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»Ein guter Reiter hört, wie sein Pferd zu ihm spricht. Ein großartiger Reiter hört, wie sein Pferd zu ihm flüstert.« Wie kannst du je wieder einem Menschen vertrauen? Diese Frage stellte ich mir – bis zu dem Ausritt, bei dem Duke einem wildfremden jungen Mädchen zur Hilfe eilte. Jeder, der sieht, wie er über die Hindernisse fliegt, sagt mir, es sei falsch, ihn als Freizeitpferd auf dem Hof zu verstecken. Aber kann ich mir sicher sein, dass ich dem Erfolg widerstehe und Dukes Wohlbefinden für mich an erster Stelle steht, wenn es darauf ankommt? Wie geht es weiter mit mir und Henning? Wohin immer ich ihn begleite, bin ich eine Außenseiterin in einer mir fremden Welt, die mir nichts bedeutet. Wie kann ich von ihm verlangen, dass er ein Teil meines Lebens wird, wenn ich nicht bereit bin, ein Teil von seinem zu werden? Liebe bedeutet, zu vertrauen. Bin ich so mutig wie Duke?
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Copyright © 2011 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Dritte Auflage März 2013
Lektorat, Korrektorat: Sarina Stützer, www.lektorat.nrw
Umschlaggestaltung: Paulina Ochnio
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
Email: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Liebe Jeanette dieses Buch widme ich dir. Danke für deine Freundschaft und das du immer für uns und unsere Pferde da bist.
Unser Appaloosa Comanche Billy Star
Danke für all die wunderschönen Augenblicke, das Einssein und das In-der-Erde-Verwurzeltsein, das du in unser Leben gebracht hast.
Gedicht
Vorwort
1. Abendessen
2. Obsession
3. Duke
4. Ausritt
5. Streit
6. Loreen
7. Pferde
8. Erkenntnisse
9. Einladung
10. Blue Boy
11. Vorbereitung
12. Geburtstag
13. Gespräche
14. Fehleinschätzung
15. Beichte
16. Reitstunde
17. Teamarbeit
18. Essen
19. Turnier
20. Sieg
21. Einladung
22. Diana
23. Abflug
24. Fanny
25. Morgen
26. Überraschung
27. Mannschaft
28. Workshop
29. Websters
30. Cassini Boy
31. Trekking
32. Ehrlich
33. Geständnis
34. Hof
Epilog
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Es ist Unsinn,
Sagt die Vernunft.
Es ist, was es ist,
sagt die Liebe.
Es ist Unglück,
sagt die Berechnung.
Es ist nichts als Schmerz,
sagt die Angst.
Es ist aussichtslos,
sagt die Einsicht.
Es ist, was es ist,
sagt die Liebe.
Es ist lächerlich,
sagt der Stolz.
Es ist leichtsinnig,
sagt die Vorsicht.
Es ist unmöglich,
sagt die Erfahrung.
Es ist, was es ist,
sagt die Liebe.
Erich Fried (1921–1988),
deutscher Schriftsteller
1996 kauften wir unsere Appaloosa Stute Silver Star. Ein Jahr später kauften wir ihr letztes Fohlen Commanche Billy Star. Beide Pferde haben viele Impulse in unserem Leben gesetzt und uns schöne Momente des Einsseins und des In-der-Erde-Verwurzeltsein beschert. Jeden Tag gehe ich zu unseren Pferden, füttere sie und miste. Jeden Tag genieße ich den Sonnenaufgaben mit ihnen oder die frühen Morgenstunden, manchmal lasse ich auch noch den Abend bei ihnen ausklingen. Nicht immer, aber oft komme ich bei ihnen zur Ruhe, lasse den Alltag hinter mir, bin ganz in mir und bei ihnen.
Pferde sind eine echte Aufgabe. Sie kosten Geld und viel Zeit. Neben Misten und Füttern müssen Zäune gemacht werden, Wiesen gemäht, Zaumzeug gepflegt, Hufe bearbeitet, Zähne geraspelt und Wurmkuren eingegeben werden. Das alles gehört zu dem Alltag eines Pferdemenschen. Wir halten unsere Pferde seit langer Zeit in einem Offenstall und sie haben eine große Weidefläche, auf der sie sich frei bewegen können. Pferde brauchen ständige Bewegung und damit ist nicht das Reiten gemeint.
