Du hast mein Wort - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Du hast mein Wort E-Book

Elisabeth Dreisbach

0,0

Beschreibung

Mitten in die notvollen Zeit des Zweiten Weltkrieges führt uns diese Erzählung zu Beginn hinein. Ricarda, die Tochter eines Lederfabrikanten, ist die Mitte eines Freundeskreises junger Menschen, die aus anderen Quellen leben möchten, als die Ideologie des Dritten Reiches sie vorschreibt. Zu ihnen gehört auch Daniel, der Pfarrerssohn, dem der Weg seines Vaters vorgezeichnet scheint. Am Tag vor seiner Einberufung zum Wehrdienst bittet er Ricarda um ihr Jawort. Sie zögert, weil sie nicht um Gottes JA zu diesem Weg weiß, so sehr sie sich auch zu dem Jugendfreund hingezogen fühlt. Fortsetzung im Buch: … dass Treue auf der Erde wachse Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 405

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Du hast mein Wort

Band 19

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-140-4

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Dank

Herzlichen Dank, dass Sie dieses eBook aus dem Folgen Verlag erworben haben.

Haben Sie Anregungen oder finden Sie einen Fehler, dann schreiben Sie uns bitte.

Folgen Verlag, [email protected]

Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter und bleiben Sie informiert über:

Neuerscheinungen aus dem Folgen Verlag und anderen christlichen Verlagen

Neuigkeiten zu unseren Autoren

Angebote und mehr

http://www.cebooks.de/newsletter

Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Du hast mein Wort

Unsere Empfehlungen

Du hast mein Wort

„Ich fürchte, heute habe ich den größten Fehler meines Lebens begangen!“

Ricarda stand mitten in ihrem Zimmer. Sie war allein, jedoch so betroffen von dieser über sie kommenden Erkenntnis, dass ihre Gedanken ungewollt zu Worten wurden und nun schreckhaft den Raum füllten.

Dabei war es trotz des Abschieds ein so schöner Abend gewesen. Ricarda hatte die Freunde, wie schon oft, zu sich eingeladen: Daniel, Wilfred, Herbert, Ruth, Magdalene und Gudrun. Sie alle hatten sich bemüht, trübe Gedanken angesichts der bevorstehenden Trennung nicht aufkommen zu lassen. Es war Krieg. Daniel sollte morgen einrücken. Schon lange hatte Ricarda es auf sich zukommen sehen und davor gebangt. Aber sie durfte ihm den Abschied nicht schwer machen. Er ging ohne Begeisterung. Viel lieber hätte er sich ins Studium gestürzt.

Nun waren sie also noch einmal zusammengekommen. Was war natürlicher gewesen, als über das zu sprechen, was sie in den letzten Wochen immer wieder stark bewegt hatte? Man hätte blind und taub sein müssen, wenn es einem nicht auf gefallen wäre, dass die Tendenz, die von der Führung des Volkes ausging, antichristlich war, wenn es auch nicht gerade offen zutage trat. War es die der Jugend eigene Opposition, oder konnte man darin ein ernst zu nehmendes Begehren, die Wahrheit zu erkennen, erblicken – jedenfalls hatten diese jungen Menschen es sich zur Regel gemacht, miteinander in der Bibel zu lesen. Führend dabei war die sonst so stille Ricarda Dörrbaum gewesen. Sie hatte den anderen voraus, dass sie, veranlasst durch allerlei hinter ihr liegende Erlebnisse, längst sich nicht mehr begnügte mit einem bloßen Mitläuferchristentum, sondern bemüht, allen Dingen auf den Grund zu gehen, eine bewusste Christin geworden war. Auch an diesem Abend vor Daniels Einberufung – man hatte fröhlich bei einem einfachen, aber für die Kriegsverhältnisse beinahe festlichen Abschiedsmahl zusammengesessen – war die Rede auf die tiefsten Lebensfragen gekommen.

„Ich meine, es sei nie so nötig gewesen, sein Christsein zu bekennen, wie in unserer Zeit“, hatte einer der jungen Männer gesagt.

„Manchmal ist es mir, als würde uns das von oben herunter bewusst schwer gemacht.“

„Vorsicht!“ hatte Ruth gemahnt. „Seid ihr eurer Dienstboten sicher, Rica?“

„Ich habe doch nichts Staatsfeindliches gesagt!“ hatte sich Wilfred gewehrt. „Man wird auf dem Gebiet seiner religiösen Überzeugung noch seine Meinung sagen dürfen!“

„Eben nicht!“ war Ruths Antwort gewesen. „Schließlich ist es auch nicht nötig, dass man sich grundlos in Gefahr begibt.“

„Jedenfalls haben wir Ricarda viel zu verdanken.“ Herbert hatte sich direkt an sie gewandt. „Deine klare Stellungnahme hat uns doch zu mancher guten, nein, ich möchte sagen, zu der einen klaren Entscheidung verholfen.“

Daniel hatte ihr spontan die Hand entgegengestreckt. „Ja, du bist in der Tat unser gutes Gewissen gewesen – oder vielleicht ist es besser, zu sagen, die gute Stimme in unserem Freundeskreis, die einfach nicht überhört werden kann, weil wir alle beobachten, dass dein Leben mit deinen Worten in Einklang steht. Das hat uns beeindruckt, und somit halfst du uns, ohne es selbst zu wissen, zu dieser Entscheidung.“

„Daniel, du hast den rechten Beruf erwählt!“ Ruths Spottlust war auch jetzt wieder zum Durchbruch gekommen. Einlenkend hatte sie ihm jedoch die Hand auf die Schulter gelegt: „Du verstehst doch Spaß? Aber in der Tat, das hast du großartig gesagt. Ich sehe dich schon auf der Kanzel stehen.“

Ricarda aber hatte, ohne auf Ruths Bemerkung einzugehen, sich gewehrt. „Ich weiß nicht, was ihr da redet. Erstens trägt jeder sein eigenes Gewissen in sich, und die mahnende Stimme Gottes kann man einfach nicht überhören. Wenn es mir geschenkt war, euch ein wenig Wegweisung zu geben, dann soll es mich freuen. Aber ich würde es geradezu als gefährlich ansehen, wenn ihr euch nach mir richten wolltet. Und was deine Beobachtung anbelangt, Daniel, so muss ich dir widersprechen. Ich wünschte, ich könnte gelassener und gleichmäßiger hinnehmen, was sich mir oft an Unerwartetem und Unerwünschtem in den Weg stellt. Wenn einer weiß, wie unsicher und ängstlich ich oft bin, dann bist du es.“

Ganz selbstverständlich und schlicht hatte sie das gesagt. Dabei hatte sie ihm freimütig in die Augen geblickt. Es entging auch niemand, mit welcher Innigkeit er ihren Blick erwidert hatte, war es doch ein offenes Geheimnis, wie die beiden zueinander standen. Eigentlich hatten sie alle erwartet, dass Daniel und Ricarda sich heute verloben würden.

Die Freunde ließen ihre Entgegnung nicht gelten. „Nein, Ricarda“, hatte Gudrun gesagt, „du darfst nicht selbst schmälern, was du für uns gewesen bist. Deine Bescheidenheit in Ehren! Wem von uns wäre es ohne dein mahnendes Wort zum Bewusstsein gekommen, dass ein so lässiges Christentum, wie wir es lebten, nicht ausreicht!“

„Du hast uns einfach mitgerissen!“

„Es war, als wenn eine Flamme von dir nach uns gegriffen und in uns ein Feuer entfacht hätte!“ Herbert, der von den anderen „der Dichter“ genannt wurde, hatte es gesagt. Er konnte es nicht verstehen, dass Ricarda sich ganz energisch wehrte.

