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Nils freut sich unbändig: Er hat seine eigene Studentenbude! Endlich darf er weg von der überbehütenden Familie. Als er allerdings ankommt zeigt sich, dass der Raum versehentlich zwei Mal vermietet wurde und er sich mit einem Zimmergenossen abfinden muss. Oliver hat hart um seine Freiheit kämpfen müssen und ist nicht bereit, sie mit irgendjemandem zu teilen. Er stellt Nils ein Ultimatum: Dreißig Tage lang darf jeder alles tun, um den anderen zu vertreiben, sofern es schadensfrei zugeht. Was als Rivalität mit kleinen Gemeinheiten beginnt, wird rasch bitterer Ernst, als Olivers Vergangenheit auf den Plan tritt. Nun gelten andere Regeln, und das Leben der beiden jungen Männer gerät in Gefahr … Ca. 39.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte dieses Buch rund 190 Seiten.
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Nils freut sich unbändig: Er hat seine eigene Studentenbude! Endlich darf er weg von der überbehütenden Familie.
Als er allerdings ankommt zeigt sich, dass der Raum versehentlich zwei Mal vermietet wurde und er sich mit einem Zimmergenossen abfinden muss.
Oliver hat hart um seine Freiheit kämpfen müssen und ist nicht bereit, sie mit irgendjemandem zu teilen. Er stellt Nils ein Ultimatum: Dreißig Tage lang darf jeder alles tun, um den anderen zu vertreiben, sofern es schadensfrei zugeht.
Was als Rivalität mit kleinen Gemeinheiten beginnt, wird rasch bitterer Ernst, als Olivers Vergangenheit auf den Plan tritt. Nun gelten andere Regeln, und das Leben der beiden jungen Männer gerät in Gefahr …
Ca. 39.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte dieses Buch rund 190 Seiten.
Dreißig Tage
von
Sandra Gernt
1. Tag
„Wir sind da.“ Der Taxifahrer hielt auf dem Parkplatz vor einer Bausünde der Ära ‚praktisch, billig, gut’. In diesem riesigen Gebäude gab es ein Zimmerchen, das auf Nils wartete. War es nicht vollkommen egal, wie trostlos es von außen aussah? Er bezahlte rasch den Fahrer, hievte seinen Trolley aus dem Kofferraum, marschierte die rund fünfzig Meter bis zur Eingangstür und suchte auf den gefühlt zehntausend Klingelschildern den Namen seiner Vermieterin. Huberti, S., gab es zum Glück nur einmal. Nils klingelte aufgeregt.
Sofort quäkte aus dem Lautsprecher eine Frauenstimme: „Einfach rein in die gute Stube. Bin im siebten Stock.“
Das war sowieso Nils’ Ziel.
Zimmer 14 im siebten Stock, dort befand sich seine Studentenbude.
Der Fahrstuhl funktionierte tadellos, wenn auch langsam. Mit dem Gefühl, an der Eroberung einer neuen Welt teilzunehmen, wartete Nils ungeduldig, bis er endlich oben ankam. Er wollte so rasch wie möglich sein eigenes Reich erobern. Allein sein, statt rund um die Uhr behütet.
Eine dicke alte Frau mit blondierter Dauerwellenfrisur stand vor der Tür mit dem Schild „14“. Sie stank so eklig nach Zigaretten, dass Nils unwillkürlich die Luft anhielt, als er ihr die Hand schüttelte.
„Herr … äh … Leven, richtig?“ Sie kramte einen Zettel aus der gestärkten weißen Schürzentasche.
„Jäger. Nils Jäger ist mein Name. Ich habe bei Ihnen die Nummer 14 gemietet.“
Leichte Unruhe machte sich breit und wuchs an, als Frau Huberti stirnrunzelnd in ihren Papieren blätterte.
Rasch nahm Nils seinen Rucksack ab und zog den Mietvertrag hervor.
„Schauen Sie hier, mit Unterschrift und allem.“
„Dat is’ ja man merkwürdig“, murmelte sie und starrte auf den Vertrag. „Meine Unterschrift, ja ja …“
Der Fahrstuhl plinkte, die Tür öffnete sich. Ein junger Mann stieg aus, bewaffnet mit einem großen Koffer. Nils hatte kaum Zeit, sein Äußeres wahrzunehmen – groß, schlank, blonde Haare, dunkle Augen, blaue Jeans, weißer Pulli – da war er auch schon bei ihnen.