Ich bin Freizeitreiterin und habe nicht den blassesten eines Schimmers, wie es ist in einem Turnier zu starten. Bei den Szenen in diesem Buch greife ich zurück auf die wenigen Erfahrungen, die ich durch Besuche auf solchen Veranstaltungen sammeln durfte sowie jede Menge Recherchearbeit. Ich bin absoluter Laie, was Pferde angeht. Die Pferde in diesem Buch reagieren viel schneller und leichter als in der Realität. Das manches funktioniert, weiß ich aus eigener Erfahrung, doch ob das auf andere Situation und Pferde übertragbar ist, weiß ich nicht. Mir ist wichtig, dass ihr daran denkt, wenn ihr das Buch lest, dass es eine fiktive Geschichte ist, verwoben mit meinen Erkenntnissen, die ich in den Jahren als Pferdebesitzerin sammeln durfte. Am meisten beigebracht hat mir meine Silver und mein Billy. Wenn ihr den Part mit Ranisa lest, dann sind das meine Erlebnisse mit Silver. Sie wird für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Sie hat mir mehr über das Leben beigebracht, als jeder Mensch.
In meinen Ohren klang es wie ein Stöhnen. Unwillkürlich spannte ich jeden Muskel in meinem Körper an. Ich spürte, wie mir der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinab rann. Die nächste Kontraktion kam. Ich hielt die Luft an.
»Verflucht, Vera, so bist du mir überhaupt keine Hilfe. Im Gegenteil. Willst du, dass sie mir den Arm bricht?«, schimpfte Dr. Brenner. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot und auch ihm perlte der Schweiß von der Stirn. Sein einer Arm steckte bis zur Schulter in der Stute. Tamira fohlte zum ersten Mal, und ausgerechnet bei ihr hatte das Fohlen nicht die normale Geburtsposition eingenommen. Statt mit den Vorderbeinen zuerst durch den Geburtskanal zu kommen, kam es mit der Hinterhand voran. Ich sah, dass die Stute am Ende ihrer Kräfte war. Ihr Kopf lag in meinem Schoß, Schweißperlen tropften auf meine Hand. Die Nüstern waren zusammengezogen. Die Bilder aus der Vergangenheit krochen in meine Gedanken. Die Erinnerung raubte mir die so dringend notwendige Ruhe, die die Stute brauchte, um die Geburt heil durchzustehen, und die Dr. Brenner von mir erwartete, damit er seinen Job machen konnte, ohne dass ihm die Kontraktionen durch die Wehen den Arm brachen. Ich wusste, welche Kräfte durch die Muskulatur im Geburtskanal einer Stute auf einen einwirken konnten. Tief durchatmend verscheuchte ich meine Erinnerungen, konzentrierte mich ganz auf das Hier und Jetzt. Leise begann ich, ein Lied zu summen. Nicht für das Pferd. Pferde kommunizieren als Fluchttiere über den Körper, statt durch Laute. Für mich tat ich es, weil das Lied mich entspannte und beruhigte. Ich massierte sanft den Mähnenkamm von Tamira, kraulte sie hinter den Ohren. Ihre aufgeblähten Nüstern, ihre Augen, die sie immer wieder voller Panik verdrehte, sodass das Weiß darin sichtbar wurde, riefen die Ängste aus der Vergangenheit wach. Ich wollte kein weiteres Pferd verlieren, nicht eines, das gerade mal acht Jahre alt war.
Papa hockte neben Dr. Brenner und assistierte ihm. Er hatte schon viele Fohlen auf die Welt kommen sehen, und auch bei mir waren es in den Jahren, in denen ich auf dem Hof aufgewachsen war, unzählige gewesen. Nur zehn Fohlen hatten wir in all der Zeit verloren und drei Stuten. Jeder einzelne Tod hatte seine Spuren hinterlassen. Die Natur forderte ihren Preis, trotz all der tierärztlichen Möglichkeiten, die die heutige Zeit bot. Papas Blick war konzentriert. Von uns allen war er der Gelassenste, worüber ich froh war. Mit seinem Herzinfarkt vor knapp einem Jahr hatte er mir einen Mordsschreck eingejagt, und gleichzeitig hatte dies den Beginn eines neuen Lebensabschnitts für mich bedeutet.