„Bitte, hört auf! Ihr bringt mich in die größte Verlegenheit.“

Dann hatte sich Ruth noch einmal eingeschaltet. „Lasst uns um alles in der Welt nüchtern bleiben! Mir ist manches Mal bange, wir könnten in eine ungesunde Schwärmerei verfallen.“

Für einen Augenblick war eine peinliche Stille gefolgt, die Daniel dann mit lebhaftem Protest unterbrach: „Schwärmerisch, Ruth? Extrem? – Nein, das muss ich ganz entschieden ablehnen. Dass ich morgen, wenn nicht gerade mit Begeisterung, aber doch mit froher Zuversicht einrücke, habe ich in erster Linie den neu gewonnenen Erkenntnissen zu verdanken, und es wäre unrecht, wollte ich nicht sagen, dass Ricarda mir dazu verholfen hat.“

„Ich meine, wir sollten nun zum Schluss noch eines unserer schönen Abendlieder singen“, hatte Ruth dann vorgeschlagen.

Kurz nach elf Uhr hatten sich die Freunde verabschiedet. Nur Daniel hatte gebeten, noch einige Minuten bleiben zu dürfen. „Es dauert nicht lange, Rica“, hatte er gesagt, „aber es ist wichtig.“

Es war Ricarda nicht so recht gewesen. Was würden die Hausangestellten denken, wenn alle anderen heimgingen und der junge Mann allein bei ihr zurückbliebe, zumal die Eltern heute Abend ausgegangen waren? Aber Daniel, dieser große Junge mit den braunen Augen, die so treuherzig bitten konnten, hatte mit einem Gesichtsausdruck vor ihr gestanden, als wollte er sagen: „Du kannst mich jetzt nicht einfach fortschicken, nachdem es doch mein Abschiedsabend ist.“ Was war ihr anderes übriggeblieben?

Sie hatten sich noch einen Augenblick gesetzt. Erwartungsvoll hatte Ricarda ihn angeblickt. Bevor er noch ein weiteres Wort gesprochen hatte, war es ihr klargeworden, was der Grund seines Zurückbleibens war. Seltsam, welch ein Zwiespalt im gleichen Augenblick in ihr aufgebrochen war: glückhaftes Bejahen dessen, was ihr eigenes Herz ihr schon lange zugesichert hatte, und unruhiges Verneinen des plötzlich auf sie Zukommenden. Es ist noch zu früh! – Auch das muss ausreifen! Und er muss sich erst bewähren.

Daniel hatte zu sprechen begonnen. „Ricarda, es bedarf zwischen uns eigentlich keiner Worte mehr. Wir wissen beide, was wir füreinander empfinden. Wir sind als Nachbarskinder aufgewachsen, aber aus der Kinderfreundschaft ist eine tiefe Liebe geworden.“

Sie hatte ihn unterbrechen wollen, aber er hatte mit der Hand abgewehrt: „Lass mich aussprechen, Rica! Es ist mir klar, dass wir uns jetzt im Krieg nicht verloben können, zumal ein langes Studium vor mir liegt und niemand weiß, ob ich überhaupt zurückkehre. Aber lass mich die Gewissheit mitnehmen, dass du mir gut bist – dass du auf mich wartest – dass du einmal, wenn auch erst nach Jahren, meine Frau, meine Pfarrfrau werden willst. Bittend hatte er ihre Hand ergriffen.

Ricarda hatte sie ihm zwar nicht entzogen, aber sie hatte ihm auch keine Zusage gegeben.

„Daniel, dass ich dir gut bin, weißt du, darüber brauche ich keine Worte zu verlieren. Aber ich halte es für verfrüht, dass wir uns gegenseitig durch ein Versprechen binden. Wer weiß, wie lange der Krieg dauert. Außerdem liegt dein Studium noch vor dir. Du wirst vielen Menschen begegnen, neue Eindrücke werden auf dich einstürmen. Eine derartige Bindung könnte dir zur drückenden Fessel werden, die du eines Tages gerne los sein würdest.“

„Ricarda!“ hatte er schmerzlich empört ausgerufen. „Das hättest du nicht sagen dürfen.“

Sie hatte sich erhoben und ihm, der nun auch aufgestanden war, beide Hände auf die Schultern gelegt. Nun standen sie so nahe beieinander, dass es ihn – sie empfand es deutlich – Überwindung kostete, sie nicht an sich zu ziehen. Aber er bezwang sich.

„Ich wollte dir nicht wehe tun, Daniel“, sagte sie und fühlte gleichzeitig, dass auch ihr Herz wie rasend zu klopfen begann und dass sie sich am liebsten in seine Arme geschmiegt hätte. Aber nein, sie musste jetzt vernünftig sein.

Sie ließ die Hände sinken. „Daniel, meine Gedanken und meine Gebete sind bei dir. Lass dir dies vorerst genügen! Und noch eins: Meine Eltern würden es nicht verstehen, wenn ich mich jetzt schon, wo du doch noch ganz am Anfang deines Weges stehst –“

Daniel war einen Schritt zurückgetreten, und auf seinem Gesicht hatte sich ein Ausdruck gezeigt, den Ricarda nie vorher gesehen hatte.

„Natürlich – ich begreife, ich besitze nichts – ich bin noch nichts – sie haben zwar nichts gegen den Pfarrerssohn, der schon oft an ihrem Tisch gesessen hat – aber sie warten eben doch auf eine standesgemäße Partie.“

Schreckhaft hatten sich ihre Augen geweitet. „Daniel, das darfst du nicht sagen!“ Nun hatte sie doch wieder nach seiner Hand gefasst. „So soll dieser letzte Abend nicht ausklingen! Komm, spiele noch etwas – vielleicht das erste Präludium aus Bachs ,Wohl temperiertem‘? Lass uns dann auseinandergehen.“

Trotz und tiefe Traurigkeit hatten in ihm gewogt. Deutlich hatte Ricarda es empfunden, dass er mit sich kämpfte, ob er das Haus sofort verlassen oder ihren Wunsch erfüllen solle. Dann aber hatte er sich ans Klavier gesetzt. Sie hatte sich halb hinter seinem Rücken, die Hände im Schoß ineinandergelegt, in einem Sessel niedergelassen. Tränen hatten ihr den Blick getrübt, und nur mit großer Mühe vermochte sie den Aufruhr ihres Herzens niederzuzwingen.

Schließlich war er gegangen. Sie hatte ihn bis an die Haustüre begleitet.

