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Sams Mutter Victoria ist Künstlerin. Zu ihrem 60. Geburtstag bereitet Sam eine Jubiläumsausstellung in Coburg vor. Dabei entdeckt sie ein Foto, aufgenommen in den 1980ern. Eindeutig ist Victoria darauf zu erkennen - doch wer ist die andere Frau und warum sieht Sam ihr so ähnlich? Auf ihr Nachfragen schweigt die Familie. Aber dann tritt der Journalist Roman in Sams Leben, und gemeinsam fördern sie ein schockierendes Familiengeheimnis zutage …
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Seitenzahl: 498
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Friederike Schmöe
Du bist fort und ich lebe
Roman
Ausgewählt von
Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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www.gmeiner-verlag.de
© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © AntonRussia / photocase.com
ISBN 978-3-8392-4230-8
Diese Geschichte ist eine erfundene Geschichte. Das bedeutet nicht, dass sie nicht wahr wäre. Jede Geschichte ist wahr. Auch wenn sie erfunden ist.
»Kaum zu glauben, dass deine Mutter schon 60 wird«, sagt Luna. Sie sitzen im Schneidersitz auf dem Teppich und wühlen in den Fotokisten, die Sam bei Blanca abgeholt hat.
»Ja, sie wirkt jünger«, bestätigt Sam, obwohl ihr das Wort ›jung‹ unpassend vorkommt.
»Die berühmte Victoria May. Als ich dich kennenlernte, war ich total von den Socken, dass du ihre Tochter bist.«
Sam lacht. Luna ist leicht von großen Namen zu beeindrucken. »Die Tochter steht lebenslang im Schatten der Mutter«, sagt sie theatralisch.
»He, so war das nicht gemeint!«
»Weiß ich doch!«
Die Bewunderung anderer für ihre Mutter geht Sam mitunter gegen den Strich. Nicht, dass sie neidisch wäre. Sam hat nie eine Künstlerkarriere angestrebt. Sie fühlt sich nicht stark genug, nur von ihrer Kreativität zu leben. Sie mag auch das Handwerkliche. Das Bodenständige. ›Das hast du von deinem Vater‹, hört sie Victorias Stimme.
Jetzt bloß nicht über die Familie nachdenken. Sam hat sich einzig und allein bereit erklärt, die Ausstellung zu Victorias Geburtstag vorzubereiten. Sie ist gottfroh, dass Luna mitmacht. Sie beide haben sich im Studium kennengelernt. Textildesign. Luna macht sich gerade mit einem eigenen Atelier selbständig. Liegt Sam damit in den Ohren, sich anzuschließen, aber Sam arbeitet für ein anderes Label.
»Schau mal!« Sie zieht wahllos ein paar Fotos aus einer Kiste. »Was wir damals anhatten – scheußlich, oder?«
Luna ist kurzsichtig. Sie streicht sich die kurzen, roten Strähnen hinter die Ohren und zwickt die Lider zu Schlitzen zusammen. »Nicht mehr der allerneueste Schrei. Aber man könnte was draus machen. Ich sag’s ja: die dumpfen, spießigen 80er Jahre.«
»Wir sind echte Kinder dieser 80er«, wendet Sam ein. Sie liebt die Kabbeleien mit Luna. »Mach uns nicht runter. Spießer, wir beide?«
Sie sehen einander an und lachen.
»Ich dachte, spätestens mit 25 bin ich nicht mehr zu retten«, erläutert Luna ernsthaft.
»Das dachtest du, als du 15 warst.«
»Jetzt bin ich 30! Schande! Kannst du dir vorstellen, Luna Meier ist 30?« Luna schüttelt den Kopf so heftig, dass ihre Ohrhänger, riesige mit Türkissplittern besetzte Ovale, wild schaukeln.
»Du siehst aus wie 29, also mach dir nichts draus.« Sam rührt in der Fotokiste. Sie brauchen erstmal genug Material, aus dem sie später auswählen. Sam hat das noch nie gemacht: eine Ausstellung vorbereitet. In der Familie ist sie die Einzige, die dazu imstande ist. Das jedenfalls hat ihr Vater ihr anvertraut. »Im Ernst«, hat er geseufzt, »denkst du, deine Brüder wollen sich an einer Jubiläumsausstellung für ihre Mutter beteiligen?«
Warum eigentlich nicht meine Brüder, denkt Sam jetzt. Okay, Igor wohnt weiter weg, und Nikolaj hat sich gerade selbständig gemacht. Aber ich habe auch einen Job! Letztlich hatte einfach niemand Lust, diese Aufgabe zu übernehmen. Nur Sam, stets hilfsbereit und pflichtbewusst, hat sich bereiterklärt.
Zum Glück ist Luna mit von der Partie. Luna, das kreative Enfant terrible aus der Coburger Szene. Obwohl sie gar nicht von hier stammt. Aus Schleswig-Holstein in den Süden geplumpst, weil sie an der FH studierte, und dann geblieben. Sam lächelt. Tatsächlich hat sie Luna kennengelernt, als sie Victoria zu einem Vortrag in der Fachhochschule begleitete, und da saß auch Luna im Publikum. Bunt wie ein Kakadu, mit ihren selbstgeschneiderten Klamotten und den frech geschnittenen roten Haaren.
Jetzt hocken sie auf dem Teppich in Sams kleiner Zweizimmerwohnung in der Coburger Innenstadt. Frühlingsluft strömt durch die offenen Fenster herein. Ab und zu hört man Leute die Straße entlanggehen oder ein Auto im Schritttempo nach einem Parkplatz suchen.
Außer Victorias Gemälden wollen sie ein paar Familienfotos zeigen, aus Victorias Jugendjahren, Bilder von ihren Reisen nach Griechenland, Italien und Südamerika, wo sie sich Inspiration holte. Sam denkt gern an diese Zeit zurück, als sie bei ihrer Großmutter Blanca bleiben durfte, wochenlang ohne mütterliche Kritik. Sie hat überlegt, vielleicht eine von Blancas frühen Skulpturen mit auszustellen, aber natürlich wird die Schau ganz auf Victorias Lebenswerk fokussiert sein. Sam hat im Kopf längst die Meilensteine zusammengestellt, die die Künstlerinnenkarriere ihrer Mutter ausmachen. Sie braucht nur noch eine zündende Idee, was die Darstellung betrifft. Eigentlich schwebt ihr eine Videoinstallation vor, die den Besuchern, begleitet von Musik und kleinen Filmsnippets, Victorias Leben präsentiert. Bloß nichts Altbackenes. Victoria würde durchdrehen.
Luna greift ihrerseits temperamentvoll in die Kiste. »Und das hier? Das muss ein älteres Foto sein. Die Farben sind schon nicht mehr ganz das Wahre.« Sie hält es sich dicht vor die Augen.
»Himmel, Luna, setz deine Brille auf.«
»Also, hier ist deine Mutter drauf. Zusammen mit … mit …«
»Zeig!« Sam streckt die Hand aus. Ihre Familie ist so groß, so weitläufig, dass sie selbst manchmal durcheinanderkommt mit all den Tanten, Cousinen und Nichten. Wie gut, dass ihre Brüder noch keine Kinder haben, das würde die Verwirrung perfekt machen.
»Warte doch mal. Wenn Victoria und die Frau neben ihr nicht gleich alt wären, ich würde denken, das bist du!«
»Quatschkopf. Versuch’s mit Kontaktlinsen«, lästert Sam und schnappt sich das Foto.
Zwei Frauen stehen hoch über dem Meer. Das Wasser liegt tief unter ihnen, in einem verblassenden Grün, und im Hintergrund erhebt sich ein bräunlicher Hügel.
»Ist das nicht Victoria?« Luna reibt sich die Augen. »Also, ich finde, vom ästhetischen Standpunkt her, das Foto gehört in die Ausstellung.«
Sam starrt entgeistert auf das Bild. Luna hat recht. Die Frau neben Victoria sieht aus wie – Sam. Das gleiche schwarze Haar, der gleiche Schnitt der Augen, der gleiche Herzmund. Beide Frauen lächeln in die Kamera, als habe man sie überrascht, sie aus einem angeregten Gespräch gerissen, als sei der Fotograf direkt vor ihnen aus einem Loch im Boden geschlüpft und habe ›Kuckuck‹ gerufen.
»Na?« Luna hockt sich neben Sam. »Was sagst du? Die Ähnlichkeit ist bombastisch.«
»Stimmt.« Sams Hals ist ganz trocken.
»Wer ist das?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Victorias Cousine? Eine Freundin?«
Sams Blick hat sich längst an der schwarzhaarigen, wohlproportionierten Frau festgesaugt, die so einen Kontrast abgibt zu Victoria. Victoria, knochig, knabenhaft, blass, mit malvenfarbenem Haar.
»Komm schon!« Luna macht ihr Clownsgesicht. »Klingelt nichts bei dir? Sie muss mit dir verwandt sein, wenn ich es mir recht überlege.«
Lunas Geplapper zieht gedämpft an Sam vorbei. Draußen vor dem Fenster tschilpen Vögel. In der Nachbarwohnung geht etwas zu Bruch.
»Sam?« Luna stupst ihre Freundin in die Seite.
Sam legt die Aufnahme weg. Auf den zweiten Blick ist die Ähnlichkeit so auffällig nicht. Na gut, das schwarze Haar, aber Blanca, Sams Großmutter, hatte bis in ihre 60er Jahre hinein schwarzes Haar. Und viele Frauen haben breite, geschwungene Hüften so wie Sam. Blanca zum Beispiel. Sam lächelt, als sie an ihre Großmutter denkt. Sie wurde kürzlich 83 und ist immer noch ein Ausbund an Temperament und Lebensfreude. Kann es locker mit Luna aufnehmen.
Sams Finger zeichnet die Konturen der beiden Frauen auf dem Foto nach. Luna allerdings ist schon mit etwas Neuem beschäftigt.
