morimont, ein Haufe von Hütten, wo versteckt unter andern Familien die Nachkommen der Könige lebten, die einst Land und Meer weit hinaus beherrscht hatten. Das Volk selbst behauptete, von den Ureinwohnern des Landes, nämlich den Liburnern, abzustammen und das Reich an die Römer verloren zu haben, in Wirklichkeit mochten sie wendischen Ursprungs und von Ungarn oder germanischen Franken zurückgedrängt worden sein. Die an der Küste und auf den Inseln ernährten sich vom Fang der Fische, Austern und Schwämme oder arbeiteten auf den Schiffswerften; die im Gebirge und namentlich die Bewohner der sogenannten verlorenen Berge, wo Morimont lag, lebten in schrecklicher Armut als Steinklopfer oder Jäger. Auch verfertigten einige Frauen altertümliche Webereien und Stickereien, Künste reicher Vergangenheit, die langsam mit den Geschlechtern zu Grunde gingen.
Keiner lebte in solcher Verwilderung und Dürftigkeit wie der König, dessen Ahnen die mächtigen Stämme glorreich regiert hatten. Als das Volk, so überliefert die Sage, besiegt und geknechtet war, hörte es doch nicht auf, die Wiederherstellung seiner Herrlichkeit zu erhoffen, und bewahrte der gefallenen Königsfamilie, mit der es die Herrschaft unauflöslich verbunden glaubte, wankellose Treue. Damit aber der Verdacht der Sieger, die dem König und seinem Geschlecht nach dem Leben stellten, nicht auf den rechten falle, trugen sie Sorge, dass er ihnen durch kein äußeres Hervorragen in die Augen steche und wiesen ihn in die Niedrigkeit, ja sie behandelten ihn besonders bei öffentlichen Gelegenheiten anstatt ehrerbietig herablassend und geringschätzig wie einen Rechtlosen. Entschädigung für solche Bitterkeiten waren anfänglich gewisse Abgaben an Nahrungsmitteln, Eiern, Schafen, Ziegen, Hühnern und Wein, und eine feierliche Huldigung, die nicht nur beim Antritt einer Nachfolge, sondern jedes fünfte Jahr in tiefster Heimlichkeit und unter alten, seltsam unverständlichen Gebräuchen geleistet wurde. Bei dieser Gelegenheit schmückte den unglücklichen König eine goldene Krone, schwarz von Alter und ungestalt, die zu verwahren und gegen Räuber bis zum Tode zu verteidigen sein Amt war. Hätte er sie sich entwenden oder entreißen lassen, wäre das Volk befugt gewesen, ihn ohne Urteil zu töten. Mit der Zeit kamen Abgaben und Huldigung außer Übung, aber die Gewohnheit blieb, die Familie des Königs als eine von den übrigen abgesonderte anzusehen, an der jede böse Lust ungestraft ausgelassen werden durfte.
Dass das Geschlecht des Königs diesen Unbilden nicht erlag, sondern sich bis in die neueste Zeit erhielt, rührte von einer ihm eingeborenen Kraft und Ehrliebe her, die es vor Kleinmut oder Laster schützte. Lastari, der letzte König, arbeitete als Taglöhner in den ungeheuren Steinbrüchen des Gebirges, hatte aber, wie er auch äußerlich groß, breit, feueräugig und wildblickend war, einen höheren und trotzigeren Sinn als seine Vorfahren, verschmähte seine niedrige Beschäftigung und nährte heimlich einen ruhelosen Drang in die Welt hinaus, weniger um ihre Freuden zu genießen, als um zu lernen und durch Kenntnisse und Geschicklichkeit Macht zu erwerben. Was ihn einigermaßen bändigte und zurückhielt, war die Liebe zu einem Mädchen, Namens Rojenice, die er auch heiratete und fortwährend so verehrte, dass er Wildheit und Eigenwillen ohne weiteres unter ihrem freundlichen Wunsche beugte. Sie stammte aus einer Familie, die nicht in Morimont, sondern in einer fruchtbaren Talsenkung des Gebirges ansässig war, von jeher dem Königsgeschlechte Frauen geliefert und ein großes Ansehen genossen hatte. Nicht lange nachdem Rojenice dem Lastari drei Kinder, ein Mädchen und zwei Knaben, geboren hatte, starb sie, aufgezehrt noch mehr von der ungezähmten Leidenschaft des Mannes als von der Härte ihres armseligen Lebens. Lastaris Schmerz über den Todesfall äußerte sich als eine Gemütsverwirrung, die bald in gefährlicher Raserei ausbrach, bald in brütende Traurigkeit überging und den Leuten Gelegenheit gab, sich wegen der Furcht, die er ihnen früher eingeflößt hatte, an ihm zu rächen. Sie sperrten ihn nämlich, damit seine Tollheit keinen Schaden stifte, in einen finsteren, schmutzigen Stall ein, wo sie ein paar magere Schweine fütterten, versorgten ihn nachlässig mit Brot und Wasser und beantworteten seine Drohungen, Klagen und Vorstellungen nur mit Beschimpfung und Neckerei. Indessen rettete ihn nach kurzer Zeit seine neunjährige Tochter Surja, die inzwischen die beiden Kleinen, den siebenjährigen Lasko und den zweijährigen Dragaino, wie eine Mutter gepflegt hatte; sie ging zu dem Stalle hin, wo er war, und schalt die Leute, die sich ihr in den Weg stellten, mit so herrischen Worten, dass sie sich verwundert und gedemütigt zurückzogen und zusahen, wie sie den Vater herausließ und davonführte. Noch in derselben Nacht erhob sich aber ein erbitterter Streit zwischen ihm und dem mutigen Kinde, da er augenblicklich mit ihr und beiden Söhnen fort, aufs Geratewohl in die Welt wollte. Er wusste, dass er, wenn er länger im Dorfe bliebe, Rache an seinen Peinigern nehmen würde, und wollte sich selbst vor der Mordlust schützen, die in ihm bohrte, außerdem aber überhaupt dem alten Wanderdrange folgen, nun ihn nichts mehr an die verhasste Umgebung fesselte. Surja hingegen glaubte den Ort, wo sie geboren und wo ihre Mutter begraben war, wo die Geister der Könige in heiligen Mitternächten die verborgene Krone suchten und segneten, nicht verlassen zu dürfen, und setzte ihren Willen mit sanfter Hartnäckigkeit dem Vater entgegen. Zwar musste sie ihm wohl oder übel den langen, beschwerlichen Weg zur Küste hinunter folgen, als aber gegen Morgengrauen Lastari unweit des Meeres Halt machte und einschlief, verließ sie ihn, um unbemerkt den Rückweg nach Hause anzutreten. Ihr bitterster Schmerz war, dass sie Lasko nicht mitnehmen konnte, der wohl auch lieber in Morimont geblieben wäre, sich aber doch von seinem Vater nicht hätte trennen lassen; ohne Dragaino indessen, den Kleinen, der der Mutterpflege noch nötig bedurfte, würde sie nicht gegangen sein. Also nahm sie das schlafende Kind auf den Arm und schleppte sich den hohen breiten Berg wieder hinan in die Einöde, während Lastari und Lasko ungestört weiterschliefen. Der durch die vorangegangenen Leiden und Aufwallungen erschöpfte Mann schlief so fest, dass erst um die Mittagszeit Laskos Weinen, der, erwachend, Surja und Dragaino vermisste, ihn weckte. Er begriff sogleich, was das Mädchen getan hatte, beschloss aber trotzdem, ja eigentlich nun erst recht, seinen einmal gefassten Plan auszuführen. Um seine Kinder bangte er nicht; denn er vertraute der stillen Kraft des zarten Kindes Surja unbedingt und wusste, dass die Anverwandten seiner Frau sie nicht im Stich lassen würden.