„Frau Huberti? Mein Name ist Oliver Leven, wir waren verabredet. Ich habe die Nummer 14 gemietet.“
„Na, dat is ja man echt merkwürdig!“, murmelte sie und blickte zwischen Nils und Oliver hin und her. „Da is’ man irgendwat schiefgelaufen.“
~*~
Nils lehnte trübsinnig an der Wand, während Oliver sich ein hitziges Wortgefecht mit der Vermieterin lieferte. Das Zimmer war hell und wirkte so freundlich, wie es bei sparsamer Ikeamöblierung und giftgrünem PVC-Boden eben möglich war. Auf großzügigen zwanzig Quadratmetern gab es ein Bett, einen Schreibtisch und eine etwas wacklig wirkende Kommode. Das Gemeinschaftsbad befand sich genauso auf dem Flur wie die Gemeinschaftsküche. Alles war sauber und ausreichend. Ein Studentenwohnheim der besseren Sorte eben.
„Jungs, tut mir echt leid, keine Ahnung, wat da schief gegangen is’“, sagte Frau Huberti. „Problem is’ nu’: Dat Haus is’ voll. Bis zur letzten Besenkammer. Is’ der Mist mit den doppelten Abiturjahrgängen.“
„Und jetzt?“, fragte Nils frustriert. „Ich kann nicht nach Hause zurück, das ist über zweihundert Kilometer von hier!“
„Bei mir sind es fünfhundertachtundachtzig“, fuhr Oliver dazwischen.
Die Vermieterin kratzte sich ratlos durch die blonden Locken.
„Passt auf, Jungs. Ich hab noch’n Feldbett, dat passt schon. ‘s springen immer welche in den ersten Wochen ab, die dachten, studieren is’ wat mit Dauerparty und Ferien ohne Ende. Ein, zwei Wochen, dann wird garantiert ‘ne Bude frei. Okay? Zum Ausgleich kriegt ihr beide die Hälfte eurer Vorauszahlung wieder.“ Sie strahlte und klatschte zufrieden in die Hände. „Ihr zwei Hübschen vertragt euch, oder? Ich hol schon mal dat Feldbett.“
Sprach’s und ließ sie beide einfach stehen. Nils seufzte innerlich. Das war wirklich kein vielversprechender Start.
Aber die Welt würde nicht untergehen und für ein paar Wochen würde er auch mit einem ungeplanten Zimmernachbarn klarkommen. Er wandte den Kopf, um Oliver anzusehen und schrak zusammen: Sein Schicksalsgenosse starrte ihn mit finsterster Miene an.
„Das Zimmer gehört mir!“, knurrte Oliver drohend. „Damit das klar ist. Du wirst ausziehen. Am besten jetzt sofort.“
Verdutzt über so viel Feindseligkeit fand Nils keine Worte. Der Typ tickte wohl nicht ganz sauber!
„So, ihr beiden, hier is’ dat gute Stück. Habt ihr schon klar, wer’s nimmt? Na, egal, kommt man mit, ich zeig euch alles. Und schaut, ich hab zwei Schlüssel für dat Zimmerchen, dat Problem is’ auch gelöst.“
Während des gesamten Rundgangs, von den Briefkästen zu ihrem Büro, wo Frau Huberti tagsüber für Sorgen aller Art erreichbar war, zum Hauswirtschaftsraum mit Münzwaschautomaten und zurück zum Zimmer sprach Oliver kein Wort. Dafür plapperte Frau Huberti umso mehr und schien blind für die gereizte Stimmung und die zornigen Blicke zu sein, die der seltsame Kerl unablässig in Nils’ Richtung warf. Das zugesagte Geld bekamen sie direkt bar in die Finger gedrückt, „Damit dat nich’ auch noch inne Binsen geht!“. Eine Flutwelle von Ge- und Verboten ging über sie nieder. Man durfte nicht im Gebäude rauchen, nach 22.00 Uhr keinen Besuch mehr empfangen – „Dat muss ich halt sagen, treibt’s einfach nich’ zu bunt, Jungs, klar?“ – auf den Zimmern nichts kochen, in der Gemeinschaftsküche stets alles aufgeräumt zurücklassen und aus dem Kühlschrank nichts holen, was man nicht selbst hineingestellt hatte, und so weiter, es nahm kein Ende.