»Eine Aufnahme von dir und Ralf!« Lachend hält sie das Bild hoch. »Sei froh, dass du den Typen los bist!«
An Ralf erinnert zu werden, tut Sam überhaupt nicht gut. Obwohl Luna ihr aus dem Herzen spricht, schmerzt sie der lässige Tonfall. Als sei es ein Klacks, über eine fünf Jahre währende Beziehung hinwegzukommen. Wenn sie es genau nimmt, dann waren die ganzen fünf Jahre eine Beziehungskrise.
»Gib her!« Sam nimmt Luna das Foto aus der Hand und betrachtet es. Eine Aufnahme zu Weihnachten vor zwei Jahren. Ralf füttert Sam mit einem Hering. Die beiden sitzen an einem festlich gedeckten Tisch. Neben Sam kauert Nikolaj auf seinem Stuhl, sich sichtlich unwohl fühlend. Sam kichert. »Nikolaj hasst Familienfeste.«
»Vernünftige Einstellung. Was macht eigentlich dein anderer Bruder?«
»Igor leitet ein Freizeitbad in Südbayern. Wollte möglichst weit weg von Coburg und der Familie.« Sam ist mit zwei jüngeren Brüdern geschlagen. Da ist Nikolaj, dem sie so ähnlich sieht. Auch er dunkelhaarig, während Igor, der zwei Jahre älter ist als Nikolaj, das malvenfarbene Haar ihrer Mutter geerbt hat. Sogar das Harsche, Knochige ist ihm eigen, obwohl er dank etlicher Bierchen pro Abend ziemlich an Gewicht zugelegt hat und deshalb bulliger wirkt.
»Lass uns doch mal rausfahren«, schlägt Luna verträumt vor. »Ein Wellnesswochenende irgendwo, Sauna, Disco – wo man jemanden kennenlernt!«
Sam seufzt. Ein Mann ist wirklich das Letzte, was sie gerade will. Sie arbeitet freelance als Textildesignerin für ein großes Label, ein Job, der ihr beim stetigen Konkurrenzkampf in der Branche alles abverlangt. Im Augenblick macht sie sich sogar Hoffnungen, auf lange Sicht zur Programmleiterin im Bereich Küchentextilien aufzusteigen. Je sichtbarer sie sich für die Firma einsetzt, umso eher wird die Chefin ihr den Vorzug vor anderen Designerinnen geben. Das würde eine Festanstellung mit geregeltem Gehalt bedeuten. Und dann hat sie sich Victorias Ausstellung aufgehalst.
»Ich fürchte, Urlaub steht in absehbarer Zeit nicht auf dem Programm.« Sam legt das Foto zurück in die Kiste. »Ich bin die Einzige in der Familie, die sich bereiterklärt hat …«
»He, Sam, ehrlich währt am längsten. Du erklärst dich zu allem bereit! Besonders, wenn es deine Sippe betrifft.«
»Gut erkannt.« Sam fühlt sich ertappt.
Luna lacht. »Danke, dass du mir in diesem Zusammenhang zustimmst.«
Sam schluckt hart. Manchmal ist ihr alles zu viel. Die Wochenenden, die sie bei ihren Eltern verbringt, seit Ralf gegangen ist sogar noch häufiger und länger als früher, werfen spätestens ab Mittwoch ihre Schatten voraus. Abendessen am Samstag, Kaffeetrinken am Sonntag, anschließend ein Spaziergang zum Familiengrab. Jetzt hat Nikolaj eine Freundin. Er wird, wenn er klug ist, weniger Zeit mit seinen Eltern verbringen als mit Trixi. Dann Blanca. Sam liebt ihre Großmutter von Herzen. Mehrmals die Woche schaut sie bei ihr vorbei, erkundigt sich, ob alles in Ordnung ist. Bei Blanca kann Sam entspannen. Was ihr an den Samstagen und Sonntagen mit Victoria und Robert nie gelingt.
Zwar hängt Sam an ihrem Vater. Aber für ihn gibt es nur die Firma. Seine Fliesen. Ödnis pur. Und für ihre Mutter gibt es nichts als die Kunst. Kein Wunder, dass ihre Beziehung längst erloschen ist und sie ihre Kinder brauchen, um sich nicht sieben Tage die Woche anzuschweigen.
»Denk an Igor! Er hat weder Ahnung von Kunst noch hat er sich je dafür interessiert, irgendwas zu gestalten. Er ist wie unser Vater!«, verteidigt Sam sich. Allein die Vorstellung, der einsilbige Igor könnte eine Ausstellung vorbereiten! Vermutlich würde er Victorias Bilder an die Wand nageln und die Angelegenheit für ausgeführt erklären.
»Euer Vater ist … menschlich«, lässt sich Luna vernehmen. »Hast du ein Bier?«
Sam geht in die Küche und kommt mit zwei Flaschen Beck’s zurück. »Ich hatte neulich einen Termin in München und habe Igor auf dem Rückweg besucht. Seine Wohnung sieht so aus, als wäre er gestern eingezogen und hätte schnell ein paar Möbel vom Sperrmüll reingestellt. Wohnlich ist da nichts! Er hat einfach kein Faible dafür.«
»Klar, unter Igors Regie wäre die Ausstellung dem Tod geweiht!« Mit dramatischer Geste wirft Luna die Arme in die Höhe, bevor sie nach der Bierflasche greift. »Und Nikolai ist mit seiner neuen Freundin beschäftigt. Wie hat er sie eigentlich kennengelernt? Prösterchen!«
Es ist soweit. Sie sind beim Familientratsch angelangt. Luna, die bei ihrer alleinerziehenden Mutter ohne Geschwister und andere Verwandte aufwuchs, findet Sams weitverzweigte Familie ausgesprochen attraktiv. Ein Objekt, das sie mit Vergnügen seziert und analysiert. Sam ahnt, was dahintersteckt: Luna fragt sich, wie sie selbst in so einem Clan leben würde. Ob sie eine andere wäre, wenn sie einen anderen familiären Hintergrund besäße. Es wurmt Luna, diese Erfahrung nie machen zu können, es sei denn, sie setzt mindestens drei Kinder in die Welt. Allerdings plant Luna Sams Einschätzung nach genau das Gegenteil: Sie lebt für ihr Atelier und für ›Lu-Naht‹, ihre Marke, mit der sie sich in der Modewelt freizuschwimmen beginnt.
»Trixi war seine Patientin. Sie hatte im Winter einen Sportunfall mit anschließender Knieoperation.« Nikolai, Sams jüngster Bruder, arbeitet als Physiotherapeut. Victorias drittes Kind, und auch dieses, gleichwohl begabt, tritt nicht in die Fußstapfen der Mutter. Sam kramt noch einmal das Foto mit der unbekannten Frau aus der Kiste. Grüblerisch pustet sie in die halbleere Bierflasche.
»Wenn du Nikolai schön bittest, hilft er uns bei der Vorbereitung. Er frisst dir aus der Hand.«
»Nikolai übernimmt die meiste Organisationsarbeit und die Absprachen mit der Stadt. Das Geschäftliche eben.« Die Ausstellung soll im Kongresshaus stattfinden, das braucht eine solide Verhandlungsbasis, weiß Sam, und da ist Nikolai genau am richtigen Platz. »Schau!« Sie zeigt auf das Foto. »Da steht ein Auto im Hintergrund.«
Luna beugt sich über das Bild. »Stimmt. Ein Mann sitzt drin.«
Die Fahrertür des Wagens steht offen. Man sieht ein Männerbein herausragen, schicke Halbschuhe und eine Anzughose.
»Wer ist das?«, fragt Luna.
Sam zuckt die Schultern. »Keinen Schimmer.«
»Wo wurde die Aufnahme gemacht?«
»Im Süden, schätze ich. Italien, Spanien?«
»Frag deine Mutter, Schätzchen. Sie wird ja wohl wissen, wo sie damals Urlaub gemacht hat.« Luna steht auf. »Ich muss los.«
»Gehst du noch mal ins Atelier?«
»Was bleibt mir übrig? Nächste Woche fahre ich nach Frankfurt. Treffe ein paar Leute mit todschicken Läden. Die sollen natürlich eine Lu-Naht-Kollektion kaufen.«
Sam ignoriert Lunas gespielt gestressten Blick. Ihre Freundin lebt für ihren Job. Sie liebt Geschäftsverhandlungen, genießt es, um Verträge zu kämpfen und mit einem Sieg abzuschließen. Luna traut sich an die richtige Mode. An Klamotten. Blazer, Blusen, Hosenanzüge. Sam wünscht, sie könnte ebenso für ihre Arbeit brennen. Aber ihr Job ist eben nur ein Job für einen anderen. Sam setzt nicht ihre eigenen Träume um, sondern die Visionen des Labels, für das sie arbeitet. Und dabei geht es leider nicht um schicke Sachen zum Anziehen, sondern um Kissen, Steppdecken, Vorhänge und Kleinzeug für Küche und Bad.
»Danke, Luna!«
Luna küsst Sam auf die Wange. Einer ihrer Ohrhänger streift Sams Lippen.
Der Himmel hängt tief, als Sam am nächsten Morgen aufsteht. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung hinter der Morizkirche lässt wenig Blick in die Natur zu, dafür auf die Südseite der Kirche, die Pfarrgasse und die Schüler, die sich kurz vor acht um das Gymnasium gleich um die Ecke drängen. Unselige Erinnerungen, denkt Sam lächelnd. Dabei ist ihr gar nicht zum Lächeln zumute. Sie hat kaum geschlafen. Die Luft war drückend in der engen Wohnung, und auch durch das offene Fenster drang kaum Abkühlung herein.