Es wurde dem schönen, kräftigen und begabten Manne nicht schwer, Arbeit und guten Lohn zu finden; nachdem er eine Zeitlang an einer Werft tätig gewesen war, fand er Anstellung bei einer Marmorfabrik in Italien und brachte es bis zum angesehenen und einträglichen Posten eines obersten Aufsehers. Allein sein Stolz und sein Drang, überall der erste zu sein, wenn sie ihm auch vorwärts halfen, verwickelten ihn oft in Misshelligkeiten mit seinen Arbeitgebern, was zusammen mit Wanderlust und Heimweh ihn nirgends zufrieden werden und festwurzeln ließ. Im Grunde betrachtete er jeden Ort nur als Aufenthalt auf dem Wege zur Heimat, die er mit Worten stets herabsetzte und verfluchte, und wohin er um keinen Preis zurückkehren wollte, bevor er Reichtum und Ansehen gewonnen hätte. Ganz anders geartet war der arme Lasko, dem es, da er das steinerne Haus in den verlorenen Bergen hatte verlassen müssen, nur darum zu tun war, irgendwo bleiben und heimisch werden zu dürfen. Sein mutterloses Herz suchte nach einer weichen, starken Erde, wo er einwachsen könnte, die alle seine Freuden und Sorgen tragen, und in der er einst begraben liegen würde; die trübste Stätte, wenn er eine Zeitlang dort gewohnt hatte, vermisste er mit lange nachhaltendem Weh, und der Anblick einer neuen Umgebung, mochte sie noch so schön sein, verursachte ihm Traurigkeit, bis er sich wieder gewöhnt hatte. Auf derartige Gefühle seines Sohnes nahm Lastari keine Rücksicht, wie er denn überhaupt seinen Willen allem voransetzte und ganz besonders dem kleinen Lasko, der ihm den seinigen von jeher ohne weiteres unterworfen hatte. Gerade das setzte Lasko in seines Vaters Augen herab, der im Gegensatz zu ihm Surja, die eigenwillige, und Dragaino, den jüngsten, zu rühmen pflegte. Lasko grollte seinen Geschwistern deswegen nicht, sondern stellte ihr Bild in seinem Herzen neben dem seines Vaters auf und schmückte sie mit den bunten Kleinodien seiner Phantasie. Er hätte sich weit unglücklicher gefühlt, wenn er diese verklärten Gestalten nicht in seinem Innern besessen und ihnen die Andacht seiner Seele verstohlen hätte darbringen können. Nur zuweilen, in einigen gewaltsamen, ihm selbst unverständlichen Augenblicken, war es ihm, als müsse er sich ihrer erwehren und als quäle ihn schauriger Hass gegen seinen Vater und gegen sie, der sich dann auch wohl in besinnungslosen Zornesausbrüchen entlud.
Auf seinen Wanderungen kam Lastari nach Mexiko, wohin ihn die Hoffnung, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, und die Begierde nach Wechsel getrieben hatten. Er ließ sich in einer stark bewohnten, aber noch kulturlosen Gegend nieder und begründete dort eine Färberei, die schnell erstaunlichen Aufschwung nahm und ihm den erwünschten Reichtum zuströmen lassen zu wollen schien. Er war damals etwa zweiundvierzig Jahre alt, arbeitskräftig, erfindungsreich und betriebsam, wenn es galt, einen Einfall durchzusetzen; jedoch ließ sein Eifer nach, wenn das Unternommene in gutem Gange war, worauf dann gewöhnlich eigennützige oder gleichgültige Angestellte an das Ruder kamen und den Gewinn einsteckten oder verzettelten. Hier war es aber noch etwas andres, was seinen Niedergang herbeiführte: er verliebte sich nämlich in eine schöne Kreolin und heiratete sie, ohne Anstoß daran zu nehmen, dass sie aus einer früheren Verbindung schon eine Tochter, namens Madurre, hatte, die um einige Jahre jünger als Lasko war.
In späterer Zeit sagte sich Lastari, er habe diese Heirat gemacht, um Lasko eine Mutter zu geben; doch trug die Frau nicht nur keine Sorge für den Knaben, sondern, wenn sie ihm auch nicht geradezu nach dem Leben stellte, suchte sie ihm doch auf alle erdenkliche Art zu schaden und verderblich zu werden.
Einmal, bevor die Ehe geschlossen war, saß die Braut mit Lastari und mehreren Freundinnen in einer Veranda vor dem Hause und suchte Lasko, der sich wortkarg und spröde gegen sie betrug, unter Scherzen und Schmeicheleien eine Liebkosung abzulocken. Der Vater, verliebt und frohgelaunt, erging sich in derben Neckereien, die den empfindlichen Knaben reizten, während die Mädchen sie desto herzhafter belachten. Nun stellte sich die künftige Stiefmutter, als missbillige sie Lastaris grobe Späße, und der ernsten, warmen Zärtlichkeit, die sie vorspiegelte, und ihrer Schönheit gelang es, ihn unvermerkt dahin zu bringen, dass er sie um den Hals fasste und auf den Mund küsste. Sowie das geschehen war, triumphierte sie laut, dass sie den Widerspenstigen gefangen hätte, und Lastari und die Mädchen brachen in schallendes Gelächter aus. Im selben Augenblick entriss sich Lasko ihren Armen, indem er sie mit Kraft vor die Brust stieß, sprang die Veranda hinunter und warf sich mitten in einen Kanal hinein, der vor dem Garten floss. Noch lachend, da eine ernstliche Gefahr des Ertrinkens nicht vorlag, eilte Lastari ihm nach, fand es aber schwerer, als er gedacht hatte, den Jungen herauszuziehen, denn er setzte sich zur Wehr, schlug mit Fäusten auf seinen Vater los und suchte ihn mit einer Kraft, die er ihm nicht zugetraut hatte, unter Wasser zu halten. Dabei war sein schmales Kindergesicht weiß, und seine Zähne knirschten aufeinander. Dank seiner überlegenen Stärke wurde Lastari des Knaben doch bald Meister und trug den Triefenden, mit Vermeidung der Veranda, in der die Frauen saßen und verwundert zuschauten, in sein Schlafzimmer, wo er ihn sogleich entkleidete und ins Bett legte. Er dachte nicht daran, den ungebärdigen Jungen zu bestrafen, vielmehr blieb er verstimmt und nachdenklich und fand seine gute Laune trotz der Schmeichelkünste der schönen Braut geraume Zeit nicht wieder.
Lasko war seitdem nie wieder zu einer Liebkosung gegen seines Vaters Geliebte zu bewegen, noch duldete er eine solche von ihr. Das war aber nicht der Grund, weswegen sie ihn, sowie sie verheiratet war, quälte und verfolgte; sie hatte überhaupt weder für Lastari noch für seinen Sohn ein herzliches Gefühl, ja sie waren ihr im Grunde fremdartig und störend, nur die eignen Kinder, die sie nun bekam, liebte und hätschelte sie mit tierischem Wohlgefallen, solange sie klein waren, was freilich auch nicht hinderte, dass sie zuweilen mit Schlägen und Schimpfen gegen sie losfuhr. Dem armen Lasko lud sie Haus- und Küchenarbeit auf, ließ ihn die Kinder besorgen und hetzte zu alledem noch seinen Vater gegen ihn auf, der schwach genug war, den kleinen Verlassenen auf ihre Angebereien hin grausam zu bestrafen. Nie wurde das der Anlass von Laskos Wutanfällen, vielmehr, obwohl er unter der ungerechten und lieblosen Behandlung schrecklich litt, bemitleidete er den Vater, der ihn misshandelte; denn er durchschaute dessen innere Verzweiflung, und dass er nur wie ein Fieberkranker oder Irrsinniger war, der diejenigen schlägt, die es gut mit ihm meinen.