„Leb wohl, Daniel! Gott sei mit dir! Und denke daran, dass kein Tag vergeht, an dem meine Gedanken dich nicht suchen. Du wirst während der Ausbildungszeit ja noch einige Male auf Urlaub kommen und nachher hoffentlich auch.“

Die Haustüre hatte sich hinter ihm geschlossen. Langsam war Ricarda in den zweiten Stock des geräumigen Hauses hinaufgestiegen. Auf Annas Frage, ob sie noch irgendetwas für sie tun könne, hatte sie nur stumm den Kopf geschüttelt. Sie musste es hinnehmen, dass das alte Mädchen, das schon viele Jahre im Dienst der Eltern stand, für sie gut vernehmlich zu der Köchin sagte: „Na, sehr glücklich sieht das Fräulein nach diesem Abend mit ihren Freunden gerade nicht aus!“

Und nun stand Ricarda in ihrem hübschen Jungmädchenzimmer mit den weißen Lackmöbeln und all den netten Sachen, die sie im Laufe der Zeit zusammengetragen oder auch geschenkt bekommen hatte, und wiederholte aus wehem Herzen: „Ich habe es bestimmt falsch gemacht! Wie konnte ich ihn so gehen lassen?“

Ricarda, jetzt zwanzig Jahre alt, war die einzige Tochter des Lederwarenfabrikanten Dörrbaum. Zum großen Kummer des Vaters war das erste Kind ein Mädchen gewesen, und er hatte doch so sehr mit einem Sohn gerechnet, der das Geschäft einmal weiterführen würde. Ricarda war das einzige Kind geblieben und zeigte je länger desto weniger Interesse an der Fabrik, die der Vater aus kleinsten Anfängen zu einem gutgehenden Geschäftsunternehmen entwickelt hatte. Schon lange hatte er mit steigender Besorgnis beobachtet, dass die Gedanken und Ansichten seiner Tochter völlig andere Wege gingen als die seinen. Sie kam ihm oft geradezu fremdartig vor. Dabei hatte man doch alles, was nur menschenmöglich war, für sie getan. Sie hatte gute Schulen besucht, durfte in den Ferien Reisen machen – man konnte es sich ja leisten! Jeder Wunsch wurde dem Kind erfüllt. Das Merkwürdige aber war, dass es ganz selten einen Wunsch äußerte, oder nur solche, die der Vater als völlig töricht betrachtete: Geld, um einer unbemittelten Schulkameradin ein Geschenk zu machen – die Genehmigung, den schwachsinnigen kleinen Sohn der Waschfrau nachmittags im Wagen ausfahren zu können – dem blinden Großvater des Milchjungen manchmal vorlesen zu dürfen, und ähnliches. Der Vater, der keinerlei Verständnis für solche Liebhabereien hatte, nahm sich immer wieder vor, energisch gegen diese sentimentalen Torheiten seiner Tochter anzugehen, kapitulierte aber gewöhnlich vor den großen, blauen Kinderaugen, die stumm bittend auf ihn gerichtet waren, und erfüllte dann doch ihre Wünsche. Dass Ricarda einmal trotzig aufbegehrt und ihren Willen durchgesetzt hätte, konnte er sich nicht entsinnen. Hätte sie es nur getan! Dann wäre es ihm möglich gewesen, sie anzudonnern, ihr die Meinung zu sagen oder ihr einmal ein paar um die Ohren zu geben, wie es seiner Art mehr entsprochen hätte.

Schon als kleines Kind hatte sie kein Wort erwidert, wenn er ihr etwas verboten oder eine ihrer Bitten einmal nicht erfüllt hatte. Stumm war sie vor ihm gestanden, nur der Mund hatte fast unmerklich gezittert, dann waren diese tiefblauen Sterne übergelaufen, und Tränen hatten eine Spur auf ihren Wangen hinterlassen, ohne dass ein Laut aus ihrem Mund gekommen wäre. Dieses stille, ergebene Weinen konnte ihn fast rasend machen. Lieber wäre ihm ein handfester Junge, ein Draufgänger, sogar ein richtiger Frechdachs gewesen – und nun war da dieses zierliche, kleine, für seine Begriffe viel zu weichherzige Geschöpf. Was sollte er als Fabrikbesitzer mit einem solchen Kräutlein Rührmichnichtan? In der Regel landete Ricarda dann doch in den Armen des Vaters, der für die Tränenströme seiner kleinen Tochter gewohnheitsmäßig ein zweites Taschentuch bei sich trug. Natürlich, das war schon lange her. Jetzt sollte sie dem Alter nach längst eine junge Dame sein. Aber das war sie eben auch nicht, obgleich sie bereits mit siebzehn Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden war. Zwar war sie nicht mehr so empfindlich wie in ihrer Kinderzeit, sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen oder doch zu verbergen, aber sie reagierte in den meisten Fällen eben doch völlig anders, als der Vater es gewünscht hätte.

Das Schlimmste von allem aber waren ihre religiösen Anwandlungen. Eine Neigung dazu hatte sie immer schon gehabt. Kurz vor ihrer Konfirmation hatte sie die Eltern in große Verlegenheit gebracht, indem sie erklärte, sich unter keinen Umständen einsegnen lassen zu wollen. So eine verrückte Idee! Da wäre man in ein schönes Gerede gekommen, wo einen doch jeder in diesem kleinen Nest kannte. Zudem wurden die Namen aller Konfirmanden jedes Frühjahr in der Zeitung bekanntgegeben. Allerdings waren seit der Machtübernahme Hitlers schon viele aus der Kirche ausgetreten. Wenn der Vater es nicht tat, geschah es nicht etwa aus Überzeugung, sondern im Andenken an seine Mutter, die eine fromme Frau gewesen war.

Sie könne nicht versprechen, was die Kirche von ihr fordere, hatte Ricarda vor der Konfirmation erklärt, und sie wolle nicht, dass Vater und Mutter nur zum Schein, oder weil es eben so üblich sei, mit ihr zum Abendmahl gingen, zumal sie sonst äußerst selten einen Gottesdienst besuchten und im Grund genommen nichts glaubten. Sie sei fest entschlossen, sich nicht einsegnen zu lassen.

Damals hatte Richard Dörrbaum mit der Faust auf den Tisch geschlagen. „Das wäre ja noch schöner! Du meinst wohl, du könntest mit deinem himmelblauen Augenaufschlag immer deinen Willen durchsetzen? Jetzt ist's genug! Ich befehle dir, dich konfirmieren zu lassen.“

Da waren nach langer Zeit wieder einmal Tränen über ihr Gesicht gelaufen: „Vater, bitte zwinge mich nicht! Ich kann nicht!“

Schließlich war er völlig ratlos gewesen. „Mädchen, nimm doch Vernunft an! Denk doch, diese Schande!“ Dann hatte er seine Frau angeschrien: „Bist du denn nicht imstande, sie zur Einsicht zu bringen?“

Aber hier war es immer dasselbe. Die Mutter hatte je länger desto weniger Kontakt mit der Tochter. Nachdem die Zeit vorüber war, in der sie die Kleine, auf geputzt wie eine Puppe, ihren Verwandten und Freunden vorführen und mit der Kinderpflegerin und dem „süßen Kind“ Staat machen konnte, hatte sie sich unerklärlicherweise immer mehr von ihrem eigenen Fleisch und Blut zurückgezogen.

Der Vater hatte es längst auf gegeben, diese an sich erschreckende Situation ändern zu wollen. Es hatte ja doch keinen Sinn – und schließlich wusste er um die wirkliche Ursache. Er konnte dem Hausarzt nicht länger verschweigen, dass seine Frau süchtig war, und zwar doppelt und dreifach süchtig! Ob es sich um Alkohol, Schlaftabletten oder Zigaretten handelte, sie kannte kein Maß und Ziel. Richard Dörrbaum entsetzte sich, so oft er feststellte, welch furchtbare Zerstörung die Sucht in und an seiner Frau anrichtete. Dass es Ricarda unter diesen Umständen immer seltener zum Herzen der Mutter zog, war nicht zu verwundern.