Sam gießt Tee auf und lässt sich an ihrem Arbeitstisch nieder. Seit sie bei Ralf ausgezogen ist, aus seinem schicken Würfelhaus am Hang in Pilgramsroth, genießt sie das Leben im Stadtzentrum, umgeben von historischen Gebäuden und umtost vom Alltag einer temperamentvollen Kleinstadt. Sie liebt es, ihren eigenen Rhythmus zu leben, ohne auf Ralfs Termine eingehen, sich nach ihm richten zu müssen. Nicht, weil sie das abgesprochen hätten, sondern weil er schlicht davon ausging, dass Sam es sein würde, die sich anpasst. Dass sie, die Freelancerin, ihr Werkzeug fallen lässt, wenn Ralf früher heimkommt. Wenn er Kollegen zum Essen mitbringt.
Es ist aus, denkt Sam, und erinnert sich an Lunas Worte: »Sei froh, dass du den Typen los bist!«
In Liebesdingen ist Luna cool. Das Problem ist nur, dass Sam Ralf gar nicht los sein wollte. Nicht so schnell und nicht so radikal. Sein Auftritt an jenem Abend kurz nach Neujahr – ein Schock. »Ich gehe. Ich halte deine Familie nicht mehr aus.«
Es ging nicht um mich, denkt Sam knapp und presst die Lippen zusammen. Es geht nie um mich. Es geht um die Familie.
Um sich abzulenken, schaltet Sam den Computer ein. Sie klickt das Designprogramm an, mit dem sie ihre Stoffentwürfe digitalisieren kann. Die Software ist neu, sie benötigt Zeit, um sich einzuarbeiten. Aber heute fehlt ihr die Konzentration. Die Fotokiste steht immer noch auf dem Teppich. Sam nippt an der Teetasse und kauert sich vor den Karton. Das Bild mit Victoria und der Unbekannten lässt sie nicht los. Sie betrachtet das verblichene Foto. Victorias Züge kennt sie. Schon als sie jung war, lag Anspannung auf ihrem Gesicht. Sam hat wenige Aufnahmen aufgestöbert, wo ihre Mutter fröhlich lacht oder offen in die Kamera blickt. Und dann die Gesichtszüge der Unbekannten. Sams Zeigefinger fährt über das Foto. Ihre Familie ist wahrhaftig weitläufig. Vielleicht ist die Unbekannte irgendeine Cousine aus den USA, von der Verwandtschaft ihres Großvaters.
Das fand Ralf schick an Sam: eine Familie mit Wurzeln in den Staaten. Das klang exklusiv in Ralfs Ohren. ›Wie geil ist das denn! Deswegen hast du einen englischen Vornamen‹, prahlte er auf einer Party, wobei er Sams Haar verwuschelte.
Blanca heiratete Ende der 40er einen Amerikaner. Einen Reporter namens Isaac aus Albany, New York, der gekommen war, das verheerte Land abzulichten. Isaac bestand darauf, dass der Familienname, May, einzig und allein mit englischen Vornamen zusammenpasste. So wurde Blancas und Isaacs Tochter auf den Namen Victoria getauft, und Victoria bewahrte die Tradition, indem sie ihre Erstgeborene Samantha nannte. Doch bald darauf starb Isaac, und Victoria warf die Familiengepflogenheiten über Bord. Sams Brüder bekamen russische Namen. Blanca missfällt dies noch heute, aber sie sagt nichts dazu.
Sam ruft Victoria an. Ihr Vater ist längst im Geschäft, doch ihre Mutter wird noch am Frühstückstisch sitzen, Musik hören, Strawinsky wahrscheinlich, und in irgendeinem Magazin lesen, bevor sie gegen Mittag ins Atelier geht.
»May?« Victorias Stimme am Telefon klingt meist scharf. Es ist, als schneide sie ihren Namen mit einem Messer aus der Luft.
»Hallo, Mutter. Hier ist Sam.«
»Ach, schon wach?«
»Und selbst?«
Sam wartet auf eine Reaktion. Im Umgang mit ihrer Mutter besteht immer die Frage, wer den längeren Atem hat.
»Du weißt ja, dass dein Vater um halb acht zu seinen Fliesen geht. Gibt’s was Neues?«
»Luna und ich haben gestern Abend an der Ausstellung gearbeitet.«
»Kommt ihr voran?«
»Das Konzept steht im Großen und Ganzen.« Es ist nur eine Notlüge, denkt sie.
»Ich hoffe, dass du bei der Auswahl der Fotos wirklich kritisch bist. Denk daran, die Öffentlichkeit bekommt Einblick in mein Leben. Wir müssen genauestens überlegen, was zu sehen ist und was nicht.«
»Natürlich, Mutter. Das haben wir doch besprochen.«
»Es schadet nie, heikle Dinge wieder in Erinnerung zu rufen«, entgegnet Victoria unbestimmt.
»In dem Zusammenhang hätte ich eine Frage«, beginnt Sam. Plötzlich ist sie nervös. »Luna und ich haben gestern ein Foto von dir ausgegraben. Du bist damals wohl 30. Es wurde irgendwo am Meer gemacht, aber wir können nicht einordnen, wo.«
»Steht nichts drauf? Kein Datum?«
Sam dreht die Aufnahme in den Händen. Gestern Abend, im Halbdunkel, hat sie die blassen Bleistiftlinien nicht gesehen.
»Tatsächlich! 1982.« Ihr Herz schlägt schneller.
»1982? Da war ich in Griechenland. Eine Inspirationsreise. Du warst ein Baby. In Mutters Obhut.«
Wo sonst, denkt Sam.
»Warst du allein dort?«
Täuscht sie sich, oder zögert Victoria mit der Antwort?
»Sicher. Warum fragst du?«
»Weil du auf dem Foto neben einer Frau stehst. Sie ist so groß wie du, etwa im gleichen Alter.« Sam beißt sich auf die Zunge. Sie sieht aus wie ich, will sie sagen, aber sie verschweigt es.
»Nun … vielleicht eine Reisebekanntschaft.«
»Könnte es eine Verwandte sein?«, fragt Sam.
»Eine Verwandte?« Victorias Stimme wird lauter. »Wie kommst du darauf?«
»Weil sie mir ähnlich sieht.«
»Das kann doch gar nicht sein!« Victoria macht eine Pause. »Du musst dich täuschen!«
»Luna ist die Ähnlichkeit auch aufgefallen.« Wenn Sam Luna ins Feld führt, widerspricht ihre Mutter selten. Sie hat großen Respekt vor Luna als Künstlerin.
»Nun … Das muss ein Zufall sein.«
Sam fühlt sich mit einem Mal müde. Sie hat ein altes Foto gefunden. Na und? Mitunter gibt es frappierende physiognomische Übereinstimmungen. Doppelgänger. Launen der Natur. Die Stille in der Leitung dehnt sich, wird länger und lauter.
»Ich muss Schluss machen, Sam. Vor mir liegt ein langer Tag.«
Ein langer Tag, denkt Sam, wenn du mittags ins Atelier gehst und herumprobierst. Kreide oder Acryl oder eines deiner Federbilder. Womöglich gehst du in den Hofgarten, um Zeug aus der Natur zu finden, das du integrieren kannst in irgendein Werk, auf das es nicht mehr ankommt. Jemand wird es kaufen oder auch nicht. Aber es spielt keine Rolle. Vater hat seine Firma saniert. Du kannst leben, Mutter, von deiner Kunst und Vaters Verdienst. Sie schämt sich ihrer Bitterkeit. Als Tochter sollte sie stolz sein. Stolz auf eine unkonventionelle, in bescheidenem Maß berühmte Mutter.
»Ich will dich nicht aufhalten. Einen schönen Tag!«
»Dir auch, Sam.« Victoria hängt ein.
Sam starrt in ihre Tasse. Der Tee ist längst kalt. Das Geschrei der Schüler vor ihrem Fenster ist verstummt. Warme Frühlingsluft strömt herein. Sie hört das Rascheln der Platanen, die die Pfarrgasse säumen. Misstrauisch mustert sie das Foto. Vielleicht hat ihr Gehirn ihr irgendeinen Streich gespielt. Vielleicht die Frisur der Unbekannten. Sam fährt sich durchs Haar. Schwarzes Haar. Wie Blancas Haar früher. Wie das Haar ihres Großvaters auf den Fotos, die bei Blanca im Haus hängen. Wie Nikolajs Haar. Sie erinnert sich, dass Großvater einen Bruder hatte. Pete. Auch er längst verstorben. Der Kontakt zu diesem Teil der Familie ist recht lebendig, gleichwohl auf E-Mails und Facebook-Chats reduziert. In ihrer Kindheit war Sam mit Eltern und Brüdern mehrmals bei Pete in den USA. Pete und seine Frau Barbara haben drei Töchter, diese wiederum jeweils zwei bis drei Kinder. Joanie, eine von Sams Großcousinen und in ihrem Alter, hat bereits zwei Söhne und stellt ab und zu Fotos von ihren Sprösslingen ins Netz. Sam klickt gewohnheitsmäßig auf den ›Gefällt‹-Button. Zu mehr Kontakthalten ist sie nicht imstande.
Sie schaltet den PC aus und zieht sich an.
Sie wird sich mit Blanca treffen.
Blanca wohnt am Festungsberg. Die Lage ist unpraktisch, wie Victoria sich auszudrücken pflegt. Der Hang ist steil, zum Einkaufen braucht Blanca den Wagen. Der Garten verzehrt sich nach Pflege. Gerade jetzt, im Frühling. Sam denkt, solange ihre Großmutter noch fahren kann und solange sie bereit ist, Geld für einen Gärtner auszugeben, ist es kein Schaden, wenn sie dort oben wohnen bleibt. Sam weiß, wie sehr Blanca an dem alten Haus hängt.
Sam nimmt den Bus. Sie ruft mit dem Handy bei Blanca an, um sich anzukündigen.
»Wunderbar, ich setze Tee auf«, sagt Blanca. In Sams Herz wallt Wärme auf. Blanca und sie – sie beide sind Zwillingsseelen. Behauptet Nikolaj manchmal, wobei er recht traurig aussieht, als wäre er gern die Zwillingsseele ihrer gemeinsamen Großmutter.