Als Lasko älter wurde, schlug die Stiefmutter einen andern Ton an. Einmal, er zählte etwa sechzehn Jahre, war aber noch zart und schmächtig, litt er an einem leichten Unwohlsein und bedurfte der Pflege. Da kam sie unter dem Vorwande, ihm eine Arznei zu geben, mit einem langen seidenen Hemde bekleidet, in sein Schlafzimmer, setzte sich auf sein Bett und streichelte und küsste ihn, wobei, indem sie sich über ihn beugte, ihre volle weiche Brust sich auf seine drückte. Danach stellte er sich öfters krank, damit sie ihre nächtlichen Besuche wiederholte, was sie auch tat, bis er sie einmal in Gegenwart andrer fragte, ob sie es sich schon je solche Mühe hätte kosten lassen, einen jungen Mann zu verführen. Seit der Zeit hasste sie ihn ausdrücklich, ließ es aber in ihrem Benehmen gegen ihn nicht merken, nur trachtete sie danach, seine edelgeartete Seele in den Schlamm zu ziehen. Zunächst suchte sie ihn vermittelst ihrer Tochter Madurre zu umgarnen, die, fast noch ein Kind, übermütig und beweglich war, und ihrer Mutter nicht ähnelte. Sie war wie ein wildes exotisches Kraut, das einsam in Schluchten wächst, mit dunkeln, harten, stacheligen Blättern, aus deren Mitte eine flammende Blume von schreiender Farbe aufschießt auf kerzengeradem Stiele, stark, doch empfindend und verletzlich. Sie besaß eine Aufrichtigkeit, die zuweilen erschreckte, wie sie ihm denn haarklein wiedererzählte, was für Anweisungen ihre Mutter ihr in Bezug auf ihn gegeben hatte. Sie wollte sich darüber totlachen, überhäufte ihn zum Spott mit übertriebenen Zärtlichkeiten und flocht Redensarten der verwegensten Art in ihr Gespräch, die sie irgendwo aufgelesen hatte, und nach deren Bedeutung sie Lasko fragte. Nichts war ihr zu frech und schmutzig, um es zu sagen, vielleicht eben deshalb, weil es ihr keine andre Empfindung gab, als dass es ihr lächerlich vorkam. Was sie von Lasko wollte, war rückhaltlose Kameradschaft und Unterstützung bei den wilden Streichen, die sie vorhatte, auf Berge klettern, Felsen hinan, die kaum einem Menschen zugänglich waren, junge Raubvögel aus ihren Nestern holen, das waren die Träume, die sie beschäftigten. Lasko hatte damals keinen Sinn für solche Strapazen und unterstützte sie bei ihren halsbrecherischen Streifereien nur in der Hoffnung, es möchte sich dabei irgend ein interessantes Abenteuer ergeben, oder etwa gegen das Versprechen eines Kusses. Aber immer fand er sich getäuscht; denn entweder ging ihm Madurre mit der ausbedungenen Liebkosung durch oder gab und empfing sie mit solcher Gleichgültigkeit, als ob sie gar nicht beteiligt und ihr Körper nur eine untergeschobene Lederpuppe wäre. Dies pflegte Lasko so zu kränken, dass er auf sie losschlug, was ihr augenblicklich die gute Laune zurückgab; denn nun wehrte sie sich, und es entspann sich ein gesundes Kämpfen, wobei auf beiden Seiten, da auch Lasko gern und mit Gewandtheit, Schlauheit und Sachkenntnis raufte, sowohl Hass wie Liebe schnell vergessen wurde.
Das eigentümliche Verhältnis zu Madurre, so unschuldig es war, diente doch den Absichten seiner Stiefmutter, denn alles, was von Sinnlichkeit und damit zusammenhängenden bösen Trieben in ihm war, wurde dadurch angereizt, und er ließ sich schließlich widerstandslos mit den verschiedenen Schönen zusammenkuppeln, die sie ihm vorführte, ohne etwas andres davon zu haben als Ekel vor sich selber. Sein unbeteiligtes Herz hängte sich inzwischen immer fester an Madurre, die ihm keine Ruhe ließ, bis er ihr alle seine Liebesabenteuer ausführlich erzählte. Dabei wälzte sie sich auf der Erde vor Lachen oder sie spielte auch wohl die Eifersüchtige; so biss sie ihn einmal in das Ohrläppchen, dass zeitlebens eine Narbe daran zurückblieb. Eines Tages aber stürzte sie beim Klettern und brach ein Bein. Seitdem war sie für ihre Mutter nur noch eine unliebsame Last, während Laskos Liebe jetzt erst zur Blüte kam. Er saß unermüdlich an ihrem Lager und unternahm weite und beschwerliche Wege, um ihr einen Schmetterling oder eine Blume von ihren Lieblingsplätzen zu bringen, er verzichtete auf Arbeit und Vergnügen, um sie nicht allein zu lassen. Sie rührte das nicht, im Gegenteil, sie hasste ihn, vor dem die schönste Abenteuerlaufbahn, von der sie ausgeschlossen war, frei dalag. Vorbei war es mit ihren waghalsigen Streifzügen, vorbei mit prickelnder Bergluft, Raubvogelgekreisch und pfeifenden Winden. Bitterliche Scham und Trauer im Herzen schleppte sie sich an Laskos Arm bis zu einem verborgenen Wiesenplätzchen, von wo sie in den Himmel und gegen die Berge sehen konnte, hatte aber für ihn keinen Dank, kaum einen Blick, ohne den sie kümmerlich hätte verderben müssen. Er beschützte sie vor der Grausamkeit ihrer Mutter, war selbst Vater, Mutter und Bruder für sie, brachte ihr zu essen und fütterte sie wie einen kranken Vogel, führte sie spazieren, erzählte ihr und las ihr vor, brachte sie zu Bette, half ihr beim An- und Auskleiden und liebte sie bei alledem täglich mehr. Während er sich früher stets mit Fluchtgedanken getragen hatte, einmal wirklich davongelaufen war, ja einmal versucht hatte, sich zu töten, fürchtete er sich jetzt davor, dass sein Vater ihn fortschicken oder mit sich fortführen würde, und dass er das verkrüppelte Kind hilflos im Elend lassen müsste.
In wüsten Jahren gingen die Früchte von Lastaris Kraft und Fleiß und ging er selber infolge des häuslichen Jammers und der schlechten Wirtschaft zu Grunde. Er wurde stumpfer und hörte auf, seiner Frau vorzuhalten, wie man würdig leben müsse; aber wie einst in der Heimat, bekam er plötzlich Angst vor der still in seinem Innern sich sammelnden Rachsucht, die wuchs wie ein Geschwür, das zu seiner Zeit reif werden und bersten muss, und fasste den Entschluss fortzugehen, worin ihn nun nichts mehr erschütterte. Die Kreolin war damit im Grunde sehr zufrieden, tat aber aus Berechnung, als sei sie außer sich vor Schmerz, ja sie stellte sich sogar zärtlich und verschwur sich auf alle Art, ihrem Manne künftig ganz und gar ergeben zu sein und ihm in allen Dingen zu folgen, wenn er nur bliebe. Lastari ließ sich nicht irre machen und kaufte sich, worauf sie es eben abgesehen hatte, mit einer bedeutenden Summe von ihr los, so dass er nur eben so viel übrig behielt, um die weite Heimreise damit zurücklegen zu können. Die größte Schwierigkeit war, sich über die Kinder zu einigen: er hätte am liebsten alle mitgenommen, musste sich aber damit begnügen, dass die Mutter auf eines, den siebenjährigen Zizito, der sein Liebling war, verzichtete.