Damals, vor sechs Jahren, war es dem Ortspfarrer schließlich doch geglückt, Ricarda, die doch die Aufmerksamste unter seinen Schülern im Unterricht gewesen war, zu bewegen, sich konfirmieren zu lassen. Aber der Tag, den Herr Dörrbaum seinem einzigen Kind zu einem großen Festtag gestalten wollte, war anders verlaufen. Ricarda war äußerst still und in sich gekehrt gewesen. Zwar hatte sie sich den Gästen gegenüber Hebenswürdig und für die vielen zum Teil kostbaren Geschenke dankbar gezeigt. Aber mehr wie einer der Festgäste hatte den Vater beiseite genommen und gefragt: „Was ist nur mit eurer Tochter? Ist sie schwermütig oder leidend?“ Das krasse Gegenteil war seine Frau, Ricardas Mutter, gewesen in ihrer beinahe ausgelassenen Fröhlichkeit, die sich bis zu abstoßendem Benehmen steigerte; je mehr Alkohol sie zu sich nahm, desto weniger dachte sie daran, dass man zur Feier der Konfirmation ihrer Tochter zusammengekommen war. Schon am frühen Abend hatte ihr Mann sie betrunken in ihr Schlafzimmer bringen müssen. Ricarda schien nach diesem Erlebnis der Schwermut nahe zu sein.

Wenn auch erst nach und nach, so war doch eine Wendung eingetreten, nachdem Richard Dörrbaum seine gelähmte Schwester zu sich ins Haus geholt hatte. Bis zum Tod der Eltern war sie bei diesen gewesen. Kurz nach dem Vater war nun auch ihre Mutter gestorben. Es bedurfte für ihn, den Sohn, nicht erst der Bitte der Sterbenden, seine Schwester, die seit ihrem fünften Lebensjahr an Kinderlähmung darniederlag, in sein Haus aufzunehmen. Er hätte Liane nie fremden Händen übergeben, hing er doch an dieser wesentlich jüngeren Schwester in einer seltsamen Mischung von Mitleid und Bewunderung. Vielleicht hoffte er auch, seine Frau würde, durch die ihr damit auf erlegten Verpflichtungen der gelähmten Schwägerin gegenüber, sich auf sich selbst besinnen und sich von ihren Süchten frei machen. Diese Annahme hatte sich allerdings als ein großer Irrtum herausgestellt. Nun, man war schließlich nicht auf sie angewiesen. Es gab genug Dienstboten im Haus. Für Ricarda aber war es die Wende geworden.

Ricarda betrat das Zimmer der Gelähmten und legte ihr ein Sträußchen Schneeglöckchen auf die Bettdecke.

„Oh – wie schön!“ Liane hob die Blumen wie eine kleine Kostbarkeit zu sich empor. „Die ersten Schneeglöckchen! Aber sie sind wohl nicht aus unserem Garten? Oder doch?“

„Nein, ich habe sie der Blumenfrau an der Ecke abgekauft. Sie saß ganz erfroren da und machte mit ihren eiskalten Händen nicht den Eindruck, als ob es bald Frühling werden wolle.“ Ricarda setzte sich an das Bett der Kranken. Liane betrachtete sie eine Weile schweigend. Sie sah, die Nichte war bedrückt.

„Du hast einen Kummer!“

Ricarda antwortete nicht gleich. Offenbar war sie mit ihren Gedanken nicht ganz zugegen. Schließlich sagte sie: „Wir haben Daniel an die Bahn gebracht – alle, die wir gestern Abend beisammen waren.“

„Du hast mir noch gar nichts von eurem Zusammensein erzählt. War es schön?“

„Ach ja.“ Zögernd kam die Antwort. „Weißt du, Liane, ich glaube sicher, dass sie erfasst haben, um was es geht. Und wenn ich mir vorstelle, dass jeder von ihnen bestrebt sein wird, an seinem Platz seinen Auftrag zu erfüllen, vor allem auch die drei Jungen als Soldaten, dann sollte ich mich von Herzen freuen.“

„Du solltest? Warum tust du es nicht?“

Ricardas Gesicht errötete. Aber war Liane nicht längst ihre Vertraute geworden? So fuhr sie fort: „Eigentlich müsste ich nun das Persönliche von dem anderen trennen können, und die Freude an der inneren Haltung meiner Freunde müsste vorherrschend sein. Ich war auch den ganzen Abend richtig froh, obgleich es Daniels und der anderen Abschiedsabend war. Aber dann –“

„Sprich ruhig weiter, Ricarda! Ich weiß, dass du ihn liebhast.“

„Er blieb noch zurück und wollte, dass ich ihm ein Versprechen gäbe. Im Grunde ist das völlig unnötig. Wir wissen doch, wie wir zueinander stehen. Ich sollte ihm mein Wort geben, dass ich auf ihn warte und dass ich einmal seine Frau werden wolle.“

Ricarda schien auf eine Stellungnahme Lianes zu warten. Als diese ausblieb, sprach sie weiter. „Ich konnte es nicht – irgendwie hatte ich Angst davor – oder ich wollte es nicht, bevor ich nicht noch einmal mit Vater gesprochen hatte. Auch meinte ich, Daniel sei freier und ungebundener, wenn ich ihn nicht verpflichte durch meine Zusage.“

„Und nun, Ricarda?“

„Ich glaube, dass ich es ganz verkehrt gemacht habe. Ich ließ ihn ohne die Kraft meiner Liebe, ohne meine klare Stellungnahme ziehen. Ich weiß, dass er sehr traurig abgereist ist. Mein Jawort wäre ihm Freude und Trost, vielleicht auch Ansporn gewesen.“

„Vielleicht hätte es ihm auch zur Bewahrung dienen können.“

„Bewahrung?“ Beinahe erschrocken blickte das Mädchen die Freundin an – das war Liane ihr längst geworden. „Du meinst doch nicht –“

„Ich meine gar nichts, Rica. Dass ich Daniel schätze, weißt du. Er ist ein Mensch mit viel Gemüt, und ich könnte mir denken, dass ihm das einmal sehr zugute kommt, wenn er Pfarrer sein wird. Und doch scheint er mir manchmal noch zu weich – oder vielleicht ist es besser, zu sagen: ein wenig ungeformt. Das aber kann sich geben; er ist ja noch jung.“

„Eben das habe ich mir auch gesagt. Sind wir nicht beide noch zu jung, um uns durch ein bindendes Wort zu verpflichten? Und jetzt im Krieg, dessen Ausgang niemand kennt!“

„Hast du ihm dies Wort in deinem Herzen nicht längst gegeben?“

Ricarda dachte einen Augenblick nach. „Doch, ich glaube schon! Aber du weißt doch, Liane, wie es bei meiner Konfirmation war. Ich wollte mich nicht einsegnen lassen, weil ich fürchtete, das Versprechen, das ich vor dem Altar geben sollte, nicht halten zu können.“

„Inzwischen hast du ja erkannt, dass du es aus dir selber nicht halten kannst, und dass du einen anderen dazu brauchst. Aber weil du diesen anderen kennengelernt hast und ihn liebst, drängt es dich, das gegebene Wort zu halten. – Doch ich weiß nicht, Ricarda, ob wir hier Zusammenhänge suchen dürfen. Andererseits ist es doch wohl so: wenn du dir über deine Liebe zu Daniel klar bist, dürfte das, wozu du dich in deinem Herzen bereits entschlossen hast, meines Erachtens auch ausgesprochen werden. Aber ich will dich in keiner Weise beeinflussen. Hier geht es wirklich um deine ganz persönliche Auffassung.“

„Ich hatte gehofft, du würdest mir raten, wie schon so oft.“

„Du hast meine Meinung gehört. Die Entscheidung musst du selbst treffen. Wenn du in dir selber unsicher bist, ist es gewiss besser, du wartest noch und lässt die Sache ausreifen.“

„Dass ich Daniel liebhabe, weiß ich gewiss, aber ich fürchte mich davor, einen Weg einzuschlagen, von dessen Richtigkeit ich noch nicht völlig überzeugt bin, selbst wenn mein Herz es noch so sehr wünscht, ihn zu gehen.“

Eine Weile war es wieder still zwischen den beiden. Liane hob die Schneeglöckchen Ricarda entgegen. „Bitte, stelle sie in eine Vase!“ Nachdem dies geschehen war, setzte Ricarda sich noch einmal. Sie wurde mit ihren Gedankengängen allein nicht fertig.

