Fra Celeste und andere Erzählungen - Ricarda Huch - E-Book

Fra Celeste und andere Erzählungen E-Book

Ricarda Huch

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Beschreibung

Dieser Band beinhaltet vier Erzählungen, die die bekannte Schriftstellerin um die vorletzte Jahrhundertwende geschrieben hat. Neben der Titelgeschichte sind dies "Der arme Heinrich", "Der Weltuntergang" und "Die Maiwiese." Die erste Novelle des Bandes behandelt die Leidenschaft des Fra Celeste, eines großen Predigers, die in der Ermordung seiner todkranken Geliebten gipfelt. Dabei ist es bezeichnend für die Art der Verfasserin, dass der Augenblick des Mordes ebenso wie der des Selbstmordes in der letzten Novelle als künstlerisch bedeutungslos ganz im Hintergrund bleibt, während die Liebhaber starker Effekte gerade bei solchen Gelegenheiten sich eine breite Schilderung des schauerlichen Vorgangs nie versagen können. Bei Ricarda Huch dient jede Handlung, jedes Bild ohne Selbstzweck ausschließlich der leitenden Idee. Von besonderem Reiz ist in "Fra Celeste" die Darstellung der klerikalen Sittenpraxis.

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Seitenzahl: 224

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Fra Celeste

 

Und andere Erzählungen

 

RICARDA HUCH

 

 

 

 

 

 

 

Fra Celeste, Ricarda Huch

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783988681621

 

Der Text folgt der Ausgabe von 1899, erschienen im Haessel Verlag Leipzig, abrufbar unter https://books.google.de/books?id=CXcOAQAAMAAJ.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Fra Celeste.1

Der arme Heinrich.36

Der Weltuntergang.81

Die Maiwiese.94

 

Fra Celeste.

 

Als ich den später so berühmten und angebeteten Fra Celeste zum ersten Male predigen hörte, war er erst in den Ortschaften bekannt, die im Umkreise seines Klosters lagen. Ich war in die Kirche eingetreten, weil ich so ungewöhnlich viele Leute hingehen sah, aber ich erwartete mir eigentlich nichts anderes, als die Nase zu rümpfen; denn ich war hochmütig wegen der Bildung, die ich auf den hohen Schulen gesammelt hatte, und glaubte durchaus nicht an diese Genialen, die es vermöge angeborener Kräfte mit den bestgeschulten Geistern aufnehmen können. Von einem, der erst ein Bäckerjunge gewesen, dann ein Mönch geworden war, glaubte ich, dass er höchstens dem dummen Pöbel durch Lärm, Schlagwörter und leeren Bombast imponieren könne. Als er nun aber, dieser wundervolle Mann, in Begleitung mehrerer Geistlicher, denen er um einige Schritte voranging, durch das geöffnete Portal eintrat, fühlte ich mich sogleich gesichert und erhoben, was ich schwerlich begründen könnte, denn bei der Dunkelheit, die in der tiefen alten Kirche herrschte, vermochte ich sein Äußeres nicht zu unterscheiden. Auch als er auf der Kanzel stand, sah ich nur, dass er eine hochgewachsene, kräftige Gestalt hatte, die sich mit Unbefangenheit, aber nicht häufig bewegte, und dass die Form seines Gesichtes schön, breit und stark war. Obgleich er schnell gegangen war, fing er sofort, ohne dass man etwas von Atemnot bemerkt hätte, zu sprechen an mit dieser einzigen, unerschöpflichen Stimme, die aus dem Busen eines Gottes zu kommen schien. Eine Weile sprach er schlicht, gleichförmig, mit mittlerer Stärke, bis er sowohl von den immer rascher aufquellenden Einfällen wie auch vom Klange seiner Stimme berauscht wurde. Dann behandelte er sie wie ein Instrument, Geige oder Flöte, worauf er phantasierte; etwas vorgebogen, mit verzückten Augen schien er den Tönen nachzublicken, als wären es schimmernde Paradiesvögel, die die schwarzen Pfeiler umschwebten und das Gewölbe mit Musik erfüllten. Das Merkwürdige war nun, dass die Predigtkeineswegs nur ein wohlklingender Gesang war, sondern klar geordnet und voll eigenartiger Gedanken und Betrachtungen. Sie handelte von der Sonntagsheiligung, und zwar zuerst von den Belustigungen, mit denen gewöhnlich der Feiertag verbracht wird, hernach von dem eigentlichen Sinn und Wert der gebotenen Ruhe. Da war kein borniertes Eifern oder Scheinheiligkeit oder Tugendsalbung, nichts, worüber man hätte lachen oder was man leicht hätte widerlegen können, sondern ritterliche Verachtung gemeiner Lust. "Gott hat uns zu Herren der Erde geschaffen", sagte er unter anderem, sollen wir uns von ihr knechten lassen für den vergänglichen Bettel, mit dem sie uns dingen will? Wer wäre ich, wenn die Sklavenumarmung der Dirne Welt meine Sehnsucht stillte? Regieren will ich die Erde von meinem Platz aus, nach meinen Kräften, als der König, der ich geschaffen bin, sechs Tage lang. Aber am siebenten will ich den Herrn suchen, der über mir ist, und ihm dienen. Denn auch wir möchten vergehen und anbeten." Indem er dies letzte mit einem unbeschreiblichen Schmelz der Stimme sagte, sah ich zum ersten Male sein herzliches Lächeln, wobei die Zähne schimmerten wie Mondschein, der durch eine dunkle Wolke fällt. Dann, nach einer kleinen Pause, fuhr er lauter fort, dass es klang, wie wenn ein Frühlingsdonner über die Himmelswölbung rollt: "Kniet mit mir und betet an!" worauf sich alle niederwarfen. Die meisten blieben in dieser Stellung bis zum Ende der Predigt und schienen froh, ihrer leidenschaftlichen Inbrunst dadurch einen Ausdruck geben zu dürfen. Durch die Reihen der Menschen, die sich an ihn drängten, als er die Kirche verließ, um sein Kleid oder seine Hände zu berühren, ging er mit aufrichtiger, ganz ungesuchter Gleichgültigkeit, obwohl es namentlich Frauen waren und seine Jugend eine gewisse Reizbarkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht entschuldigt hätte. Aber man sah wohl, dass es diesem Liebling Gottes nicht einmal einen Kampf kostete, derartige Versuchungen zu überwinden.