Sam weiß nicht einmal mehr, wann sie anfing, Blanca mit Vornamen anzureden. Sie muss ein Teenager gewesen sein, in der Phase der Aufwallung, des Infragestellens, des Wütens und Tobens. Zu jener Zeit stand Blanca wie ein Felsen an Sams Seite. Setzte Grenzen, diskutierte, respektierte. Damals wurde aus ›Großmutter‹ schlicht ›Blanca‹, was Victoria ihrer Tochter sofort auszureden versuchte, da es sich nicht gehörte. Heute, denkt Sam, als der Bus mit dröhnendem Motor den steilen Berg hinaufkriecht, würde ich Victoria nachgeben. Doch in der Pubertät gibt es Kräfte, die einem helfen, den eigenen Willen durchzusetzen. Sam grinst in sich hinein.
Sie steigt aus und geht das letzte Stück zu Fuß. Der Frühling ist zeitig gekommen in diesem Jahr, frisches Grün wohnt schon in den Bäumen, die Hecken der Anwesen blühen. Hier oben versteckt man sich gern in seinem Garten, unter alten Bäumen, hinter Rosenspalieren und anderem Grünzeug. Sam stößt das Gartentürchen zu Blancas Haus auf. Die Terrassentür steht weit offen. Sam macht sich nicht die Mühe, um das Gebäude herum zur Haustür zu gehen.
»Blanca?«
Blanca tritt auf die Terrasse. »Komm rein, Mädchen! Schön, dich zu sehen.« Sie küsst Sam auf beide Wangen. Sam riecht ihr Parfüm. Chanel N° 19. Seit eh und je. »Frühstücken wir zusammen?«
Sam frühstückt nie, seit Ralf gegangen ist. Sie hasst es, allein in ihrer Wohnung ein Müsli in sich hineinzuschaufeln, das ihr nicht schmeckt, und dessen klebriger Flockenpamps ihr im Hals stecken bleibt.
»Prima. Ich habe einen Mordshunger.«
»Ich auch. Bin seit sechs auf den Beinen.« Blanca geht ins Haus. Sam folgt ihr in die Küche. Sorgenvoll nimmt sie Blancas leichtes Hinken zur Kenntnis. Seit Jahren ignoriert ihre Großmutter ein Hüftleiden. »Aber du weißt, dass es bei mir keinen Süßkram gibt. Ich brauche morgens was Herzhaftes. Kannst du mit Ham and Eggs leben?« Blanca greift nach dem Pfannenwender und rührt temperamentvoll in der Eier-Schinken-Masse herum, die bereits in der Pfanne brutzelt. »Isaac liebte Ham and Eggs zum Frühstück. Na, wie du weißt, hat das Cholesterin ihn umgebracht.«
»Wenn es das Cholesterin war!«
»Kindchen, er starb mit 60. Einfach so. All of a sudden.« Blanca spricht mitunter ein Gemisch aus Deutsch und Englisch. Sam ahnt, dass sie es aus Nostalgie tut. Es war ihr typischer Umgangston mit Isaac.
»Schade, dass ich mich an Großvater nicht erinnern kann.«
»Nein, Liebes! Damals warst du noch eine halbe Portion.« Blanca füllt zwei Teller großzügig mit Ham and Eggs.
Ein Strauß bunte Tulpen steht auf dem Tisch, die Blumen biegen sich über den Rand der Vase. Die Sonne strahlt herein, beleuchtet die Familienfotos an den Wänden. Isaac und Blanca. Victoria und Robert. Victoria, Robert und die drei Kinder. Blanca mit der kleinen Sam und dem neugeborenen Igor.
Durch das gekippte Fenster klingt Vogelgezwitscher. Blancas Katze Lucienne, schwarz-golden getigert, schleicht um den Tisch, lässt sich gnädig streicheln und trollt sich.
Sam greift hungrig zu. Sie hat Schwierigkeiten, ihr Gewicht zu halten. Weil sie von daheim aus arbeitet, kommt sie kaum aus dem Haus. Vom Bett zum Computer zum Zeichentisch zur Nähmaschine und wieder zurück. Das ist ihr persönlicher Parcours. Verstohlen betrachtet sie ihre Großmutter. Sie trägt ein gemustertes Kleid mit tiefem Dekolleté, eine lange Kette aus knallgelben Kugeln, hat Lippenstift aufgelegt und ein wenig Lidschatten. Blanca ist füllig und weiblich. Auf eine Art schön, die im Alter noch strahlender hervorbricht. Mit einem Mal fühlt Sam sich schäbig mit ihrem Pferdeschwanz, in Jeans und Sweater.
»Iss ordentlich, Schätzchen. Der Mensch braucht Reserven für Notzeiten!«
Es ist, als könnte sie Gedanken lesen, denkt Sam.
»Luna und ich haben gestern für Victorias Ausstellung gearbeitet«, fängt sie an.
Blancas rechte Augenbraue hüpft ironisch. »Ach?«
»Wir haben die Fotos aus deinen Kisten gesichtet und eine Menge Dinge zusammen, die wir zeigen wollen. Wahrscheinlich wird aus den Familienbildern eine Videoinstallation mit Musik und Text. Nikolaj wird mir hoffentlich helfen. Wegen der Musik müssen wir das mit den Rechten klären.« Wie kompliziert alles ist! Wenn Sam an die vielen Dinge denkt, die sie für die Ausstellung noch nicht angepackt hat, wird ihr ganz schwindelig. Im Juni soll Eröffnung sein, vor dem Samba-Festival und allen möglichen anderen Events, die Coburg im Sommer überrollen.
»Du bist ein tüchtiges Mädchen, Sam!«
Sam zuckt die Achseln. »Mag sein.«
»Oben auf dem Speicher sind mehr Sachen. Bei Gelegenheit sehe ich sie durch, aber ich glaube kaum, dass noch was Interessantes dabei ist. Vor Jahren habe ich mal einen ganzen Schwung Krempel weggeworfen. Man kann nicht ewig in der Vergangenheit leben.«
Sam nimmt das Foto aus der Tasche. Das mit der Unbekannten.
»Hier. Mutter sagt, das Bild wäre in Griechenland aufgenommen worden. Aber sie kann sich nicht erinnern, wer die Frau neben ihr ist. Sie meint, vielleicht eine Reisebekanntschaft. Allerdings hat sie das Foto noch nicht gesehen, ich habe nur am Telefon mit ihr gesprochen.«
Blanca greift nach der Aufnahme. »Holst du mir meine Lesebrille, Kind? Drüben, auf dem Couchtisch. Danke.«
Die Gläser vergrößern ihre Augen ins Groteske. Blanca betrachtet das Foto. Erstarrt. Beißt sich auf die Lippen.
»Wer ist das?«, fragt Sam.
Plötzlich kommt ihr die Luft im Raum kühl vor. Blancas Gesicht zeigt keine Regung. Dann nimmt sie die Brille ab und fährt sich über die Augen.
»Ich dachte … nun … ich bin mir nicht sicher …« Sie steht auf und zieht die Pfanne von der Herdplatte. Der Geruch nach angebranntem Ei zieht durch die Küche. Blanca öffnet das Fenster weit. »Passiert mir ständig. Dass ich Sachen anbrennen lasse. Man soll nie zwei Dinge gleichzeitig machen.«
Sam zieht die Schultern zusammen. Weil ihr kalt ist, und weil sie sich schuldig fühlt. Sie hätte Blanca das Foto auch später zeigen können.
»Ich dachte, es könnte eine von meinen amerikanischen Tanten sein«, sagt sie rasch. »Von Petes Töchtern.«
Blanca steht immer noch am Fenster und sieht hinaus. Sie nestelt an ihrer Kette. Die Stille im Raum fühlt sich klamm an. Ich sehe ihr ähnlich, will Sam sagen, und das beunruhigt mich. Aber sie sagt nichts.
»Du weißt sicher, dass dein Großvater einen zweiten Bruder hatte. Nach Pete. Der Jüngste. Knapp zehn Jahre jünger als Isaac.«
»Ach?«
Blanca dreht sich um. Sie hält ihre Brille in der Hand und betrachtet sie stirnrunzelnd. »Himmel, wie schnell die Gläser verschmieren.« Sie macht sich an der Spüle zu schaffen. »Er heißt Fred und er lebt noch. Muss jetzt 76, 77 sein.«
»Nie gehört.«
Blanca lässt Wasser über ihre Brillengläser laufen. »Die Sippe ist alles andere als stolz auf Fred. Das schwarze Schaf. Muss es wohl in jeder Familie geben.«
»Was ist los mit ihm?«
»Fred hat dreimal geheiratet, fünf Kinder aus diesen Ehen und zwei außereheliche. Deine Urgroßeltern waren strenge Christen. Ehescheidung allein war für sie ein Unding. Und Ehebruch erst!« Blanca nimmt ein frisches Handtuch aus einer Schublade und reibt die Brillengläser trocken. »Fred hat also sieben Kinder. Und da Isaac und ich keinen Kontakt zu ihm hatten, schon zu Isaacs Lebzeiten, habe ich den Überblick über die Nachkommen verloren.«
Sam streicht sanft über die Kanten des Fotos vor sich. Sieben weitere Familienangehörige, vermutlich reichlich mit eigenen Kindern gesegnet. Eine schier unüberschaubare Herde. Ob Joanie davon weiß?, überlegt sie.
»Hast du dich nicht für Fred interessiert?«
»Was heißt interessiert …« Blanca setzt sich wieder an den Tisch. Sorgfältig legt sie die Brille ab. »Ich hatte genug damit zu tun, Petes Sprösslinge einzuordnen. Außerdem war dein Großvater sehr konventionell.«
Sam sieht Blanca erstaunt an.
