Rabenschwarzer Winter - Philippe Georget - E-Book
SONDERANGEBOT

Rabenschwarzer Winter E-Book

Philippe Georget

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Inspecteur Gilles Sebag kommt gerade in Weihnachtsstimmung, als er entdeckt, dass seine Frau Claire ihn betrügt. Seine Welt bricht zusammen. Mit viel Whiskey versucht er in durchwachten Nächten darüber hinwegzukommen. Zusätzlich führt ihn auch sein nächster Fall in menschliche Abgründe. Eine erschlagene Frau, ein Mann, der sich aus dem Fenster stürzt, ein weiterer, der droht, sich in die Luft zu jagen ... Gilles findet schnell heraus, dass die Morde zusammenhängen: Es handelt sich bei allen um Eifersuchtsdramen. Wer ist der Psychopath, der hier die Fäden in der Hand zu halten scheint? Woher hat er sein Wissen über die untreuen Partner? Gilles muss das beschauliche Perpignan vor einem moralischen Rachefeldzug bewahren - und gleichzeitig seine Ehe retten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Inspecteur Gilles Sebag kommt gerade in Weihnachtsstimmung, als er entdeckt, dass seine Frau Claire ihn betrügt. Seine Welt bricht zusammen. Mit viel Whisky versucht er in durchwachten Nächten darüber hinwegzukommen. Zusätzlich führt ihn auch sein nächster Fall in menschliche Abgründe. Eine erschossene Frau, ein Mann, der sich aus dem Fenster stürzt, ein weiterer, der droht, sich in die Luft zu jagen … Gilles findet schnell heraus, dass die Morde zusammenhängen: Es handelt sich bei allen um Eifersuchtsdramen. Wer ist der Psychopath, der hier die Fäden in der Hand zu halten scheint? Woher hat er sein Wissen über die untreuen Partner? Gilles muss das beschauliche Perpignan vor einem moralischen Rachefeldzug bewahren – und gleichzeitig seine Ehe retten.

Der Autor

Philippe Georget wurde 1963 geboren. Nach mehreren Jahren als Journalist für Rundfunk und Fernsehen hat er 2001 seine Familie in einen Campingbus gepackt, um einmal mit ihr das Mittelmeer zu umrunden. Seit seiner Rückkehr lebt er als Autor mit Frau und Kindern in der Nähe von Perpignan und läuft leidenschaftlich gern Marathon. Für seine Krimis hat er in Frankreich mehrere Preise gewonnen.

Von Philippe Georget sind in unserem Hause bereits erschienen:

Dreimal schwarzer KaterWetterleuchten im Roussillon

Philippe Georget

Rabenschwarzer Winter

Ein Roussillon-Krimi

Aus dem Französischen von Corinna Rodewald

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

ISBN 978-3-8437-1402-0

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016© 2015 Éditions Jigal, All rights reservedTitel der französischen Originalausgabe: Méfaits d’hiverUmschlaggestaltung: ZERO Media GmbH, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

1 Aus Claires Handtasche ertönte ein Plopp, als würde eine Blase platzen.

Eine SMS.

Um sieben Uhr morgens in den Schulferien.

Die Handtasche lag auf der Kommode im Esszimmer, und sie machte ihn wahnsinnig. Sie war bunt, hatte viele Fächer und war von einer bekannten spanischen Marke. Die Kinder hatten sie ihrer Mutter zum Geburtstag geschenkt. In dieser Handtasche lag jetzt Claires Handy, und in dem Handy lag die Wahrheit. Die ganze Wahrheit. Vor der er seit über einem halben Jahr die Augen verschloss.

Im vergangenen Sommer hatte Gilles Sebag seine Frau auf frischer Tat beim Lügen ertappt. Er war eines Mittags zum Fitnessstudio gefahren, in dem ihr Sportkurs stattfand, um sie danach zum Essen auszuführen, aber sie war nicht da gewesen. In dem Moment hatte ihn das nicht weiter gewundert, doch das herablassende Lächeln der Kursleiterin hatte ihn den ganzen Nachmittag verfolgt. Noch am selben Abend hatte er – ohne es geplant zu haben – eine scheinbar unbedeutende Frage in ihr Gespräch einfließen lassen.

»Und, wie war’s beim Sport?«

»Anstrengend«, hatte Claire geantwortet, ohne mit der Wimper zu zucken.

An den Tagen darauf hatte sich sein Verdacht noch verstärkt. Claire ging oft mit ihren Freundinnen aus, öfter als sonst, und immer wieder war sie geistesabwesend, wenn er mit ihr sprach. Sie schien mit den Gedanken woanders. Womöglich bei jemand anderem? Dann war sie mit ihren Freundinnen auf eine Kreuzfahrt gegangen. Als Lehrerin am Collège in Rivesaltes hatte sie mehr Urlaubstage als er, und in diesem Jahr hatte sie zum ersten Mal Lust gehabt, ohne ihn davon zu profitieren.

Bei ihrer Rückkehr war sie verliebter denn je in ihn gewesen, und alle Anzeichen, die ihm davor Anlass zur Sorge gegeben hatten, waren von heute auf morgen verschwunden. Also hatte er versucht, seine Ahnungen zu verdrängen. Sollte Claire einen Geliebten gehabt haben, so war das Ganze nun vorbei und nichts weiter als ein Seitensprung gewesen. Sie liebte nur ihn, keinen anderen. Seit zwanzig Jahren lebten sie zusammen, und sie hatten gemeinsam zwei wunderbare Kinder großgezogen: Léo, mittlerweile sechzehn, und Séverine, die bald vierzehn wurde.

Gilles hatte versucht, es sich damit zu erklären, dass Liebe heutzutage nicht mehr automatisch mit ewiger Treue einherging. Dass der Wunsch, von jemand anderem begehrt zu werden, stärker sein konnte, und auch das Verlangen danach, einen unbekannten Körper zu erforschen, eine andere Haut zu spüren, noch einmal frisch verliebt zu sein, der Wunsch nach einem ersten Lächeln, einer ersten Verabredung, einem ersten Kuss.

Er hatte versucht, es sich zu erklären, und versuchte es noch immer.

Seine Phantasie machte es ihm jedoch nicht leicht, denn sie hatte nicht beim ersten Kuss haltgemacht, sie erfand auch, was danach kam, und das in immer schmerzhafteren Einzelheiten: schonungslose Bilder geteilter Lust, Seufzer und Zärtlichkeiten, im Bett ausgetauscht oder am Telefon, vielleicht sogar hinter seinem Rücken per SMS.

Wieder ploppte es in der Handtasche.

Gilles’ Erfahrung als Bulle hatte ihn gelehrt, dass es heutzutage keinen engeren Vertrauten als das Handy gab. Und auch keinen größeren Verräter.

Seit sechs Monaten kämpfte er gegen den Impuls an, seine Frau auszuspionieren. Diese Schwelle zu übertreten hatte er sich bisher nicht erlaubt. Zumal er sich ja möglicherweise irrte. Sein Boss und seine Kollegen lobten tagtäglich seinen legendären guten Riecher, doch ausnahmsweise mochte er sich dieses Mal getäuscht und sich in seinen Gefühlen verfangen haben. In zu heftiger Liebe und der Eifersucht, die in ihm gewachsen war wie ein Krebsgeschwür. Er hatte keinen Abstand, handelte zu sehr im Affekt, und da war seine Intuition vielleicht mit ihm durchgegangen. Bei polizeilichen Ermittlungen war es viel einfacher, sich nüchtern von ihr leiten zu lassen.

Nüchtern?

Der Begriff passte nicht. Er leitete nie nüchtern Ermittlungen. Ganz im Gegenteil, er ging mit Gefühl daran. Und genau diese Empathie, nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter, machte ihn zu einem guten Bullen. Nein, er irrte sich nicht: Claire hatte eine Affäre gehabt. Vielleicht lief da sogar nach wie vor etwas, zumindest hielt Claire bestimmt noch mit ihrem Geliebten lose Kontakt.

Er hatte genug davon, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen!

Er näherte sich der offen daliegenden Handtasche. Das Handy war nicht in einem der zahlreichen Fächer, sondern lag einfach obenauf in dem unglaublichen Durcheinander, das Frauen in ihrer Handtasche mit sich herumtrugen. Rechts oben blinkte ein Lämpchen und zwinkerte ihm obszön zu wie eine bulgarische Prostituierte am Straßenrand von La Jonquera.

Er streckte die Hand aus, hielt dann jedoch inne.

Wozu eigentlich?

Claire hatte Weihnachtsferien und schlief noch. Auch die Kinder waren noch nicht auf. In ein paar Tagen war Heiligabend. Warum sollte er jetzt die Stimmung verderben? Ein paar Wochen zuvor hatte er sich geschworen, wenn er sich bis Neujahr nicht gefangen hätte, würde er die schlecht verheilte Wunde wieder aufreißen. Würde Claire endlich zur Rede stellen und seine Zweifel aus der Welt schaffen. Alles würde sich zum Guten oder zum Schlechten wenden.

Aber das Lämpchen blinkte noch immer.

Zur Hölle noch mal!

Er nahm das Telefon und strich mit dem Zeigefinger über das Display. Da waren sie, zwei Nachrichten. Er drückte auf das Icon. Es erschien ein Name, den er nicht kannte. Er drückte erneut und las die beiden Nachrichten. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr.

Es war, als hätte man ihm einen heftigen Schlag in die Magengrube versetzt. Als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Welt um ihn herum stürzte ein.