Ich erinnere mich, dass inzwischen die Sonne untergegangen war und ein wonnig kühler, mehr zu empfindender als sichtbarer Flor sich über die graue Kirche, den Turm und alle Gegenstände herabsenkte. Der Himmel schien mir höher zu sein, als ich ihn je gesehen hatte, und ich stand noch und schaute hinein, nachdem sich die Menge längst verlaufen hatte. Allmählich war es mir, als höbe ich mich von der Erde und schwebte langsam nach oben, getragen von einem mächtigen, befreundeten Element, das, wie ich genau wusste, Fra Celeste regierte. Seit diesem Abend brachte ich den Bruder nicht mehr aus meinem Sinn, und als ich kurz darauf erfuhr, dass er einen Sekretär suchte, der seine Korrespondenzen und weltlichen Angelegenheiten überhaupt besorge, lief ich ohne Zögern zu ihm, in der Meinung, die Vorsehung habe mich eigens für dieses Amt auserlesen, wie ehemals den guten Parsifal für den Gral. Ich wurde sogleich vorgelassen, der himmlische Mann betrachtete mich eine Weile aufmerksam, strich liebkosend über meine Wangen, erkundigte sich nach meinem Alter, verwunderte sich, dass ich schon dreiundzwanzig Jahre zählte, denn ich gliche, sagte er, mehr einem kleinen Fräulein von sechzehn Lenzen, und äußerte Zweifel, ob ich auch im Stande sei, seine Geschäfte zu führen. Er selbst nämlich, obschon er wie ein Erzengel mit Nachtigallen- und Adlerzungen redete, konnte weder fließend lesen noch schreiben, und da er schon damals zahlreiche Briefe empfing, die ihm gleichgültig oder gar lästig waren, suchte er Jemand, der sie nach seinem Gutdünken schicklich beantwortete und ihn selbst nur in Ausnahmefällen damit behelligte. Ich zählte ihm alle Studien auf, die ich gemacht hatte, was ihn sehr zu befriedigen schien, und er gab mir einige Briefe, die er kürzlich erhalten hatte, damit ich sie abfertige wie es mir gut scheine, und ließ mich an seinem Schreibtisch allein.

Der erste Brief, den ich öffnete, war von einer Frau, die einen starken Trieb fühlte, ins Kloster zu gehen, ihr Mann, schrieb sie, wollte sie aber nicht gehen lassen; ob es gottgefälliger sei, dem himmlischen Herrn zuliebe dem irdischen ungehorsam zu sein oder bei dem letzteren auszuharren. Ich beantwortete diesen Brief folgendermaßen: "Frau, wenn Sie ins Kloster gehen, entwenden Sie Gott eine Seele, nämlich die Ihres Mannes, der mit Weltlust voll zu sein scheint und ohne Sie vielleicht zur Hölle fahren müsste. Bessern Sie ihn durch das Beispiel Ihrer Tugend, bis er selbst vor den irdischen Plagen sich ins Kloster zu flüchten sehnt und gehen Sie dann in Gottes Namen miteinander."

