Dreimal schwarzer Kater - Philippe Georget - E-Book
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Dreimal schwarzer Kater E-Book

Philippe Georget

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Beschreibung

Mordshitze im Roussillon: Inspecteur Gilles Sebag befindet sich in der schönsten Sommerlethargie. Bis zwei rätselhafte Vermisstenfälle und eine Leiche ihn aus der Idylle mit seiner Frau Claire reißen. Bald findet Gilles sich in Ermittlungen ungeahnten Ausmaßes wieder. Der Inspecteur muss sich nun auch noch mit einem extra eingeflogenen profilneurotischen Kollegen aus Paris rumschlagen. Die gemütlichen Abende mit kühlem Wein am heimischen Pool sind genauso dahin wie die Harmonie mit Claire – und im sommerlich ausgestorbenen Perpignan ist jede Form der Ermittlung einfach nur schweißtreibend.

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Das Buch

Es ist Sommer im südfranzösischen Perpignan. Und es ist heiß. Sehr heiß. Inspecteur Gilles Sebag und sein Kollege Jacques Molina gehen lethargisch und ohne viel Begeisterung dem Tagesgeschäft nach und sehnen sich nach einem kühlen Glas Weißwein zum Feierabend.

Da wird am Strand von Argelès eine junge Holländerin tot aufgefunden. Sie wurde brutal ermordet. Eine weitere Touristin verschwindet spurlos. Sofort füllen die Medien das Sommerloch und machen die Bevölkerung verrückt: Ist ein Serienmörder auf Touristinnenjagd?

Schnell findet sich Gilles in Ermittlungen ungeahnten Ausmaßes wieder – und die abendliche Idylle mit seiner Frau Claire ist auch dahin. Eine mörderische Schnitzeljagd im vollkommen überhitzten Roussillon nimmt ihren Lauf …

Der Autor

Philippe Georget wurde 1963 geboren. Nach mehreren Jahren als Journalist für Rundfunk und Fernsehen hat er 2001 seine Familie in einen Campingbus gepackt, um einmal mit ihr das Mittelmeer zu umrunden. Seit seiner Rückkehr lebt er als Autor mit Frau und Kindern in der Nähe von Perpignan und läuft leidenschaftlich gern Marathon. Für seine Krimis hat er in Frankreich verschiedene Preise gewonnen.

Philippe Georget

Dreimal schwarzer Kater

Ein Roussillon-Krimi

Aus dem Französischen von Corinna Rodewald

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN978-3-8437-0728-2

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2014 © für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013 © Éditions Jigal, 2009 unter dem Originaltitel L’été tous les chats s’ennuientALL RIGHTS RESERVED Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © Michaa Krakowiak / getty images (Häuser mit Landschaft); © FinePic®, München (Himmel)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

1 Robert wachte um vier Uhr auf. Wie jeden Tag seit über vierzig Jahren.

Es war für ihn weder eine bewusste Entscheidung noch ein Zwang. Es war einfach so. Winterzeit, Sommerzeit, ganz egal: Um vier Uhr wachte er auf und stieg gleich darauf aus dem Bett.

Er schenkte sich eine Tasse kalten Kaffee ein, gab einen Schuss Milch hinzu und schob dann das Kreuzworträtsel beiseite, um die Tasse auf dem Tischchen abzustellen.

Robert hatte sein ganzes Leben lang als Schlosser in einer Firma für Landmaschinen in der Nähe von Gien im Département Loiret gearbeitet. Er hatte immer genau um vier Uhr dreißig abgestempelt, und niemals war er auch nur eine Minute zu spät gekommen. Er hatte gute Beurteilungen, wurde von seinen Vorgesetzten geschätzt, war nicht in der Gewerkschaft und dazu umgänglich. Ein vorbildlicher Arbeiter. Betriebsbedingt entlassen, als er sich der Fünfundfünfzig näherte.