Nach dem tödlichen Unfall von Flying High auf dem CHIO in Aachen, bei dem auch ich schwere Verletzungen davongetragen hatte, war ich von zu Hause geflüchtet. Papas Gesundheitszustand hatte mich zurückgebracht. Nach und nach war mir bewusst geworden, wie unglücklich ich ohne Pferde in meinem Leben war, doch Henning, der mich bis zum Limit pushte, verdanke ich es, dass ich den Weg zurück in mein altes Leben fand. Er machte mir klar, dass Pferde ein Teil meines Lebens sind und dass ich, wenn ich versuchte, sie auszuschließen, mich selbst ausschloss.
»Es kommt«, flüsterte Papa.
Tamiras Kopf kam hoch, als eine neue Kontraktion ihren Leib erfasste, und dann rutschte das Fohlen heraus, eingehüllt in die Eihaut, die sofort aufplatzte. Daraus kam ein feuchtes Fellknäuel mit vier unglaublich langen, staksigen Beinen zum Vorschein, fuchsfarben wie seine Mutter und sein Vater. Das erste Fohlen von Duke hatte das Licht der Welt erblickt.
Ich wischte mir die Tränen von der Wange. Am liebsten hätte ich vor Freude aufgeschrien, doch ich wollte Tamira nicht erschrecken.
Die Stute schwang sich auf, schob die Vorderbeine nach vorn. Ich sprang zur Seite, und auch Dr. Brenner und Papa gaben ihr Raum. Sie brauchte einen Moment, dann stand sie, Schaum vor der Brust und ihr Gesicht genauso schweißgebadet wie unsere Gesichter. Sie schüttelte sich einmal, dann wandte sie sich ihrem Fohlen zu, schnupperte, prustete und stupste es an. Im Gegensatz zu seiner Mutter schob das Fohlen erst sein Hinterteil in die Höhe. Es wankte, fiel hin, versuchte es erneut, diesmal zuerst mit den Vorderbeinen.
»Es ist eine Stute.« Dr. Brenner grinste über beide Backen, während er sich den Gummihandschuh auszog. »Eine echte Kämpferin. Schau, sie steht.«
Als hätten wir es nicht selbst gesehen. Doch so wie wir liebte er diesen Moment, wenn ein neues Leben seine ersten wackeligen Schritte wagte. Fordernd stupste das kleine Wesen die Flanke seiner Mutter an. Tamira folgte ihren Instinkten. Auch das war nicht selbstverständlich. Wir lauschten dem schmatzenden Saugen.
»Das erste Fohlen auf deinem Hof. Wie willst du es nennen?«
Papa legte mir den Arm um die Schultern, und ich lehnte mich an ihn. In diesem Augenblick war die Welt perfekt für mich, und ich wusste, dass ich solche Momente sammeln musste, damit ich auf sie zurückgreifen konnte, wenn ich es nötig hatte.
»Diva.«
»Du bist noch hier? Ich dachte, du würdest Henning zu seinem Essen begleiten.«
Thomas! »Oh Scheiße!« Ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn, woraufhin Diva einen kleinen Satz machte. »Das habe ich ja total vergessen.« Ich wandte mich zu Thomas um, der sich auf den Rand der Box stützte und tatsächlich einen verträumten Ausdruck im Gesicht hatte, während er das kleine Wesen betrachtete.
»Wie spät ist es?«
Ein spöttisches Grinsen kam auf seine Lippen, als er mich ansah. »Acht Uhr.«
»Mist, verfluchter«, stöhnte ich. Selten bat Henning mich um etwas. Er wusste, wie sehr mich die Arbeit auf dem Hof in Anspruch nahm. Anstatt gemeinsame Zeit einzufordern, unterstützte er mich bei den Pferden, so oft es sein anspruchsvoller Job zuließ. Handwerklich war er genauso geschickt wie Samson, den wir alle nur kurz Sam nannten, und die beiden verstanden sich bestens. Ohne Henning wäre ich in den letzten Monaten mehr als einmal so weit gewesen, alles hinzuschmeißen. Ich war froh, dass es ihn in meinem Leben gab. Und jetzt hatte er mich ein Mal gebeten, ihn zu einem Abendessen mit seinen Geschäftspartnern zu begleiten. Alan Webster war mit seiner Frau aus Kanada nach Deutschland gereist, und beide wollten mich gern kennenlernen. Mit ihnen verband Henning eine tiefe, respektvolle Freundschaft. Er hatte mir schon oft von seinem Mentor erzählt. Die Websters waren für ihn wie eine zweite Familie, und es bedeutete ihm viel, dass ich sie kennenlernte. Und was machte ich? Vergaß den Termin über meinen Pferden.