„Du weißt doch auch, dass Vater meine Verbindung mit Daniel gar nicht gern sieht.“

„Und deine Mutter?“

Ricarda hob in hilfloser Gebärde die Hände. Ihre Augen verdunkelten sich. Liane hatte an die große Not ihres jungen Lebens gerührt.

„Mutter? Sie hat noch nie im Ernst mit mir darüber gesprochen. Sie macht sich höchstens über Daniel und mich lustig und verletzt meine Gefühle dadurch.“

Ein liebevoller Blick der Kranken umfasste das junge Mädchen. Sie war lange genug im Hause des Bruders, um zu wissen, welche Not die Haltlosigkeit der süchtigen Frau in ihrer Familie aufgerissen hatte, und wie Vater und Tochter sich dauernd bemühten, die daraus entstehende Schande zu verheimlichen. Aber wahrscheinlich war schon viel mehr in die Öffentlichkeit gedrungen, als sie ahnten.

Ricarda hatte schon manchen Kummer an das Krankenbett Lianes getragen. Sie war nicht nur die Schwester des Vaters, sondern ersetzte ihr die Mutter, war ihr Schwester und Freundin zugleich. So sprach Ricarda sich auch jetzt die Last von ihrem Herzen.

„Kannst du es verstehen, Liane, wenn ich dir sage, dass auch der Gedanke an meine Mutter mich zögern ließ, Daniel schon jetzt ein verpflichtendes Wort zu geben? Ich glaube zwar, dass er etwas ahnt von dem, was an Tragik in Mutters Leben ist – er war ja oft genug in unserem Hause, um sich selbst ein Bild machen zu können, wenn er das Schreckliche auch nicht in seinem ganzen Ausmaß erlebte. Nie aber hat er mit mir darüber gesprochen. Oft war ich versucht, mich ihm anzuvertrauen. Aber wie könnte ich aburteilend über Mama sprechen? Früher wäre es mir vielleicht eher möglich gewesen – aber nachdem …“

„Sprich nur weiter, Ricarda.“

„… nachdem ich die inneren Zusammenhänge mit deinen Augen zu sehen gelernt habe –“

„Ich würde lieber sagen: Nachdem mir Gott in den Weg getreten ist.“

„Das ist ein großes Wort, Liane.“

„Und doch ist es so. Du darfst das ganz kindlich glauben.“

„Jedenfalls sehe ich jetzt vieles mit anderen Augen. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, Mutter zu verurteilen. Als ich jünger war, habe ich mich manches Mal innerlich gegen sie aufgelehnt. Oft haben bittere Gefühle ihr gegenüber mich beherrscht. Aber nun weiß ich, dass es falsch war. So vermochte ich auch Daniel gegenüber darüber zu schweigen – wenigstens jetzt noch. Einmal muss er es ja wissen, wenn unsere Wege zusammenführen sollten. Aber du verstehst doch sicher, dass ich mir Gedanken darüber mache, was etwa Daniels Eltern, besonders seine Mutter, die wohl als fromm, aber ebenso als engherzig bekannt ist, sagen würden, wenn ihr Sohn eine Schwiegermutter bekommt, die manchmal betrunken ist.“

Ricarda hatte sich erhoben und war ans Fenster getreten. „Es ist schrecklich, Liane, und viel schlimmer, als ein Mensch ahnt.“

Bekümmert blickte die Gelähmte zu ihr herüber. „Ich verstehe dich, Rica, und kann dir nur den Rat geben: Lass dich von Gott leiten! Du hast Recht, es geht hier in der Tat nicht nur um die Liebe zwischen zwei Menschen. Ich glaube fest daran, dass Gott dir deinen Weg zeigen wird.“

„Du sagst, dass Gott mir meinen Weg zeigen wird; warum sagst du nicht, dass du fest daran glaubst, dass er Daniel und mich zusammenführen wird?“

„Weil ich in meinem eigenen Leben zu oft erfahren habe, dass seine Gedanken nicht unsere Gedanken sind.“

Ricarda hatte eine Weile schweigend am Fenster gestanden. Jetzt wandte sie sich um. „Es fängt wieder an zu schneien, Liane. Die Schneeglöckchen trügen. Es ist noch längst nicht Frühling.“

„Aber er kommt, Rica, ganz sicher, er kommt!“

Mit sechzehn Jahren war Ricarda aus der Schule gekommen. Sie hätte zu gerne studiert, jedoch hielt ihr Vater dies für unnötig.

„Wozu? Du wirst einmal unserem Hause vorstehen müssen. Du weißt, mit Mama ist je länger desto weniger zu rechnen. So musst du die Fabrik weiterführen. Wenn du ein Junge wärest, ginge es dir leichter von der Hand. Aber ich hoffe, dass du einen Mann nehmen wirst, der kaufmännische Kenntnisse besitzt und geschäftstüchtig ist. Du wirst wohl verstehen, dass es mir nicht einerlei ist, was aus dem Werk geschieht, das ich mit dem Einsatz meiner Kraft und Zeit aufgebaut habe.“ Der Vater hielt inne.

„Du antwortest nicht? Aber weder dein Schweigen noch dein Seufzen werden es dir ersparen, diesen Weg einzuschlagen. Hier kann ich nicht nachgeben!“

Schon damals war Ricarda mit Daniel befreundet gewesen. Sie wohnten ja beinahe Haus an Haus und hatten schon als kleine Kinder miteinander im Sandkasten gespielt. Zusammen waren sie in die Schule gegangen und am gleichen Tag konfirmiert worden.

„Was willst du einmal werden?“ hatte Ricarda Daniel gefragt, als die Berufswahl noch in weiter Feme lag.

Er hatte sich nicht lange besinnen müssen. „Ich werde Pfarrer.“

„Warum?“

„Na, weil mein Vater einer ist. Außerdem will es meine Mutter. Ich bin der Älteste, und schon bei meinem Urgroßvater, ebenso bei meinem Großvater, war es so, dass die ältesten Söhne Theologie studiert haben. Meine Mutter ist doch auch eine Pfarrerstochter. Aber sie war die einzige Tochter. Wäre sie ein Junge gewesen, wäre sie bestimmt auch Pfarrer geworden. Ihre drei Brüder sind im ersten Weltkrieg gefallen. Aber sie hat ja einen Pfarrer geheiratet. Und nun bin ich an der Reihe.“

„An der Reihe?“ hatte die damals Zwölfjährige gefragt.

„Nun ja, ich habe es dir doch eben erklärt.“

Zum Glück war die Zeit gekommen – allerdings war es noch gar nicht sehr lange her –, dass Daniel erkannt hatte, wie wenig es damit getan war, „an der Reihe zu sein“.