Er setzte sich auf die schmale Bank und verzog das Gesicht, als er das kalte, bittere Gebräu hinunterschluckte. Er hätte es noch einmal aufwärmen können, aber dazu war er zu träge. Außerdem durfte er ohnehin keinen Zucker dazutun, da konnte er den Kaffee ebenso hinunterkippen, ohne sich lange damit aufzuhalten. Er hatte es auch eine Zeitlang mal mit Tee probiert, doch das hatte er als schlimmere Strafe empfunden.

Obwohl er nicht mehr berufstätig war, hatte Robert seine innere Uhr nicht umstellen können. Dieses frühmorgendliche Aufstehen hatte Solange, seine Frau, zur Verzweiflung gebracht. So hatte er zu Beginn seiner unfreiwilligen Rente versucht, liegen zu bleiben, zumindest bis sechs Uhr. Aber er wälzte sich im Bett herum und verwickelte sich so sehr in den Laken, dass seine Frau ihm letztendlich wieder erlaubte, aufzustehen, sobald er aufwachte. Und dann ging Solange schließlich von ihm. Innerhalb weniger Monate. Knochenkrebs.

Robert schüttete den letzten Rest Kaffee ins Spülbecken und wusch die Tasse ab. Die Wasserpumpe surrte in ihrem Kasten unter der Bank. Er stellte die Tasse auf das Abtropfgestell und verließ den Wohnwagen.

Es war Mitte Juni, und auf dem Campingplatz Lauriers Roses in Argelès war noch nicht viel Betrieb. Nur ein paar Pensionäre wie Robert und eine Handvoll Touristen aus dem Ausland. Die Niederländer trafen immer als Erste ein, gefolgt von den Deutschen. Robert ging geradewegs zu den Toiletten. Gestern hatte er die zweite Kabine von links benutzt. Heute würde er die dritte nehmen. Es war Mittwoch.

Er urinierte langsam und genüsslich in eine saubere Schüssel. Das Häuschen war von einem zarten Lavendelduft erfüllt. Das hatte Robert an Lauriers Roses sofort gefallen: wie sauber die Toiletten waren. Sie wurden regelmäßig gereinigt, und das vor allem auch noch ein letztes Mal recht spät am Abend. Robert wusste es zu schätzen, wenn er nicht schon am frühen Morgen den Gestank von Pisse und Scheiße der anderen Camper einatmen musste.

Bis zum letzten Tropfen auf dem glatten und immer noch makellos reinen Innenrand der Schüssel kostete Robert es aus. Als er die Kabine verließ, sah er auf die Uhr. Vier Uhr neunzehn. Wie am Abend zuvor wusch er sich die Hände am neunzehnten Waschbecken in der scheinbar endlosen Reihe. Anschließend trocknete er sich die Hände an seiner Hose ab. Er war bereit für seinen täglichen Spaziergang.

Er ahnte bereits, dass es der beschwerlichste seines Lebens sein würde.

Der weiße Kies auf dem Hauptweg knirschte unter den Ledersohlen seiner Sandalen. Normalerweise mochte Robert dieses leise, zarte Geräusch, doch an diesem Morgen schenkte er ihm keine Beachtung.

Robert und Solange hatten Lauriers Roses 1976 entdeckt. Davor hatten sie meist irgendwo in der freien Wildbahn gecampt, wenn sie nicht einfach in ihrem alten Citroën Dyane schliefen. Die Geburt ihres ersten Sohnes Paul hatte sie aber dazu bewegt, sich nach etwas mit mehr Komfort umzusehen. Dann waren Gérard und Florence dazugekommen. Die Kinder hatten sich beim Campen mit anderen Kindern angefreundet und freuten sich, sie dort jeden Sommer wiederzusehen. Auch Robert und Solange hatten so ihre Gewohnheiten entwickelt. Die Eltern besagter Freunde waren ebenfalls zu Freunden geworden, und zwischen Boule-Spielen, Grillen und diversen Runden Belote vergingen die Ferien wie im Flug.

Robert ging noch einmal an seinem Wohnwagen vorbei, um nachzusehen, ob er auch die Tür ordentlich verschlossen hatte. Ein Tick von ihm. Zu Lebzeiten seiner Frau hatte er sich zurückgehalten. Aber Solange war nicht mehr da.