»Hat Henning dir nicht so ein geniales Smartphone zu Weihnachten geschenkt, auf dem du all deine Termine samt Erinnerungen einspeichern kannst?«
Das stimmte. Hastig zog ich es aus der Tasche. Warum hatte es nicht geklingelt, und warum hatte mich Henning nicht angerufen, um mich an den Termin zu erinnern, als ich nicht zu Hause aufkreuzte? Das Display war schwarz. Ich drückte auf die Taste, doch es blieb schwarz.
»Es hilft, wenn du es ab und an auflädst.«
Wütend sah ich Thomas an. Auf seine dummen Sprüche konnte ich verzichten.
»Keine Sorge. Ich denke, Therese wird sich bestens um deinen verwaisten Henning kümmern.«
Am liebsten wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen. Therese Vanderbilt, Geschäftspartnerin von Henning, war ein rotes Tuch für mich. Oft kam es mir vor, als würden sie und Henning mehr Zeit miteinander verbringen als Henning und ich.
»Geh, verschwinde.« Papa gab mir einen Schubs. »Ich rufe Henning an und sage ihm, dass du kommst.«
»Aber was ist mit Diva?«
»Mach dir keine Sorgen, Dr. Brenner und ich bekommen das allein hin. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass wir ein Fohlen auf die Welt gebracht haben, und ich verspreche, dir den Papierkram zu überlassen.«
Hastig drückte ich meinem Vater einen Kuss auf die Wange, sah ein letztes Mal zu dem Fohlen, das wieder mit wedelndem Schweif an den Zitzen seiner Mutter saugte. Dann rannte ich die Stallgasse hinunter.
»Das bringt dir jetzt auch nichts mehr!«, rief mir Thomas hinterher.
Noch während ich die Tür zu Hennings Wohnung aufschloss, streifte ich mir die Schuhe ab. Ich warf die Jacke auf den Boden, schlüpfte aus dem Sweatshirt, zog erst das eine Bein, dann das andere aus der Stretchjeans, sodass ich am Ende nur noch in Unterwäsche im Schlafzimmer ankam. Auf dem Bett lagen ein schwarzes, schlichtes Etuikleid, daneben eine noch verpackte Feinstrumpfhose sowie meine einzigen eleganten Schuhe, die sogar einen Miniabsatz aufwiesen. Ich hob den Zettel hoch, der auf dem Kleid lag. Nur ein Vorschlag, falls du nicht weißt, was du anziehen sollst, stand darauf, und dahinter hatte Henning einen Smiley gemalt. Typisch für ihn, er plante immer alles im Voraus.
Ich stellte die Dusche auf besonders heiß, nahm reichlich Shampoo und Duschgel, um auch den Rest des Pferdegeruchs loszuwerden. Meine Haare föhnte ich mir in Rekordzeit trocken und überdeckte die durch die Hektik hervorgerufenen roten Flecken in meinem Gesicht mit einer Spur Make-up. Keine Dreiviertelstunde später stand ich vor dem Restaurant – eineinhalb Stunden zu spät. Ich holte tief Luft und trat ein, um mich dem zu stellen, was mich erwartete. Ein Kellner kam mir lächelnd entgegen und nahm mir den Mantel ab, den ich passend zu dem Kleid ausgewählt hatte. Ebenfalls ein Geschenk von Henning. Ich selbst kaufte mir nur praktische und warme Kleidung.
»Möchten Sie auf Ihre Begleitung warten oder Platz nehmen?«
»Oh, meine Begleitung ist bereits hier und womöglich schon mit dem Essen fertig. Ich habe mich verspätet«, fügte ich entschuldigend hinzu und fragte mich gleichzeitig, weshalb ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen verspürte.
»Frau Kamphoven, korrekt? Sie gehören zu Herrn Sander?«
»Genau«, erwiderte ich perplex.
»Keine Sorge«, beruhigte er mich, »die Gäste sind gerade erst mit der Vorspeise fertig, und jetzt, wo Sie da sind, werden wir gleich den Hauptgang servieren. Herr Sander war so frei und hat für Sie das Lachsfilet à la Lord Nelson bestellt – oder möchten Sie ein anderes Gericht wählen?«
Einen Moment war ich sprachlos und wusste nicht, ob ich verärgert oder erleichtert sein sollte. Es war typisch für Henning, alles für mich zu organisieren. Als wäre ich seine kleine Schwester, die er als großer Bruder bevormunden musste.