Ricarda hatte den Anstoß dazu gegeben, nachdem zuvor bei ihr selbst ein Neues geworden war. Wie war es gekommen? Je länger desto mehr hatte sich über das Mädchen eine Wolke der Schwermut gelegt. Die Schule hatte sie verlassen müssen, obgleich sie gern und gut lernte. Was ihr der Vater zubilligte, war der Besuch der Handelsschule. Aber Maschinenschreiben, Stenographieren und Buchführung, das alles schien ihr kein Lebensinhalt. Für den Haushalt waren Dienstboten da. Der Vater verbrachte den größten Teil des Tages im Büro oder auf Geschäftsreisen; und die Mutter hatte weder Geduld noch Interesse daran, sich mit den hirnverrückten Ideen ihrer Tochter zu befassen. Von wem Ricarda diese unmögliche Art nur hatte? Außerdem brachte Frau Dörrbaum jedes Jahr viele Wochen in Bädern und Kurorten zu. War sie zu Hause, so bestand ihre Liebhaberei darin, die Geschäfte in der Stadt zu besuchen und mit ihren Bekannten in den Cafés zu sitzen. Mit Achselzucken beantwortete sie Fragen nach dem Ergehen ihrer Tochter.

„Das Mädchen ist völlig artfremd. Ich weiß nichts mit ihr und sie nichts mit mir anzufangen.“

Dass Ricarda viel entbehrte und darunter litt, kam ihr nicht in den Sinn. Vielleicht wollte sie es auch nicht wissen. Früher hatte sie die Stimme ihres mahnenden Gewissens damit zum Schweigen zu bringen versucht, dass sie dem Kind oft recht unnötige und törichte Geschenke mitbrachte. Aber nun war Ricarda ja erwachsen. Nach ihrer Meinung wurde sie immer langweiliger und verschrobener.

Als Liane ins Haus kam, war Ricarda eben siebzehn Jahre alt geworden. Mit Schrecken nahm die Gelähmte wahr, wie freudlos das Dasein der Nichte verlief und dass das junge Mädchen immer schweigsamer wurde. Auch Richard Dörrbaum war nicht blind gegenüber dem Zustand seiner Tochter. Er klagte seine Beobachtungen Liane.

„Das Mädchen bringt mich zur Verzweiflung. Was ich ihr auch schenke, ob es ein kostbarer Schmuck oder eine Theaterkarte ist oder ob ich ihr die Erlaubnis zu einer Ferienreise oder zu sonst einem Vergnügen gebe – mehr wie ein klägliches ,Danke‘ kommt nicht über ihre Lippen. Nie habe ich den Eindruck, dass sie sich über etwas wirklich freut. Der einzige, der dann und wann noch ein spärliches Lächeln auf ihr Gesicht zaubern kann, ist der Pfarrerssohn von nebenan, und das gerade ist mir nicht recht. Ich wünsche nicht, dass aus dieser Kinderfreundschaft eine Jugendliebe und noch mehr wird.“

„Du wünschst es nicht?“ hatte Liane gefragt und des Bruders Blick ausgehalten. „Glaubst du, dass wir so viel Macht über einen anderen Menschen besitzen, selbst wenn er das eigene Kind ist?“

„Ich habe meine bestimmten Pläne mit Ricarda.“

„Bist du sicher, dass es die richtigen und dass sie für die Art und für das Leben deiner Tochter gut sind?“

„Unter allen Umständen für die Fabrik.“

„O Richard – ist das alles?“

Er hatte mit der Hand abgewinkt. „Deine religiösen Ansichten in Ehren, Liane – ich verstehe, dass du sie brauchst, du lebst abseits vom wirklichen Dasein. Du musst bei allem, was ich für dich zu tun versuche“ – er sagte es nicht ohne Selbstbewusstsein – „auf vieles verzichten. Aber ich bitte dich, lass Ricarda damit ungeschoren. Sie neigt ohnehin schon viel zu sehr zu einer Art Pessimismus. Ich bin froh, dass ich die Konfirmation hinter uns gebracht habe. Jetzt ist es mir gar nicht wichtig, dass sie fromm ist und noch mehr zum Kopfhänger wird. Wenn ich sie nur bewegen könnte, mehr an festlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Ich habe ihr ein teures Ballkleid gekauft – aber seitdem ich sie in die Gesellschaft einführte, hat sie es nicht mehr getragen.

„Versuche nicht, sie zu zwingen, Richard. Mir aber musst du gestatten, deiner Tochter weiterzugeben, was mir das kostbarste geworden ist und was mir hilft, mit dem Leid meines Lebens fertig zu werden. Ich bin überzeugt, dass hier die einzige Möglichkeit ist, dass Rica aus ihrer Neigung zur Schwermut herausfindet.“

Ein dringender Telefonanruf hatte das Gespräch beendet.

Nicht lange danach saß Ricarda mit Liane im Garten. Herr Dörrbaum hatte für seine gelähmte Schwester einen besonderen Fahrstuhl konstruieren lassen, mit dem sie bei gutem Wetter ins Freie geschoben werden konnte. Liane machte das junge Mädchen auf die sie umgebende Schönheit aufmerksam.

„Sieh nur, Rica, wie die Rosen blühen! Ihr habt einen tüchtigen Gärtner, der alles in mustergültiger Ordnung hält.“ Als aus dem Mund der Nichte kein Echo kam, fragte Liane: „Freust du dich nicht auch daran?“

„Ach ja –“, gab sie zur Antwort, „aber es ist alles so sinnlos.“

„Sinnlos, Ricarda? Kein Leben ist sinnlos. Auch das deine hat eine Aufgabe. Du bist unglücklich, dass du nicht studieren darfst, du findest keinen Inhalt in deinen Tagen, die Arbeit wird ja von euren Angestellten geleistet, und die Tätigkeit im Büro deines Vaters befriedigt dich nicht. An den Vergnügungen, bei denen er dich zu sehen wünscht, hast du keine Freude. Ich verstehe, dass dir dies alles Inhalts- und nutzlos vorkommt. Aber hast du Gott schon einmal nach dem Sinn deines Lebens gefragt?“

„Gott gefragt? Ach, Liane, wenn er wirklich existiert, dann kümmert er sich bestimmt nicht um ein junges Mädchen, das hinter den Mauern der Fabrik seines Vaters zugrunde geht.“

„Es scheint mir, dass diese Vorstellung dir in deiner augenblicklichen Verfassung zusagt.“

„Es ist mir alles gleichgültig, Liane.“

„Aber du bist Gott nicht gleichgültig. Er ist Wirklichkeit, und er hat Interesse an dir. Er hat dich in dieses Leben gerufen.“

„Gott?“ Ungläubig wiederholte es das Mädchen.

„Ja, ohne seinen Willen kommt kein Menschenkind auf die Welt.“

„Frauen wie meine Mutter sollten keine Kinder haben!“ Nicht ohne Bitterkeit sagte es Ricarda.