Er drehte am Türknauf. Nichts rührte sich, die Tür war verschlossen. Natürlich.

Robert war stolz auf ihren Standort, der am besten angelegte auf dem gesamten Campingplatz. Zwei Vordächer schlossen aneinander an und verbanden den Wohnwagen mit einer Holzveranda, die von einem Steingrill gesäumt wurde, von Robert 1995, im Jahr seiner Entlassung, selbst konstruiert. Das Ganze wurde von einem Pinienholzzaun eingefriedet, an dem ein Dutzend Blumentöpfe angebracht waren. Solange hatte sich immer um die Blumen gekümmert, und im ersten Sommer nach ihrem Tod waren die Töpfe leer geblieben. Dann hatte Robert die Tradition fortgeführt. Den Zaun mit Blumen auszustaffieren erschien ihm sinnvoller, als ein Grab damit zu schmücken.

An den Holzpfosten begann die grüne Farbe unter dem Einfluss von Sonne und Salz abzublättern. Robert hatte vorgehabt, die Pfosten neu zu streichen, aber er bezweifelte, dass er es diesen Sommer schaffen würde.

Er mietete den Stellplatz ganzjährig. Am Anfang seiner Rente verbrachten Solange und er beinahe sieben Monate im Jahr in Argelès. Doch nun ermüdete ihn die Hochsaison. Er war fünfundsechzig und erschöpft. Er würde den Sommer lieber an der Loire verbringen, aber dies war die einzige Zeit, in der seine Kinder und Enkelkinder mit ihm Urlaub machen konnten.

Mit schweren, gedämpften Schritten überquerte er den Campingplatz.

Ein Lichtstrahl schien unter der Tür eines benachbarten Wohnwagens mit deutschem Nummernschild hindurch. Darin wohnte ein Paar um die sechzig herum, er groß und mit ziemlich schütterem Haar, sie klein, stämmig und mit Dauerwelle. Beim Einparkmanöver hatten sie sich heftig angeschrien. Robert hatte zuerst gelacht, doch dann hatte ihn ein merkwürdiges Gefühl überkommen. Seitdem er allein lebte, fehlten ihm solche Streitereien.

Neben den Deutschen, im Zelt der jungen Niederländerin, war weder ein Laut zu hören noch ein Licht zu sehen.

Robert gelangte zur kleinen Pforte, die an den Strand führte. Sie war verschlossen, aber er besaß einen Schlüssel. Charles und Andrée, die Betreiber des Campingplatzes, kannten seine morgendlichen Gewohnheiten und hatten ihm schon vor langer Zeit einen nachmachen lassen. Über die Jahre hatten sie sich aneinander gewöhnt. Robert half den beiden während der Nebensaison hin und wieder bei der Instandhaltung des Platzes. Eine Kleinigkeit hier, ein Handgriff dort. Ein Waschbecken, das verstopft war, ein Stück Rasen, das ausgebessert werden musste, ein Zaun, der wieder aufgerichtet werden sollte. Robert werkelte gern, und in seinem Wohnwagen gab es für ihn nicht viel zu tun. Charles und er plauderten während der Arbeit, das vertrieb die Zeit. Außerdem – auch wenn meist das Gegenteil behauptet wurde – vertrauten sich Männer einander viel eher an, wenn sie dabei vor einem tropfenden Wasserhahn und nicht vor einem Glas Anisette saßen. Nur Charles gegenüber hatte Robert seine Hilflosigkeit nach Solanges Tod eingestehen können.

Einmal hatte er sogar geweint.

Er nahm den Weg durch das Naturschutzgebiet Mas Larrieu. Die Vögel waren sich seiner Qualen nicht bewusst und sangen ihre ewige Hymne an das Leben. Unter ihrem Gezwitscher konnte man bereits das Meeresrauschen hören.

Der Meereswind erhob sich sanft und trug in seinem Schlepptau einen wilden Duft nach Jod und der Ferne herüber. Der Weg führte brav zwischen zwei Holzpfosten hindurch, die den Sand eindämmen und die Touristen lotsen sollten. Zu beiden Seiten reckten blühende Feigenkakteen ihre Micky-Maus-Ohren in die Höhe.