Lastari hoffte an der Marmorfabrik, wo er schon einmal gearbeitet hatte, Anstellung zu finden; doch war gerade kein Platz frei, und es wurde ihm anheimgegeben, ob er warten wolle. Ein glücklicher Zufall spielte ihm in diesen Tagen eine Zeitung in die Hand, in der der Professor Pius Reynegom in Lusinara am Adriatischen Meere, der Schöpfer und Leiter eines großen Kinderhospizes, einen jungen Mediziner suchte, der geneigt wäre, dort seinen ständigen Aufenthalt zu nehmen und unter seiner Leitung wie während seiner Abwesenheit die ärztliche Aufsicht zu führen. Lasko hatte in Amerika eine medizinische Schule besucht, aber, wie es die zerstörten Verhältnisse des Hauses mit sich brachten, mit häufigen Unterbrechungen und ohne ein abschließendes Examen zu machen, doch fehlte es ihm nicht an Scharfblick und Geschicklichkeit, und er traute sich zu, die Stelle auszufüllen. Nachdem er sich vorgestellt hatte, führte Pius Reynegom ihn durch die Anstalt und erzählte ihm zwischendurch, was für Ärger ihm die jungen Ärzte täglich durch ihre Einfalt und Rohheit bereitet hätten. Da wäre fortwährend ein Jammern der leidenden Kinder, Tränenstimmung und Schreckhaftigkeit, da wären beleidigte Pflegeschwestern mit bösem Gesicht und schnippischem Benehmen, da fertigten sie die Eltern, die sich nach dem Ergehen ihrer Kinder erkundigen wollten, grob ab, worauf sie mit dem Geschrei ihrer Vorwürfe zu ihm kämen oder ihn wohl gar in den Zeitungen als kannibalischen Volksverächter verschrien. »Es ist wahr,« sagt er, »dies plattfüßige Gesindel, das zu Hause seine Brut mit Wanzen und Läusen ums Dasein kämpfen lässt und bei uns Verrat schreit, wenn einem armen Krüppel nach vier Wochen noch keine gesunden Arme und Beine gewachsen sind, kann einem die schwarze Galle erregen; aber meine Angestellten sollen Verstand genug haben, um sie entweder zufrieden zu stellen oder so einzuschüchtern, dass sie keinen Mut zu klagen haben; ich will auf keinen Fall behelligt werden.« Lasko sagte: »Wenn sie mich einmal gesehen haben, werden sie sich an keinen andern mehr wenden,« und es glitt dabei ein verschmitztes Glänzen über seine mandelförmigen Augen und ein keckes, verführerisches Lächeln über, seine Lippen, das das Herz des Professors durch und durch erwärmte. Er hatte das feste, blühende Gesicht eines tätigen und genussreichen Mannes und einen gewaltigen Körper, der nur, weil er so groß war, nicht fett erschien, und den Lasko von Zeit zu Zeit mit begeistertem Wohlgefallen überblickte. Er wurde mit jeder Bemerkung und Bewegung, die Lasko machte, vergnügter und vollends zu Laskos Gunsten gestimmt, als dieser anfing, sich mit den Kindern abzugeben: er machte aus seinem schlanken, feinen Gesicht abschreckende Fratzen, blies die Backen auf und sagte, er wäre der Mond Pernambukkel, fräße die heulenden Kinder auf und spuckte sie nachts wieder auf die Erde, und knirschte dabei so blutgierig mit den Zähnen, dass die Kinder schauderten und frohlockten und Herr Pius, der ein Freund törichter Späße war, bis zu Tränen lachte. Er unterwarf Lasko noch einigen Prüfungen, und da das Ergebnis ihn befriedigte, stellte er ihn an, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass der Student keinerlei Titel zu einem solchen Amte hatte. Was Lasko leistete, übertraf noch Herrn Pius' Erwartungen: nicht nur dass auch die elendesten und stumpfsten unter den Kindern sich an der bunten Sonne seiner Laune erwärmen und erheitern ließen, auch die vorwurfsvollen Mütter und erbitterten Väter wusste er bald mit dem Zucker der Schmeichelei, bald mit dem Salz herzhafter Späße in ein unschuldig verliebtes Wohlwollen für seine Person zu verzaubern und unschädlich zu machen. Wenn er erzählte, was er tagsüber den Kindern, Eltern, Wärterinnen und fremden Besuchern vorgegaukelt hatte, wie er abwechselnd den Treuherzigen, den Jovialen oder den Gestrengen gespielt hatte, um jeden in die ersprießlichste Verfassung zu versetzen, lachte Herr Pius, als ob er in einer Komödie wäre, nannte Lasko seine Taube und seine Schlange und zwickte ihn wohl zärtlich in den Zipfel seiner hübschen Ohren. Von dem, was er durch den Anblick von Kinderelend und Kinderschmerzen litt, ließ Lasko nichts merken und machte sogar den Eindruck der Bärbeißigkeit, wenn er bei den oft notwendigen schmerzhaften Behandlungen kein Schreien und Klagen duldete, was aber die kleinen Kranken nicht an ihm irre machte, die vielmehr fortfuhren, ihm mit bedingungsloser Liebe anzuhängen.
Eines Tages kam ein katholischer Pfarrer in das Kinderspital, um einen Einblick in den religiösen Betrieb der Anstalt zu gewinnen, der der Anschauungsweise des Professors entsprechend außerordentlich flau genannt werden musste. Diejenigen Kinder, die zu Hause zu beten gewohnt waren, setzten das fort oder ließen es außer Übung, je nachdem sie standhafter oder vergesslicher, träger oder beweglicher waren, oder je nachdem einmal eine Pflegeschwester frommen Sinnes war und das Kleine beeinflusste. Zwang durfte indessen keiner ausüben, wenn er nicht den Zorn des Professors, vielleicht seine Entlassung herausfordern wollte; denn Herr Pius duldete kein religiöses Wesen in der Anstalt, sofern es sich in häufigem Kirchenbesuch, feierlichen Betätigungen oder gar frommer Bitterkeit äußerte. Es konnte infolgedessen nicht ausbleiben, dass der Pfarrer den Eindruck des Ungenügenden empfing, als er sich in der Anstalt nach der Gottesfurcht umsah, was ihm zwar einerseits Genugtuung bereitete, da die Leitung der Anstalt in protestantischen Händen war, andrerseits aber doppelten Anlass gab, tiefgefühlter Missbilligung Ausdruck zu verleihen. Er wendete sich zunächst mit einigen Erkundigungen nach Gebet und Kirchenbesuch der Kinder und Angestellten, kurz nach dem allgemeinen kirchlichen Zustande, an Lasko, der, indem er mit geschmeidiger Höflichkeit dürftige Auskunft erteilte, die Erscheinung des geistlichen Mannes überblickte: die ölige Glätte seiner mangelhaft bewimperten Augen, die schnüffelnde Nase und den dünnlippigen, aber weiten und breiten Mund, der sich wie ein klaffender Spalt über den großen, unregelmäßigen Zähnen auftat. Von Lasko nicht deutlich unterrichtet, begab sich der Pfarrer an die Betten der kranken Kinder und leitete mit leutseligen Worten Gespräche ein, aus denen mit schnellem Übergang ein Verhör über das religiöse Wissen und Fühlen wurde. Über die blöden Antworten, die die Kinder in ihrer Verwirrung gaben, lachte Lasko jedes Mal laut und anhaltend, und auch der Pfarrer zog den Mund vielsagend auseinander, da er in dem höflichen Hilfsarzt einen Feind des Vorgesetzten und Verbündeten gefunden zu haben glaubte. Da indessen einige Kinder, durch das ungewöhnliche Ausfragen und die widrige Erscheinung des Pfarrers erschreckt, kein Wort hervorzubringen vermochten, sogar weinten, regte sich die Grobheit seiner Natur, und bei einem kleinen abgezehrten Mädchen, das beten wollte, anstatt dessen aber aus Verlegenheit lachte, schwand ihm die Salbung des geistlichen Betragens völlig dahin. Indem er sie hart anließ, griff er mit seinen unzarten Händen ihre kleinen dünnen, die wund und mit Watte verbunden waren, um sie gebetweise zusammenzufalten, so dass sie vor Schmerz und Schreck aufschrie und über und über zitternd in krampfhaftes Schluchzen ausbrach. Augenblicklich veränderte sich Laskos Miene und Haltung: den Pfarrer mit einem Ruck von den kleinen Betten wegschiebend, rief er in den tiefsten Glockentönen seiner Stimme, es sei nun genug, seine Geduld sei am Ende, wenn der Geistliche die Tröstungen bringe, die die Religion für Leidende haben könne, solle er willkommen sein, wenn er als Spion käme oder um arme kranke Kinder zu misshandeln, solle er sich zum Teufel packen. Was er an den Kindern auszusetzen habe? Ob er nicht fühle, dass die kleinen gequälten Seelen Gott lieber und heiliger wären als ein Meer von Priesterglatzen? Ob er sich einbilde, sie würden Gott dadurch angenehmer, dass sie seine pfäffischen Gebete nachleierten? Er könne aus ihrem törichten, bedeutungslosen Stammeln eher lernen, was Unschuld und Herzensreinheit, als sie aus seinem Predigen, was Religion sei.
Der Pfarrer lächelte unausgesetzt vorsichtig und erhaben, während er Schritt vor Schritt zurückwich; denn er hielt es für wahrscheinlich, dass Lasko unversehens irrsinnig geworden sei, so furchteinflößend blitzten Wut und Verachtung aus seinem Gesicht. Mit großen Augen hörten die Kinder zu, und viele kicherten verstohlen, zum Teil, weil sie glaubten, Lasko mache einen seiner Späße, teils weil sie begriffen, dass es über den Pfarrer herging und sich darüber freuten; die Wärterinnen erwarteten stumm und bleich den Ausgang der Begebenheit. Es geschah indessen weiter nichts, als dass der Pfarrer mit einigen Worten überlegener Milde, die sein Mitleid für den Tobsüchtigen ankündigten, sich entfernte, und dass Lasko durch den jähen Ausbruch erschöpft und ruhebedürftig war.