»Doch, war er, you know.« Blanca quält sich ein Lächeln ab. »Aber außer uns leben ja alle anderen Verwandten in den Staaten, und bei der Entfernung bist du dir nicht so nahe, wie du es wärst, wenn du nicht immer extra einen Flug buchen müsstest, um die Sippe zu sehen. Wenn du bei deinen Cousinen einfach zu einer Tasse Kaffee anrücken könntest. Spontan. Naja. Isaac richtete sich in seinen Wertvorstellungen sehr nach seinem Vater. In dieser Hinsicht gab es keine räumliche Distanz.«
Sam kommt der Gedanke, dass Isaacs früher Tod ihrer Großmutter eine Tür zu einem neuen Leben geöffnet hat.
»Deine Mutter hat sich eine Weile sehr für Freds Kinder interessiert. Immerhin sind die sieben ihre Cousinen und Cousins. Wir haben sie zuweilen ›die sieben Schwaben‹ genannt und Witze gemacht. Du weißt schon. Dass wir so viele Familienangehörige haben, die wir auf der Straße gar nicht erkennen würden.«
Das ist Sam neu. Dass Victoria sich für jemanden besonders interessiert haben soll. Sam kennt ihre Mutter vor allem als vernarrt in die Kunst. In die Geschichte der Kunst. Und in ihr eigenes Werk.
»Joanie hat zwei Jungen«, sagt Sam in Gedanken.
»Joanie ist …«
»Joanie ist die älteste Tochter von Petes mittlerer Tochter.«
»Hilfe!« Blanca sieht Sam an. »Kannst du meine Verzweiflung verstehen?«
Sam grinst. »Niemand kann da durchblicken.«
»Well said.«
»Ich bin mit Joanie sporadisch über Facebook in Kontakt.«
»Ich nutze Facebook bloß zum Spielen.« Blanca nimmt ihre Brille in die Hand und dreht sie hin und her.
»Zum Spielen?«
»Schau nicht so entsetzt. Für meine Generation sind Online-Aktivitäten nicht das Schlechteste. Du kannst dich beschäftigen, Reaktionsschnelle und logisches Denken schulen und musst dazu nicht mal aus dem Haus.«
»Ich wusste überhaupt nicht, dass du einen Computer hast!«
»Igor hat mir seinen alten überlassen.«
»Igor?«
Blanca lacht. »Schätzchen, du staunst darüber, dass du deine amerikanischen Familienangehörigen nicht auseinanderhalten kannst, dabei bist du nicht einmal auf dem Laufenden, was deinen eigenen Bruder betrifft.«
»Igor und ich stehen uns nicht besonders nah. Er ist für mich wie ein Fremder. Wenn ich mit ihm länger als eine halbe Stunde zusammen bin, werde ich verlegen, als wäre ich zufällig in das Wohnzimmer eines Unbekannten geraten.«
»Ich denke, Isaac ging es nicht anders mit seinen beiden Brüdern.«
»Fred wurde abgelehnt, weil er etwas tat, was in den Augen seiner Familie verachtenswert war«, widerspricht Sam.
»Schon. Aber wenn Isaac eine enge Bindung zu Fred verspürt hätte, hätte er sich nicht davon abbringen lassen, Kontakt zum schwarzen Schaf zu suchen. Und wenn er es aus Pflichtgefühl getan hätte.«
Sam tippt auf das Foto. »Du meinst, die Frau neben Victoria könnte eine von Freds Töchtern sein?«
»Why not? Das Alter würde wahrscheinlich passen. Hast du deine Mutter gefragt?«
»Sie kann sich nicht erinnern.«
Blanca sieht Sam lange an. Schließlich schweift ihr Blick ab. Sie beginnt, welke Blätter von den Tulpen zu zupfen. »Das sieht ihr ähnlich«, sagt sie.
Blanca steht noch lange auf der Terrasse, obwohl Sam längst außer Sichtweite ist. Geistesabwesend blickt sie über Büsche und Sträucher.
Blanca hat heute kein Auge für den Frühling und die aufbrechende Natur, für die Nachbarn, die emsig in ihren Gärten werkeln. Sie lebt wieder in jenem Schicksalsjahr. 1982. Als Coburg ein Blinddarm der westlichen Welt war, eine Delle der Weltgeschichte, an drei Seiten von der DDR umgeben. Als man sich längst an diese eigenartige Position auf der Landkarte gewöhnt hatte.
Natürlich kann die Unbekannte auf dem Foto keine von Freds Töchtern sein. Er hat erst spät mit dem Kinderzeugen angefangen – zumindest soweit sie weiß. Blanca muss lächeln. Es ist ein schmerzhaftes Lächeln, das ihr die Tränen in die Augen treibt. Sie brauchte Sam gegenüber nur eine schnelle Ausrede.
1982. Blanca erinnert sich, wie sie Sam übernommen hat. ›Nur für zwei Wochen, Mom!‹, hat ihre Tochter gesagt. ›Ich muss mal raus.‹
Mein Gott. Grace. Blanca hatte keine Ahnung, dass in den Kisten noch ein Foto von ihr ist. Hat sie nicht alles durchsucht? Sie hat alle Erinnerungen vernichtet. Sam sollte niemals etwas erfahren.
Blanca hat sich Victorias Willen gebeugt. In jenem Jahr zum ersten Mal. Und dann immer wieder. Sie hielt Sam in ihren Armen, als von der Reise nur eine zurückkehrte. Victoria.
Isaac hat es nie verkraftet, denkt Blanca. Sie atmet tief den Duft der Kastanienbäume ein. In ihrem Garten streiten Flieder und Jasmin darum, wer der Erste sein darf. Sie zieht die Schuhe aus und wandert langsam über das kühle Gras. Es ist windig, sie fröstelt. Lucienne kommt um die Ecke geschnürt. Mit ihren eisblauen Augen schaut sie Blanca an, streicht um ihre Beine und schnurrt. Blanca bückt sich zu ihr herunter und fühlt dabei ein Ziehen im Rücken.
Sie hat gedacht, sie würde ihren Verlust nie verkraften. Aber sie hat sich geirrt. Die Psyche des Menschen ist darauf ausgerichtet, durchzuhalten. Der Lebenswille ist stärker als jedes Gewicht, das einen herunterzuziehen versucht. Doch nicht allein der Wille, zu leben – auch die Entschlossenheit, nicht ständig zu leiden.
›Du bist stärker als ich‹, hat Isaac in der Anfangszeit oft gesagt. Und sich abgekapselt. Ging nicht mehr aus dem Haus. Interessierte sich nicht für die kleine Enkelin, die immer hübscher, immer lustiger wurde. Ein Kind, mit dem leicht umzugehen war. Sam war anpassungsfähig. Ist sie immer noch, denkt Blanca. Sie traut sich selbst nicht viel zu, aber sie ist perfekt ausgerüstet für dieses Leben.
Irgendwann fing Isaac an, in den Kisten auf dem Dachboden herumzugraben. Dokumente zu schreddern. Sie hat fast nichts retten können. In jenem Schicksalsjahr lebten sie und Isaac in einem herrschaftlichen Haus in der Mohrenstraße. Ehe sie bemerkte, was er stundenlang auf dem Speicher trieb, war es fast zu spät.
Blanca steht am Ende ihres Gartens. Das Gras ist hoch hier. Sie muss den Gärtner bestellen. Eine Spinne krabbelt ihre Wade hinauf. Sie schnippt das Insekt zurück ins Gras. Wie betörend der Jasmin riecht. Wie an jenem Nachmittag vor 30 Jahren, als sie hier heraufkam, um den Garten zu gießen.
Als hätte es sich gestern zugetragen, durchlebt Blanca die Begegnung mit Victoria an jenem Frühlingsnachmittag, als die Sonne Garten und Haus zum Strahlen brachte. Tatsächlich, sie weiß genau, die Hecke war schon gepflanzt, aber viel niedriger, und von der Straße aus konnte sie sehen, dass die Terrassentür offenstand.
Das irritierte sie. Sie rechnete nicht mit Victorias Anwesenheit. Doch es konnte niemand anders hier sein als ihre Tochter.
Sams Kinderwagen stand auf der Terrasse im Schatten. Das Baby schlief friedlich, das kleine Gesichtchen rosig und unwissend angesichts der Tragödie, die die Weichen seines Lebens gestellt hatte.
»Victoria?«, rief Blanca.
Keine Antwort. Das allein war zu jener Zeit Anlass für Blanca, in Panik zu geraten. Damals rief sie ihre Tochter jeden Tag an. Bis Victoria genervt in die Luft ging.
»Victoria?«
Blanca sieht sich ins Wohnzimmer treten. Ein gelber Teppich lag dort, und gelbe Raffrollos zierten die Fenster. Sie waren heruntergelassen, als Blanca hineinging, und ein seltsames gelbes Licht hing im Zimmer.
Victoria war nicht zu sehen oder zu hören. Blanca ging auf Zehenspitzen in die Küche, ins Esszimmer, ins Bad. Dann stieg sie die Treppen hinauf, rief nicht mehr, und heute, 30 Jahre später, überläuft sie Gänsehaut, wenn sie daran denkt, wie sie blitzartig ein unerträglicher Argwohn überfiel.
Im ersten Stock sah sie sofort, dass die Leiter zum Dachboden heruntergelassen war. Muffige Luft kroch aus dem Loch zu ihr herunter.
»Victoria?«, flüstert Blanca, während sie, in einem neuen Jahrtausend, barfuß im Gras steht. Der Schmerz, den sie tief in ihrer Seele vergraben hat, um weiterzuleben, für die Enkel, für Victoria, für Robert, bricht über sie herein. Sie krümmt sich. Eine Welle aus Trauer ist leichter zu verkraften, weiß Blanca. Man kann ihr mit Tränen nachgeben. Aber dieser Schmerz, diese verfluchte Panik …
An jenem Tag kletterte sie lautlos die Leiter hinauf auf den Dachboden.