Je näher man dem Strand kam, umso mühsamer wurde das Vorankommen, und im Sand wurden Roberts Schritte schwerfälliger. Der Pensionär ging so nah wie möglich an der Abzäunung entlang, um die Füße auf die mageren Grasbüschel dort setzen zu können. Als er an einem Schilfwäldchen vorbeikam, zögerte er kurz. Schließlich entschied er sich, zuerst bis ans Wasser zu gehen.

Noch ein paar Dutzend Meter und dann gelangte er an den Strand. Der Wind war hier stärker und die Gerüche intensiver. An diesem Morgen herrschte heftiger Seegang. Am Horizont dämmerte es bereits. Das Leben würde weitergehen. Unerschütterlich.

Robert ging bis an die Küstenlinie, wo die Wellen auf immer anderer Höhe den Strand berührten. Er betrachtete die dunklen Wassermassen und die weißen Kämme. Kein Meer würde seinen Körper jemals wieder tragen, klagte er innerlich. Eine enorme Einsamkeit, eine vollkommene Verzweiflung übermannte ihn. Seine Knie gaben unter der Last nach und zwangen ihn, sich in den feuchten Sand sinken zu lassen.

Wie gern hätte er die Zeit um ein paar Stunden zurückgedreht. Nur ein paar Stunden …

Gedanken stürzten auf ihn ein, ohne dass er sie wirklich zu fassen bekam. Eine ihn mitreißende Welle, die über die Felsen hinwegspülte. Solange, Florence … die einzigen Frauen seines Lebens. Bruchstücke glücklicher Ferien tauchten auf, wurden jedoch sogleich von Bildern voll Zorn und Blut hinweggefegt. In seinem Schädel tobte ein Sturm. Robert wusste, dass dieser Sturm sich erst legen würde, wenn er starb. Und zwar so bald wie möglich …

Lange saß er niedergeschlagen da. Als er den Kopf hob, zerriss ein roter Streifen den Horizont. Schon bald wäre die Sonne da. Die ersten Kinder würden am Strand herumlaufen, voller Lachen, voller Leben … Nur mit Mühe entschloss er sich, weiterzugehen.

Er dachte daran, sich wieder hinzulegen. Sich wie ein kleines Kind unter der Bettdecke zu verkriechen. So weit weg war die Kindheit, und Robert fühlte sich so alt. Angeblich wurde man eines Tages wieder zum Kind. Wenn es nur wahr wäre, man vor dem Tod die Freude und die Unschuld wiederfinden konnte …

Doch die Stunde der Freiheit hatte nicht für ihn geschlagen.

Zurück am Schilfwäldchen, bildete Robert sich ein, ein Scharren zu hören. Ein merkwürdiges Scharren. Er näherte sich vorsichtig den hohen Gewächsen und folgte der Fährte abgebrochener Halme. Und dort, auf einer winzigen Lichtung, die im tödlichen Kampf zweier Gestalten entstanden war, entdeckte er den blutigen Leichnam der jungen Niederländerin.

2 Eine leichte Brise erfrischte seinen vor Schweiß zerfließenden Oberkörper.

Mit einem Blick konnte er die gesamte Ebene des Roussillon bis hin zum blauen Mittelmeer erfassen. Im Norden sanken die Hügel der Corbières sanft von den Gipfeln hinab bis zum Étang de Leucate; im Süden hinter den Albères versteckte sich Spanien vor seinen geblendeten Augen.

Die Sonne löschte die verschiedenen Grüntöne aus, ließ aber die roten Ziegeldächer leuchten. Jedes Jahr stahl die Urbanisierung den Weinbergen und Obstplantagen einige Dutzend Hektar Land, und die Wohnsiedlungen überschwemmten langsam die Ebene. Sie umringten und überfluteten die Dörfer und ließen von ihrer Vergangenheit nicht mehr erkennen als die Zacken der romanischen Kirchtürme, die aus ihrer Silhouette emporragten. Seit fünfzig Jahren wuchs die Bevölkerung immer mehr an, und die Neuankömmlinge auf der Suche nach einem entschleunigten Lebensstil mussten irgendwo untergebracht werden.