Irgendwann aber waren sie doch erlöst. Frau Huberti schüttelte ihnen die Hände, mahnte sie, immer sauber zu bleiben und ließ sie mit einem fröhlichen: „So, freundet euch man nett an, Jungs!“ allein.
„Nicht, bevor die Hölle gefriert!“, knurrte Oliver, sobald sie außer Hörweite war und nahm das Bett in Beschlag. Nils hätte schreien können. Wenn solch ein dummer Fehler schon passieren musste, hätte es nicht wenigstens mit einem freundlicheren Menschen sein können?
~*~
Oliver betrachtete den mutlosen Gesichtsausdruck des Jungen. Der Kleine war neunzehn, höchstens. Also etwa vier Jahre jünger als er selbst. Zum ersten Mal fern der Heimat. Das würde vermutlich leichter werden als befürchtet, den Knaben vor die Tür zu ekeln. Zu lange und zu hart hatte Oliver für diese Chance hier gekämpft. Er wollte keine Fremden in dem bisschen Freiraum, der ihm, und nur ihm allein gehören sollte. Himmel, der Kleine heulte wahrscheinlich nachts Rotz und Wasser nach seiner Mami! Er wirkte jedenfalls, als wollte er jetzt schon losheulen, als er begann, das Feldbett aufzustellen und sich mit der Bettwäsche abzuquälen, die Frau Huberti ihm gegeben hatte. Mit seinen geschätzt 1,80 m war er nicht wirklich klein, aber er hatte etwas an sich, das ihn kleiner erscheinen ließ. Schlank war er und offenbar erkältet. Er hustete jedenfalls viel. Nun gut, zumindest hatte Oliver keine nervtötende Modepuppe erwischt. Das hellblonde Haar war nichtssagend geschnitten, kurze pflegeleichte Standardfrisur. Die Klamotten waren sauber, zweckmäßig, keine Markenware. Jemand, der zu viel plapperte war er auch nicht. Er machte den Eindruck, als würde er Ärger aus dem Weg gehen, wo er konnte.
Der macht mir keinen Kummer, da wette ich! Zwei Tage und der rennt heim zu Mutti und Vati.
Und was, wenn nicht? Wenn Frau Huberti kein Zimmer frei bekam?
Oliver überlegte, ob man die Dinge beschleunigen könnte.
Sollte kein Problem sein …
~*~
Nils hatte aus dem abweisenden Blick seines Zimmergefährten geschlossen, dass er sich von Schreibtisch und Kommode fernzuhalten habe. Darum stapelte er seine Bücher und Lernmaterialen schön ordentlich neben seinem Feldbett. Die Klamotten beließ er im Koffer, das war am einfachsten. Hoffentlich würde wirklich schnell jemand abspringen … Und hoffentlich war die Warteliste derjenigen, die sehr dringend ein Zimmer brauchten, nicht zu lang. Nils studierte bereits im 2. Semester an dieser Uni, das erste halbe Jahr hatte er bei seiner Schwester gewohnt. Da Marina hochschwanger war und ihr Freund nun dauerhaft zu ihr ziehen wollte, gab es keinen Platz mehr für ihn in der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung. Er hatte sich vor über einem Jahr für eine Unterkunft im Wohnheim angemeldet und war so froh gewesen, als der ersehnte Bescheid gekommen war. Marina war eine tolle große Schwester, trotzdem war Nils glücklich, dass er endlich auf eigenen Füßen stehen durfte. Das würde er sich von niemandem nehmen lassen, auch nicht von einem mies gelaunten Spinner, der glaubte, die ganze Welt müsse ihm gehören!
„Hey!“, sagte Oliver in diesem Moment. „Wie wäre es mit einem Wettkampf, Kleiner? Ich will meine Privatsphäre mit keinem teilen und mit etwas Pech dauert es zu lange, bis die Huberti einen Ersatz frei hat.“
Nils grummelte irgendetwas Zustimmendes. Eigentlich wollte er nicht an diese Frau denken, beziehungsweise an die Zigarettenqualmwolke, die sie umgeben hatten. Er hatte gerade erst aufgehört, ständig husten zu müssen.