Der Kellner wartete höflich auf meine Antwort. »Es ist genau das, was ich essen wollte.« Er konnte schließlich nichts dafür.
»Möchte Sie eine Vorspeise?«
»Nein, danke. Dafür werde ich beim Nachtisch zuschlagen.«
Er zwinkerte mir zu. »Das ist in jedem Fall die bessere Wahl.« Dann ging er voraus zum Tisch.
Henning trug einen schwarzen Anzug mit einem silbergrauen Hemd ohne Krawatte. Ich mochte ihn lieber in Jeans und T-Shirt oder, am allerliebsten, nackt im Bett. Hastig schob ich den unpassenden Gedanken beiseite. Wie immer wirkten seine blonden Haare zerzaust, was den strengen Businesslook auflockerte. Soeben lehnte Therese lachend ihren Kopf an seinen Oberarm, an dem sie sich untergehakt hatte. Eine vertrauliche Geste, die Henning in keiner Weise zu stören schien. Mir hingegen versetzte der Anblick einen Stich. Rasch fasste ich mich, als der Kellner höflich den letzten freien Stuhl für mich herauszog und sich am Tisch alle zu mir wandten. Mein Platz war zwischen Henning und einem Mann, der mir schemenhaft bekannt vorkam. Beide Männer standen gleichzeitig auf, als sie mich erblickten.
»Vera, schön dass du noch gekommen bist. Thomas hat mir eine SMS geschickt, dass du dich auf den Weg gemacht hast. Ich war so frei und habe dir etwas zum Essen bestellt. Lachs. Du kannst natürlich umbestellen, wenn du möchtest.«
Er zog mich in seine Arme und küsste mich flüchtig auf die Wange. Den Arm um meine Schultern gelegt, wandte er sich dem anderen Mann zu, der mir zulächelte.
»David Livingston, wollte unbedingt neben dir sitzen. Er startet für Kanada im Springreiten und hat früher mehr als einmal das Nachsehen gegen dich gehabt. Allerdings ritt er zu dem Zeitpunkt für England.«
David reichte mir die Hand und blinzelte mir vergnügt zu. »Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern«, versuchte er es in einer Mischung aus Englisch und Deutsch.
»Wir können Englisch miteinander sprechen«, schlug ich vor, worauf er dankbar grinste. »Ich erinnere mich, Dancing Girl, korrekt?«
Sein erfreutes Strahlen machte mich verlegen. Sein Name sagte mir wenig, die Stute hingegen stand mir lebhaft vor Augen.
»Das stimmt genau.«
»Reitest du sie immer noch?«
»Ja, Dancing Girl ist mit mir nach Kanada übergesiedelt.«
»Therese kennst du ja schon«, setzte Henning die Vorstellung fort. Diese nickte mir mit einem aufgesetzt freundlichen Lächeln zu. Henning fuhr fort: »Alan und Loreen. Sie hatten schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr kommen.«
Eine kleine Spitze, in ein charmantes Lächeln verpackt, sodass ich nicht wirklich beleidigt sein konnte. Dachte er. Ich löste mich aus seiner Umarmung, begrüßte erst Loreen und dann Alan, der ebenfalls aufgestanden war. Allesamt Männer mit Manieren. Um wie viel lieber war mir da die Gesellschaft von unserem schweigsamen Samson, dem Stallknecht auf dem Hof. Kaum hatten wir uns gesetzt, brachten zwei Kellnerinnen unser Essen.
Mir lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte zwar heute Mittag mit Papa Brote gegessen und mir mit ihm ein Stück Kuchen geteilt, aber das war vor dem Reiten, dem Misten und der Geburt des Fohlens gewesen. Blöderweise waren die Portionen in diesem Restaurant typisch exklusiv klein, auch wenn sie schön angerichtet waren.
Das Lachsfilet sah nicht nur lecker aus, sondern schmeckte auch hervorragend. Die Bandnudeln mit Blattspinat stillten meinen Hunger ein wenig. Als der Kellner mir Weißwein einschenken wollte, legte ich hastig meine Hand auf das Glas.