Herr Pius ließ sich den Vorfall mehrere Male ausführlich beschreiben und umarmte Lasko unter lauten Beifallsbezeugungen; er nannte ihn seinen Drachentöter, und bedauerte nur, dass mit dem katholischen nicht zugleich ein protestantischer Pfaffe zu Boden geschmettert wäre, denn nun könne der große Zwillingswurm den andern Kopf hervorstrecken, der ebenso hässlich und giftig sei wie der erste.
Nicht nur der Morlesine, Pius Reynegoms Frau, die das Neue und Fremde liebte, gefiel Lasko, sondern auch seinem Sohne Rizzo, der meistens verachtete und sich besonders berufen fühlte, seinen in Hass und Liebe allzu raschen Vater durch gelinden Spott zu zügeln. Rizzo hatte die dunkelblauen, feurig träumenden Augen seiner Mutter, ihr lockiges Blondhaar und ihren Hang für das Abenteuerliche, der sich bei ihr nur in äußerlichen Absonderlichkeiten äußerte, bei ihm aber vorsichtig zurückhielt, auf den Augenblick lauernd, wo er einmal Gelegenheit zu großen Handlungen hätte. In seiner täglichen Umgebung verhielt er sich still, freilich nicht ohne, so oft ein Anlass da war, merken zu lassen, wie engherzig und mittelmäßig er die Zone fand, in der er lebte. Er hatte nach dem Wunsche seines Vaters Medizin studiert, alle Prüfungen gut bestanden und sich in jeder Hinsicht tüchtig erwiesen; dann aber den Beruf ganz liegen lassen und sich in das öffentliche Leben geworfen, wo es wenigstens an Lärm und Tumulten nicht fehlte. Es gab eine Unabhängigkeitspartei im Lande, die die Regierung hauptsächlich deswegen bekämpfte, weil sie sich auf die Kirche stützte, und da ihm Feindseligkeit gegen die Kirche vom Vater her im Blute lag, schloss er sich dieser Partei an und wurde durch seine Umsicht und seinen Schwung bald einer ihrer Führer. Im Augenblick des Kampfes, besonders wenn er durch Reden an das Volk zündend wirken konnte, fand er Befriedigung, hernach aber kam es ihm abgeschmackt und zwecklos vor, und es nahm ihn sehr für Lasko ein, dass dieser, als er ihn einmal öffentlich hatte reden hören, sowie sie unter sich waren, in endloses Gelächter ausbrach und ihn ergötzlich nachahmte mit den hochtrabenden Wendungen, deren er sich bedient, und der bluternsten, verwegenen Miene, die er dazu gemacht hatte. Überhaupt spürte Lasko die Schwächen der Menschen sofort heraus und war voll Witz, sie zu verspotten; aber er schnitzte lauter zierliche kleine Pfeile aus leichtestem Holz und band an jeden eine Blume oder Schleife, so dass es im Grunde ein Vergnügen und ein anmutiges Schauspiel war, sich davon überschütten zu lassen. Obwohl Rizzo ernster und grundsätzlicher war, wenn er spottete, verstanden sie sich doch gegenseitig und waren in kurzem über die meisten Menschen miteinander einig, und wo Lasko wärmer und ehrfürchtiger empfand als der andre, wie zum Beispiel für Rizzos Vater, trat das deswegen nicht hervor, weil er seine Neigung zu lieben und anzubeten aus Scham zu verbergen pflegte. Die hervorragendste Person in Lusinara war neben Herrn Pius Reynegom dessen jüngerer Bruder Beatus, der die von ihrem Vater Olaf, einem geborenen Niederländer, begründete Ölfabrik übernommen hatte. Rizzo schilderte seinen Oheim als ein wahnsinnig gewordenes Mühlrad, das nicht mehr still gehalten werden könne, so dass Müller und Esel schleppen und schwitzen müssten, um genügend Korn zuzutragen und aufzuschichten und das gemahlene fortzuschaffen. Immerhin, da das Rad umfangreich sei und eine große Menge Wasser in rauschender Bewegung erhalte, liege in dem eintönigen und beschränkten Wahnsinn eine gewisse Großartigkeit. Seine Tante Olivia verglich er mit einem dicken, glatten, kalten Mühlstein; wenn er längere Zeit mit ihr allein sei und sie unterhalten müsse, werde ihm wie einem verurteilten armen Sünder zu Mute, der gesteinigt werden sollte. Von der Maielies, seiner Cousine, sagte er nichts weiter, als dass sie gut und hübsch sei, aber die Augen noch nicht recht aufgemacht hätte und noch nichts wisse und kenne, als was Vater und Mutter ihr erlaubten. Er pflegte sie die kleine Glucke zu nennen, weil ihr alles erdenkliche Getier und Geziefer bis zu den kleinen Kindern nachliefe und Schutz bei ihr fände; sie würde, meinte er, einmal ein liebes Hausmütterchen werden.
Eines Abends spät fiel es Rizzo ein, den neuen Freund bei seinem Onkel einzuführen, und da das hohe eiserne Gittertor, durch das man in den das Haus umgebenden Park gelangte, bereits geschlossen war, kletterte er mit behändem Schwung hinüber und forderte Lasko auf, es ebenso zu machen; denn das fand er bequemer als läuten und warten, bis geöffnet würde. Lasko folgte ohne Zögern, aber weit weniger gewandt und geübt als Rizzo, verletzte er sich an den vergoldeten Lanzenspitzen der Tür und konnte bei der Vorstellung die stark blutende Hand nicht reichen. Rizzo erklärte den Unfall und bat um etwas weiches Leinen, worauf die Maielies schnell ein reines weißes Tuch vom feinsten Batist, um dessen Rand eine breite gestickte Ranke lief, aus der Tasche zog, es mitten durch riss und ihrem Vetter gab. Während dieser einen Verband daraus machte, gab Olivia ihrer Tochter kopfschüttelnd zu verstehen, es sei unüberlegt gewesen, das kostbare Taschentuch zu zerstören, da doch passender Stoff genug vorhanden sei. Die Maielies machte große Augen, errötete und sagte, es sei schon ein kleines Loch in dem Tuche gewesen, wozu sie vergnügt lachte, gleichsam damit jeder, wer wolle, die Unwahrhaftigkeit der Angabe durchschauen könne. Inzwischen war die Hand verbunden worden, und die Gäste wurden aufgefordert, es sich bequem zu machen; man saß auf der Zinne des mächtigen Palastes, der den Namen Seestern hatte, und blickte nach der einen Seite auf das Meer, nach der andern auf die wogenden Wipfel des Parkes. Indem Lasko mit sprudelnder Munterkeit Schwänke und Schnurren erzählte, betrachtete er zuweilen aus schmalen, scharfen Augen die blonde Maielies, die ihm süß wie Morgenrot und gütig, ruhig und unantastbar wie der Himmel erschien, richtete aber kaum einmal geradezu das Wort an sie. Erst als er am Abend allein war, befühlte er das gestickte Tuch, das ihr gehörte, sanft und zärtlich, legte es beim Einschlafen auf die Brust und gewöhnte sich seitdem, es jede Nacht wie auch bei Tage an sich zu tragen.