„Wie sieht’s aus? Jeder darf alles tun, um den anderen in die Flucht zu schlagen. Und mit alles meine ich ALLES. Ausgenommen Sachbeschädigung, irgendwas, das gefährlich ausgehen könnte und Körperverletzung. Dreißig Tage lang. Wenn danach keiner von uns das Feld geräumt hat, schließen wir Waffenruhe, bis du eine andere Bude gefunden hast.“
Sprachlos schaute Nils zu ihm hoch. Der Kerl war nicht nur mies gelaunt, sondern eindeutig krank im Kopf.
„Danke, kein Bedarf“, erwiderte er schließlich. „Ich gehe davon aus, dass sich die Sache von allein regeln wird.“
„Zu feige für ein Spiel mit überblickbarem Risiko?“ Oliver schnaubte verächtlich. „Dachte ich mir schon.“
„Das ist kein Spiel, sondern Unfug“, murmelte Nils.
„Aha. Du meinst also, ich rede Unfug, ja?“ Mit verschränkten Armen baute Oliver sich bedrohlich vor ihm auf. Nils blickte nervös zur Tür. Der Fluchtweg war ihm verbaut. Zwar glaubte er nicht, dass der Kerl ihn ernstlich verprügeln wollte, andererseits konnte er sich da nicht sicher sein.
„Ich habe dir eine Frage gestellt.“ Olivers Stimme wurde leise und kalt. Pure Aggression sprach aus seinem Blick und seiner Körperhaltung.
„Ich – nein, nein, das hab ich nicht gemeint.“ Beschämt darüber, wie leicht er sich einschüchtern ließ, starrte Nils zu Boden. Konnte der blöde Idiot ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
„Dann stimmst du also zu?“
„Was?“
„Dumm ist er auch noch. Meinem Vorschlag natürlich!“ Seine Miene machte deutlich, dass Oliver ein nein nicht akzeptieren würde. Das konnte noch heiter werden …
„Keine Gewalt, keine Zerstörung, nichts Gefährliches?“, vergewisserte sich Nils. Was blieb da eigentlich übrig, um jemandem das Leben schwer zu machen?
„Exakt. Wer absichtlich etwas zerstört oder solch potentiell gefährliche Unfeinheiten wie Juckpulver oder Rhizinusöl bemüht, zieht direkt aus.“
„Okay.“ Nils zuckte hilflos die Schultern. Eigentlich wollte er nur seine Ruhe haben.
Irgendetwas an Olivers zufriedenem Lächeln sagte ihm allerdings, dass er sich von jedem Gedanken an Ruhe für die nächste Zeit verabschieden konnte …
~*~
Sie waren sich aus dem Weg gegangen. Es gab genug zu tun – Nils musste einkaufen, seiner Schwester erzählen, was hier abgelaufen war, sich den Vorlesungsplan besorgen und vieles mehr. Auch Oliver war die meiste Zeit unterwegs gewesen. Auf die unschöne Überraschung, dass sie beide Bauingenieur werden wollten und Oliver ebenfalls im zweiten Semester studierte – bislang war er an einer anderen Uni gewesen – hätte Nils gerne verzichtet. Vermutlich war so die dumme Verwechslung entstanden, beziehungsweise, das war die einzige vernünftige Erklärung dafür. Sie würden alle Pflichtvorlesungen gemeinsam besuchen und mit ausreichend Pech auch zu gemeinsamen Gruppenarbeiten eingeteilt werden. Sprich, sogar wenn sie das Wohnproblem gelöst hatten, würden sie einander weiterhin über den Weg laufen.
Nervös wartete Nils, was dieser Spinner wohl planen mochte. Den ganzen Abend über wagte er nicht, sich von seinem Feldbett wegzubewegen. Oliver saß zwar scheinbar unschuldig am Schreibtisch und vertiefte sich in seine Bücher, aber wer wusste schon, was der Kerl vorhatte? Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Schlafen gehen wollte er auch nicht, bevor Oliver sich nicht ebenfalls hinlegte. Im Schlaf war er angreifbar. Das Versprechen, ihm nicht weh zu tun, beruhigte ihn kaum … Statt über spezifische Dichten verschiedener Baumaterialien dachte Nils über Selbstverteidigungsstrategien nach. Was er selbst anstellen könnte, um Oliver das Leben sauer zu machen, dazu wollte ihm nichts einfallen. So etwas lag ihm nicht. Ein weiterer Fehler von zu viel gut gemeinter Obhut, er war nicht fähig, sich gegen solch einen aufgeblasenen Wichtigtuer durchzusetzen.