Gilles Sebag kam nur schwer wieder zu Atem. Nachdem er vor einer Dreiviertelstunde von der mittelalterlichen Burg in Castelnou losmarschiert war, hatte er mit kleinen Schritten den Pfad zur Kapelle Sant-Marti de la Roca erklommen. Gegen Ende stieg der Weg immer steiler an, und Gilles hatte eine Pause einlegen müssen. Bisher hatte er es immer in einem Rutsch geschafft.

Von der felsigen Bergspitze aus, auf der er sich ausruhte, konnte er die Têt nicht sehen, ihren Verlauf jedoch dank der Dörfer, die bis nach Perpignan an ihr Ufer grenzten, ohne weiteres verfolgen. Jedes dieser Dörfer kannte er beim Namen. Und doch war auch er vor einigen Jahren ein Neuankömmling gewesen, einer dieser aus dem Norden Hinzugezogenen, die die Katalanen mit einer Mischung aus Sympathie, Stolz und Resignation empfingen. Glücklicherweise hatte er eine Arbeit. Einen Beruf, der ihn zwar nur noch mäßig begeisterte, ihm aber am Monatsende ein ausreichendes Gehalt einbrachte.

Er griff seine Trinkflasche und nahm zwei kleine Schlucke. Das Wasser war schon warm. Ein wenig goss er sich auch über den Kopf. Das Wasser rann ihm den Nacken hinunter und lief ihm dann über den Rücken.

Gilles fröstelte.

Das Lärmen menschlicher Tätigkeiten drang schwach wie ein anhaltendes Summen an sein Ohr. Nur das Brummen der Cessna, mit der die Feuerwehrleute ununterbrochen das Gebirgsmassiv überflogen, war darunter auszumachen.

Er dachte wieder an Léo, seinen Sohn.

An diesem Morgen war der Bengel geschickt einem Abschiedskuss vor der Schule entkommen. Kaum hatte das Auto angehalten, da war er schon blitzschnell ausgestiegen und hatte nur noch etwas Unverständliches über die Schulter hinweg gesagt, das wahrscheinlich »tschüs« oder »bis heute Abend« heißen sollte. Dieses Manöver führte er jetzt schon seit über einem Monat durch. Es war sein Alter, er war in der Seconde, der zehnten Klasse am Lycée. Er gehörte nun zu den Großen. Da hatte man keine Lust mehr, seinem alten Herren vor seinen Freunden auch nur irgendeine Art von Zuneigung zu zeigen. So war das Leben. Gilles versuchte sich darin, das Ganze gelassen zu sehen. Es war ihm immer bewusst gewesen, dass die Zeit der Zärtlichkeiten begrenzt war. Mit Léo ebenso wie mit Séverine. Und er hatte jede Sekunde davon ausgekostet, die beiden an sich gedrückt und dabei die Augen geschlossen, um ihren Duft in sich aufzunehmen. Er erinnerte sich noch daran, es war gar nicht so lange her, wie Léo ihm die Arme um die Taille legte und ihm einen Augenblick lang den Kopf an die Brust drückte, bevor er auf den Schulhof verschwand. Diese Zeit war längst vergangen. Endgültig. Der Sohnemann hatte einen Flaum am Kinn und näherte sich den eins achtzig. In ein paar Monaten, vielleicht sogar schon in ein paar Wochen, würde er seinen Vater überragen.

Und trotzdem. Gilles fühlte eine Leere in sich. Einen Mangel. Spürte ihn körperlich. Es wäre nicht härter gewesen, das Rauchen aufzugeben.

Er stand auf, dehnte die Arme und schüttelte die Beine aus. Sein Rücken fühlte sich steif und empfindlich an. Ein bisschen mehr als sonst.

Er musste sich aufraffen, wieder hinabzugehen, aufs Neue in die Turbulenzen der Welt einzutauchen. Und auch wenn es momentan im Büro nicht viel zu tun gab, konnte er nicht den ganzen Tag wegbleiben.