Der zweite Brief war ebenfalls von einer Dame, welche, um im Glauben gestärkt und vom Verderben errettet zu werden, eine Unterredung mit dem heiligen Bruder wünschte und ihn auf die Dämmerstunde eines bestimmten Tages zu sich einlud. Diesen Brief hielt ich für das Beste, unbeantwortet zu zerreißen.

Der dritte war von des Bruders Abte, der sich beklagte, dass er schon lange ohne die schuldige Berichterstattung bleibe, ferner, dass der Bruder, wie ihm zu Ohren gekommen sei, bei seinen Predigten oft ins Blaue fahre und nicht daran denke, der alleinseligmachenden katholischen Kirche die Ehre zu geben. Nach einigen Bedenken antwortete ich so: "Hochehrwürden, über das, was ich predige, bin ich nicht Herr, denn es ist Eingebung, und zwar, wie ich glaube und hoffe, des guten, nicht des bösen Geistes. Dass Hochehrwürden so lange keine Nachricht von mir empfangen haben, ist die Schuld meines Sekretärs, den ich wegen. dieser Nachlässigkeit scharf getadelt habe." Eben als ich dies geschrieben hatte, trat Fra Celeste wieder ein und verlangte, meine Arbeit zu prüfen. Nachdem er die beiden Briefe gelesen hatte, lobte er mich sehr und bat mich, bei ihm zu bleiben; er sei zufrieden mit mir.

Von diesem Augenblicke an blieb ich der Gefährte dieses einzigen Mannes, hatte mein Zimmer unmittelbar neben dem seinigen und begleitete ihn auf seinen Reisen; denn nun kam die Zeit, wo alle Städte unseres Landes wetteiferten, ihn in ihren Mauern zu empfangen. Die erste Reise, die wir zusammen unternahmen, ging nach seiner Vaterstadt, die er wiederzusehen wünschte. Dort ereignete es sich, dass bei der ersten Predigt, die er hielt, eine vornehme, reich und edel gekleidete Dame, während er in einer Pause angab, worüber er das nächste Mal predigen würde, von einer Ohnmacht angewandelt wurde. Sie erholte sich aber sogleich und drängte sich am Schlusse, obschon es ihr sichtlich ungewohnt und zuwider war, sich im Volksgewühl zu bewegen, dicht zu Fra Celeste hin, der sie mit einer Gebärde des Abscheus oder Zorns zurückstieß. Als ich mit dem Bruder allein war, sagte ich hierauf bezüglich: "Nun glaube ich wirklich, dass uns der Teufel in Gestalt von Frauen versucht; denn wenn Sie nicht den verkappten Satan in jener lieblichen Dame durchschaut haben, begreife ich nicht, wie Sie die Kraft haben konnten, sie so hart zurückzustoßen."

Damals hatte ich den Bruder noch nicht in der fliegenden Wut gesehen, daher erschrak ich nicht wenig, als seine stillen, schattigen Augen plötzlich groß und fürchterlich wurden und er so mit gezückten Schwertblicken hart vor mich trat. "Ist das deine Andacht", rief er, "dass Du nach den Frauen umherschaust? ekelhafte Schwäche und Verderbnis dieses Kotleibes! Errötest Du nicht über Deine Zuchtlosigkeit, wenn Du Dein keusches Jugendgesicht im Spiegel betrachtest, das Gott Dir gegeben hat? Wenn Du es besudeln solltest mit Gedanken oder Taten, verlasse Dich auf mich, dass ich Dich umbringe mit diesen meinen Händen."

Dabei war sein ganzer Körper gewaltsam gespannt, und seine Hände, die ich bisher nur schwermütig ruhen oder einen Nachdruck der Rede mit gleichgültig stolzer Gebärde hatte begleiten sehen, bekamen etwas so ehernes und unerbittliches, dass ich, ohne es zu wollen, ein wenig vor ihm zurückwich. Aber trotzdem es mir nicht recht geheuer war, entzückte mich der Anblick des feuerspeienden Mannes, wie man bei Ungewittern, Wolkenbrüchen und Stürmen zugleich vor Angst und Wonne schaudert. Ich segnete den Umstand, dass Küsse kein rotes Mal oder sonst eine Spur zurücklassen, denn ich zweifelte nicht, der Bruder würde mich stehenden Fußes erschlagen, wenn er wüsste, dass ich die Lockungen meines unruhigen und naschhaften Herzens zuweilen erfolglos bekämpft hatte.