Was würde der Kerl mit ihm machen?
Dieses gegenseitige Belauern war völlig unerträglich!
~*~
Der Kleine ist weich, dachte Oliver verächtlich. Nils’ steigende Nervosität war nicht zu übersehen. Er beschloss, es erst einmal sanft anzugehen. Nicht, dass der Junge ihm schlapp machte. Oliver wollte nichts weiter, als ihn loszuwerden. Ein wenig tat es ihm leid, einen solch unbedarften Gegner zu haben, der ihm hilflos unterlegen war. Vielleicht hätte er doch lieber abwarten sollen, aber sein Stolz verbot es ihm, die Sache abzublasen. Nein, er würde kein Mitleid zeigen und dafür sorgen, dass Nils wieder zu seiner Schwester zog. Dumm von ihm, dass er Oliver so bereitwillig an seinem Leben teilnehmen ließ, statt sich zum Telefonieren einen besseren Ort zu suchen!
„Ich geh dann mal langsam schlafen“, verkündete Oliver irgendwann. Im Bad ließ er sich absichtlich viel Zeit, um Nils Gelegenheit für einen Streich zu geben. Wie erwartet, ließ der die Chance ungenutzt und wagte sich kaum zur Tür hinaus, als das Badezimmer frei war.
Sie gingen schweigend ins Bett. Geduldig wartete Oliver ab. Mit der Geschicktheit jahrelanger Übung täuschte er nach etwa einer Viertelstunde mit tiefen, ruhigen Atemzügen vor, friedlich eingeschlummert zu sein. Jetzt wurde es schwierig, denn er musste sich wach halten, die Scharade weiter durchziehen und dabei aufpassen, dass er den Zeitpunkt nicht verpasste, an dem Nils fest schlief. Das zog sich. Der Junge war sicherlich aufgeregt, das Feldbett quietschte und war vermutlich nicht allzu gemütlich. Irgendwann aber begann er leise zu schnaufen und lag so still, dass Oliver sich einigermaßen sicher sein konnte, freie Bahn zu haben. Lautlos glitt er aus dem Bett, seine kleine Stableuchte in der Hand, und schlich sich auf die andere Seite des Zimmers. Nils regte sich nicht. Zufrieden vor sich hingrinsend begann Oliver sein Werk: Er stellte die Weckzeit von Nils’ Handy zwei Stunden zurück und pfuschte in dessen Vorlesungsplan herum. Der naive Junge hatte nicht einmal bemerkt, dass Oliver ihm vom Schreibtisch aus über die Schulter blicken konnte, als Nils seinen Pincode eingetippt hatte.
Sein unerwünschter Zimmernachbar würde morgen sehr müde sein. Und nach dem Mittagessen im falschen Hörsaal auftauchen.
Gähnend trollte Oliver sich zurück ins Bett. Mit etwas Pech würde er zwar auch zu früh geweckt werden, aber er war darauf eingestellt und würde es nicht als Schikane empfinden, so wie es bei Nils zweifellos der Fall sein würde. Psychologische Kriegsführung eben, wenn Gewalt keine Option war. Ja, es war ein eher lächerlicher Streich. Gerade eben noch als Gemeinheit zu werten. Immerhin musste er bei seinem Opfer erst einmal die Grenzen ausloten und es war nicht Olivers Absicht, den Kleinen völlig fertig zu machen. Er wusste schließlich nur zu genau, wie grausam es war, am Boden zu liegen und nicht mehr aufstehen zu können …
2. Tag
Kann doch nicht wahr sein!, dachte Nils, als der Vibrationsalarm seines Handys ihn aus dem Tiefschlaf weckte. Er kam morgens immer schlecht hoch, seinem Gefühl nach war es eher 3.00 Uhr als 6.00 Uhr. Einen Moment lang saß er wie betrunken auf dem Feldbett und versuchte sich zu orientieren. Zwar war ihm sofort bewusst, dass er nicht länger in Marinas Gästezimmer schlief, aber wo sich in diesem Raum oben, unten, Zimmertür und sonstiges befanden, dafür brauchte er einen Augenblick länger. Zumal es stockdunkel war, Oliver hatte darauf bestanden, die Jalousien vollständig zu schließen und nicht den kleinsten Spalt zu belassen. Nils schlief normalerweise mit offenem Fenster.