Olaf Reynegom, der die Öfabrik begründet hatte und in hohem Alter gestorben war, hatte seine beiden Söhne aus Gottesfurcht und Dankbarkeit, weil sein Unternehmen einen so glücklichen Verlauf genommen hatte, Pius und Beatus genannt, was dem älteren besonders in seinen Knabenjahren ein grimmiges Ärgernis gewesen war. Später nahm er es von der komischen Seite und benutzte seinen Namen als Anlass, um mit seinem ruchlosen Unglauben und unchristlichen Wandel zu prahlen. Beatus, der jüngere, vertrug Spott über seine und seines Vaters Kirchlichkeit durchaus nicht, und es kam darüber nicht selten zu Streitigkeiten zwischen den Brüdern; ganz besonders aber erbitterte es Beatus, dass Pius den Verstorbenen gern den »frommen Teufel« nannte, laut und fröhlich, ohne auf die etwaige Anwesenheit Fremder und auf sein eignes verwundetes Gefühl Rücksicht zu nehmen. Sie waren von jeher in ihrer Gesinnung auseinandergegangen: Pius hatte es verschmäht, in das Geschäft einzutreten, und liebte es, über das kaufmännische Wesen zu spotten, Beatus dagegen missbilligte die Art, wie jener seine ärztliche Laufbahn gemacht hatte. Pius war unbestritten der beste Arzt weit und breit und konnte sich bedeutender Kuren rühmen; viel verdankte er aber auch dem Glücke und sagte selbst, Glück zu haben sei die wichtigste Kunst des Arztes, und was er außerdem brauche, sei Geistesgegenwart, sicheres Gefühl, Zuversicht und Mut. Beatus sagte, das sei Frechheit und heiße Gott versuchen. Den größten Ruf verschaffte Pius sich dadurch, dass er mehrere medizinische Anstalten ins Leben rief, die Hervorragendes für das allgemeine Wohl zu leisten versprachen, darunter das Kinderhospiz, das hauptsächlich zur Aufnahme rachitischer und skrupulöser Kinder bestimmt war. Schon längst waren diese Anstalten Bedürfnis gewesen, doch fehlte es am nötigen Gelde; vom Staate durfte man nichts als einen bescheidenen Zuschuss erwarten, wenn die Dinge gesichert und im Gange wären. Herr Pius wusste dafür aufzukommen, er suchte die vermögenden Familien der Umgegend auf, die, wo er Arzt war, sowie auch andre, wo möglich zu einer Stunde gemeinsamer Mahlzeit und Geselligkeit, erklärte die Ursache seines Besuches, sprach von der Notwendigkeit der betreffenden Gründung und forderte Beiträge, meist in der Art, dass er jedem die Summe nannte, die er von ihm erwartete. Viele fühlten sich desto mehr geschmeichelt, je größer die Summe war, die er ihnen abverlangte, die andern konnten doch den Wohlfahrtszoll nicht verweigern, der von ihnen mitten im Genuss des Reichtums und als ob es sich von selbst verstünde, erhoben wurde. Nachträglich wurde wohl im geheimen über die Gewaltsamkeit des Herrn Pius gelästert, aber er bekümmerte sich nicht darum oder lachte darüber, da seine Unternehmungen gediehen und Früchte trugen. Gefürchtet und zum Teil gehasst wurde der Professor von den jungen Ärzten, Wärtern und Wärterinnen des Kinderspitals wegen der Willkür, mit der er die Aufsicht führte; er hatte nämlich den Grundsatz, die Kinder, die er ausnahmslos für fleckenlose Engel hielt, über ihre Behandlung und Bedienung auszufragen und jeden, den sie verklagten, wie einen grausamen Bösewicht auszuschimpfen, wobei, da es zwischen den kleinen Kranken auch Schlingel und Taugenichtse gab, die ärgsten Ungerechtigkeiten unterliefen. Über solche Dinge hatte Beatus anfangs mit Ausdrücken der Entrüstung nicht zurückgehalten, da er aber sah, dass das seinem Bruder nur zur Belustigung diente, schwieg er, sich inwendig umso mehr erbitternd. Zu offener Feindschaft führte folgender Vorfall: Um einen Lieblingswunsch seines verstorbenen Vaters auszuführen, betrieb Beatus die Erbauung einer protestantischen Kirche -- denn die Predigten waren bisher in einem geräumigen Saale gehalten worden --, gründete eine Gesellschaft zu diesem Zwecke, verfasste einen Aufruf und schickte in Gemeinschaft mit dem Pfarrer Nepomuk Listen in alle protestantischen Familien behufs Einsammeln von Unterschriften und Beiträgen. Als einer von Herrn Beatus' Angestellten die Liste zum Professor Pius brachte, schrieb dieser auf den bei seinem Namen freigelassenen Platz: »Erst heile Dächer für die Armen, dann Häuser für Gott,« und fügte polternd hinzu, ob man Gott für einen Häuserspekulanten halte? es gäbe Kirchen genug; er, Pius, hätte stets Geld für gemeinnützige Einrichtungen, das Phantastische unterstütze er nicht. Beatus, der Tausende zum Kirchenbau gezeichnet und auch für die Anstalten seines Bruders immer namhafte Schenkungen gemacht hatte, schickte den Angestellten mit der Liste, diesmal in Begleitung des Küsters, zurück, die, da sie den Professor in seiner Wohnung nicht fanden, sich in das Kinderspital begaben und ihn bitten ließen, herauszukommen. Herr Pius hingegen, ärgerlich über die Störung, ließ sie in den Saal kommen, wo er eben beschäftigt war, und wo nun der Angestellte sich seines Auftrags entledigte, dass nämlich Herr Beatus den Professor dringend bitte, sich die Sache noch einmal zu überlegen; der Küster fügte mit breiter, knarrender Stimme einen Ausspruch des Herrn Beatus bei, des Inhalts, dass, wer dem Herrgott auf Erden kein Haus gönne, für den der Herrgott auch im Himmel keinen Platz haben werde. »Ich spucke auf seinen Herrgott,« schrie Herr Pius böse, drehte sich scharf um und ließ die Männer stehen, die, nachdem sie eine Weile gewartet hatten, ob sich noch etwas begäbe, still den Rückweg antraten. Sie hinterbrachten das Vorgefallene ohne Zeitverlust Herrn Beatus, der, über die Gotteslästerung aufgebracht, zum Pfarrer Nepomuk eilte und verlangte, dass dieser allen Verkehr mit seinem Bruder abbräche, und ihm, als einem Gliede seiner Gemeinde, eine ernste Rüge erteilte. Der Pfarrer, der mit Pius herzlich befreundet war, sagte, etwas betrübt und kleinlaut, er könne und wolle nicht leugnen, dass der Professor eine rasche Bemerkung gemacht habe, wie sie einem so leichtblütigen Manne wohl entfahre, doch werde er sich ohne Zweifel überreden lassen, sie zurückzunehmen. So leicht ging das nun freilich nicht, vielmehr empfing Herr Pius den Pfarrer mit Gelächter: »Zurücknehmen? Beileibe nicht! Was einmal gespuckt ist, soll sitzen bleiben!« und war von diesem trotzigen Standpunkt nicht abzubringen. Der Pfarrer war im Zweifel, ob er des Friedens wegen Herrn Beatus eine angemessene Reue seines Bruders vorspiegeln dürfe, stand aber aus Ehrlichkeit davon ab und stellte anstatt dessen Herrn Pius treuherzig vor, in was für eine zweideutige Lage er ihn, seinen Freund, durch sein mutwilliges Betragen gebracht habe. Der Professor machte den Pfarrer heftig herunter, weil er eben überhaupt mit zwei Zungen rede, hinter Gottes Rücken mit der Welt liebäugle und im Schoße der Welt mit Augenverdrehen nach Gott schiele, ließ sich aber zum Schlusse herbei, die schriftliche Erklärung abzugeben, er habe nicht auf den Herrgott, sondern auf seinen, das heißt seines Bruders, Herrgott spucken wollen, der, wie er glaube und fürchte, eine unrichtige Vorstellung von Gott, also gewissermaßen einen falschen Herrgott habe, der ohne Beeinträchtigung des echten beschimpft werden dürfe. Mit dieser Erläuterung, die den Angestellten beider Brüder nebst einer Gegenerklärung des Beatus vorgelegt wurde, musste dieser sich zufrieden geben, und scheinbar war der Friede zwischen ihnen dadurch wiederhergestellt. Auch verkehrte Pius, der die Sache bald völlig vergessen hatte, häufig und nicht ohne gutmütiges Wohlwollen bei seinem Bruder, dieser aber erwiderte seine Besuche fast nie, und wenn er ihn bei sich auch höflich empfing, ging er ihm gegenüber doch nie aus einer ablehnenden Kälte heraus, die er auch auf seine Frau Morlesine und seinen Sohn Rizzo ausdehnte.