Ihre Tochter Victoria hockte auf dem Boden und sortierte Bilder, Papiere und Fotos. Sie bemerkte Blanca nicht. Eifrig ging sie einen Stapel Skizzenbögen durch.
Blanca stand dort, unter der Dachluke, und beobachtete sie. Selbst heute kann sie nicht beschreiben, welche Gefühle sie in jenem Augenblick durchmachte. Angst, Entsetzen, Ungläubigkeit, Unverständnis. Nach langer Zeit, in der die Stille, nur unterbrochen vom Rascheln des Zeichenpapiers, sich ins Endlose dehnte, sagte Blanca:
»Victoria?«
Ihre Tochter fuhr herum. Sie war leichenblass.
»Himmel, Mutter, hast du mich erschreckt.«
»Was machst du hier?«
»Ich gehe ihre Sachen durch.«
Das wollte ich machen, schoss es Blanca durch den Kopf. Ihre Hände verkrampften sich, und die Nägel drangen so tief in das Fleisch ihres Handballens, dass sie aufstöhnte.
»Warum?«, brachte sie hervor.
»Jemand muss es tun, nicht wahr?«
»Ich wollte …«
»Das kann ich dir nicht zumuten, Mutter.« Victorias malvenfarbenes Haar umgab ihr Gesicht wie ein Schleier, bereit zu verbergen, was zu verbergen war.
Blanca war außerstande, etwas zu entgegnen. Noch heute fragt sie sich, warum sie nicht Einspruch erhob. Warum sie Victoria nicht das Haus verbot. Warum, warum, warum! Blanca steht im Gras und sieht den Wolken zu, die vom westlichen Ende der Stadt herantreiben.
»Why …«, begann sie, weil es ihr im Strudel der Gefühle leichter fiel, die fremde Sprache zu sprechen. Dennoch versagten ihr die Worte.
»Es macht mir nichts aus, wirklich, Mutter.« Victoria stand auf und klopfte sich den Staub von den Jeans. »Sam schläft, oder?«
»Sie schläft.« Blancas Stimme klang leblos, wie ein Rascheln.
In jenem Augenblick fasste sie einen Entschluss.
»Dein Vater und ich werden in dieses Haus ziehen.«
»Ach so?« Überrascht sah Victoria sie an. »Wann? Warum? Ich meine …«
»Du und Robert, ihr habt das Haus am Glockenberg. Eine gute Lage, Victoria. Aber für Isaac und mich wird es in der Innenstadt immer stressiger. Der Lärm, der Verkehr, das Getümmel … Hier oben werden wir es ruhiger haben. Außerdem, mit dem Garten hätte dein Vater etwas zu tun, weißt du?«
Sie dachte dabei, mein Gott, Isaac ist ja nicht zu alt für seinen Beruf. Doch seit Victoria allein aus Griechenland zurückgekehrt war, brachte er kaum noch etwas zustande. Wenige Reportagen, oberflächliche, leichte Sachen, die ihm gar nicht entsprachen. Isaac war ein Mann für die Hintergründe, für die offenen Fragen, die Widersprüche.
»Verstehe.« Victoria strich sich das Haar zurück. »Umso schneller müssen wir hier Ordnung schaffen.«
»Wir?« Blanca trat vor. Sie hatte sich wieder im Griff. Wenigstens äußerlich. Mit aller Autorität sagte sie: »Du hast hier nichts zu suchen, Victoria!«
Ihre Tochter sah sie an, verächtlich, aber da war auch Angst in ihrem Blick. Diese Angst, das Flattern der Lider, hat Blanca bis heute nicht vergessen.
Als Blanca zwei Tage später erneut zum Haus am Festungsberg kam, war der Speicher leergeräumt bis auf ein paar Kisten mit Fotos und Briefen. Sämtliche Skizzen, Bilder und sogar die vorgefertigten Passepartouts waren verschwunden.
Ich habe nie die Kraft gefunden, Victoria zur Rede zu stellen, denkt Blanca nun. Langsam geht sie zurück zur Terrasse. Die Fliesen sind kalt. Der Himmel hat sich zugezogen, ein frischer Wind vertreibt den Fliederduft. Sie sieht sich nach Lucienne um, aber die Katze ist nirgends zu sehen. Blanca schlüpft in ihre Clogs und geht ins Haus. Hier, auf dieser Terrasse, stand Sams Kinderwagen.
Wir haben es ihr nie gesagt, denkt sie, und jetzt ist es zu spät.
Sam geht zu Fuß heim. Sie nimmt den Umweg über den Hofgarten. Blank wölbt sich der Himmel über das Veilchental. Im Winter sind sie als Kinder hier gerodelt. Sie auf dem Schlitten, ihr Vater hinter ihr, Igor weit voraus. Victoria, abseits stehend, mit Nikolaj an der Hand. Wie ein frostiges Bruchstück fällt ihr die Erinnerung vor die Füße.
Sam weicht vom Weg ab und läuft über die Wiese, rennt fast den steilen Hang hinunter bis in die Senke, wo sie sich umdreht. Hoch über ihr thront die Veste Coburg. Eine einzige Wolke treibt über der Burg. Sie ist geformt wie ein Elefant, der seinen Rüssel nach oben reckt. Wie gern würde Sam den Tag hier draußen verbringen, Sonne tanken. Aber sie muss nach Hause, weitermachen mit Quilts und Kissen. Wenn sie bis Ende des Monats nichts vorweisen kann, wird ein anderer Freelancer den Auftrag kriegen.
Als Sam am PC sitzt, loggt sie sich zunächst bei Facebook ein. Es ist noch nicht Mittag, in den USA schlafen sie um diese Zeit. Nichtsdestotrotz schickt sie eine Mail an Joanie.
Hi Joanie,
bist du eigentlich in Kontakt mit unseren Großcousins und -cousinen aus Freds Linie? Habe erst heute von ihm erfahren.
Umarmung,
Sam
Seufzend macht Sam sich an die Arbeit. Mit der Inspiration ist es wie immer. Wenn sie sich erst einmal dahinterklemmt, bei der Sache bleibt, kommen ihr die Ideen. Es geht um die Winterkollektion fürs nächste Jahr. Das lange Vorausplanen in der Branche ist etwas, woran Sam sich nur schwer gewöhnen kann. Mitunter geht ihr der Überblick verloren. Im herrlichsten Frühlingswetter Wintersachen zu gestalten, scheint ihr kontraproduktiv. Doch sie hat keine andere Wahl. Die Kreativdirektorin verlangt etwas Urbanes. Landhausstil ist out. Sam entscheidet spontan. Gibt sich das Thema ›Amerika‹ vor. Rasch notiert sie, was ihr einfällt. Stars and Stripes. Wolkenkratzer. Freiheitsstatue. Auswandererschiffe. Prärie, Cowboys, Lassos, Mustangs, Marlboro, die Einfälle kommen immer schneller, sie schafft es kaum, mitzuschreiben. Als der Zettel vollgekritzelt ist, legt sie sich auf den Teppich, einen Stapel Konzeptbögen vor sich, und entwirft ein Plaid. In Blau, rot, weiß. Streifen und Sterne, ins Negativ verkehrt. Weißer Untergrund, blaue Streifen in der Mitte, rote Sterne, die das Plaid einfassen. Kritisch betrachtet sie die Skizze. Konventionell, würde Luna sagen. Vielleicht ja, vielleicht nein.
»Besser als nichts«, denkt Sam und setzt sich wieder vor den Computer, um ihren Entwurf in die Software zu übertragen.
Ihr Facebook Account ist noch aktiv. Eine rote ›1‹ leuchtet oben links. Sie klickt darauf. Eine Nachricht von Joanie.
Hi Sam,
wie schön, von dir zu hören. Erstaunlich, dass du von Onkel Fred bisher nichts wusstest. Ich sehe ihn öfter, er wohnt in Albany, wenn ich mit den Kindern in die Stadt will, schaue ich bei ihm vorbei. Er lebt mit einer Frau zusammen, die vier Kinder hat, aber nicht von ihm, von anderen. Sie ist dreißig Jahre jünger und tierisch in Onkel Fred verliebt. Meine Jungs und ihre sind dicke Freunde.
Sieh dir meine Fotos auf Flickr an. Da sind Bilder von Freds Kindern und deren Kindern dabei. Solltest du den Überblick verlieren, ich helfe dir gern weiter.
Umarmung,
Joanie
Sam lächelt, als sie sich durch Joanies Online-Alben klickt. Bilder von ihren Kindern, ihrem Haus in den Catskill Mountains. Joanie ist ein Jahr jünger als Sam und angekommen im Leben der Mittelschicht. Halbherzig sieht sie alle Aufnahmen durch, findet jedoch keine Frau, die annähernd aussieht wie die Unbekannte auf dem Foto.
Sam geht zum Kühlschrank, gießt sich ein Glas Riesling ein. Sie muss jetzt die Skizze in die Software übertragen, in ein paar Tagen will sie ihre Entwürfe an die Firma mailen. Kaum ist sie so richtig in ihre Arbeit vertieft, klingelt das Telefon. Es ist Victoria.
»Du kommst am Samstagabend?«, fragt sie ohne eine Begrüßung. »Wenn das Wetter hält, möchte dein Vater grillen.«
Sam fühlt sich matt und ausgebrannt. Plötzlich kommt es ihr vor, als könne sie nicht einmal mehr die Stimme heben, um laut und deutlich zu antworten.
»Ja sicher, Mutter.«
»Gut. Nikolaj will auch kommen. Mit seiner neuen Freundin.«
Sam seufzt leise. Nikolaj ist vorsichtig. Victoria hat schon einmal eine seiner Freundinnen zur Schnecke gemacht, und soweit Sam das mitverfolgt hat, gab es bisher zwei Frauen in Nikolajs Leben, mit denen es etwas hätte werden können.
»Übrigens habe ich heute Ralf beim Einkaufen gesehen.«
»Ach ja?« Sams Herz zieht sich zusammen.