2 Christine öffnete das Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Éric hatte ihr eine dagelassen. Sein Feuerzeug hatte er ihr auch gegeben. Er war sehr aufmerksam. Aber verliebt? Nein, das war er nicht. Und das war auch besser so.

Sie nahm einen tiefen Zug und sah hinab auf die Rue de la Poissonnerie. Die schmale Straße lag verlassen da, wie die meisten Gassen in der Altstadt von Perpignan. Die Zigarette wärmte Christine von innen, wärmte ihre Gedanken und verlängerte, was sie eben erst erlebt hatte: Lust und Leidenschaft, kombiniert mit dem aufregenden Duft des Verbotenen.

Sie schob sich ihre Brille auf der Nase zurecht. Sie setzte sie niemals ab, nicht einmal beim Sex. Zu Anfang hatte Éric noch versucht, sie ihr abzunehmen, es aber bald aufgegeben. Ohne ihre Brille fühlte Christine sich zu nackt. Nur mit Stéphane nahm sie sie ab. Wenn auch nur manchmal. Beim Gedanken an ihren Mann spürte sie, wie sie die Lippen zusammenpresste und ihr linker Mundwinkel sich nach unten zog. Das war neu, sie hatte ihr Gesicht nicht unter Kontrolle. Erst kürzlich hatte Éric sie darauf hingewiesen.

Sie hob den Kopf. Nur zwei Meter trennten sie vom Haus gegenüber. Sie hatte ihre Bluse wieder angezogen, trug aber ansonsten nichts als ihren Slip. Das Geländer vorm Fenster schützte sie jedoch vor neugierigen Blicken. Wenn es denn überhaupt welche gab: Bisher hatte es hinter den verdreckten Fenstern vom gegenüberliegenden Haus noch keinerlei Anzeichen von Leben gegeben.

Sie zog erneut an ihrer Zigarette, und aus den Tiefen ihres Gedächtnisses stiegen ein paar Liedzeilen auf. Charles Dumont, wenn sie sich recht erinnerte. Sie summte vor sich hin:

Deine Zigarette nach der Liebe,

ich seh’ sie nur im Gegenlicht.

Schon hast du wieder dein altes Gesicht

und bist zurück in deinem alten Leben.

Sie rieb sich mit dem Daumen die Stirn zwischen den Augenbrauen. Zwei steile Falten gruben sich dort ein. Sie waren schon früh aufgetaucht und drohten jetzt, ihre Stirn in zwei gleiche Hälften zu teilen.

Deine Zigarette nach der Liebe

brannte herunter gegen die Liebe.

Gott, was waren diese Momente köstlich. Eine unerwartete Verjüngungskur. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass sie sich noch einmal so fühlen würde. Sie strich sich mit dem Zeigefinger über die Falten an ihren Augen und dann über die feinen Fältchen um ihren Mund. Trotz ihrer Pflege, den Cremes und den Besuchen bei der Kosmetikerin trocknete ihre Haut unweigerlich immer mehr aus.

Seit ein paar Wochen jedoch fühlte sie sich innerlich jünger. Fühlte sich wieder wie zwanzig.

Sie hatte Éric beim Yoga kennengelernt. Besonders zu ihm hingezogen hatte sie sich nicht gefühlt, aber sie hatte sofort ein Funkeln in seinen Augen entdeckt. Es hatte ihr geschmeichelt, dass er sie so begehrte, und sie war ihm immer gern über den Weg gelaufen. Er hatte begonnen, ihr zuzulächeln, sie freundlich zu grüßen, ja hatte sogar versucht, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Zuerst war sie noch distanziert geblieben. Diese Art von Geschichte passte nicht zu ihr – nicht mehr –, warum also jetzt nachgeben? Warum zu ihm ja sagen, wenn sie seit achtzehn Jahren immer wieder nein gesagt hatte? Und doch hatte sie es irgendwann getan. Vermutlich weil sie spürte, dass sie älter wurde. Vielleicht aber auch, weil Éric geduldig gewesen war und die richtigen Worte gefunden hatte. Er war einfach der richtige Mann zur richtigen Zeit. Schritt für Schritt hatte er sie für sich gewonnen.

Und sie waren in diesem Zimmer gelandet …

Sie hatte beinahe aufgeraucht. Sie sollte gehen. Es war bereits nach vierzehn Uhr. Sie drückte die Kippe am Fenstersims aus und warf sie auf die Straße. Dann schloss sie das Fenster und zog die grauen Vorhänge zu. Der süßlich-salzige Duft nach Sex hing noch im Raum. Sie setzte sich aufs Bett und zog sich ihre schwarze Strumpfhose an. Auf dem Nylon und auch darunter auf ihren Schenkeln konnte sie noch Érics zarte Berührungen spüren.

Sie suchte nach ihrem Rock. Wo konnte er nur sein? Sie zog die Tagesdecke vom Bett und schüttelte sie. Der Rock kam zerknittert zum Vorschein, so hastig war er abgelegt worden, und fiel auf den Teppich. Christine streifte ihn über und strich ihn glatt, damit er einigermaßen passabel aussah. Sie konnte es sich auch nicht verkneifen, die Tagesdecke zusammenzufalten und auf die zerwühlten Laken aufs Bett zu legen.

Sie mochte dieses Zimmerchen mit seinen kargen blauen Wänden.

Mitte Oktober waren sie zum ersten Mal hergekommen. Christine hatte am ganzen Körper gezittert, und es war ihr nicht gelungen, sich zu entspannen. Aber es hatte ihr gefallen, wie Éric ihren Körper erforscht hatte. Zuerst nur mit seinem Atem. Auch in dieser Hinsicht war er geduldig gewesen. Und ihre Treffen waren mit jedem Mal leidenschaftlicher geworden.

Nein, sie war nicht jünger geworden, sie war nicht zwanzig, sie war siebenundvierzig, und es war auch nicht der Körper einer jungen, sondern der einer reifen Frau, der in den Armen eines aufmerksamen und erfahrenen Liebhabers vollkommen neu erblühte. So etwas hatte sie noch nicht erlebt, selbst nicht, als sie damals ihren Fehltritt beging, den sie immer als Jugendfehler betrachtet hatte. Das war nach der Geburt von Maxime gewesen. Nein, so etwas hatte sie noch nicht erlebt, und sie würde es wohl auch nie wieder erleben. Genau das machte den Reiz dieses Abenteuers aus.

Dieses Abenteuer, das eines Tages zwangsläufig sein Ende finden würde.

Er hatte sein Leben, sie hatte ihres. Es stand nicht zur Debatte – weder für ihn noch für sie –, aufzugeben, was sich ein jeder aufgebaut hatte.

Sie erschauderte und verzog wieder den Mund.

Jedes Mal bevor sie das Zimmer verließ, wurde sie plötzlich unruhig. Das Leben würde wieder in seinen geregelten Bahnen verlaufen, bis zum nächsten Mal. War sie zu Beginn ihrer Affäre noch fürchterlich ängstlich gewesen, fand sie es mittlerweile ganz leicht, erst Geliebte und dann erneut Hausfrau und Mutter zu sein. Sich wieder in ihre Gewohnheiten einzufinden.

Als sei nichts gewesen.

Sie hatte geglaubt, dass es ihr mit ihrer Lüge und dem Geheimhalten schlechtgehen würde. Doch das tat es nicht. Sie schämte sich zwar, es zuzugeben, aber sie fand sogar einen gewissen Gefallen daran. Sie schöpfte neue Kraft daraus. Bisher hatte sie immer nur für andere gelebt, für ihren Sohn, für ihren Mann. Jetzt dagegen fühlte sie sich lebendig. Ja, lebendig. Endlich! Ihr Leben war reicher, intensiver geworden. Sie war glücklicher.

Und das auch in ihrer Ehe.

Sie war besser gelaunt und fühlte sich wohler in ihrer Haut, in ihrem Körper. Zuhause summte sie leise vor sich hin. Zur größten Freude Stéphanes. Er wirkte wie neu verliebt in sie und stolz darauf, jeden Abend zu einer strahlenden Ehefrau nach Hause zu kommen.

Der Arme, wenn er nur wüsste …

Ihre Unruhe verstärkte sich und schlug beinahe in Angst um. Im Treppenhaus waren Geräusche zu hören. Wie eilige Schritte.

Sie wollte diese düsteren Gedanken verscheuchen. Was getan war, war getan, es brachte nichts, sich von Gewissensbissen plagen zu lassen. Sie würden nichts ändern, würden ihr nur die Freude verderben. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Solange Stéphane nichts ahnte, tat sie auch niemandem weh.

Doch Christine kannte ihren Mann. Er war eifersüchtig und konnte handgreiflich werden. Was würde geschehen, wenn er eines Tages die Wahrheit herausfand?

Die Antwort auf ihre Frage kam in Gestalt eines Krachens an der Tür. Sie wurde brutal aufgestoßen und schlug gegen die Wand. Wie ärgerlich, das gibt einen Abdruck, schoss es Christine durch den Kopf.

Der Mann, der ins Zimmer kam, wirkte wild entschlossen. Er sah erst Christine an, dann das Bett, und sein Gesicht war vor Wut und Hass verzerrt. Er stellte keine Fragen, er hob nur langsam sein Gewehr.

Christine sah die Waffe nicht und hörte auch nicht den Schuss. Ihre Lippen formten noch die Worte »mein Liebster«, aber sie konnte sie nicht mehr aussprechen. Sie war bereits tot.