Ich könnte Licht machen, dachte er, sobald er etwas munterer wurde. Sein unliebsamer Zimmernachbar schlief noch selig, anscheinend brauchte der morgens nicht so lange Vorlaufszeit. Es wäre eine jener kleinen Gemeinheiten, die erlaubt waren, oder?
Kopfschüttelnd verzichtete Nils und sammelte lieber seine Klamotten zusammen, um sich leise ins Bad zu schleichen. Wozu sich selbst quälen und diesen Idioten wecken? Besser, er genoss den Frieden, solange er noch anhielt.
Mit viel Stolpern, Tasten und einem angeschlagenen Zeh schaffte Nils es ins Badezimmer. Erst mal kalt duschen, das machte fit. Um vier Uhr morgens sah die Welt halt noch …
Moment mal!
Nils starrte verwirrt auf seine Uhr. 4.06 Uhr, behaupteten die Zeiger. War das Ding stehen geblieben? Rasch zückte er das Handy, das er vorsorglich in seiner Hosentasche deponiert hatte. 4.06 Uhr.
Eine kurze Prüfung ergab, dass er den Weckalarm zwei Stunden zu früh eingestellt hatte.
Ich bin so blöd!
Er streckte dem bleichen, übernächtigt aussehenden Kerl im Spiegel die Zunge raus. Wie dumm konnte man sein?
Und wenn das der Spinner getan hat?
Nils kontrollierte stets doppelt, ob der Wecker auf die richtige Uhrzeit angestellt war, das hatte er gestern Abend auch getan. Einmal konnte man sich irren, aber zweimal?
Unfug. Die Tastensperre war drin, ohne Pincode hätte er da nicht rumpfuschen können.
Und wenn Oliver den Pin geknackt hatte?
Ich seh’ schon Gespenster. Der Typ macht mich fertig, ohne einen Finger zu rühren! Ab ins Bett, weiterschlafen.
Nach dreifacher Kontrolle, dass der Weckalarm nun auf 6.15 Uhr stand, schlich Nils zurück ins Zimmer. Die Viertelstunde würde ihm nachher fehlen, aber er wollte wenigstens zwei volle Stunden liegen dürfen, wenn ihm schon der Schlaf entging. Denn jetzt war er erst einmal hellwach. So sehr er sich auch einredete, dass Oliver unmöglich das Handy manipuliert haben konnte, schließlich hatte Nils es ununterbrochen bei sich gehabt, die Ungewissheit blieb. Da half es wenig sich klar zu machen, dass, selbst wenn es so sein sollte, das Ganze ein harmloses Scherzchen war. Wer ohne Probleme einen Pin knackte, konnte auch seine Passwörter auf dem Laptop ohne Schwierigkeiten hacken. Vielleicht hatte Oliver das sogar bereits getan und sich Zugang zu Nils’ Emails verschafft. Zu seinen Schreibdateien und Fotos. Zum Glück hatte er nie angefangen, Tagebuch zu führen. Viel zu unsicher mit einer Mutter, die sich Tag und Nacht um ihn Sorgen machte …
Nun bleib locker. Das ist kein Doppel-Null-Agent, das ist der misanthropische Vollpfosten, der dich rausekeln will. Zähl Schäfchen und schlaf weiter!
Das war leider leichter gesagt als getan …
~*~
Völlig erschöpft schleppte Nils sich aus dem Fahrstuhl. Das war ein grässlicher Tag gewesen und er war leider noch nicht vorbei.
Zuerst war er zu früh aufgestanden, dann war er nicht aus den Federn gekommen, als es Zeit dafür war. Oliver hatte ein paar unnette Bemerkungen über Langschläfer, späte Vögel und Ähnliches abgelassen, sich aber insgesamt weitaus weniger aggressiv verhalten als gestern.
Dafür war die Dusche andauernd besetzt, sodass Nils sich am Ende mit einer Katzenwäsche begnügen musste. In der Mensa war das Frühstücksbuffet fast geplündert, als er dort ankam. Von den Vorlesungen bekam er kaum die Hälfte mit, weil er sich vollkommen zerschlagen fühlte. Das Mittagessen musste er deshalb auf ein trockenes Brötchen beschränken, damit er in der Bibliothek mehrere Bücher ausleihen konnte, um den versäumten Stoff nachschlagen zu können. Alle Dozenten hatten sie großzügig mit Hausaufgaben versorgt und einiges davon war wirklich anspruchsvoll.