Liane ging nicht darauf ein. „Gott hat dich lieb, Ricarda, und er hat einen Lebensauftrag für dich. Beginne einmal danach zu fragen und zu forschen. Es ist notwendig, dass du ihn erkennst. Dann wird dein Leben ausgefüllt sein.“

„Aber wie soll ich ihn erkennen? – Schau, Liane, das hat mich ja schon bei meiner Konfirmation umgetrieben. Ich konnte das alles nicht verstehen und wollte unter keinen Umständen zur Heuchlerin werden. Es wäre schön, wenn Gott sich um mich kümmern würde – anders als meine Eltern es tun.“

„Er will es, Ricarda, aber du musst nach ihm fragen.“

„Wie soll ich das tun? – Als ich damals unserem Pfarrer sagte, ich könne das alles nicht begreifen, da versuchte er mich zu beruhigen und meinte, ich solle nur mit mir selbst Geduld haben. Aber ich glaube, es war ihm vor allem darum zu tun, dass er mich nicht als Konfirmandin verlöre. Ich habe mich dann auch von ihm überreden lassen. Aber ehrlich war es nicht von mir. Und seitdem ist nichts, aber auch gar nichts von selbst gekommen.“

„Es kommt auch nicht von selbst. Du musst dich auf den Weg zu Gott machen und ihn suchen. Kannst du dir vorstellen, dass du einen Brief von einem lieben Menschen ungelesen liegenlässt oder ihn gar ungeöffnet zurücksendest, seine Annahme also verweigerst?“

„Wenn er von einem Menschen käme, von dessen gutem Willen ich überzeugt bin, von einem Menschen, der mich ehrlich liebt – weißt du, nicht nur vorgibt, mich zu lieben –, dann würde ich den Brief nicht ungeöffnet lassen, sondern ich würde ihn immer wieder aufs Neue lesen.“

„Siehst du. Solch ein Brief Gottes an uns ist die Bibel. Bisher ist sie dir vielleicht verschlossen gewesen. Das, was du im Unterricht und vor der Konfirmation daraus gehört hast, reicht nicht aus. Nun musst du selber darangehen, diesen Brief, der an dich persönlich gerichtet ist, zu lesen, darin zu forschen. Und, Rica, ein solcher Brief muss beantwortet werden.“

Groß waren die Augen des jungen Mädchens auf die Gelähmte gerichtet gewesen. Eine stumme Sehnsucht sprach aus ihnen.

„Woher weißt du das alles, Liane?“

Diese besann sich einen Augenblick. Es war nicht ganz leicht, diesem Kind – als solches kam ihr Rica trotz ihrer siebzehn Jahre noch oft vor – Einblick in ihr eigenes Leben zu geben. Bisher hatte sie es wie eine Kostbarkeit vor anderen verborgen, es gehütet als ihr persönliches Eigentum. Aber die Schwermut, die über Ricarda lag und sie bei aller Kindlichkeit oft älter erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war, legte eine Verpflichtung auf sie. War sie wohl des- wegen in das Haus ihres Bruders gekommen? öffnete sich ihr vielleicht hier ein Aufgabengebiet, nach dem sie sich oft gesehnt hatte?

Und nun sprach die Kranke zu der jungen Freundin von der Zeit, in der auch sie sich innerlich aufgelehnt hatte gegen das ihr auf erlegte Joch, wo das „Warum“ in ihr nicht zum Schweigen kam und sie meinte, die Fesseln ihrer Gefangenschaft abstreifen zu müssen; wie sie durch einen Leidensgenossen, den sie auf eigenartige Weise, und zwar durch den „Bund der unheilbar Kranken“, kennengelernt hatte, zur Erkenntnis geführt worden war, dass auch ihr Dasein Sinn und Aufgabe habe; wie ihr Gott zur Wirklichkeit geworden sei und sie im Wissen um das Erlösungswerk Jesu Christi seine Führung verstehen und bejahen gelernt habe.

Schweigend hatte Ricarda zugehört. Aber in ihrer Seele war eine große Sehnsucht aufgebrochen, all dies ebenfalls zu erleben. Ricarda spürte deutlich: hier war Kraft, Freude, Licht, stärker als die Krankheit und das Verzichtenmüssen. Es ging um ein Geheimnis, das merkte sie deutlich. Ob auch sie ihm wohl auf die Spur kommen würde?

Das war der Anfang gewesen. Aus ihm war nach und nach ein persönliches Erlebnis geworden. Und Ricarda hatte es weitergeben können in schlichter, kindlicher Weise. Und nun waren es schon einige ihres Freundeskreises, die von diesem Geheimnis und seiner Kraft wussten. Das Leben hatte einen Sinn bekommen.

Die Mahlzeit war beendet. An dem runden Tisch im Esszimmer des Pfarrhauses war bis auf den ältesten Sohn die ganze Familie versammelt. Die Tür zur Terrasse stand weit offen. Aus der Jasminlaube strömte süßer Duft ins Haus.

„Wir gehen heute Nachmittag ins Schwimmbad“, kündeten David und Jonathan, die neunzehnjährigen Zwillinge an.

„Heute am Sonntag?“ Frau Zierkorn schüttelte missbilligend den Kopf. „Dazu habt ihr doch während der Woche Zeit.“

„Eben nicht, liebe Mutter! Wenn du uns auch nur eine halbe Stunde untätig siehst, erinnerst du uns an unsere Pflichten.“ Jonathan hob den Zeigefinger und ahmte die Stimme der Mutter nach: „Vergesst nicht, dass ihr vor dem Abitur steht!“

David, in den gleichen Ton verfallend, mahnte: „Nutzt eure Zeit! Nehmt es nicht zu leicht! Es wird heute viel verlangt!“

Nun sah die Mutter direkt bekümmert aus. „Wie respektlos ihr doch seid!“

„Sie meinen es nicht so“, lenkte der Pfarrer ein.

„Aber was werden die Leute sagen, wenn ausgerechnet ihr Pfarrerskinder heute am Sonntag im Schwimmbad seid?“

David erhob sich ärgerlich. „Du weißt, Mutter, wie ich solche Argumente liebe!“

Jonathan unterstützte ihn. „Wir schwitzen doch genauso wie die anderen.“

Die Mutter gab nicht nach. „Aber auf euch achtet man mehr als auf die anderen.“

Auch Jonathan war aufgestanden. „Die Zeiten sind vorbei, wo man sich einreden ließ, dass es zum Christsein gehöre, den Sonntagnachmittag mit einem Erbauungsbuch, von dessen Inhalt man nicht viel verstand oder im Grunde kaum Notiz nahm, zu verbringen. Jedenfalls gehen wir jetzt.“

„Ihr habt keine Ehrfurcht und seid pietätlos! Das ist der Einfluss des Dritten Reiches.“ Die Pfarrfrau war jetzt sichtlich empört und warf ihrem Mann einen hilfeheischenden Blick zu.

„Lass sie gehen, Mutter!“ erwiderte dieser gelassen.

„Magda, kommst du mit?“ Die Brüder wandten sich an ihre Schwester.

Die Siebzehnjährige schüttelte den Kopf.

„Es ist mir recht, wenn ich die Eltern heute ein bisschen für mich allein habe. Ich möchte etwas mit ihnen besprechen.“

„Oh! – Herzensgeheimnisse?“

„Vielleicht!“ gab das junge Mädchen lachend zur Antwort.

„Die Neugierde zerreißt mich! Wenn ich nicht einen so unwiderstehlichen Drang hätte, mich ins Wasser zu stürzen, würde ich mich tatsächlich zu euch setzen“, heuchelte Jonathan.

David wurde ungeduldig. „Kommst du jetzt, oder soll ich allein gehen?“

„Ich komme!“ Mit einem Satz war Jonathan die vier Stufen, die zur Terrasse führten, hinab in den Garten gesprungen. Er bückte sich, um eine Rose zu pflücken.

„Halt!“ wehrte die Mutter. „Du siehst doch, dass sich erst ein paar Knospen geöffnet haben. Für wen willst du sie pflücken?“

„Für meine Herzallerliebste!“ Übermütig warf Jonathan der Mutter einen Handkuss zu. Dann verließen die beiden den Garten, der wohlgepflegt das Pfarrhaus umgab.

Besorgt blickte die Mutter ihnen nach.

„Hat er wirklich – eine – eine –?“ Nein, sie brachte es nicht fertig, das Wort ihres Sohnes zu wiederholen.