3 Sanftes Winterlicht lag auf der sich über Dörfer, Obstplantagen und Weinberge bis hin zum Meer erstreckenden Roussillonebene. Um die Kapelle Sant-Marti de la Roca heulte die Tramontana auf der Suche nach einem Geschöpf, das sie packen und mitreißen konnte. Gilles lehnte an dem alten Gemäuer und betrachtete die Landschaft ihm zu Füßen. Er mochte diesen Flecken Erde zwischen Frankreich und Spanien – weder ganz das eine noch das andere –, im Grunde eine eigene Welt für sich. In den sieben Jahren, die er nun hier als freiwillig Zugezogener lebte, hatte er die Seele und das Herz dieses katalanischen Landstrichs schätzen gelernt: Hier war man herzlich und stolz, geprägt von der Grenze und dem Exil und geformt von den Streicheleinheiten der Sonne und den Kränkungen des Windes.

Nach seinem Gespräch mit Claire hatte Gilles auf dieser außergewöhnlichen Erhebung Zuflucht gesucht, fünfhundertzwölf Meter über dem Meer und den Menschen. Im Schritttempo war er den Pfad bis zur ruhig daliegenden Kapelle hochmarschiert. Dieses Mal hatte er nicht die Kraft gehabt zu laufen. Dazu fehlte ihm die Luft, er konnte nicht mehr atmen.

In einem Fach in seinem Rucksack brummte sein Handy. Fünfmal klingelte es, dann folgten eine kurze Pause und gleich darauf ein Piepen. Eine Sprachnachricht gesellte sich zu den SMS, die er bereits erhalten hatte. Im Kommissariat gab es einen Notfall.

Der konnte ihm gestohlen bleiben.

In diesem Augenblick gab es nichts Wichtigeres für ihn, als sich zu sammeln. Seit Stunden schon stand er hier oben. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Immer wieder durchlebte er die Minuten, die sein Leben erschüttert hatten. Er hatte vollkommen den Halt verloren.

Er war ins Schlafzimmer gegangen und hatte vorsichtig die Vorhänge zurückgezogen. Von draußen fiel das orangefarbene Licht der Straßenlaternen ins Zimmer. Er ging zum Bett. Claire war komplett unter der Decke verschwunden, nur ihre wallenden braunen Haare lugten hervor. Er setzte sich auf den Bettrand und strich ihr durchs Haar.

Langsam wachte Claire auf. Sie drehte den Kopf und blinzelte ein paar Mal, bevor sie den Blick ihres Mannes fand. Er sah sie fest an und machte auch keinen Hehl daraus, wie traurig er war.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Ich liebe dich.«

Sie lächelte ihn zärtlich an. »Und das ist so schlimm?«

Er reichte ihr ihr Handy. Der Augenblick, auf den er so sehr gewartet und vor dem er sich so sehr gefürchtet hatte, war gekommen.

Endlich.

Schon.

Er schloss ein paar Sekunden lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte Claire die Nachrichten gelesen, und ihr Lächeln war erstarrt. Resigniert nickte sie.

»Du musstest ja irgendwann davon erfahren … Du hast es dir ohnehin schon gedacht, oder?«

Sie setzte sich im Bett auf, warf das Handy neben sich und nahm Gilles’ Hände in ihre. »Ich liebe dich auch. Du bist der Mann meines Lebens. Ich liebe nur dich.«

Ihre Erklärung glitt an Gilles ab, ohne dass sie ihn berührte. Was er auf ihrem Handy gelesen hatte, hatte ihm einen Panzer verliehen.

»Erzähl mir nicht, dass du ihn nicht auch geliebt hast.«

»Das war etwas anderes, das kann man nicht vergleichen.«

Gilles hatte das seltsame Gefühl, sich verdoppelt zu haben. Als wäre er gleichzeitig Darsteller und Zuschauer eines schlechten Films. Eines äußerst schlechten Films. Mit unglaublich banalen Dialogen. Nur zu gern hätte er umgeschaltet.

»Warum dann?«

Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Sie klang schwermütig. Tief. Fremd.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie nach langem Schweigen. »Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.«

»Das ist ein bisschen wenig …«

»Das stimmt. Aber was soll ich sagen, wenn ich dir nicht weh tun will? Ich hatte Lust darauf, und ich habe es gebraucht. Es war eine Freundschaft, die zu weit gegangen ist.«

Musste er wirklich mehr darüber wissen? Die Wahrheit konnte nur weh tun. Doch die Unwissenheit tat noch mehr weh. Gegen seinen Willen sprudelten die Fragen aus ihm heraus.

»Wer ist es?«

»Ein ehemaliger Kollege. Simon. Erdkunde- und Geschichtslehrer.«

»Ist es vorbei?«

»Ja. Seit Mitte Juli. Er ist weg.«

»Wie lange ging das?«

»Nicht mal vier Monate.«

Er kniff die Lippen zusammen, bis sie weiß wurden.

»›Nicht mal‹ und ›vier Monate‹, das passt nicht so recht zusammen.«

»Da hast du wohl recht …«

Gilles wartete ab, was als Nächstes kam. Eine der grundlegenden Verhörtechniken. Wenn man Bulle war, dann bei allem, jedem und jederzeit.

»Er hat mit seiner Familie in Toulouse gewohnt, aber seine Frau ist Baskin und wollte zu ihren kranken Eltern zurück. Sie ist Krankenschwester und hat schnell eine neue Stelle gefunden. Er sollte mit ihr mitgehen und auch versetzt werden, aber bei der Schulbehörde ist ihnen ein dummer Fehler unterlaufen. Irgendjemand hat das Département Pyrénées-Atlantique mit den Pyrénées-Orientales verwechselt, und so ist er hier gelandet. Weit weg von Frau und Kindern.«

»Er hat also Kinder?«

»Drei. Zwei Jungs und …«

Gilles legte Claire eine Hand auf den Mund. »Nicht. Ich kann nicht … Ich will es doch nicht wissen.«

»Du hast gefragt, ich habe nur geantwortet. Ich beantworte alle deine Fragen ehrlich.«

»Erzähl mir den Rest, das Wesentliche.«

»Wie du willst … Simon hat letztes Jahr nach den Sommerferien bei uns angefangen. Er hat sich hier einsam gefühlt, so weit weg von seiner Familie. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Zuerst habe ich noch nicht begriffen, was passierte. Ich dachte, wir wären nur Freunde, weiter nichts …«

»Normalerweise erzählst du mir von deinen Freunden, sowohl von den Männern als auch von den Frauen.«

»Das stimmt. Aber von ihm habe ich dir nie erzählt. Wahrscheinlich habe ich mich selbst belogen. Wir haben irgendwann immer öfter zusammen Mittag gegessen, und dann sind wir auch abends essen gegangen und …« An der Stelle brach sie lieber ab.

»Hast du ihn geliebt?«, wollte Gilles erneut wissen.

Claire spürte, dass jedes folgende Wort aus ihrem Mund wie eine vergiftete Klinge zustechen konnte. »Auf gewisse Weise ja … Aber nicht so, wie ich dich liebe. Niemals. Ich habe es dir ja gesagt, du bist der Mann meines Lebens. Daran solltest du niemals zweifeln. Ich habe jedenfalls nie daran gezweifelt.«

»Ist es vorbei, seitdem er nicht mehr da ist?«

»Ja. Wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen. Aber wir schreiben uns noch hin und wieder. Es ist wieder zu einer Freundschaft geworden.«

»Zu einer Freundschaft?« Gilles verzog das Gesicht und deutete mit dem Kinn aufs Telefon. Ein Wort in der Nachricht hatte ihn mehr getroffen als alle anderen.

»Für mich ist es eine Freundschaft. Was es für ihn ist, weiß ich nicht, und ich will es auch nicht wissen.«

»Hast du gelitten, als er fortging?«

»Ja und nein. Ein bisschen traurig war ich schon, aber auch erleichtert. Ich wollte zurück in mein normales Leben. Unser Leben davor.«

»Unser Leben davor …«, wiederholte er.

Er entzog seine Hände denen seiner Frau. Wenn das nur so einfach wäre! Erst jetzt verstand er, warum er sich nur so schwer an den Gedanken hatte gewöhnen können, dass Claire ihn womöglich betrog. Obwohl er großherzig und tolerant sein und es nachvollziehen können wollte, war Treue für ihn letztendlich doch so etwas wie die Unschuld. Wenn man sie verlor, dann für immer. Das Leben davor gab es nicht mehr.

»Vor ihm hast du mich noch nie betrogen?«

»Nein, noch nie, Gilles, das schwöre ich dir.« Sie griff wieder nach seinen Händen, doch er entzog sich ihr.

»Und wenn er nicht weggezogen wäre, wäre es dann noch weitergegangen?«

»Ich weiß es nicht, ich glaube nicht … Es war von vornherein klar, dass er wieder gehen würde. Ich glaube, dass es gerade deswegen … dass ich deswegen weich geworden bin. Die Sache hatte schon ein Ende, bevor sie überhaupt anfing. Es war nur ein Intermezzo, Gilles.«

»Ein Intermezzo … Ein inniges Intermezzo?«

»Ja.«

Eine Träne lief Claire über die Wange. »Verzeih mir. Wenn ich ehrlich zu dir sein will, dann kann ich nichts anderes sagen.« Sie legte ihrem Mann die Hände auf die Wangen und zog ihn zu sich heran. »Ich liebe dich, Gilles. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.«

Er sah zu, wie die Träne auf die Bettdecke fiel. Bettwäsche, die Claire erst vor kurzem gekauft hatte. Schwarzweiß mit grauen, einander überlagernden Schriftzügen darauf. You and Me, Today, Tomorrow, For Ever. Er löste sich aus der Umarmung und stand auf.

»Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich!«, rief Claire ihm nach. »Die Sache ist vorbei, Gilles, vorbei!«

Sein Handy klingelte erneut. Er rieb sich über die Augen und stand auf. Ihm wurde schwindelig, und er stützte sich an einem Felsen ab.

Nach Claires Erklärungen hatte er urplötzlich das Bedürfnis nach frischer Luft gehabt und war aus dem Schlafzimmer gegangen, während seine Frau ihm noch ihrer Liebe versicherte. Er hatte nicht die Tür hinter sich zugeschlagen. Wozu auch wüten und toben? Das mochte den Zorn besänftigen, aber den Schmerz lindern konnte es nicht.

Er war in sein Auto gestiegen und losgefahren. In seinem Kopf hallten noch Claires Worte nach: »Die Sache ist vorbei!«

Wie konnte sie vorbei sein, wenn sie für ihn doch gerade erst angefangen hatte?

4 Die Eisenrollläden vor den verlassenen Geschäften quietschten unter der peitschenden Tramontana. Im Zentrum von Perpignan stand ein Laden von vier hartnäckig leer, und die Rue des Augustins ließ die Statistiken seit ein paar Monaten noch weiter in die Höhe schießen: Hier war es fast jeder zweite Laden. Die sich hierher verirrende Kundschaft floh vor den leeren Schaufenstern und den vor Graffiti überbordenden metallenen Rollläden so schnell wieder wie ein Zuhörer vom Klassikradio angesichts eines Potpourris der romantischsten Werke von Florent Pagny.

»Ziemlich düster hier.« Jacques Molina, Lieutenant vom Kommissariat Perpignan, zündete sich eine Zigarette an und schlug seinen Jackenkragen hoch. »Und wir frieren uns ganz schön den Arsch ab.«

Sein Kollege Lieutenant François Ménard sah nach oben in den blauen Himmel. Die schmutzig ockerfarbene Fassade des Hotel Gecko lag im kalten Schatten, doch die Sonne verlieh dem roten Ziegeldach freundlicherweise eine Illusion von Frühling.

»Immer noch keine Rückmeldung von Gilles?«

Jacques sah auf sein Handy. »Nein, immer noch nichts.«

»Langsam übertreibt er’s aber.« François Ménard zog die Hände aus den Taschen seiner Regenjacke und rieb sie aneinander. »Sag jetzt bloß nicht, dass er bei diesem Wetter die Arbeit sausen lässt, um laufen zu gehen.«

Jacques lächelte. »Wenn er Hummeln im Hintern hat, dann rennt Gilles selbst beim schlimmsten Unwetter los. Aber normalerweise hat er sein Handy dabei, wenn er das während der Arbeitszeit macht, damit er erreichbar ist. Diesmal hab ich ihm schon auf die Mailbox gesprochen und zwei SMS geschickt, und immer noch kein Lebenszeichen.«

»Er muss irgendwo sein, wo es kein Netz gibt.«

»Tststs … So lange, wie er schon hier in der Gegend laufen geht, kennt er alle Ecken des Départements, und er würde an einem Arbeitstag nicht irgendwo rumlaufen, wo er keinen Empfang hat.«

»Dann muss sein Akku leer sein! Nein, also ehrlich, er übertreibt es wirklich. Zuerst lässt er sich am Morgen nicht blicken, und dann reagiert er auch nicht auf den Notruf. Er hat Glück, dass er beim Chef einen Stein im Brett hat.«

Jacques hätte seinen Kollegen ja gern verteidigt, doch ihm waren mittlerweile die Argumente ausgegangen. Er zog also einfach weiter an seiner Zigarette. François sah auf die Uhr. »Viertel vor drei! Da haben wir uns aber mächtig beeilt, dafür, dass wir uns jetzt die Beine in den Bauch stehen.«

»Ich rauche noch auf, und dann gehen wir.«

Eine halbe Stunde zuvor hatte ein Anruf aus dem Kommissariat sie beim Mittagessen gestört. Der Besitzer des Hotel Gecko hatte Schüsse gehört und daraufhin in einem seiner Zimmer eine Tote aufgefunden. Überstürzt und ohne noch ihren Kaffee zu trinken, waren die beiden Lieutenants aus dem Restaurant aufgebrochen. Die Kollegen von der Kriminaltechnik waren bereits bei der Arbeit, doch sie selbst standen noch auf der Straße und warteten – wie es schien vergeblich – auf den Dritten im Bunde, Lieutenant Gilles Sebag, der schon seit dem Vormittag auf Tauchstation war.

François schielte auf Jacques’ Zigarette, die beinahe aufgeraucht war. »Sollen wir?«

Jacques wusste, wie viel Bedeutung Gilles den ersten Momenten an einem Tatort beimaß. Die ersten Feststellungen, Blicke, Befragungen, wann wurde gezögert, welche Gefühle waren spürbar, wann wurde geschwiegen, hatte jemand Angst. »In diesem Moment schweben unaussprechliche Wahrheiten in der Luft«, pflegte er zu sagen. »Wenn man sie nicht gleich erwischt, dann erwischt man sie nie.« Auch wenn Jacques dieser Ansicht erst noch skeptisch gegenübergestanden hatte, hatte er sich schließlich doch von ihrer Richtigkeit überzeugen lassen. Er hielt es allerdings nicht für angebracht, François jetzt davon zu erzählen. Dadurch würde er François gegenüber nur zugeben, dass seiner Meinung nach allein Gilles in der Lage war, diese Wahrheiten zu erfassen. Was nicht gerade dazu dienlich wäre, seine schlechte Laune zu besänftigen.

François fuhr sich gereizt durch seine stoppeligen Haare. »Sollen wir?«, hakte er nach.

Jacques zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette und trat sie dann auf dem Asphalt aus. »Ach, was soll’s! Ja, lass uns gehen.«

Die beiden Inspecteurs gingen die drei Stufen zum Hoteleingang hinauf. Die Männer waren etwa gleich groß, François jedoch eher schmal gebaut, während Jacques noch seine breite Statur aus seiner Zeit als Zweite-Reihe-Stürmer im Rugbyteam bewahrt hatte. Mit der Zeit hatte wohl Fett ersetzt, was an Muskelmasse verloren gegangen war. Mit einem Nicken begrüßten die Kollegen den Polizisten in Uniform, der den Treppenaufgang versperrte.

Das Hotel Gecko war ein anständiges, wenn auch ziemlich verblasstes Etablissement. Schwarzweißfotografien von Perpignan zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zierten die ausgeblichene grüne Tapete. Die Rahmen sahen aus wie zufällig aufgehängt, ohne jeglichen Sinn für Ästhetik. In dieser Kulisse wirkte der schüttere alte Herr, der am Empfangstresen lehnte, alles andere als fehl am Platz.

»Welches Zimmer?«, fragte Jacques ohne große Vorrede.

»Zimmer 34, im dritten Stock«, entgegnete der Alte tonlos. »Nach der Treppe links.«

»Gibt es keinen Aufzug?«

Der alte Herr seufzte nur und zog seine gebeugten Schultern hoch.

François Ménard holte ein kleines Notizheft aus seiner Jackentasche. »Bonjour Monsieur. Sie heißen …?«

»Jordi Estève, Inspecteur. Ich betreibe dieses Hotel seit 1975.«

Jacques lachte auf. »Wenigstens einmal hätten Sie doch neu tapezieren können.«

»Das tun wir regelmäßig«, entrüstete sich der Hotelbesitzer. »Leider ist das Gebäude aber sehr feucht – ein Baufehler –, und die Tapete macht nie lange mit. Und da die Gäste in letzter Zeit immer weniger werden …«

»Was sich wohl dadurch erklären lässt.«

»Und umgekehrt.«

François hüstelte. Er fand diese Ausschweifungen lästig. »Haben Sie im Kommissariat angerufen?«

»Das habe ich.«

»Erzählen Sie uns, was genau vorgefallen ist.«

Der alte Jordi rieb sich mit seiner rauen Hand über die Stirn, die die gleichen rotbraunen Flecken zierten wie auch seinen Handrücken. Jacques musste an den Sommer 1975 denken, als der Obsthof seines Onkels in Vinca von Pfirsichschorf befallen worden war. Innerhalb weniger Tage waren die Früchte und Blätter von ähnlichen Flecken übersät gewesen. Die gesamte Ernte für die Katz, die reine Katastrophe. Jacques war damals noch ein Kind gewesen, und er erinnerte sich noch genau daran, dass er zum ersten Mal einen Erwachsenen hatte weinen sehen. Es hatte ihn schwer beeindruckt. Und geprägt.

»Ich war gerade auf der Toilette, als ich den Schuss hörte«, erklärte der Gastwirt. »Ich bin so schnell ich konnte raus und habe noch gesehen, wie ein Mann wie ein Wilder die Treppe runterkam. Er hatte sich eine lange Schachtel unter den Arm geklemmt. Ich glaube, das war ein Gewehrkasten. Er hat mich gesehen, ist aber nicht stehen geblieben. Ich hatte ganz schön Angst.«

François machte sich Notizen. »Was war das für ein Mann?«

»Sagen wir mal … so um die fünfzig. Ziemlich groß, nicht dick, aber rundlich. Längere Haare, hell und noch recht dicht.«

François hob seinen Stift. »Was meinen Sie mit ›rundlich‹?«

»Na ja, er hatte einen Bauch und war recht breit, hatte sogar ziemlich breite Schultern, aber man konnte schon sehen, dass da nicht so viele Muskeln drunter steckten wie bei Ihrem Kollegen hier.«

Jacques bedachte ihn mit einem dankbaren Nicken.