Er streifte sein T-Shirt über und steuerte auf die Kapelle Sant-Marti de la Roca zu. Einen kleinen Aufschub gönnte er sich noch.

Die Kapelle war offen, und Gilles trat ein. Drinnen herrschte Stille.

Er nahm die Schirmmütze ab und hielt sie zwischen seinen gefalteten Händen vor dem Bauch. Er ging an den Bankreihen entlang. Durch eine quadratische Öffnung an der Ostwand betrachtete er den Gipfel des Pic du Canigou. Der heilige Berg der Katalanen wollte in seinen Falten noch die Überreste des Winters aufbewahren. Der Frühling war erst spät eingetroffen, und Ende Juni leistete der Schnee noch Widerstand. Er setzte sich in den Nischen fest und hob so die Unebenheiten hervor. So weiß geädert unter der Sonne wirkte der Pic du Canigou majestätischer denn je.

Es war Zeit zu gehen.

Gilles Sebag hatte keine Lust zu arbeiten. Er ertrug die Routine seines Berufs immer weniger.

Draußen zwang ihn die Helligkeit dazu, die Augen zu schließen.

Er trank noch einen letzten Schluck und steckte die Wasserflasche in die Außentasche seines Rucksacks. Anschließend stellte er seine Stoppuhr. In einer knappen halben Stunde wäre er wieder bei seinem Auto. Dann noch zwanzig Minuten bis nach Perpignan. Und noch eine Viertelstunde, um in den Umkleiden des Universitätsstadions zu duschen.

Gegen elf Uhr dreißig wäre er auf dem Revier.

3 Sie trieb zwischen Bewusstsein und Dämmerzustand, ohne an ein Ufer zu gelangen. Eine tiefe Schläfrigkeit schien sie zu lähmen, und ihre steifen Glieder schlossen jegliche Bewegung aus. Sie hatte es nicht eilig: Es würde nicht mehr lange dauern, bis es Tag wurde.

Sie spürte, wie ihr die Träume sanft entglitten. Schon blieben ihr nur noch flüchtige Eindrücke. Wärme, ein wenig Zärtlichkeit, Güte. Weit entfernt von dem, so vermutete sie, was sie bei ihrem Erwachen erwartete. Kein Ton drang zu ihr durch. Kein Bild. Da war nur Leere. Nacht. Stille. Sie existierte nur durch einen sich immer wieder verflüchtigenden Gedanken.

Je mehr sich die Kälte in ihrem Körper ausbreitete, umso stärker spürte sie die Schmerzen. Alles tat ihr weh. Die Beine, die Arme, der Kopf. Auch der Rücken.

Ihre Arme und Beine – das begann sie zu begreifen – waren fest gefesselt, die Hand- und Fußgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden. Sie konnte sich nicht bewegen. Es gelang ihr lediglich, hin und wieder den schweren, fiebrigen Kopf zu heben. Ihr Gesicht schien zur Hälfte in einer modrig riechenden Matratze zu versinken.

Sie musste sich auf ein ziemlich bizarres Spiel eingelassen haben, an dessen Regeln sie sich nicht erinnern konnte.

Außer der feuchten Matratze spürte sie noch etwas anderes auf ihrem Gesicht. Etwas Stoffartiges. Genauer gesagt spürte sie es auf ihren Augen. Man hatte sie ihr verbunden. Jetzt verstand sie, dass der Tag nicht anbrechen würde. Vielleicht nie wieder. Es war nicht Nacht, es war das Entsetzen. Sie versuchte, gegen die unheimliche Angst anzukämpfen, die von ihr Besitz ergriff.

Das hier war kein Spiel.

Nachdem es ihr kaum gelungen war, aus dem Nebel aufzutauchen, der ihr Bewusstsein und ihren Körper betäubte, wünschte sie sich jetzt, sie würde erneut wegdämmern. Vielleicht gelänge es ihr, an einem anderen Ort wieder aufzuwachen, zum Beispiel im behaglichen Komfort des Zimmers einer Freundin. Doch ihr Verstand wurde immer klarer, angestachelt von den stechenden Schmerzen, die ihren ganzen Körper durchfuhren. In ihrem Kopf nahm ein Wort Gestalt an, ein unmögliches, unbegreifliches Wort. Sie wollte es nicht zulassen.