Übrigens legte sich das Wetter so schnell es gekommen war, vielleicht unter dem Eindruck meiner erschrockenen und liebenden Blicke; wenigstens behandelte mich Fra Celeste im Verlaufe des Tages mit so engelgleicher Zartheit, dass ich mich mitten im Himmel wähnte und mir schwur, künftig dem erhabenen Beispiel meines Herrn nachzueifern und aller Frauenliebe zu entsagen, um mich ihm ganz ohne Einschränkung zu ergeben.

Am folgenden Morgen fiel mir unter den eingelaufenen Briefen sogleich einer durch die reizende, sichtlich einer Frau gehörige Handschrift auf. Die Buchstaben waren kühn, schlank, behänd und prächtig und tanzten in so anmutigen Neigungen über das Papier, als ob sie mit den Augen des Lesers kokettieren wollten. Zu meinem wachsenden Erstaunen las ich nun Folgendes: "Dolfin, ich habe Dich erkannt und Du hast mich von Dir gestoßen. Als ich Dich sah, verwandelte sich mein Blut in Tränen und meine Tränen wurden Blut. Liebst Du mich denn nicht mehr? Ich liebe Dich so sehr! Ich will Heimat, Eltern und Mann verlassen und die Deine sein. Lass' mich, sag' nicht Nein zu meinem Herzen. Wenn Du mich rufst, komm' ich und bleibe bei Dir ewig. Aglaia."

Dieser Schrei der Liebe, obschon er mir nicht galt, erschütterte mein Herz, und ich saß lange und starrte in den Brief hinein. Die stürmischen geschmeidigen Buchstaben schienen mir wie arabische Rosse über eine Wüste zu jagen, ich hörte den Rhythmus ihrer aufschlagenden Hufe, versank darüber in Träumerei, und ehe ich mirs versah, hatte ich einen Reim erdacht als Antwort auf die geheimnisvolle Liebesklage. Der Vers hieß so:

 

Durch den Himmel hin wandr' ich allein,

Hast Du Flügel, o komm' und sei mein;

Sei des einsamen Mondes Weib,

Wie ein Stern blitzt Dein silberner Leib

 

Ich hatte gerade die letzten Worte niedergeschrieben, als Fra Celeste bei mir eintrat und, wie er häufig zu tun pflegte, über meine Schulter sah. Es gelang mir nicht mehr, das Geschriebene zu verdecken, und so kam es, dass er sowohl meinen Vers wie auch den Brief las, der ihn veranlasst hatte. Wenn ich auch gleich erraten hatte, dass es sich hier um nichts Geringes handle, überraschte mich doch, was ich nun wahrnahm. Eine gewaltige Eiche, in die der Blitz fährt, die Feuer fängt und wie eine vom Sturme hin und her gewehte Fackel gegen den Himmel lodert, der möchte ich Fra Celeste vergleichen, als er den Inhalt des verhängnisvollen Schreibens ins Herz gefasst hatte.

So hing aber Alles zusammen.

Fra Celeste, der mit seinem weltlichen Namen Dolfin hieß, war als armes, elternloses Kind zwischen fremden Leuten aufgewachsen und wurde, nachdem er kaum das Notdürftigste in der Schule erlernt hatte, einem Bäcker in die Lehre gegeben. Als er etwa achtzehn Jahre alt war, kam er wie nach einem dumpfen Traume zu sich und verspürte einen heißhungrigen Trieb, seine Kräfte an etwas Ungeheurem zu üben. Auf ein bestimmtes Ziel richtete sich sein Ehrgeiz nicht, auch hätte er die Bildung dazu nicht besessen, aber Alles, was er um sich her sah, schien ihm verächtlich und viel zu klein für den Riesenmut seines Herzens. So war er beschaffen, als er sich in ein vornehmes und reiches Fräulein verliebte, in deren elterliches Haus sein Beruf ihn führte. Wenn nicht ein überirdischer Geist in ihm gewesen wäre, möchte es ihm als einem armen Bäckerburschen niemals gelungen sein, eine Beziehung zu dem Fräulein herzustellen, besonders da er nicht einmal auffallend schön war, außer dass der später so wohlredende, damals noch blöde Mund, schön, stark und rot, die glänzendsten und vollkommensten Zähne besaß und mit seinem Lächeln, das freilich nur selten erschien, alle Herzen bezaubern konnte.