»Aber man kann ihn trotzdem nicht als dick bezeichnen«, betonte der Besitzer nochmals.

»Und Sie hatten ihn vorher noch nie gesehen?«, fragte François weiter.

»Noch nie. Glaube ich zumindest.«

»Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Ich denke schon.«

»Als der Mann hinausging, was haben Sie da gemacht?«

»Nun ja, da bin ich hoch ins Zimmer 34.«

»Warum gerade in das Zimmer?«

Jacques begegnete dem Blick des Alten und verstand.

»Na ja … Es gab sonst nicht viele andere Gäste«, wich er aus. »Auch wenn wir generell nicht viele Gäste haben.«

»Und was haben Sie dort oben vorgefunden?«

Jordi Estève antwortete nicht sofort. Er wollte sich nur ungern daran erinnern. »Ähm … Ihre Kollegen sind ja da, die können es Ihnen erzählen. Und Sie werden es ja selbst sehen, wenn Sie hochgehen.«

François Ménard legte seinen Stift hin und sah den Hotelbesitzer an. »Ich würde es trotzdem gern von Ihnen hören, Monsieur Estève.«

Der Alte holte tief Luft. »Die Frau saß am Boden. Auf ihrer Bluse war alles voller Blut. Ich bin zu ihr hingegangen, aber mir war ziemlich schnell klar, dass sie tot war. Dann bin ich zurück an die Rezeption gegangen und habe Sie angerufen.«

»Hatte sie das Zimmer allein gebucht?«

»Nein, sie war mit ihrem … Freund da.«

Erneut trafen sich die Blicke von Jacques und dem Alten.

»Aber er war nicht mehr da, als es passierte?«

»Nein, ich hatte ihn etwa zehn Minuten vorher gehen sehen.«

François unterstrich die letzten Wörter, die er notiert hatte. »Wer waren denn die Gäste in Zimmer 34? Haben Sie ihre Namen?«

Der Hotelier schob den Polizisten sein abgegriffenes Gästebuch zu und zeigte mit seinem von Arthrose gekrümmten Finger auf eine Zeile, in der mit blauer Tinte ein Name eingetragen war. »Monsieur und Madame Durand.«

»Durand … Sind Sie sicher?«, hakte François unzufrieden nach.

»Das haben Sie mir zumindest gesagt. Aber Sie wissen ja, dass wir nicht mehr dazu verpflichtet sind, unsere Gäste nach ihren Papieren zu fragen.«

»Haben sie die Rechnung bezahlt?«

»Ja. Das hat der Herr übernommen, als er gegangen ist.«

»Haben Sie noch einen EC-Beleg?«

»Der Herr hat bar bezahlt.«

François verzog den Mund. Dann befeuchtete er sich den Zeigefinger, um umzublättern. »Seit wie vielen Nächten waren sie schon hier? Waren es Touristen?«

Die trockenen Lippen des Alten verzogen sich zu einem Lächeln, und eine Reihe gerade angeordneter, jedoch fauler Zähne erschien. »Der Herr hat immer in bar gezahlt.«

»Es waren also Stammgäste.«

Jacques legte seine kräftigen Hände auf den Tresen aus unechtem Marmor und trommelte mit den Fingern.

»Normalerweise kamen sie zweimal die Woche«, erläuterte Jordi. »Dienstags und donnerstags.«

François notierte weiter sorgfältig die Auskünfte. Jacques seufzte und beschloss, das Gespräch einen Gang zu beschleunigen.

»Sie kamen um die Mittagszeit und blieben nie über Nacht, nicht wahr?«

»Ich spioniere doch meinen Gästen nicht hinterher«, entgegnete der Alte. »Sie haben immer für die Nacht bezahlt.«

»Aber sie hatten kein Gepäck, haben nie gefrühstückt, und Sie haben sie morgens nie gesehen, stimmt’s?«

Jordi Estève senkte den Blick, als würde er sich irgendwie schuldig fühlen. »Das stimmt.«

»Manche Touristen benehmen sich schon merkwürdig«, spottete Jacques.

François hob seinen Stift. »Glaubst du etwa …«

»Nein, ich glaube nicht, ich bin sicher! Ein paar Ehebrecher, das war doch von vornherein offensichtlich.«

»Manchmal muss man sich vor dem Offensichtlichen in Acht nehmen. Das sagt dein Freund Gilles doch so oft, oder?«

»Das stimmt. Aber er hat auch nie die universellen Gesetze der Schwerkraft in Frage gestellt: Ein Paar, das sich mittags für zwei Stunden in einem schäbigen Hotel trifft, ist nicht auf Urlaubsreise, sie vögeln, und damit basta. Du kannst ja gern weiter an den Weihnachtsmann glauben, aber dann doch bitte nicht während der Arbeitszeit.«

Jordi Estève hob empört einen Finger, und sein Gesicht lief rot an. Doch genau wie einst auf dem Rugbyfeld konnte man Jacques Molina auch in einem Gespräch nur schwer aufhalten, hatte er erst einmal losgelegt.

»Ja, ich weiß, mein guter Jordi, es gefällt dir nicht, dass ich dein Hotel schäbig nenne. Entschuldige vielmals, aber ich nenne eben die Dinge beim Namen.«

»Wir hatten auch unsere Glanzzeit«, jammerte Jordi.

»Das glaub ich dir gern, aber das war einmal, wie man so schön sagt. Vor dem Krieg. Fragt sich nur, vor welchem!«

Jacques griff nach dem Finger, den der Hotelbesitzer immer noch in die Luft hielt, und drückte seine Hand auf den Tresen. »Ab, Soldat! Sonst noch etwas, das wir wissen sollten, mein lieber Jordi? Und damit meine ich etwas, das uns bei unseren Ermittlungen von Nutzen sein könnte?«

»Na ja, so direkt fällt mir da momentan nichts ein.«

Jacques deutete mit dem Kinn auf die Treppe und wandte sich dann an François. »Kommst du, Schatz?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte Jacques die Stufen hinauf.

»Halt, Jacques, was machst du da?«

Elsa Moulin, die neue Leiterin der Kriminaltechnik, stürzte auf Jacques Molina zu, um ihn daran zu hindern, ins Zimmer 34 zu kommen. Sie nahm ihre Maske ab und legte ihre behandschuhte Hand auf den breiten Brustkorb ihres Kollegen. »Bist du verrückt? Wir sind noch nicht fertig, du versaust uns nur den Tatort!«

»Reg dich nicht auf, Schätzchen. Ich wär doch nicht einfach so reingekommen, ich kenn mich doch aus. Darf ich dich dran erinnern, dass ich schon bei der Polizei war, als du noch nicht mal deine Periode hattest? Gib mir einfach ein paar Überziehschuhe und Gummihandschuhe, dann ist das kein Problem. Du weißt doch, dass wir uns gern sofort ein Bild vom Tatort machen.«

Elsa sah an Jacques vorbei in den Flur und entdeckte François Ménard, der gerade im dritten Stock ankam. »Ist Gilles nicht da?«

»Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Aber er hat doch heute Dienst, oder?«

»Theoretisch ja.«

Sie ging ins Zimmer zurück und kam mit einem Karton mit kompletten Sets darin wieder. Jacques nahm sich Überziehschuhe und Gummihandschuhe heraus und zog sie an.

»Auch die Haube«, insistierte Elsa.

»Ach komm schon, die find ich furchtbar. Man sieht so dämlich damit aus.«

»Wir sind hier nicht im Fernsehen, und es gibt hier auch niemanden, mit dem du flirten kannst, es ist also egal, ob du dämlich damit aussiehst.«

»Niemand zum Flirten, das sagst du so einfach.« Er betrachtete Elsa mit einem schmeichelnden Lächeln. Sie trug das übliche Outfit der Kriminaltechnik, einen weißen Overall, der sie von Kopf bis Fuß bedeckte. Jacques schob ihr sanft wieder die Maske vor den Mund. »Ich glaube, mir kommt da gerade eine Phantasie. Ich weiß nicht, ob es an dir liegt oder einfach nur an deinem Outfit …«

Elsa stemmte die Fäuste in die Hüften und sah ihn mitleidig an. »Du weißt schon, dass du mir jedes Mal den gleichen Spruch aufsagst, oder? Wirst du etwa senil?«

»Und was antwortest du mir immer?«, entgegnete Jacques unbeirrt.