»Schade, wirklich schade, dass ihr Schluss gemacht habt.«
Sam verdreht die Augen. Dieses Thema würde sie gern beiseitelassen. Ralfs Vater ist Geschäftsführer der Hava-Bank, und die haben Sams Vater unter die Arme gegriffen, um seine Firma zu sanieren.
»Wann soll ich bei euch sein?«, lenkt sie das Gespräch in sicherere Bahnen.
»So gegen sechs?« Victorias Vorschläge klingen immer wie Anweisungen.
»Gut. Bis Samstag dann.«
»Tschüss.«
Sam legt stöhnend den Hörer auf. Dass Victoria sie vor allem aus geschäftlichen Gründen gern weiter mit Ralf zusammen gesehen hätte, wurmt sie. Das Leben ihrer Mutter ist auf Praktisches ausgerichtet. Ein Wesenszug, der einer Künstlerin überhaupt nicht entspricht, findet Sam. Jedenfalls nicht dem Typ Künstlerin, der zu sein Victoria vorgibt. Ihr fällt die Ausstellung ein und dass sie ihr Konzept bisher immer noch nicht verfeinert hat. Dass sie heute bloß einen einzigen Entwurf für ihren Job geschafft hat. Keinen besonders guten.
Das warme Wetter schlägt am Ende der Woche um. Der April zeigt sein wechselhaftes Gesicht. Sam hat zwei weitere Entwürfe für einen Quilt und passende Kissen zustande gebracht, aber sie ist wenig begeistert. Zu öde, zu langweilig, irgendwie schon mal da gewesen. Sie stellt sich vor, wie die Kreativdirektorin reagieren, Originelleres einfordern wird. Die Firma sucht etwas, dem man das Besondere auf den ersten Blick ansieht. Dennoch arbeitet Sam daran, die Entwürfe in die Software zu übertragen. Während am Freitagnachmittag dunkle Wolken über den Himmel treiben und der Regen gegen die Fenster peitscht, näht Sam das erste Plaid. Den Prototypen.
Es klingelt an der Haustür. Unwillig sieht sie auf. Sie legt den Stoff vorsichtig zusammen und wirft einen Blick aus dem Fenster. Nikolaj steht unten, mit einem zerfledderten Schirm kämpfend.
»He, alter Kumpel!«, ruft sie hinunter. »Brauchst du einen Fön?«
Er schaut zu ihr hoch und lacht. Sam drückt auf den Summer.
»Was treibt dich hierher?«, fragt sie, als sie ihm die Wohnungstür aufhält.
»Die Sehnsucht nach meiner großen Schwester, was sonst.« Nikolaj küsst Sam auf beide Wangen. »Wie geht’s?«
»Die Kreativität kommt nicht so, wie sie soll.«
»Alles eine Frage der Zeit.« Nikolajs Haar glänzt vor Nässe. »Hast du zwei Minuten?«
»Auch zwei Stunden, wenn es drauf ankommt.« Sam liebt Nikolaj. Er ist ihr so ähnlich in seiner Verwundbarkeit. Instinktiv spürt sie, dass sie ihm die Stange halten wird, egal was geschieht.
»Morgen will Dad grillen. Aber daraus wird wohl nichts. April, April!«
Sam reicht ihm ein Handtuch. Er rubbelt sein Haar trocken. Feucht glänzt das Schwarz noch vollkommener. Die Stirnfransen fallen in einer weichen Welle zur Seite.
»Ehrlich gesagt ist es mir piepegal, ob wir eine Bratwurst oder Bachsaibling oder Rosmarinkartoffeln auf dem Teller haben«, seufzt Sam.
»He, du nähst?« Er blickt neugierig auf die Arbeit am Nähtisch.
»Sieh es als Werkstück.« Sam macht sich in der Küche zu schaffen. »Ich bin nicht zufrieden. Werde mich morgen noch mal dransetzen und überlegen, was ich besser machen kann.« Sie kommt mit der Teekanne ins Wohnzimmer. Sieht, wie Nikolajs Hände den Stoff streicheln.
»Stars and Stripes. Hübsch.«
»Hör auf! Welche Designerin will denn was Hübsches entwerfen!«
Nikolaj setzt sich auf den Boden und greift in die Fotokiste. »Wie läuft’s mit der Ausstellung?«
Sam gießt Tee in zwei Tassen.
»Ich habe ein Foto gefunden. Hast du eine Ahnung, wer diese Frau ist?« Sie hält ihm die Aufnahme mit der Unbekannten hin.
»Mama?« Nikolaj grinst. »Du kennst sie. Sie wohnt am Glockenberg, heißt Victoria May und ist mit Robert Förster verheiratet.«
»Quatschkopf. Die Frau neben Mutter.«
Nikolaj kneift die Augen zusammen. »Keinen Schimmer.«
»Blanca meint, es könnte jemand aus der entfernteren amerikanischen Verwandtschaft sein. Wusstest du von Onkel Fred?«
»Wer soll das sein?«
»Der jüngste Bruder unseres Großvaters. Unser Großonkel. Der Outlaw, wie Blanca sagt. Hat mehrere Kinder von mehreren Frauen und wurde deshalb in der Familie nicht sehr geschätzt.«
»Nie von ihm gehört. Was mich nicht wundert. Wenn er rumgehurt hat, will niemand was von ihm wissen.«
»Nikolaj!«
»Ist doch wahr! Du musst dir nicht allzu viel zuschulden kommen lassen, um in dieser Familie wie ein Ausgestoßener behandelt zu werden!«
Sam betrachtet ihren Bruder liebevoll. »Mach dir keine Sorgen wegen Trixi.«
»Mach ich mir aber. Erinnerst du dich, wie Mutter über Renate hergefallen ist?«
Renate, soviel weiß Sam, war zwar nicht Nikolajs erste Freundin, aber die erste, die er den Eltern vorstellte. »Mutter hat eine Szene nach der anderen gemacht. Dass Renate mich nicht kriegen würde. Ihre Eltern sind geschieden, sie verbrachte ihre Kindheit zwischen zwei Stühlen. Na und?«
»Mit Renate ist es lange vorbei«, wendet Sam ein.
»Als wenn das einen Unterschied macht.«
»Mutter hat Trixi doch inzwischen kennengelernt. Sie kann dazulernen! Gestehe ihr das zu.« Warum verteidige ich sie?, fragt sich Sam, während sie am Tee nippt, dem Klatschen der Regentropfen ans Fenster lauscht und Nikolaj zusieht, der das Foto nachdenklich in den Karton zurücklegt.
»Jedenfalls habe ich Trixi auf das vorbereitet, was ihr bevorsteht. Was sagt Mutter zu dem Foto?«
»Sie hat es bisher nicht gesehen. Meinte nur, es könnte eine Reisebekanntschaft sein.«
»Ja, vielleicht.«
Männer, denkt Sam. Haben zwei Augen und sehen nichts.
»Fällt dir nichts auf an der Unbekannten?«, fragt sie.
Nikolaj greift wieder nach dem Bild. »Nö. Was denn?«
»Schau mich an.«
Nikolaj schaut hoch. »Und?«
Sam lacht. »Mit Blindheit geschlagen. Wir sehen uns ähnlich.«
»Du und ich. Weiß ich. Sagen alle.«
»Nein, ich meine die Unbekannte und mich.«
Nikolaj prüft konzentriert das Foto. »Mag sein. Das liegt an der Haarfarbe. Und der Figur.«
»Ich bin ihr wie aus dem Gesicht geschnitten!«
»Du übertreibst. Außerdem ist das Foto viel zu unscharf, um richtig was zu erkennen.«
Sam ist verunsichert. Sie nimmt ihm das Bild aus der Hand. »Luna hat die Ähnlichkeit auch entdeckt.«
»Na, wenn Oma recht hat und es eine entfernte Verwandte ist, wäre es ja nicht weiter erstaunlich.«
Unerwartet lässt der Regen nach. Es ist ganz still in der Wohnung. Sam genießt es, mit Nikolaj zu schweigen. Einvernehmlich hocken sie auf dem Teppich und graben sich durch den Fotokarton. Nippen an den Teetassen. Ganz von selbst ergeben sich zwei Stapel Bilder.
»Diese hier«, sagt Nikolaj schließlich. »Die würde ich in die engere Wahl nehmen. Die anderen bleiben besser privat.«
Sam holt eine Schachtel aus dem Schlafzimmer. Dort hinein legt sie die Fotos, die sie für die Ausstellung ausgewählt haben. »Das ist wenigstens erledigt. Ich träume von einer Videoinstallation. Was hältst du davon? Hilfst du mir?«
»Klar. Die vom Kongresshaus wollen das komplette Konzept bald haben. Sie müssen die technischen Voraussetzungen genau kennen. Einer muss schließlich alles aufhängen, installieren, für die Beleuchtung sorgen und so weiter.«
Sam nimmt die Liste mit den zu erledigenden Aufgaben aus ihrem Schreibtisch. Sie wird immer länger, und kaum ein Posten ist bisher ausgestrichen. Es wird Zeit, dass sie entschiedener an die Sache herangeht. Eine Woge von Lustlosigkeit drückt sie für Augenblicke nieder. Sie hat so viel zu tun. Die neue Kollektion, die beständige Angst, in der Firma weggebissen zu werden.
»Mutter weiß nicht, was sie uns da aufhalst«, stöhnt Sam.
»Was wir uns selber aufgehalst haben.«
»Weil wir beide keine Neinsager sind.«
Sie sehen einander an und lächeln. Mit Nikolaj ist alles easy-going.
»Und wegen morgen …« Nikolaj sieht Sam drängend an.
»Süßer, ich bin auf eurer Seite. Nimm dir einfach vor: Wenn Victoria sich im Ton vergreift, schnappst du dir deine Trixi und verlässt das Haus.«
Sie gehen zur Tür.
»Dein Wort in Manitus Ohr«, sagt Nikolaj.