Die Bekanntschaft hatte Fra Celeste so angebahnt, dass er einmal, anstatt das Haus zu verlassen, an der Gartentür stehen blieb und unentwegt in den Garten hineinblickte, wo das Fräulein allein auf einer Bank saß. Etwas beunruhigt, fragte sie endlich, worauf er noch warte, und als er, ohne sich zu besinnen, sagte: auf eine von den Rosen, die an den hohen Stämmen längs eines Gebüsches hinter der Bank blühten, bog sie sich rückwärts, pflückte eine, ging zu ihm hin und gab sie ihm, der kurz dankte und fortging. Erst dann wunderte sie sich über das, was sie, überrascht von der Seltsamkeit eines solchen Betragens, gleichsam unbewusst getan hatte und lachte sich selbst aus; nichtsdestoweniger suchte sie eine Gelegenheit, den wunderlichen Bäcker wieder zu sehen. Ihre Phantasie wurde vollends angeregt, als er kleine Gespräche mit ihr zu führen begann; denn nun verspürte sie den Genius, der in seiner Brust wohnte. Obgleich er wenig oder nichts gelernt hatte, wusste er seine Einfälle und Beobachtungen so zu äußern, dass das Geringste bedeutend erschien, ja, er konnte Albernheiten, wie dass der Himmel blau und das Wasser nass sei, so vortragen, dass man aufhorchte und es Tage lang mit sich herumtrug. Anfänglich gefiel es dem Fräulein, mit ihrem sonderbaren Verehrer von der Familie und den Bekannten geneckt zu werden, allmählich aber vermied sie es, von ihm zu sprechen und mit ihm gesehen zu werden, und wenn man sie dennoch auf ihn anredete, konnte sie spitzige Antworten geben, wie dass der arme Bäckerjunge gescheiter, stolzer und edler sei als ihre hochgeborene Umgebung. Nun zeigten ihre Eltern Missfallen an dem Verkehr, was wiederum ihre Zuneigung verstärkte, und es kam dazu, wovon mir das Einzelne nicht bekannt ist, dass Liebesworte und Küsse zwischen den beiden jungen Leuten gewechselt wurden. Zugleich aber bemächtigte sich des Fräuleins heimliches Schuldgefühl, sodass sie ihn bald hochmütig vermied, bald mit leidenschaftlicher Hingebung suchte, während er dieser Verwirrung gegenüber sich immer sicherer und männlicher fühlte. Des Fräuleins Eltern, deren Geschlechtsnamen ich nicht nennen will ––  sie selbst hieß Aglaia –– erfuhren oder ahnten, wie gefährlich diese Spielerei mit der Zeit geworden war, und beschlossen, damit nicht noch Ärgeres geschehe, ihr Kind so schnell wie möglich standesgemäß zu verheiraten. Sie warfen ihr Auge auf den Grafen, den ich später selbst kennen gelernt habe, einen großen, prächtigen Mann mit geräumigen Augen und geringelten schwarzen Haaren, die angenehm glänzten, sodass er wohl schön genannt zu werden verdiente. Er war aber auf diese Vorzüge weit weniger eitel als auf seine Geistesgaben und Glücksgüter, in welchen letzteren er die ersten zeigen wollte, insofern nämlich, dass er von Allem das Schönste und Seltenste besaß. Was allgemein geschätzt und kostbar war, schaffte er an, und so bewarb er sich auch um Aglaia, deren Witz, Eigenart, liebliches Wesen und körperliche Vorzüge er von allen Seiten hatte rühmen hören. Da nun das Fräulein von den älteren und verständigen Leuten Tag für Tag das Los einer armen Bäckersfrau in grellen Farben beschreiben hörte, verlor ihr Herz die kindische Zuversicht, und sie fing an, sich für eine überspannte, romanlesende Person zu halten, dass sie die gute, klare, gesunde Wirklichkeit so hatte übersehen können. Sie sah sich von Zichorien- und Kartoffelnahrung aufgeschwemmt und unförmig geworden, von vielen Kindern umzetert, die gesäugt, gewaschen und geprügelt sein wollten. Von Dolfin waren ihr hauptsächlich die mehlweißen Arme und Hände gegenwärtig, die sie bald mit klebrigen Liebkosungen, bald mit Schlägen verfolgten; denn ohne das, hatte man ihr gesagt, würde es durchaus nicht abgehen. Alle ihre Lieblichkeiten, die weiche Zartheit ihrer Hände, ihr träumerisches oder ausgelassenes Wesen, ihren Aberwillen gegen das Alltägliche und Gemeine würde man ihr dort zum Vorwurf machen und allmählich austreiben, bis sie sich in die platte Form des Durchschnittspöbels hineingebückt hätte. Wenn sie sich überlegte, dass sie von allen ihren Zweifeln auch nicht ein Wort zu Dolfin hätte sagen mögen, fühlte sie, wie fremd sie einander waren; sie gehörten zwei verschiedenen Welten an und hatten sich nur auf einem Inselchen des Grenzflusses ein Stelldichein gegeben. Dies Alles bedenkend, glitt sie dem behaglichen Schicksal, das man ihr zubereitet hatte, mit guter Miene in den Schoß, ja, um es besser bewerkstelligen zu können, verliebte sie sich sogar unwillkürlich ein wenig in ihren Bräutigam, wozu ihr der Ärger über sein pompöses Betragen und die Reue über die Unarten, die sie ihm zufügte, das beste Mittel waren. Zwar hatte sie noch einige Begegnungen mit Dolfin, der, als er erfuhr, was im Werk war, den Jammer seines zärtlichen Herzens hinter grobem Zürnen verbergend, sie fürchterlich anherrschte und anfänglich dadurch das Feuer ihrer Liebe neu anfachte. Aber als sich das rechtmäßige Gefühl für ihren künftigen Gatten mehr und mehr ausbildete, schämte sie sich der Worte und Küsse, die sie mit Dolfin gewechselt hatte, und wich ihm aus; und als er trotzdem ihren Weg kreuzte, wurde sie in ihrer Angst schnippisch und böse und nannte ihn einen Narren, dass er eine mutwillige Spielerei für ernst genommen habe.