»Dass ich dir gern den Overall für deine nächste Eroberung ausleihen kann, wenn er dich so anmacht, aber wenn du mich meinst, dann nur ein kleiner Tipp: Schlag es dir aus dem Kopf.«

»Ich weiß ja, dass du schon immer eine Schwäche für Gilles hattest«, spielte Jacques den Enttäuschten. »Aber daraus wird nichts, meine Hübsche, das weißt du doch. Gilles ist ein verheirateter Mann, und treu noch dazu … Zwei Makel, die ich nicht habe. Oder besser gesagt, einen davon habe ich nicht mehr und den anderen hatte ich noch nie.«

»Ganz reizend. Da bekommt man richtig Lust. Entschuldige mich, ich habe zu tun!«

Damit marschierte sie ins Badezimmer. Ihr junger Kollege hatte derweil seine Arbeit nicht unterbrochen. Seufzend zog Jacques sich die Haube über den Kopf und wandte sich dann an François. »Willst du dir auch was überziehen?«

»Nein, ich bleibe lieber hier. Ich beobachte von der Tür aus.«

»Vorschriften, Vorschriften … Du wirst dich auch nie ändern! Ihr Typen aus dem Norden nehmt einfach alles zu ernst.«

»Ich bin nicht aus dem Norden!«

»Ich weiß, du bist aus der Picardie, Hauptstadt Amiens! Hast du mir schon oft genug gesagt. Von hier aus gesehen ist es das Gleiche. Für uns Katalanen ist quasi alles nördlich von Salses schon der hohe Norden.«

»Ich bin nicht der Einzige, der sich hier wiederholt. Wie oft hab ich das schon gehört! Von jemandem wie Llach lass ich mir das ja noch gefallen, der ist wenigstens ein echter Katalane, aber du, du sprichst ja noch nicht mal Katalanisch.«

Jacques brummelte lediglich. »Ich kann’s verstehen, das reicht doch wohl.«

Auch wenn er stolz auf das Fleckchen Erde war, auf dem er aufgewachsen war, machte Jacques sich trotzdem regelmäßig über die aktiven Verfechter der katalanischen Identität, wie eben ihr Kollege Joan Llach, lustig. Jacques hatte schon immer gefunden, es sei Zeit- und Energieverschwendung, die Sprache seiner Vorfahren zu erlernen; im Zeitalter der Globalisierung zählte lediglich Englisch. Wenn die Pyrénées-Orientales nicht eins der ärmsten Départements Frankreichs bleiben wollten, mussten sie sich der Welt öffnen und sich nicht in einer einengenden katalanischen Identität abkapseln. Das war eine Frage des Überlebens!

Er trat ins blau gestrichene Zimmer und hockte sich vorsichtig neben die Leiche der Frau. Sie war gestürzt und saß nun eingeklemmt zwischen Wand und Bett. Ihr Kopf lehnte an der Matratze, und ihre Brille war ihr auf die Nasenspitze hinabgerutscht. Ihre dunklen Augen waren leer und blickten nur noch ins Nichts. Unter ihrem hochgerutschten Rock kam ein herzförmiges Muttermal auf ihrem Oberschenkel zum Vorschein. Die Kugel hatte sie direkt ins Herz getroffen, sie musste also sofort tot gewesen sein. Ein guter Schütze, oder ein Glückstreffer, sagte sich Jacques. Er stand auf und betrachtete die Bettlaken. Es waren keinerlei Spuren zu entdecken, und das überraschte ihn nicht. Eine Affäre bedeutete geschützter Sex. In Liebesdingen war diese Gleichung ebenso unumgänglich wie »zwei plus eins gleich jede Menge Ärger«.

»Es ist alles hier«, rief Elsa aus dem Bad.

In ihren behandschuhten Händen hielt sie ein Plastiktütchen, in dem sich ein benutztes und sorgfältig zugeknotetes Kondom befand. »Er hat es in den Mülleimer geworfen.«

»In den Mülleimer? Bäh …«

»Was tust du denn damit? Wirfst du es etwa ins Klo?«

»Natürlich.«

»Du weißt aber, dass das Latex ist und nicht verwest? Das ist nicht gut für die Umwelt und kann dir die Rohre verstopfen.«

»Ach tatsächlich … Bei dir würde ich es natürlich in den Müll werfen, versprochen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du gläubig bist.«

»Wie bitte?«

»Du glaubst anscheinend an Wunder!«

Jacques lächelte. Diesen Schlagabtausch mit seiner jungen hübschen Kollegin fand er herrlich. Ihm war jedoch bewusst, dass er sich auf dünnem Eis bewegte, denn er beherrschte die Kunst, die Leute aufzuregen. Ein angeborenes Talent, das er mit Freude kultivierte.

»Was kannst du mir sonst noch zum Fall sagen?«

Elsa blickte auf den leblosen Körper. »Sie war sofort tot. Es fiel nur ein Schuss, meiner Meinung nach war es eine .22 long rifle. Der Schütze ist in der Tür stehen geblieben und hat wahrscheinlich direkt abgefeuert. Keine Fragen, kein Wortwechsel. Der Typ wusste ganz genau, was er da tat … und was sie getan hatte!«

»Dann ist der Fall für dich also genauso klar wie für mich.« Jacques warf François einen raschen Blick zu, der ihre Unterhaltung von der Türschwelle aus verfolgte. »Ein Eifersuchtsdrama. Sobald wir den Ehemann haben, haben wir auch den Täter.«

»In ihrer Handtasche da auf dem Tisch findest du unter anderem ihr Handy und ihr Portemonnaie. Sie hieß Christine Abad, geborene Lipart. Ihr Mann heißt Stéphane mit Vornamen. Sie war siebenundvierzig und wohnte in Pollestres. Da ist auch ein Foto, darauf sieht man sie zu dritt: sie selbst, ein Mann in ihrem Alter und ein junger Mann um die zwanzig. Alle mit einem Lächeln im Gesicht. Eine glückliche Familie. Bis heute.«

»Tja. Traurig und doch so alltäglich. Der Mann wollte wohl die Scheidungskosten sparen …«

»Wie gemein!«

»Nur ein Scherz. Ich meine …« Jacques brach ab. Er begab sich auf Glatteis. Doch er redete trotzdem weiter. »Meine Scheidung hat mich ein Heidengeld gekostet.«

»Und jetzt bereust du, dass du deine Frau nicht umgelegt hast?«

»Tja …«

»Aber nach dem, was du mir eben erzählt hast, hätte ja wohl eher sie einen Grund, dich umzulegen.«

»Ach was, das waren doch nur ein paar unbedeutende Bettgeschichten. Wegen solcher Belanglosigkeiten tötet eine Frau doch nicht gleich!«

»Vielleicht sollte sie aber.«

»Aha? Würdest du das also tun?«

Elsa antwortete nicht, sondern widmete sich wieder ihren Aufgaben: Klemmverschlussbeutel in sterile Behälter verstauen, die Behälter beschriften und in einen Koffer sortieren. Jacques konnte nicht anders, er musste sie weiter necken.

»Hast du eigentlich zurzeit einen Freund?«

»Das geht dich nichts an.«

»Ist er eifersüchtig?«

Elsa seufzte laut auf, doch Jacques ließ nicht locker. »Ich frag nur, weil ich gern wissen würde, ob ich meine Knarre bereithalten muss, wenn wir miteinander schlafen.«

»Keine Sorge, das wird nicht passieren.«

»Ach so, dann ist er nicht eifersüchtig?«

»Nein, wir werden nicht miteinander schlafen.«

»Du hast recht, ich stehe ja auch mehr auf jüngere. Wie alt bist du eigentlich? Schon über dreißig, oder?«

»Du kannst mich mal.«

»Okay, okay. Ganz schön empfindlich heute, was? Du hast nicht zufällig grad deine …«

»O nein, halt! Nicht den Spruch, bitte, das ist unter deiner Würde. Und nein, ich habe nicht meine Tage.«

Jacques musste sich eingestehen, dass er zu weit gegangen war. Aber es kam einfach über ihn, er provozierte eben gern. Schon auf dem Rugbyfeld hatte er für sein Leben gern seinen Gegner aufgezogen. Im Gegenzug hatte er sich dann den einen oder anderen Faustschlag eingehandelt. Die er selbst aber auch ausgeteilt hatte.

»Ich wollte nur ein bisschen die Stimmung auflockern«, sagte er mit einem Nicken in Richtung der noch warmen Leiche.

»Und meinst du, es hat funktioniert?«

»Äh … ich bin irgendwie nicht ganz sicher.«

Er sah, dass Elsa ein Lächeln unterdrückte. Nervtötend und witzig zugleich, so war er eben. Er ging zum Tisch und öffnete vorsichtig Christine Abads Handtasche. Die anderen Gegenstände aus dem täglichen Leben einer Frau vernachlässigte er, nur Handy und Geldbeutel holte er hervor. Er vertraute Elsa: Hätte es etwas Ungewöhnliches in der Handtasche gegeben, sie hätte es sicher schneller gefunden als er. Er öffnete das Portemonnaie, zog das Familienfoto hervor und brachte es François Ménard. »Kannst du das Opa Jordi unten zeigen, damit er uns bestätigt, dass das hier auch wirklich der Mann ist, den er gesehen hat?«

»Okay. Und was hast du mit dem Handy vor?«

»Die Nummer des Gatten und den Namen des Geliebten heraussuchen.«

»Wartest du, bis ich wieder da bin, bevor du sie anrufst?«

»Kein Problem.«

Während François sich auf den Weg nach unten machte, nahm Jacques sich das Handy vor. Letzte Anrufe, häufig gewählte Rufnummern, SMS. Er hatte keinerlei Mühe, die Nummer des Geliebten zu finden, auch wenn Christine Abad sie zur Sicherheit unter dem weiblichen Vornamen Pascale abgespeichert hatte. Nur eine Nachricht war an sie abgesendet worden – alle anderen hatte sie anscheinend vorsichtshalber gelöscht –, doch ihr Inhalt war unmissverständlich: »Ich kann es kaum erwarten, dich in mir zu spüren. Bis gleich.« Jacques sah sich auch die anderen Nachrichten flüchtig an, fand jedoch nichts Interessantes, geschweige denn Pikantes darunter. Eine häufig auftauchende Nummer notierte er sich allerdings. Sie gehörte zu einer gewissen Brigitte. Kein zweiter Geliebter, sondern vermutlich eine enge Freundin. Möglicherweise eine Vertraute.