Nils kramte nach seinen Schlüsseln.
Dass er mit einem der Neuen ein Zimmer teilte, hatte blitzschnell die Runde gemacht. Es war kein Geheimnis, das er schwul war, darum hielt sich Aufregung in Grenzen. Allerdings fragten ihn reihenweise Freunde und Bekannte, wann er den neuen Lover vorstellen würde und es kostete ihn eine Menge Nerven, um das Missverständnis zu klären. Letztendlich war es Olivers extrem kaltes und abweisendes Verhalten, das sogar Alina überzeugte. Die selbsternannte ‚Sonderbeauftragte für romantische Angelegenheiten’, kurz „Sofragline“, hatte zuerst schon Hochzeitsglocken läuten hören … Dass sie Nils danach zum tausendsten Mal mit ihrer Liste potentieller Liebhaber, Kategorie „gay“, garantiert auf aktuellem Stand nervte, machte es kaum besser.
Eigentlich wollte er sich jetzt am liebsten in eine ruhige Ecke verkrümeln, ein Stündchen ausruhen, essen und danach mit den Hausaufgaben anfangen. Doch Dominik und Lars, zwei seiner besseren Freunde, wollten ihn unbedingt zu einer Party anlässlich des Semesterstarts mitnehmen und hatten ihn solange bequatscht, bis Nils entkräftet zugesagt hatte. Wirklich gute Freunde hatte er keine, bloß Kumpel, mit denen er gut zusammen lernen oder mal einen Abend verbringen konnte. Besser, solche Kontakte zu pflegen, damit er in Notzeiten wenigstens Hoffnung auf einen Freund haben durfte, auf den er zurückgreifen konnte.
Bestimmt wird da geraucht werden, dachte er. Sprich, ohne seinen Inhalator sollte er keinen Fuß durch die Tür setzen. Nils griff in die Tasche, wo er sein Asthmamittel stets griffbereit hielt.
Es war nicht da.
Hatte er es heute Mittag in den Rucksack gesteckt? Er betrat seine Bude, in der er glücklicherweise noch allein war. Auf den Spinner hatte er jetzt wirklich keine Lust!
Im Rucksack war das Gerät auch nicht. Zunehmend hektischer wühlte Nils durch sämtliche Hosen- und Jackentaschen.
Und wenn der Vollpfosten es genommen und irgendwo versteckt hat?
Er hustete hektisch und suchte zwischen seinen Lernsachen. Es musste hier sein, es musste einfach! Etwas unbehaglich begann er, den Schreibtisch abzusuchen, wobei er die Sachen des Idioten mit Vorsicht behandelte, so gut er noch konnte. Ruhig bleiben, er musste ruhig bleiben, es war sinnlos, sich in einen Anfall reinzusteigern!
„Was gibt das, wenn es fertig ist?“
Nils fuhr herum, als er Olivers Stimme hörte.
„Wo hast du es hingetan?“, brüllte er.
„Was meinst du?“ Der Kerl wirkte verwirrt, doch das konnte gespielt sein. Mühsam versuchte Nils, sich zu beherrschen. Sein Atem ging bereits pfeifend, verdammt! Nils konzentrierte sich auf die richtige Atemtechnik, konnte aber kaum an etwas anderes denken als an die Wut darüber, dass der Idiot ihm seine Medizin gestohlen hatte. Er musste sich beruhigen, sonst würde es eskalieren.
„Das ist kein Witz, Mann, ich brauch das Zeug“, presste er mit hochgezogenen Schultern hervor. „Meinen Inhalator, bitte!“
Oliver glotzte ihn noch einen langen Moment an. Dann kam er mit zwei langen Schritten auf Nils zu. Die Panik explodierte sofort in ihm. Röchelnd stolperte er rückwärts, versuchte dem Kerl zu entkommen, der ihm bedrohlich immer näher rückte. Nils spürte, wie sich sämtliche Atemwege verkrampften, wie er die Luft weder ein- noch ausatmen konnte. Warum gab Oliver ihm nicht einfach das Gerät zurück, statt sich über ihn zu beugen? Es tat so weh … Die Angst vor dem Ersticken übernahm sein Bewusstsein. Hilflos klammerte er sich an den Armen fest, die ihn hielten.