Sie versuchte, sich zu erinnern, aber da war nichts Deutliches. Nur das Gefühl, wie sie im Auto mit dem Kopf an der Scheibe eingeschlafen war, sanft hin- und hergeschaukelt auf den Kurven einer Landstraße. War das eine neue Erinnerung, oder lag sie schon weit zurück? Als Kind hatte sie sich gern im Auto vom Schlaf einlullen lassen, wenn sie nach einem glücklich bei ihren Großeltern verbrachten Sonntag nach Hause fuhren. Sie sah das Licht der Scheinwerfer vor sich, die die schwarze Nacht auf dem Land in Holland durchbrachen. Sie erinnerte sich an das Surren des Motors und an die ruhigen Stimmen ihrer Eltern. Dieses Mal war sie jedoch nicht auf der Rückbank eingeschlafen, sondern auf dem Beifahrersitz. Zumindest diese Erinnerung war klar und deutlich.

Sie litt, aber sie erinnerte sich an keine Gewalt. Sie vertiefte sich in die Signale ihres Körpers. Es schmerzte vor allem dort, wo die Fesseln saßen. Sie horchte in ihre durch die immer unbequemer werdende Position steifen Gliedmaßen hinein. Dann unternahm sie gedanklich eine Überprüfung ihres Kopfes. Hier fühlte sich der Schmerz wie eine Migräne an, nicht wie durch einen Aufprall ausgelöst. Sie war nicht geschlagen worden. Sie wanderte hinunter zwischen ihre Beine. An dieser intimen Stelle tat ihr nichts weh, nicht der kleinste Anflug eines Brennens war zu spüren. Sie war nicht vergewaltigt worden.

Das Wort drängte sich ihr plötzlich auf. Es gab keinen Zweifel: eine Entführung. Sie war entführt worden.

Aber warum?

Sie bewegte leicht den Kopf, rieb das Gesicht auf der Matratze, um dieses verfluchte Tuch abzustreifen, das das Tageslicht vor ihr verbarg. Dann erstarrte sie. Erinnerungen an Fernsehkrimis kamen ihr in den Sinn. Wenn die Entführer ihrer Geisel die Augen verbunden hatten, dann nur, damit sie sie nicht wiedererkannte. Nachdem sie sie freigelassen hatten.

Sie wollten sie also freilassen.

Nur wann?

Das war gerade nicht wichtig. Sie hatte einen Hoffnungsschimmer entdeckt. Einen Lichtstrahl. Es handelte sich also doch um eine Art Spiel. Ein grausames Spiel. Als das würde sie es betrachten. Sie war bereit, voller Hingabe mitzuspielen. Sie würde die Regeln lernen und sie genauestens befolgen.

Alles würde gut ausgehen.

Spätestens in ein paar Tagen wäre sie wieder zu Hause. Sie würde in ihre kleine Wohnung in Amsterdam zurückkehren und ihre Eltern fest in den Arm nehmen.

Gerade als sie diese ermutigenden Gedanken halblaut aussprach, hörte sie, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde.

Wer hatte sie nur entführen können? Sie hatte eine Ahnung, stieß den Gedanken jedoch entsetzt von sich.

Die Tür quietschte, und Ingrids Tränen verloren sich im groben Stofftuch auf ihren Augen.

4 »Kannst du mir bitte einen Gefallen tun, Gilles?«

Jacques Molina sah betont auf seine Uhr, als er merkte, dass sein Kollege zögerte. Es war ziemlich spät, um bei der Arbeit anzukommen.

»Natürlich revanchiere ich mich auch dafür«, beharrte er.