„Eine Freundin meinst du, Mutter? Ich glaube nicht, dass es etwas Ernstes ist. Du weißt ja, Jonathan hat immer mal wieder eine kleine Freundschaft. Aber es ist bis jetzt ganz harmlos.“

„Das will ich hoffen! So unreif, wie er noch ist!“

„Er ist nicht zu unreif, um bald mit seiner Einberufung in den Kriegsdienst rechnen zu müssen.“ Pfarrer Zierkorn erhob sich nach diesen Worten. „Ich lege mich im Liegestuhl in den Schatten. Wir können heute den Kaffee in der Laube trinken.“

Seine Frau wehrte aufs Neue. „Dort sehen uns alle Leute, die hier am Haus Vorbeigehen. Es ist nicht nötig, dass sie meinen, wir hätten nichts anderes zu tun, als uns im Liegestuhl zu räkeln und den Sonntagnachmittag mit Kaffeetrinken zu verbringen.“

„Na hör mal, Maria, jeder wird doch begreifen, dass der Pfarrer sich auch einmal ausruhen muss.“

„Du weißt, wie die Leute sind und was sie gleich sagen.“

„Wir müssen uns davon frei machen, abhängig von ihrem Gerede zu sein.“

Frau Zierkorn erhob sich seufzend und griff nach den Schüsseln. „Du hast gut reden. Es ist doch nun einmal so, dass wir Pfarrersleute auf dem Präsentierteller sitzen.“

Magdalene war in der Küche gewesen und brachte das Tablett. „Mutter, leg dich auch in den Garten. Ich wasche unterdessen das Mittagsgeschirr ab. Nachher trinken wir Kaffee in der Laube, und dann wäre es mir recht, wenn ihr ein wenig Zeit für mich hättet.“

„Ich hoffe nicht, dass es – wie sagte David? – in Wirklichkeit um Herzensgeheimnisse geht.“ Lachend blickte der Pfarrer seine Tochter an. Er war ihr in besonderer Weise zugetan.

„Unsinn!“ Missbilligend schüttelte seine Frau den Kopf. „Was redest du da! Wo sie doch noch ein richtiges Kind ist! – Ich lege mich jetzt im Wohnzimmer aufs Sofa. Wenn du den Kaffee fertig hast, Magdalene, kannst du mich wecken.“

Als sie später miteinander in der Laube saßen, begann das junge Mädchen da, wo die Mutter vorhin aufgehört hatte. „Ich bin kein Kind mehr, wie ihr vielleicht meint. Mit siebzehn Jahren muss man sich schließlich schon Gedanken über seine Zukunft machen.“

„Darüber sind wir uns ja wohl einig“, unterbrach die Pfarrfrau die Tochter. „Wenn du jetzt dein Jahr in der Haushaltungsschule beendet hast, wirst du Säuglingspflege lernen. Nach dem Examen kannst du meinetwegen eine Zeitlang in deinem Beruf arbeiten, aber dann kommst du nach Hause, damit wir auch noch ein wenig von unserer einzigen Tochter haben. Und dann wird sich bestimmt jemand gefunden haben, den du heiratest.“

Missbilligend schüttelte ihr Mann den Kopf. „Wollen wir nicht einmal auch Magdas Ansicht hören?“ Ermunternd blickte er die Tochter an.

„Ich habe mich entschlossen, Diakonisse zu werden, und möchte später, wenn es geht und wenn der Krieg zu Ende ist, in den Missionsdienst.“

„Wa – was?“ Frau Zierkorn vergaß den Mund zu schließen. „Seit wann hast du denn solche Ideen? Das kommt gar nicht in Frage. – Wie kommst du mir vor, Magdalene? Nichts gegen die Diakonissen, die müssen sein, wir brauchen sie sogar nötig – aber du? Erstens bist du körperlich viel zu zart, zweitens bist du unsere einzige Tochter, drittens müsstest du dann auf die Ehe verzichten, viertens möchte ich wissen, wer sich unserer annehmen und uns pflegen soll, wenn dein Vater und ich einmal krank und hilfsbedürftig sind. Was nützt es uns dann, eine Tochter in der Mission zu haben? Jetzt während des Krieges dulde ich es schon gar nicht!“

„Fünftens möchte ich jetzt auch einmal etwas sagen!“ Pfarrer Zierkorn war erregt aufgesprungen. Er stand nun in seiner ganzen Größe vor seiner Frau und hieß sie allein durch den Ausdruck seiner Augen schweigen. Oh, sie kannte diesen Blick nur zu gut. Ihr Mann war ja von einer bewundernswürdigen Ruhe und Geduld, aber hin und wieder brach etwas aus ihm hervor, dass sie ihn beinahe fürchtete.

„Ich möchte mich jetzt noch nicht zu dem Vorhaben Magdas äußern. Ich nehme an, dass man von einem feststehenden Entschluss noch nicht reden kann, aber sie hat Anspruch darauf, dass wir sie anhören, ihre Meinung ernst nehmen und – ich denke, wir sollten uns darüber freuen, wenn unsere Tochter den Wunsch hat, in den Dienst Gottes zu treten.“

„Sie ist noch viel zu jung, um sich über die Tragweite eines solchen Entschlusses klar zu sein.“

„Maria! – Bitte, lass jetzt Magdalene sprechen!“ Pfarrer Zierkorn setzte sich wieder. Er war sichtlich bemüht, Ruhe zu bewahren. Dennoch entging es seiner Frau nicht, wie erregt er war.

Er wandte sich an seine Tochter. „Willst du uns nicht erzählen, wie du zu diesem Entschluss gekommen bist?“

„Ja, Vater. Du weißt, dass ich schon mehr als ein Jahr zu dem Kreis gehöre, der sich alle vierzehn Tage bei Ricarda Dörrbaum trifft.“

Frau Zierkorn wollte die Tochter unterbrechen, aber ihr Mann gab ihr ein unzweideutiges Zeichen, zu schweigen.

Magdalene fuhr fort: „Eigentlich ist Daniel die Ursache, dass ich diesen Kreis aufsuchte. Er hatte mir immer begeistert davon erzählt. Ich weiß, Mutti, was du jetzt sagen willst – es mag sein, ja, ich glaube sogar, dass er ernste Absichten gegenüber Ricarda hat und hofft, dass sie einmal seine Frau wird.“

„Das ist ja allerhand“, fuhr Frau Zierkorn auf, „ich –“

„Bitte, Maria, lass Magdalene weitersprechen.“

„Ihr wisst ja, dass Daniel eines Tages nach Hause kam und sagte, es sei ihm klargeworden, dass es nicht ausreiche, nur aus Tradition Pfarrer zu werden, eben weil es in Muttis Familie Sitte ist, dass immer der älteste Sohn diesen Beruf ergreife. Er hätte aber erkannt, dass er eine Verpflichtung Gott gegenüber habe, und aus dieser neuen Erkenntnis heraus wolle er nicht nur Pfarrer, sondern ein guter Pfarrer, ein rechter Seelsorger werden.“

Magdalene machte eine kleine Pause. Die Mutter hätte auch jetzt am liebsten sofort zu dem Gesagten Stellung genommen, aber nach einem Blick in das Gesicht ihres Mannes schien es ihr geraten, zu schweigen.

Die Tochter fuhr fort: „Du meintest damals, Vater, Daniel solle achtgeben, dass er nicht in Schwärmerei hineingerate. Als Pfarrer müsse er bei aller Glaubensfreudigkeit nüchtern bleiben und einen klaren Kopf behalten.