»Alles klar. Der Hotelier hat den Ehemann erkannt.«

Jacques sah auf. François war bereits zurück.

»Und bist du fündig geworden?«

Jacques zeigte ihm die an den Geliebten gesandte SMS.

»Wir rufen zuerst ihren Mann an«, schlug François vor.

Jacques holte sein eigenes Telefon hervor. Es überraschte ihn, dass er eine Nachricht erhalten hatte, er hatte es gar nicht piepen gehört. Sie war von Gilles.

»Gilles schreibt, dass er kommt«, erklärte er François. »Er hat die Nachricht vor etwa zehn Minuten geschickt.«

»Schreibt er, wo er ist?«

»Nein.«

»Dann wissen wir auch nicht, wann er hier ankommt.«

»Stimmt wohl.«

Jacques wählte die Nummer des Ehemanns und wurde mit der Mailbox verbunden. Er hinterließ eine Nachricht. »Guten Tag, Monsieur Abad. Hier spricht Lieutenant Molina vom Kommissariat Perpignan. Ich muss dringend mit Ihnen sprechen: Ihrer Frau ist etwas Schlimmes zugestoßen. Bitte melden Sie sich so schnell es geht unter dieser Nummer zurück. Ansonsten können Sie mich auch über die Zentrale vom Kommissariat erreichen. Bis gleich.«

Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich an François. »Dieser Fall ist so sonnenklar, am liebsten würde ich ihm sagen, dass er sich doch bitte im Gefängnis melden soll, und die Waffe nicht vergessen, damit ein Gutachter sie sich ansieht.«

François bedachte ihn mit einem Lächeln. »Ich denke mal, dass er das ohnehin so auffassen wird. Gut, rufen wir jetzt den Geliebten an?«

Jacques verstaute sein privates Handy und nahm das Telefon des Opfers. »Das könnte lustig werden«, erklärte er.

Er drückte auf das Icon neben dem Namen Pascale. Beim ersten Klingeln schaltete er den Lautsprecher ein. Beim dritten Klingeln nahm jemand ab. Pascale war tatsächlich ein Mann, und er hatte eine dunkle, sanfte Stimme. »Hallo, vermisst du mich schon? Bist du zu Hause?«

»Es tut mir leid, Monsieur. Hier spricht nicht Christine Abad, sondern Lieutenant Molina vom Kommissariat Perpignan.«

Am anderen Ende der Leitung blieb es still, man hörte nur den etwas schneller gehenden Atem.

»Hier spricht tatsächlich die Polizei, Monsieur. Das ist kein schlechter Scherz und auch keine Falle. Ich rufe Sie von Madame Abads Handy aus an, weil ihr etwas zugestoßen ist und wir Sie gern so schnell wie möglich sehen würden.«

»Etwas zugestoßen? Ist es schlimm? Ein Autounfall?«

»Dazu kann ich Ihnen momentan nichts sagen, nicht am Telefon. Können Sie aufs Kommissariat kommen?«

»Jetzt?«

»So schnell es geht.«

»Äh … Ich verstehe nicht ganz. Wieso ich? Ich bin doch nur ein … ein Freund.«

»Wir sind über Ihr Verhältnis zu Madame Abad im Bilde, wir wissen, dass Sie mehr als nur ein Freund sind.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Doch, doch, das wissen Sie ganz genau. Ich versichere Ihnen nochmals, das hier ist weder ein Scherz noch eine Falle, Monsieur. Hier spricht nicht Stéphane Abad, sondern Lieutenant Molina. Und wie ist überhaupt Ihr Name?«

Erneutes Schweigen. Dann ertönte wieder die dunkle Stimme. Diesmal nicht mehr ganz so sanft. »Und woher weiß ich, dass Sie wirklich Polizist sind?«

Jacques wurde langsam ungeduldig, aber er musste dem Geliebten zugestehen, dass er in seiner Lage vorsichtig sein musste.

»Beweisen kann ich es Ihnen so tatsächlich nicht. Deshalb fahren Sie jetzt auch aufs Kommissariat von Perpignan und sagen dort, dass Sie einen Termin bei den Lieutenants Molina und Ménard haben. Dann werden Sie schon sehen, dass es kein Scherz ist.«

»Aber das geht nicht, nicht sofort! Ich bin in der Arbeit, ich kann hier nicht einfach so abhauen!«

»Aber genau das werden Sie müssen!« Es würde Jacques schwerfallen, bei diesem Gespräch höflich zu bleiben. »Ansonsten muss ich wohl einen Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene und dem ganz Pipapo bei Ihnen in der Arbeit vorbeischicken. Das hat immer eine unglaubliche Wirkung, das kann ich Ihnen garantieren. Aber angesichts Ihrer Lage wäre Ihnen ein wenig Diskretion wohl lieber, nicht wahr?«

Die sich anschließende Stille war nicht ganz so aufgeladen, wie Jacques gehofft hatte. Seine Tirade war ins Nichts gelaufen. Er hatte einen wesentlichen Aspekt außer Acht gelassen, auf den sein Gesprächspartner ihn auch unverzüglich hinwies.

»Sie wissen doch gar nicht, wer ich bin, also wo schicken Sie dann Ihre Streife hin?«

Jacques kochte nun vor Wut. Dieser Typ hatte es ja so gewollt, dann sollte er es auch bekommen!

»Ja, ich kenne Ihren Namen nicht, Monsieur Sowieso, Dingsda oder Vollidiot. Aber ich habe Ihre Telefonnummer, und wenn ich will, kann ich in weniger als einer Viertelstunde Ihren Namen, Ihre Adresse und die Unternehmensnummer Ihres Arbeitgebers herausfinden sowie die Augenfarbe Ihrer Kinder und die Kleidergröße Ihrer Frau. Ich rate Ihnen aber, mich nicht dazu zu zwingen, diese Nachforschungen anzustellen, denn ich bin jetzt schon extrem schlecht gelaunt.« Er hielt inne, bevor er seinem Gesprächspartner dann den Todesstoß versetzte. »Ich stehe gerade in Zimmer Nummer 34 im Hotel Gecko, und ich habe immer schlechte Laune, wenn ich in den Ermittlungen zu einem Mordfall stecke!«

Mit dieser unverblümten Äußerung beendete er das Gespräch. Er sah auf. François Ménard, Elsa Moulin und ihr Assistent hatten allesamt ihre Arbeit unterbrochen, um dem lebhaften Telefonat zu lauschen, und starrten ihn an. Jacques lächelte in die Runde. »Ich nehme an, in diesem Augenblick macht sich der Herr Vollidiot gerade in die Hose. Sobald er dann seinen Schlüpfer gewaschen hat, wird er schnurstracks und mit eingeklemmtem Schwanz aufs Revier getapert kommen, wo wir dann mit dem braven Hündchen ganz in Ruhe einen Plausch halten können.« Er reichte Elsa das Mobiltelefon, und sie verstaute es in einem beschrifteten Klemmverschlussbeutel.

»Habe ich es richtig verstanden, du verschwindest jetzt endlich von meinem Tatort?«, wollte sie wissen. »Großartig.«

»Ja, wir fahren aufs Revier«, antwortete Jacques und wandte sich dann an François. »Wir müssen auch den Gatten zur Fahndung ausschreiben.«

Er verließ das Zimmer, nahm Überschuhe, Handschuhe und Haube ab und warf sie hinter sich. Elsa hielt ihn noch auf, bevor er ging. »Wir haben hier nur noch ein paar Minuten zu tun. Wenn ihr also Gilles seht, schickt ihr ihn mir gleich hoch?«

François verzog das Gesicht, und Jacques lachte hämisch. »Wenn du dich für heute Abend mit ihm verabreden willst, meine Hübsche, habe ich dich ja gewarnt: Daraus wird nichts!«

»Weißt du was, Molina?«

»Ich habe da so eine Ahnung …«

»Verpiss dich.«

»Das dachte ich mir schon. Komm, François, dann gehen wir zu zweit aufs Klo, das machen Frauen doch auch immer so.«

5 Das perfekte Verbrechen.

Endlich!

Sein Plan hatte funktioniert.

Von seinem Beobachtungsposten aus hatte er alles verfolgt, besser als im Fernsehen. Wie das Paar ankam, wie der Mann wieder ging und dann der Ehemann auftauchte und wieder verschwand, und schließlich der Rettungsdienst, der umsonst kam, und die Polizei. Erst die Kriminaltechnik, dann die Ermittler. Er hatte nicht verstanden, weshalb die beiden Lieutenants so lange auf der Straße vor dem Hotel gewartet hatten, bevor sie schließlich hineingegangen waren. Von seinem Posten aus konnte er nicht alles verstehen.

Aber das spielte auch keine Rolle.

Ein schwarzer Bestattungswagen fuhr in die Rue des Augustins ein. Metallpoller säumten die schmale Straße zu beiden Seiten, und man konnte vor dem Hotel nicht parken. Der Wagen hielt auf der kleinen Place des Poilus, direkt vor seinen Augen, wo Parken eigentlich nicht erlaubt war. Zwei düster dreinblickende Männer stiegen aus und gingen Richtung Hotel.