Trotz seiner abfälligen Meinung über Kirchen und Kirchenmänner liebte und schätzte Herr Pius den Pfarrer Nepomuk und betrachtete ihn als seinen besten Freund. Allerdings rechnete er ihn gar nicht zur Geistlichkeit und sagte gern zu ihm, indem er ihm vertraulich die Hand auf die Schulter legte: »Du bist keiner von diesen Rackern, Nepomuk!« Nur gelegentlich machte er ihm grobe Vorwürfe, dass er die Bahn der Gleisnerei und Hinterlist beschritten habe. Dass überhaupt ein Verständnis zwischen ihnen möglich war, rührte von Nepomuks besonderer religiöser Richtung her. Er legte nämlich weniger Gewicht auf das Bekenntnis als auf die Gotteskindschaft, in welcher, da dem Allmächtigen die Wahl billigerweise freistehen müsse, auch Heiden, Türken und Antichristen stehen könnten. Protestant nannte er sich deswegen, weil der Protestantismus eben Kampf gegen Formelwesen und Dogmenstarre sei, womit zwar durchaus nicht alle, am wenigsten Herr Beatus, einverstanden waren. Man konnte aber, obwohl er friedfertig und überaus milde war, nichts gegen ihn ausrichten; denn die Aufrichtigkeit und Biederkeit seiner Gesinnung entwaffnete zuletzt jeden Gegner. Als er, noch in Deutschland, zum erstenmal seine Glaubensmeinung in einer Schrift veröffentlichte, entstand entrüsteter Widerspruch unter den übrigen Pfarrern, worauf er sie einlud, ihn in öffentlicher Versammlung, wo er ihnen Rede und Antwort stehen werde, zu bekämpfen. Mit hochgeblähten Busen fanden sich sämtliche Seelenhirten ein, nicht zweifelnd, dass sie den kleinen Mann vermöge ihrer Weisheit und vereinigten Überlegenheit bald in die Enge treiben würden; allein der stand mit seinem großen, bärtigen Kopfe wie Gottvater im Bilderbuche da, redlich, freimütig und unerschütterlich, ließ die Augen kriegerisch dahin und dorthin blitzen, wo man ihn angriff, und warf die Bibelstellen und Sätze aus Kirchenvätern, Konzilien und Scholastikern mit solcher Behändigkeit und Genauigkeit auf den Tisch, dass die Pastoren vor seiner gerüsteten Gelehrsamkeit erzitterten und einer nach dem andern wie nasse Hunde mit hängenden Schwänzen sich davonschlichen. Obwohl er als Sieger auf dem Schlachtfelde zurückgeblieben war, gelang es der Übermacht hinterdrein, ihn zu entfernen; doch beriefen ihn sogleich verschiedene ausländische protestantische Gemeinden, zu denen der Ruf seiner Redekraft und Unerschrockenheit gedrungen war, darunter die von Lusinara, an deren Spitze der damals noch lebende Olaf Reynegom. Er wurde dort schnell beliebt; und die Protestanten waren stolz darauf, dass viele Katholiken ihre Kirche besuchten, was früher nie der Fall gewesen war; es fühlte sich ein jeder besser und fröhlicher, wenn er den lieben Mann beherzt und ohne Falsch auf der Kanzel hatte stehen sehen, unverdrossen im Lobe des Wahren und Edlen und im Kampfe gegen das Schlechte. Daneben war es auch die Hilfsbereitschaft des Pfarrers, die Leute aller Art zu ihm hinzog. In seiner Wohnung verkehrten von früh bis spät Bedürftige, darunter Bettler, Taugenichtse, entlassene Sträflinge und Vagabunden, denen er erst scharf ins Gewissen redete und ihre Verderbtheit, je nachdem sie beschaffen waren, ungeschminkt vorhielt, zum Schluss aber, indem er die Klappe seines Schreibtischs aufrollte und in ein dazu bestimmtes, stets gefülltes Schubfach griff, eine Geldspende reichte, mit der sie schleunig das Weite suchten. Seine Seelsorge am Spital des Professors Pius bestand hauptsächlich darin, dass er den Kindern allerhand gute Dinge mitbrachte und lieblich mit ihnen plauderte und scherzte; zwar hatte er den Grundsatz, dass Kinder mit Strenge müssten erzogen werden, und dass namentlich der Hang zur Lüge durch unnachsichtliche Bestrafung müsse ausgerottet werden, in Wirklichkeit aber wusste er stets einen Grund, besonders wenn die kleinen Sünder schlau und niedlich waren, warum der vorliegende Fall nicht ernst zu nehmen sei oder ausnahmsweise äußerst nachsichtige Behandlung erheische.
Sowie Lasko die Stelle am Kinderspital zugesichert bekommen hatte, wollte Lastari einen Ausflug nach Morimont machen, um seine Kinder Surja und Dragaino wiederzusehen; Zizito sollte inzwischen unter Laskos Aufsicht bleiben, was diesem unlieb war, da er nicht wusste, wie er zugleich seinem Beruf nachgehen und auf den Kleinen achtgeben könnte. Deshalb schlug er seinem Vater vor, er möchte Zizito entweder mitnehmen oder, was besser wäre, in einer Anstalt unterbringen, wo er etwas lernte und unter gutgemeinte, aber strenge Aufsicht käme, etwa in eine landwirtschaftliche Schule, die auch für jüngere Knaben Platz hätte, oder zu einem Landpfarrer, der ihn verpflegte und unterrichtete. Davon wollte Lastari nichts wissen; es sei zu früh, an solche Dinge zu denken, Zizito sei noch ein Kind, weichherzig und empfindlich, und würde sich an Heimweh verzehren; es sei selbstsüchtig von Lasko, sich seiner nicht annehmen zu wollen, so klein sei er nicht mehr, dass er beständiger Aufwartung bedürfe, auch könne er sich mit den Kindern im Spital abgeben. Lasko wies den Vorwurf der Selbstsucht zurück und versicherte, dass er sich gern Entbehrungen auferlegen würde, sowohl dem Kinde wie seinem Vater zuliebe; aber er fürchtete Schlimmes für Zizito, in dem unedles Blut fließe, wie Lastari wohl wisse. Nun wurde Lastari unwillig und entgegnete, Zizito sei ebenso gut sein Kind wie das seiner Mutter, er habe ein gutes Herz, das sei ihm erprobt und bewiesen, mehr brauche es nicht, aus Lasko spräche Übelwollen, der arme Kleine sei zu beklagen, dass er in der Fremde nicht einmal an seinem eignen Bruder einen Freund habe. »Du täuschest dich,« rief Lasko, indem er weiß wurde und die Hände ballte, »und tust es zu Zizitos Verderben. Er ist faul, sinnlich, durch und durch unmoralisch wie seine Mutter, und was er von dir hat, der Ehrgeiz, dient nur dazu, seine Fehler gefährlicher zu machen. Er will ohne Anstrengung, nämlich durch Schliche und Ränke, obenauf kommen, und während er vor denen, die über ihm sind, den Gutherzigen spielt, lässt er seine Grausamkeit an den Schwächeren aus, jetzt an wehrlosen Tieren. Banditen könnte ich vielleicht schätzen, aber Tierquälerei ist das Unnatürlichste und Böseste, was man nicht einmal dem Teufel nachsagt. Ich sehe es an jeder seiner Bewegungen, an seinem Gange, an seinen Gebärden, seinem Mienenspiel, dass er ein Verbrecher werden wird, sein Körper strömt es aus, so schön er anzusehen ist.«
Lastari pflegte sich, wenn Lasko zornig wurde, schweigend zurückzuziehen, nicht aus Furchtsamkeit, sondern weil etwas Unheimliches für ihn darin lag, wovon er sich keine Rechenschaft gab, und auch weil er aus Erfahrung wusste, dass Widerspruch in solchen Augenblicken seine Wut bis ins Rasende steigerte. So erwiderte er nichts; aber die schrecklichen Anklagen gegen Zizito, die er nicht zu widerlegen wusste, erschütterten ihn dermaßen, dass er sich stöhnend auf einen Stuhl fallen ließ und die Hände vors Gesicht schlug. Durch diesen Anblick sofort ernüchtert und entwaffnet, bemühte sich Lasko, seinem Vater das eben Gesagte wieder auszureden; er hätte in gereizter Stimmung gewisse Befürchtungen, die nahe lägen, übertrieben, Zizito sei noch ein wachsweicher Teig, der sich kneten ließe; wenn Einfluss und Beispiel in seiner Umgebung gut wären, könnten die schlechten Keime absterben. Damit ließ sich Lastari endlich beruhigen, kehrte mit verdoppelter Sicherheit zu seiner früheren Meinung zurück und ließ Zizito, als er abreiste, unter Laskos Aufsicht.