 Dies war der Anlass, der ihn in das Kloster führte. Der bloße Liebeskummer hätte ihm die Welt vielleicht nicht dermaßen verleidet, aber die Tatsache, dass sein Nebenbuhler das Glück davongetragen hatte, weil er reich war, dass man also auch Menschenseelen, das edelste und heiligste Besitztum, sich erkaufen kann, das füllte ihm die Brust bis an die Kehle mit Groll und Verachtung, dazu mit Stolz, weil er solcher Niedertracht und Schwäche nicht unterworfen war. Er hätte stundenlang auf geprägtem Golde gehen können, ohne sich einmal danach zu bücken, ja ohne nur hinzublicken. Nun entwickelte sich die Krankheit, zu der er von jeher Anlage in sich gehabt hatte, mehr und mehr, die nämlich, dass er sich einsam fühlte, einsam wie eine göttliche Seele in einem unreinen Körper, einsam wie ein übriggebliebenes Tier in einem verschütteten, ausgestorbenen Dorfe. Er litt unter dieser Einsamkeit in Gesellschaft von Vielen ebenso gut, wie wenn er sich allein mit Beten oder häuslicher Arbeit beschäftigte, wie auch wenn er mit Mehreren ein Gespräch führte; es geschah ihm dann wohl, dass die Menschen und Gegenstände von ihm wegzurücken schienen in die leere Unendlichkeit, wo er sie nicht mehr erreichen konnte, obgleich er sie mit derselben Deutlichkeit wie vorher sah. Denn auch die Mönche trieben es nicht viel anders als die Leute draußen in der Welt, ließen sich nichts abgehen, bekümmerten sich trotz alles Betens und Singens viel mehr um irdische als um himmlische Dinge, kurz, er konnte sich durchaus nicht vorstellen, dass Gott sein Reich mit diesen Maultieren bevölkern möchte. Da er nun auch diese Menschen, deren Profession doch das Überirdische war, so gemeinplätzig und überflüssig fand, wurde Zorn gegen alle Sterblichen in ihm herrschend, die das Ebenbild Gottes durch den Schmutz schleiften, und er wurde, so schweigsam er sonst auch war, stets beredt, wenn er sich darüber auslassen konnte. Dies zeigte sich, als er an einem Bußtag einmal an der Reihe war, zu predigen, und der Sturm seiner Rede so stark daher rauschte, dass auch die schläfrigsten Mönche in ihrem dickhäutigen Herzen darunter erbebten. Der Abt suchte das neuentdeckte Talent sogleich zu verwerten, indem er ihn öffentlich reden ließ, und die Wirkung war denn auch über alle Erwartung groß. Die Melancholie seines jungen Gesichts und die Süßigkeit seiner Stimme, die seine Worte auf Schwanenfittichen über die Häupter der Menge dahintrug, verführten die Sinne; dazu kam aber die Macht seiner Seele über die Seelen, die er aus dem Schlamm der Erde in den Äther emporriss. Er wurde nun häufig zum Predigen in die benachbarten Dörfer und Städte geschickt, was dem Kloster hübsche Summen eintrug, da er der Regel gemäß wie alle anderen Mönche persönliches Eigentum nicht haben durfte, die Gemeinden aber gern reichlich zusammensteuerten, um ihn auf der Kanzel zu sehen. Er fing nun an, eine berühmte Persönlichkeit zu werden, und weltliche Freuden und Ehren taten sich ihm überall auf: wo er hinkam, suchten die angesehensten Männer und Frauen seine Gesellschaft. Er, der als Kind und Jüngling in jeder Hinsicht gedarbt hatte, hätte nun nach Herzenslust genießen können; anstatt dessen steigerte sich seine Geringschätzung aller Lust der Welt, je mehr sie sich ihm darbot, weil er den Schmerz seiner Sehnsucht, wenn er innewurde, dass sie durch nichts gesättigt werden konnte, um so empfindlicher spürte.