Sie würden die Leiche wegschaffen.

Arme Christine …

So viel Schuld hatte sie eigentlich gar nicht auf sich geladen, doch das Schicksal hatte entschieden: Sie hatte Pech gehabt und einen Hitzkopf geheiratet. Andererseits: Hätte sie sich anständig benommen und nicht wochenlang ihren Mann betrogen, wäre nichts dergleichen passiert.

Er sah, wie einer der Bestatter mit einem uniformierten Polizisten das Hotel verließ. Die Kriminaltechnik hatte ihre Arbeit im »Sterbezimmer« wahrscheinlich noch nicht abgeschlossen, und sie mussten sich noch gedulden. Der Bestatter hielt dem Gesetzeshüter seine Zigaretten hin und steckte sich selbst auch eine an. Sie rauchten und wechselten ein paar Worte, Smalltalk vermutlich. Sie schienen sich zu Tode zu langweilen. In ihren Berufen mussten sie eben auch verdammt viel Zeit totschlagen.

Er lächelte über seinen eigenen Witz.

Zumindest war sein Beruf wie eine Realityshow: Ständig passierte etwas. Normalerweise nichts, das ihn besonders fesselte, aber hin und wieder entdeckte er doch kleine Perlen der Wahrheit.

Noch nie hatte ihm seine Arbeit so viel bedeutet wie während der letzten Wochen.

Eine füllige Roma spazierte am Hotel vorbei. Sie trug einen schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und über den kräftigen Schultern eine einfache Strickjacke und schlurfte trotz der Jahreszeit in Pantoffeln daher. Lebhaft redete sie auf ihr Telefon ein. Er konnte zwar nicht hören, was sie sagte, vermutete jedoch, dass es Katalanisch war. In Perpignan benutzten nur noch die Roma diese Sprache im Alltag. Als sie fertig telefoniert hatte, steckte sich die Woman in Black ihr Handy unter die Bluse zwischen ihren gewaltigen Busen.

Er atmete tief ein. Das Leben konnte wieder schön sein.

Sein Coup war ihm gelungen, er hatte sich gerächt.

Ein perfektes Verbrechen, ganz genau.

Es war wie ein Befreiungsschlag. Was ihm so schwer auf den Schultern gelastet hatte, war fort, und auch der bittere Klumpen in seinem Magen hatte sich aufgelöst. Endlich konnte er wieder durchatmen. Heute Abend würde er ruhig und ausgeglichen nach Hause kommen.

Zum ersten Mal seit so langer Zeit …

Gerade wollte er seinen Posten verlassen, da sah er noch einen – ihm nicht unbekannten – Polizisten ankommen. »Mein Gott, der sieht ja völlig erschossen aus!«, sagte er mitfühlend zu sich selbst. Dann musste er wieder lächeln, diesmal über einen unbeabsichtigten Witz: Christine sah bestimmt auch ganz schön erschossen aus …

Der Polizist warf einen Blick in seine Richtung, aber er machte sich keine Sorgen. Der Bulle konnte ihn nicht sehen. Und er würde auch niemals bis zu ihm vordringen können.

The Eye hatte seine erste Tat vollbracht, seine so lang ersehnte, erhoffte und vorbereitete Tat.

Erledigt war sein Auftrag noch nicht.

6 »Da bist du ja! So langsam habe ich mich schon gefragt, ob du nicht vielleicht verreckt bist. So wie du aussiehst, lag ich damit allerdings wohl gar nicht so falsch …« Jacques Molina und François Ménard wollten gerade das Hotel verlassen, als ihnen Gilles Sebag im Flur entgegenkam.

»Ich bin nicht ganz auf dem Damm«, rechtfertigte sich Letzterer.

»Mhm … Und deswegen kannst du nicht ans Telefon gehen?«

»Ihr werdet’s nicht glauben: Ich konnte es nicht finden.«

Jacques sah seinen Kollegen scharf an. Er war nicht sicher, ob Gilles sie nicht zum Narren hielt.

»Ich hatte es in meiner Sporttasche gelassen«, erklärte Gilles. »Ich war gestern bei Baixas laufen, und es ist ein bisschen spät geworden. Ich war total erledigt, als ich nach Hause kam, und dann hab ich wohl noch was Falsches gegessen und die halbe Nacht und den ganzen Vormittag auf dem Klo verbracht.«

Jacques nickte. Gilles sah wirklich fertig aus. Was er gegessen hatte, musste schon seit de Gaulles Zeiten abgelaufen gewesen sein, und zwar eher zu dessen Londoner Zeiten als zu denen als Präsident.

»Du läufst im Dunkeln?«, wunderte sich François.

»Kommt vor. Mit Stirnlampe. Dann bleibe ich aber auf den asphaltierten Straßen und nehme nicht die ungepflasterten Wege. Aber warum habt ihr nicht versucht, mich auf dem Festnetz zu erreichen?«

Jacques runzelte die Stirn. Wieder hatte er den Eindruck, Gilles mache François und ihm etwas vor. Gilles konnte zwar clever aufspüren, wenn jemand anders ihn in die Irre führen wollte, aber selbst war er offenbar ein jämmerlicher Lügner. Er hatte schon tausende von Ausreden erfunden, wenn er zu spät oder gar nicht in der Arbeit auftauchte, doch in der Regel servierte er die nur seinem direkten Vorgesetzten Commissaire Castello – der sie ihm bereitwillig abnahm.

»Stimmt, wie dumm, daran haben wir gar nicht gedacht«, gestand François ein.

Jacques blieb nachdenklich.

»Na ja, jedenfalls … der Fall hier, gibt’s da schon was zu zu sagen?«, wollte Gilles wissen.

»›Eifersuchtsdrama‹ wird wohl morgen in den Zeitungen stehen«, antwortete François. »Ein Mann hat seine Frau in dem Hotelzimmer erschossen, in dem sie gerade zwei Stunden mit ihrem Geliebten verbracht hatte.«

»Aha.«

»Tja, selbst heute noch ein Klassiker«, fügte Jacques hinzu. »Da hättest du wohl auch auf dem Klo bleiben können.«

»Und der … der Geliebte war nicht mehr da?«

»Nein, der war schon gegangen«, fuhr François fort. »Den Ehegatten hat der Hotelbesitzer ausdrücklich auf einem Foto wiedererkannt. Wir haben ihn aber noch nicht erreicht und werden ihn zur Fahndung ausschreiben lassen. Und eine Streife zu ihm nach Hause und in die Arbeit schicken.«

»Den Geliebten verhören wir ebenfalls«, ergänzte Jacques. »Der sollte demnächst auf dem Revier auftauchen. Sollen wir auf dich warten?«

»Wenn ihr wollt, klar … Oder, ich weiß nicht. Entscheidet selbst. Ich würde jetzt erst mal nach oben gehen und mich dort ein bisschen umsehen.«

»Elsa wartet schon sehnsüchtig auf dich. Dritter Stock.«

Ohne Jacques’ Spott bemerkt zu haben, stieg Gilles die Treppe hoch.

Elsa Moulin zog sich die Haube vom Kopf, schüttelte ihre Mähne und begrüßte Gilles mit Küsschen auf die Wange. »Mensch, du bist ja total blass! Geht’s dir nicht gut?«

»Bin nicht ganz auf dem Damm, ja.«

Elsa hatte einen ungewohnten säuerlichen Geruch an Gilles wahrgenommen, einen Geruch nach Schweiß. Kurz dachte sie, dass Gilles aufgrund des Mordfalls wohl keine Zeit gehabt hatte, nach dem Laufen noch zu duschen, doch sie verwarf die These wieder. So angegriffen, wie ihr Kollege aussah, war er auf keinen Fall in der Lage, laufen zu gehen.

»Magen-Darm?«

»Ich weiß nicht …«

Eine flötende Stimme ertönte leise aus Gilles’ Jackentasche: »Papa, du hast eine SMS!«

»Entschuldige, ich habe eine Nachricht.«

»Witziger Klingelton.«

»Hat mir meine Tochter aufgenommen, und ich weiß nicht, wie man es wieder löscht. Wirkt manchmal ziemlich dämlich.«

»Also ich find’s nett.«

»Schon, aber wenn man gerade vor irgendeinem Verbrecher den Harten markieren will und dann das Telefon nach Papa ruft, ist alles versaut. Da jagt man ja niemandem mehr Angst ein.«

»Kann ich mir vorstellen …«

Gilles überflog die Nachricht und steckte sein Handy wieder weg. Mehrere Sekunden verstrichen, in denen er nachdenklich vor sich hin starrte.

»Schlechte Nachrichten?«

Er sah Elsa an. »Wie bitte?«

»Schlechte Nachrichten?«

»Äh … nein, nein. Nur meine Frau … Ich soll nachher Brot mitbringen, wenn ich nach Hause komme. Alltagskram.«

Er sah sich kurz im Zimmer und im Bad um, bevor er die Leiche betrachtete. Dann sah er aus dem Fenster.

»Ist nicht viel los auf der Straße, und in den Gebäuden scheint es auch ruhig«, bemerkte Elsa. »Da sollte man nicht zu sehr auf Zeugen hoffen. Aber die braucht ihr ja eigentlich sowieso nicht.«

»Jacques und François haben es mir kurz dargestellt. Ein klarer Fall also?«

»Ich glaube ja. Da könnt ihr euch die Nachbarschaftsbefragung diesmal wohl sparen.«