Niemand hätte erraten können, wie Lasko über seinen Stiefbruder urteilte, so sorgfältig verpflegte und so liebreich behandelte er ihn. Übrigens machte sich der Kleine mit seiner fremdartigen Schönheit und seiner leisen, schlauen Anmut alle zu Freunden und war sowohl im Hause des Professors wie bei Herrn Beatus und dem Pfarrer willkommen. Der Eindruck, den er auf den letzteren machte, wurde noch durch die einschmeichelnden Aufmerksamkeiten, die Zizito ihm widmete, erhöht. In jedem Manne, der in irgend einer höheren Stellung mit der Kirche zu tun hatte, sah Zizito eine Art Zauberer, der zwar nicht an sich verehrungswürdig sei, aber so voller Kniffe und Künste stecke, dass er dem Missachtenden verderblich werden könne. Aus diesem Grunde befliss er sich ausgewählter Liebenswürdigkeit und Dienstfertigkeit gegen den alten Herrn, blickte ihn auch wohl andächtig schmachtend aus seinen strahlenden Unschuldsaugen an, so dass dieser herzliches Mitleid für das verwahrloste Kind empfand und Lasko den Vorschlag machte, er wolle es, bis sein Vater zurückkäme, zu sich nehmen, damit es einer strengen Erziehung teilhaftig würde. Obwohl das für Lasko eine große Erleichterung bedeutete, warnte er den Pfarrer doch vor Zizitos List, Unaufrichtigkeit und Tücke, womit er um so weniger werde fertig werden können, weil das fremde, ihm gänzlich ungewohnte Wesen des Jungen, in dem er sich nicht auskenne, ihm das Urteil erschwere. Indessen Pfarrer Nepomuk sagte zuversichtlich, schwarz und weiß und gut und böse unterscheide sich überall in gleicher Weise. Er wisse schon, dass Zizito nach Art halbkultivierter Mischvölker gefährlich beanlagt sei, und dass ein schillerndes Insekt des Südens nicht wie ein einfältiger Mistkäfer dürfe behandelt werden, aber er getraue sich schon, der kleinen Urwaldpflanze Meister zu werden; mit Liebe und Strenge am rechten Ort könne es nicht missglücken. In der Tat war es zum Erstaunen, wie holdselig und gelehrig sich Zizito in seiner neuen Lage betrug; er lernte geschwind die Anfänge des Lateinischen und fasste einige grundlegende Religionswahrheiten sowohl mit dem Verstande wie mit dem Herzen; bald konnte er einige Verse von Horaz und längere Psalmen auswendig aufsagen, mit einer Zutat von überschwänglichem Pathos und anmutigen Gebärden, die den Vortrag zwar nicht erbaulicher, aber kurzweiliger machten, wobei der Pfarrer mit düsterem Ernst, hinter dem er geschickt seinen Stolz versteckte, und mäßigem Kopfnicken zuhörte.
Olivia fing nun, mit etwa fünfundvierzig Jahren, fett zu werden an, und ihr weißer Hals quoll in Fülle aus den ausgeschnittenen Kleidern hervor, die sie mit Vorliebe trug. Ihr Gesicht mochte einmal schön gewesen sein, nur in ihren Augen entdeckte Laskos unnachsichtiger Scharfblick einen Fehler: sie sähen aus, sagte er zu Rizzo, als ob sie von Quarz wären, und sie täte besser, sie ließe sie als Ohrringe in den Ohren baumeln. Bequemlichkeit und Langeweile regierten ihr Leben: ohne dass sie sich rührte, sollten ihr die Begebenheiten gebraten in den Mund fliegen, möglichst süß, gewürzt und wundervoll, und sie zürnte ihrem Manne und ihrer Tochter, dass sie diesem Bedürfnis keine Rechnung trugen. Herr Beatus nahm die Pflichten gegen seine Familie sehr ernst, sorgte vortrefflich für sie und hätte sich nicht erlaubt, ihr einen Abend zu entziehen, außer zum Nutzen des Geschäftes oder des öffentlichen Wohles; aber man sah ihn nie behaglich mit seiner Frau schwatzen oder mit seinem Kinde scherzen oder mit Gästen sich teilnehmend unterreden. Er fühlte sich nirgends wohl als in den Fabrikräumen, mitten im Sausen des ungeheuren Betriebes, und dann belebte sich auch sein regelmäßiges Gesicht, und sein straffes, gesammeltes und durch und durch erregtes Wesen wurde als wohltätig herrschende Kraft empfunden. Die Maielies artete mehr ihrem Vater als ihrer Mutter nach, glich ihm auch äußerlich: sie hatte wie er eine strenge Nase, die sich grade von der weißen Stirn herabsenkte und eine wundervolle Linie des Ernstes und der Schönheit in ihr rundliches Kindergesicht zog. Wie er war sie am lebendigsten in Tätigkeit, freilich nicht in jeder beliebigen; überhaupt aber hatte die Kälte, die von den Eltern ausging, sie eingeschüchtert, so dass sie in ihrer Gegenwart selten aus sich herausging und des quellenden Frühlings im Innern sich schämte. So kam es, dass Olivia sich beständig vernachlässigt fühlte und entzückt zugriff, als Lasko sich zeigte, mit seiner immer strömenden Mitteilung, seinem anregenden Durcheinander von Ernst, Spass, Spott und Wehmut, seinen komischen und doch schmeichlerischen Huldigungen. Sie war unzufrieden, wenn Lasko einen Abend nicht auf die Zinne kam, um die müßigen, dunklen Stunden durch wechselnde Einfälle zu verkürzen, und schalt mit ihrer Tochter, weil sie mit griesgrämig verdrossenem Wesen ihr den Liebling verscheuche; denn die Maielies, so wenig Talent zu List und Lüge sie hatte, übte zuweilen eine harmlose Verstellung, als wolle sie von dem fremden Gast nichts wissen, damit nur niemand auf den Verdacht des Gegenteils geriete.
Am liebsten sprach Lasko von seinem Vater, in geheimnisvoll bedeutsamem Tone, als erzähle er Geschichten vom starken Simson oder vom letzten Mohikaner. Er schilderte seine hohe, gebieterische Gestalt, sein krauses Haar, seinen ernsten Blick, und wie seine Schönheit, nun er sich dem sechzigsten Lebensjahre nähere, noch strahle, dass die Frauen, die ihm auf der Straße begegneten, die Augen niederschlügen. Furchtlos und stark hatte er in den heimischen Bergwäldern ohne Waffen gegen Bären gekämpft; keine Gefahr hatte je sein Herz banger schlagen gemacht, noch den Gedanken der Flucht in ihm aufkommen lassen. Die beschwerlichsten Wanderungen hatte er gemacht über Gebirge, über Schneefelder und durch Wüsten, ohne zu ermüden und, um Zeit zu ersparen, im Gehen schlafend, wo die Gegend ihm bekannt war. Wie Odysseus hatte er viele Länder und Völker gesehen und wunderbare Wechsel erlebt, mehrmals durch seine unvergleichliche Gewandtheit und Erfindungsgabe große Vermögen zusammengerafft, alsbald aber wieder eingebüßt, teils durch die Arglist der Menschen, teils infolge eines verschwenderischen Hanges, der sich mit kluger Sparsamkeit an manchem Ort in ihm vereinte. Wie hätte auch er mit dem Gelde zurückhalten sollen, den unedlen Tauschpfennigen, der Kraft, Liebe, Zorn und Lehre, ohne zu markten und ohne sich zu besinnen, verausgabte! Mit seiner Urwaldriesennatur konnte er sich nie in der Gesellschaft zurechtfinden, wo römisches Recht und Buchstaben und Kniffe herrschen, anstatt dass dem Kräftigen und Klugen gehört, was er sich nehmen kann. Dass die Erde nicht ein großer Garten ist, wo pflücken darf, wer den Boden bestellt hat und was einer erklettern kann, ging ihm im Grunde niemals ein, obwohl er das nicht zugestanden haben würde und den Grundsätzen nach, die er äußerte, ein besonnener Freund der herrschenden Gesellschaftsordnung war.