Dies war der Zeitpunkt, wo ich ihn kennen lernte und wo er Aglaia wieder begegnete. Aglaia hatte unterdessen, an der Seite ihres Gemahls, der an Geist wie an Körper immer satter und bequemer geworden war, ohne Sorgen zwar, aber auch ohne innere Genugtuung gelebt. Da ihr einziges Kind früh gestorben war und ihr ein dringender Grund, sich ernstlich zu beschäftigen, fehlte, blieb ihr Muße genug, über den Lauf der Welt nachzudenken und zu träumen, und sie malte sich oft aus, wie es geworden wäre, wenn sie, anstatt sich von der kümmerlichen Menschenvorsicht binden zu lassen, Dolfin gefolgt wäre, der jetzt in seinem Kloster nicht einsamer war als sie in ihrem Palaste. Von seinem Ruf als Buß- und Sittenprediger hatte sie, die sich für das Kirchliche nicht interessierte, nichts vernommen, und als sie die Ankündigung an den Häusermauern las, dass der berühmte Fra Celeste eine Predigt über den Kirchenbesuch und das Gebet halten werde, trat sie in die betreffende Kirche, in deren Nähe sie eben war, ein, ohne zu ahnen, wen sie wiedersehen sollte. Eigentlich hatte sie sich nur unterhalten und ausruhen, allenfalls etwas Neues hören wollen, aber die Rede des Mönches schüttelte ihr Herz gewaltig, wenn sie eben auch nicht Schritt für Schritt dem Gedankengange folgte, den er entwickelte; sie vertraute sich dem starken Fluge seiner Worte, der sie weit wegtrug über Länder und Meere in eine fremde und doch heimische Herrlichkeit. Ihre Seele kehrte von der Reise zurück, als die Musik der Stimme über ihr plötzlich schwieg; dann räusperte sich Fra Celeste und gab in seinem gewöhnlichen halblauten Sprechtone an, welches der Text seiner nächsten Predigt sein würde.

Gleich das allererste Wort schlug wie ein Hammer an Aglaias Herz, die Erinnerung stürzte daraus hervor und füllte aufschwellend ihre Brust an, was sie zuerst als eine Wollust, dann mit Angst empfand, bis es sie zu ersticken drohte. Es begab sich nun Alles, was ich bereits erzählt habe: sie schrieb jenen Brief an Dolfin, erwartete aber die Antwort nicht, sondern erforschte seine Wohnung, verschaffte sich Zutritt zu ihm und stand auf der Schwelle seines Zimmers, ehe er noch die Empörung seines Blutes, die durch ihr Schreiben entstanden war, bemeistert hatte.

Wenn ich diese Liebliche aus ihrem Grabe oder vielmehr aus ihrer himmlischen Verklärung auf einen Augenblick zurückrufen könnte, möchte ich sie noch einmal so sehen wie jenes erste Mal: die Augen voll Tränen, die Lippen zitternd von Sehnsucht und Hoffnung, wie eine zaghafte Seele vor dem halboffenen Tor des Paradieses, goldig umflossen von dem himmlischen Lichte, das daraus hervorströmt, aber demütig und furchtsam zurückgebogen, wenn vielleicht der Engel mit dem Schwerte die Sünderin verscheuchen wollte. Einige Augenblicke mochte sie so in schwebendem Zögern dagestanden haben, dann stürzte Fra Celeste auf sie zu, nahm sie in die Arme, presste sie gegen seine Brust, bedeckte ihr tränenüberströmtes glückseliges Gesicht mit Küssen, fasste ihren Kopf zwischen seine Hände und drückte ihn an seinen Hals, das Alles in einem Nu und abwechselnd viele Male hintereinander, sodass ich dachte, es müsse der feinen schlanken Frau Hören und Sehen vergehen. Was sich weiter zwischen ihnen begab, kann ich aus eigner Anschauung nicht erzählen, denn ich hielt es für angemessen, mich zu entfernen; jedenfalls fand eine völlige Aussöhnung statt und der Beschluss wurde gefasst, sich künftig nicht mehr voneinander zu trennen, vorausgesetzt natürlich alle die Beschränkungen, die die Verhältnisse ihnen auferlegten.