Jacques Molina und Gilles Sebag waren seit vier Jahren ein Team. Sie teilten sich das Büro und ermittelten oft gemeinsam, sie verstanden sich gut, waren aber nicht befreundet. Dazu waren sie viel zu verschieden. Sie unterstützten und respektierten einander. Und sie waren beide der Meinung, dass das gar nicht so schlecht war.

»Was kann ich für dich tun?«

»Es war gerade eine junge Frau da, die behauptet, ihr Mann sei verschwunden. Die Angelegenheit scheint … interessant, aber ich muss unbedingt los. Bin in Eile, eine wichtige Verabredung heute Mittag. Ich wäre dir unendlich dankbar, wenn du sie mir warmhalten könntest.«

»Wie meinst du das, ›warmhalten‹?«

Jacques zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

»Ich hatte gerade mal genug Zeit, die Eckdaten ihrer Aussage aufzunehmen. Vielleicht kannst du an den Details feilen und mir dann sagen, was du davon hältst. Ich verfolge das Ganze dann später weiter.«

Gilles stieß einen langen Seufzer aus.

»Kein Problem, ich kümmere mich drum.«

Sein Kollege war begeistert.

»Wusste ich’s doch, dass ich auf dich zählen kann. Wir unterschreiben beide den Bericht, als hätten wir uns gemeinsam den ganzen Vormittag damit beschäftigt, so wie immer.«

»Wie immer«, entgegnete Gilles matt.

Er war nicht besonders stolz auf sich. Nicht besonders stolz auf sie beide.

»Na los, hau schon ab, du kommst zu spät.«

»Danke. Bis später.«

Jacques hatte schon auf dem Absatz kehrtgemacht und war fast aus der Tür. Gilles rief ihm hinterher:

»Brünett oder blond?«

Jacques wedelte mit dem Arm und antwortete, ohne sich umzudrehen:

»Die Verabredung blond, die Aussage brünett.«

»Also, Sie heißen Sylvie Lopez, geborene Navarro. Sie sind vierundzwanzig und wohnen in der Rue du Vilar in Perpignan. Sie arbeiten als Putzkraft in einem Unternehmen für Industriereinigung. Sie sind seit … drei Jahren verheiratet, und ihre Tochter wurde vergangenen Januar geboren.«

Inspecteur Gilles Sebag sah von den Notizen seines Kollegen auf und betrachtete die junge Frau. Sie hatte tatsächlich braunes Haar, einen Bubikopf wie die Stummfilmschauspielerin Louise Brooks. Ihr hübsches trauriges Gesichtchen wurde von großen dunklen Augen erhellt. Müden, feuchten Augen. Er begriff, was Jacques unter einer »interessanten Angelegenheit« verstand.

»Ihr Mann heißt José und ist Taxifahrer. Er ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen. Stimmt das so weit?«

Sie bestätigte seine Worte mit einem schüchternen Nicken.

»Erzählen Sie mir alles«, fuhr er fort. »Wann Sie ihn zuletzt gesehen haben, was Sie zueinander gesagt haben, wann Sie begonnen haben, sich Sorgen zu machen, und so weiter.«

Die junge Frau strich sich mit der rechten Hand den Rock glatt und stürzte sich in ihren Bericht.

»Ich habe ihn Dienstagmittag das letzte Mal gesehen. Ich wollte gerade los zur Arbeit, und er musste auch los. Wir arbeiten beide nachmittags und abends. Oder besser gesagt, ich arbeite so und er hat sich an meine Zeiten angepasst. Bei seinem Beruf ist das leichter, verstehen Sie, er ist selbständiger Taxifahrer und kann seine Schicht frei einteilen.«

Sie zog an einem Faden ihres Rocksaums und redete weiter.

»Ich bin gegen halb elf nach Hause gekommen, nachdem ich die Kleine von meinen Eltern abgeholt hatte. Ich habe sie ins Bett gebracht und Essen gemacht und dabei ferngesehen. José kommt normalerweise gegen halb zwölf nach Hause. Er wartet auf den letzten Zug am Bahnhof von Perpignan.«

Sie hob leicht den Blick und sah Gilles von unten aus an. Er sagte nichts. Machte keine Geste. Zeugen mussten von sich aus erzählen.

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