Am Samstagmorgen bringt Sam das Foto mit der Unbekannten in Jerry’s Photoshop in der Badergasse. Der Kameruner ist ein Freund, einer, der weiß, dass Sam es mit ihren Fotoarbeiten jedes Mal schrecklich eilig hat.
»Heute geht es nicht um Mode?«, fragt er erstaunt.
»Ausnahmsweise nicht. Jerry, kriegst du das Foto schärfer und größer?«
»Das ist ein Widerspruch in sich.«
»Bitte!«
»Ich tue, was ich kann.«
»Ich brauche die Aufnahme allerdings gleich wieder.« Sie wedelt mit dem Foto.
Jerry nimmt es ihr ab. »Samanthas Aufträge sind nie besonders simpel zu bearbeiten. Eine echte Herausforderung!«
Er verschwindet in seinem Hinterzimmer. Es dauert, bis er zurückkommt.
»So. Eingescannt und abgelichtet. Schauen wir mal.«
»Danke, Jerry. Es ist wirklich wichtig.« Sie wartet einen Moment, während Jerry das Foto in einen wattierten Umschlag packt.
»Wenn es so wichtig ist, solltest du das wertvolle Familiensouvenir nicht in der Jeanstasche mit dir herumschleppen.«
»Familiensouvenir?«
»Die eine Frau ist deine Mutter. Ich habe ein geübtes Auge für Gesichter.« Jerry grinst. »Victoria May vor geschätzten 30 Jahren.«
Sam hält den Atem an. »Und die andere …?«
Jerry nimmt die Aufnahme aus dem Umschlag. Sieht Sam wieder an. Schaut auf das Foto. Sam wird heiß und kalt. Ihre Wangen glühen.
»Deine Tante?«, fragte Jerry unschuldig.
»Ich … weiß es nicht.«
»Naja, du siehst ihr irgendwie ähnlich. Aber ich kann mich täuschen.«
Ein Mann betritt das Geschäft, stellt sich neben Sam an den Verkaufstresen und klopft mit seinem Autoschlüssel rhythmisch auf die Glasplatte.
Jerry reagiert nicht. Ruhig schiebt er das Foto zurück in den Umschlag, klebt seinen ›Jerry’s Photoshop‹-Aufkleber drauf und fragt geschäftsmäßig: »Möchten Sie eine Plastiktüte?«
Sam liebt Jerry für seine kleinen Subversivitäten.
*
Zurück in ihrer Wohnung wirft sie einen gestressten Blick in den Kleiderschrank. Noch einen Tag in Jeans und Sweater hält sie nicht aus. Das Wetter ist durchwachsen. Ein Grillfest wird es nicht geben. Sie wählt eine weite schwarze Hose und eine Bluse, die Luna ihr geschenkt hat. Auch ein Prototyp für eine Kollektion, aus der nichts wurde. Schade, denkt Sam, während sie über den seidigen, schwarzen Stoff streicht, auf dem rote Rosen aufgestickt sind. Sie scheinen wie Wolken an einem finsteren Himmel zu schweben, und darunter fliegen verträumt aussehende silberne Drachen entlang. Ihre Mutter findet Lunas Sachen mitunter zu dick aufgetragen, aber das Outfit ist goldrichtig für einen öden Auftritt bei Sams Eltern.
Sie räumt ihren Arbeitstisch auf. Gestern Nacht hat sie noch ein Plaid und ein Kissen fertiggenäht. Sie packt die Sachen in einen Karton und räumt die Nähmaschine weg. Am Montag wird sie sich noch einmal mit den Skizzen auseinandersetzen und dann alles wegschicken. Origineller werden ihre Sachen im Augenblick nicht. Besser sie liefert etwas halbwegs Gutes als gar nichts.
In der Küche gießt Sam kochendes Wasser über eine Fertigsuppenpackung. Der künstliche Geruch steigt ihr in die Nase. Sie rührt um und stellt den Timer auf 10 Minuten. Geht zurück ins Wohnzimmer. Sie nimmt das Foto aus dem wattierten Umschlag. Lange dreht sie es in den Händen. Schließlich ruft sie Jerry an.
»Jerry? Mailst du mir das Foto? Du hast doch eine digitale Version.« Im Hintergrund hört sie den Klangteppich eines hektischen Samstagvormittags in der Innenstadt.
»Klar, Hübsche. Sobald ich kann.«
»Thanks, dear.«
Sam geht in die Küche und löffelt die lauwarme Suppe. Jerry ist die Ähnlichkeit zwischen mir und der Unbekannten auch aufgefallen, denkt sie, als sie sich erneut an den Rechner setzt und ungeduldig den Inhalt ihrer Inbox aktualisiert. Nikolaj nicht, doch Brüder sind ohnehin mit Blindheit geschlagen, wenn es um das Aussehen ihrer Schwestern geht.
Endlich trudelt die Bilddatei ein. Aufgeregt klickt Sam auf ›Download‹. Ihre Finger trommeln auf den Schreibtisch. Es kommt ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sich das Foto öffnet.
Jerry hat es noch nicht bearbeitet, es dauert, bis Sam eine Einstellung gefunden hat, die das Bild vergrößert, ohne die Konturen allzu sehr verschwimmen zu lassen.
Es ist mein Gesicht, denkt Sam. Ihr Herz rast, sie hat einen ganz trockenen Mund. Zugleich strömt ihr der Schweiß aus den Poren.
Die ganze Zeit hat sie den Gedanken, der Unbekannten ähnlich zu sehen, prickelnd gefunden. Jetzt bekommt sie es mit der Angst. Sam steht auf und tritt ans Fenster. Es wird bald regnen. Graue Wolken hängen am Turm der Morizkirche fest. Ihr Finger fährt langsam über die Schlieren, die der gestrige Regen und der allgegenwärtige Blütenstaub hinterlassen haben. Dabei weint sie, ohne es selbst zu merken.
Sam hastet durch das Gartentor und klingelt an der Haustür. Der Regen strömt nur so herab und die Dämmerung fällt viel zu früh über die Stadt her. In der nassen Tristesse leuchtet das Haus ihrer Eltern einladend hell. Victoria hat ein Faible für schöne Illumination. Hinter jedem Fenster im Erdgeschoss brennt eine Messinglampe. Auch neben dem Gartenweg leuchten Laternen. Sam hört eilige Schritte hinter der Tür. Ihre Hosenbeine sind bis zu den Knien durchnässt, von den Schuhen gar nicht zu reden.
»Komm rein, Tochter!« Robert Förster steht in der Tür, breitschultrig, das braune Haar immer noch voll, wenngleich durchzogen von Frost. Er wirkt gelöst und fröhlich, längst nicht mehr so angespannt wie im letzten Jahr, als seine Firma kurz vor dem Bankrott stand.
»Hi, Dad!« Sie küsst ihn auf die Wange. »Wie geht’s?«
»Gut geht’s. Schön, dass du hier bist. Nikolaj und Trixi sind schon eingetrudelt.«
Sam lugt an ihrem Vater vorbei.
»Deine Mutter ist in der Küche beschäftigt. Mit dem Grillen wird es nichts.« Er seufzt. »Keine Bange. Sie benimmt sich anständig.«
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Komm schon! Nikolaj hat dich von jeher eingespannt, wenn es drum ging, dass deiner Mutter irgendwas verklickert werden muss, was er ausgefressen hat.«
»Dad!« Sam lacht. »Nikolaj hat selten was ausgefressen, und eine neue Freundin ist ja wohl was anderes als ein Schülerstreich oder ein eingeworfenes Fenster.«
»Sie ist klasse, die Trixi.«
Sam mustert ihren Vater verstohlen. Er sieht gut aus. Die Anzeichen der Erschöpfung in seinem Gesicht, die tiefen Schatten unter seinen Augen und sein abwesender Blick haben sich verflüchtigt. Der Firma geht es inzwischen gut. Robert Förster hat ausreichend Kraft, bis zu seinem 65. Lebensjahr weiterzumachen. Wahrscheinlich hofft er weiterhin, dass sein Sohn Igor die Firma übernimmt. Da kann er lang warten, denkt Sam, als sie hinter ihrem Vater her ins Wohnzimmer geht. Igor wird nie nach Coburg zurückkommen, und schon gar nicht, um in die Firma einzusteigen.
»Hallo, meine Lieben!« Sam küsst Nikolaj auf die Wange. Er zwinkert ihr unbeholfen zu. Trixi sieht schick aus, ihre braunen Locken sind kürzer, als Sam in Erinnerung hat. Zur neuen Frisur trägt sie einen roten Hosenanzug, kombiniert mit einem weißen Halstuch.
»Hi, Sam!«, sagt sie.
Sie ist aufgeregt, denkt Sam. Meine Güte, warum ist Familie so kompliziert.
Victoria kommt herein. Sie braucht stets einen Extraauftritt.
»Hallo, Mutter!«
Victoria haucht Sam einen Kuss auf die Wange, bevor sie prüfend ihr Haar mustert, zu einem Kommentar ansetzt, aber von ihrem Mann unterbrochen wird.
»Wie wäre es mit einem Aperitif?«
»Ja, Sam, möchtest du auch einen Campari Orange?«, trällert Victoria.
»Ja, danke.«
Ihr Vater reicht ihr ein Glas. Es ist eiskalt.
»Habt ihr alle zu trinken?«, fragt Victoria, wobei sie streng in die Runde blickt. »Dann lasst uns anstoßen! Auf die Familie!«
»Auf die Familie«, murmelt Nikolaj halblaut. Trixi lehnt sich an ihn. Sie reicht ihm gerade bis zur Schulter. Sie sind ein Traumpaar, denkt Sam, Nikolaj, so groß, schlank, schwarzhaarig, und Trixi mit den braunen Locken und den frechen Sommersprossen, die aussehen, als hätte ein Windstoß sie auf ihrer Nase und ihren Wangen verteilt.