An diesem Tage predigte Fra Celeste von der himmlischen und irdischen Liebe so über alle Maßen herrlich und weihevoll, dass man das allumfassende Herz Gottes selbst in seinen Worten klopfen zu hören. glaubte. Einige junge Wüstlinge und viele leichtfertige Frauen legten in seine Hand das Gelübde künftiger Keuschheit ab, und es war gewiss nicht einer unter den Zuhörern, der sich nicht dessen geschämt hätte, worauf er sich bisher in seiner Verblendung etwas zugute zu tun pflegte.

Der Ruhm des wundervollen Mannes nahm jetzt schnell zu, alle Zeitungen sprachen von ihm, seine Reden wurden gedruckt und gesammelt. Wenn er sie nun zufällig irgendwo fand und las, missfielen sie ihm in solchem Grad, dass er sie geradezu für abgeschmacktes leeres Gewäsch erklärte und beschloss, seinen Geist auszuarbeiten und seine Kenntnisse zu vermehren, um ihnen einen gediegenen Gehalt zu geben. Zu diesem Zwecke studierte er viele wissenschaftliche Werke, theologische, historische, philosophische, ja auch naturwissenschaftliche, und zwar las er nach kurzer Übung ein solches Buch schneller als man ein Glas leichten Weines trinkt, ohne dass ihm etwas Wesentliches entgangen wäre. Nun kamen von nah und fern Gelehrte, Professoren der Universitäten und die ersten Staatsmänner und zahlten hohe Preise für einen Platz in der Kirche, wenn Fra Celeste predigte, während seine Anziehungskraft für das niedere Volk sich nicht verminderte. Unter der Last der Gelehrsamkeit wurde sein Genius nicht lahm und steif; niemals gab es einen Prediger, der die gepflegtesten wie die vernachlässigtsten Geister gleich mächtig beherrschte.

Was Aglaia betrifft, so entschloss sie sich kurz und gut, ihren Mann ein für alle Mal zu verlassen und uns zu begleiten oder wenigstens mit uns, wo immer wir uns längere Zeit aufhielten, zusammenzutreffen. Ohnehin war es dem Bruder unleidlich, auch nur das seelenloseste Stückchen ihrer Gegenwart auf Augenblicke einem anderen gönnen zu müssen, und seine Wut auf den Grafen machte es wünschenswert, dass Aglaia demselben entzogen und damit die Ursache seiner Eifersucht hinfällig würde. Konnte sie auch seine Wohnung nicht teilen, so war sie ihm doch leicht erreichbar, und es verging selten ein Tag, ohne dass sie sich gesehen hätten. Häufig begleitete ich ihn bei diesen Besuchen, besonders wenn wir die Abendmahlzeit zusammen einnahmen, welche Stunden mir immer wie ein Glanz und Leuchten in der Erinnerung bleiben werden. Die allmächtige Zunge des herrlichen Mannes war dann meist schweigsam, und er ließ Aglaia mit mir scherzen und schwatzen. Ich höre sie noch; wie ein kleines tanzendes Wasser, das sich von einem himmelhohen Felsen herabstürzt und schäumend von Klippe zu Klippe springt, hüpfte das übermütige Geplauder von ihren beweglichen Lippen. Manchmal, wenn ich einschlafe, ist es mir, als neigte sie sich über mich und ließe ein feines, singendes, plätscherndes Wiegenlied in mein wehmütig horchendes Ohr rieseln. Ach, ob die fliegende Seele, wenn sie die Erde wieder aufsuchte, bei mir verweilen würde? Während sie mit mir sprach, ruhten ihre Augen mit dem stillen, feuchten und glänzenden Blick auf Dolfin, von dessen Antlitz an diesen Abenden die Traurigkeit ganz verschwunden war. Er glich einem kleinen Jungen mit glücklichem Weihnachtsgesicht, in dem Augen und Zähne blinken und lachen.

Überhaupt war er jetzt fast immer gehoben und heiter, nur dann und wann wurde er von einer unerhörten Melancholie ergriffen, die ihn jählings wie eine hungrige Wölfin anpackte, auch wenn er in Aglaias Gesellschaft war. Ich legte dies anfänglich