»Bitte nur Wasser.«
»Darf ich Ihnen noch ein paar Nudeln oder ein kleines Stück Lachs servieren?«
Dieser Mann musste Gedanken lesen können. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ganz und gar nicht. Wir freuen uns, wenn unseren Gästen das Essen schmeckt.«
»Sagen Sie dem Koch bitte, dass das Essen ausgezeichnet schmeckt – und das ist ein echtes Kompliment aus meinem Mund. Meine Mutter ist Köchin, was mich zu einer total verwöhnten Esserin gemacht hat.«
»Ich werde Ihr Kompliment gern an die Küche weitergeben.«
David grinste mich an, während mir Henning, unsichtbar für die anderen, in den Speckring an meiner Hüfte kniff. Dezent ignorierte ich die Andeutung. Schließlich waren das alles reine Muskeln.
»Henning erzählte uns, dass du die Pferdezucht seines Vaters fortführst«, wandte sich Alan an mich.
»Meines Vaters«, korrigierte ich ihn automatisch. Es hatte mir nie gepasst, dass Erich Sander in der Pferdewelt die Lorbeeren für die Arbeit meines Vaters einheimste. Alan schmunzelte.
»Ich meine«, stotterte ich, »mein Vater war immer für die fachliche Führung des Sander-Hofes zuständig. Erich stellte die finanziellen Mittel zur Verfügung.«
»Denkst du, wir könnten uns den Hof ansehen?« Loreen lächelte mich an. »Mein Bruder und ich brennen geradezu darauf, nicht wahr David?«
»Bruder?«, rutschte es mir heraus, bevor ich mich bremsen konnte. Zwischen den beiden lagen locker zwanzig Jahre.
Statt pikiert zu sein, lachte Loreen. »David ist der Nachzügler in unserer Familie. Das einzige Kind meines Vaters mit seiner zweiten Frau.«
»Mich würden vor allem die Verkaufspferde interessieren«, meldete sich David zu Wort.
»Da muss ich dich enttäuschen, die Jährlinge vom letzten Jahr sind alle verkauft. Alle Pferde, die noch auf dem Hof sind, setzen wir für die Zucht ein.«
»Was ist mit dem Fohlen?«
Verwirrt sah ich ihn an. »Welches Fohlen?«
»Na, das von heute.«
Meine Gedanken schweiften ab. Das erste Fohlen von Duke, niemals würde ich es hergeben, schon gar nicht direkt nach der Geburt. »Nein, tut mir leid, Diva ist nicht zu verkaufen.«
»Was genau ist dein Geschäftsmodell? Nur vom Verkaufen kannst du ja nicht leben«, klinkte Alan sich neugierig ein.
Langsam kam ich mir vor wie bei einem Verhör. Hatten sie denn nichts anderes, was sie besprechen mussten? Therese beugte sich zu Henning und wisperte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der grinste. Das lenkte mich von meinen Gesprächspartnern ab. Therese war eine der drei Geschäftsführer von IONIKS, dem Joint Venture der Familien Sander und Vanderbilt. Henning und Jake, der Sohn der Websters, bildeten den Rest der Troika. Im Gegensatz zu mir besaß Therese Vanderbilt den passenden Pedigree, um als Schwiegertochter für Erich Sander infrage zu kommen. Die enge Freundschaft zwischen Selina, der Frau von Thomas, einer rassigen, südländischen, schwarzhaarigen Schönheit, und Therese, der kultivierten Blonden à la Marlene Dietrich, überraschte mich oft. Sie wirkten nicht nur äußerlich gegensätzlich, sondern auch in ihren Interessen. Aber das hätte man auch von Bettina und mir sagen können. Unsere Freundschaft, die abrupt endete, als ich mich in der Nacht von zu Hause fortschlich, hatte sich in den letzten Monaten wieder intensiviert. Ohne ihr betriebswirtschaftliches Fachwissen und ihren offenen Umgang mit dem Finanzamt wäre ich in den letzten Monaten mehr als aufgeschmissen gewesen.
»Alan«, schalt Loreen ihren Mann sanft.
»Verzeih, Vera, ich bin Berater mit Leib und Seele. Mich interessiert es immer brennend, wie ein Unternehmen Geld verdient. Mit Pferden sein Geld zu verdienen, stelle ich mir schwierig vor. Gib mir die Chance, etwas von dir zu lernen.«
Ich musste lachen, was mir einen pikierten Blick von Therese und irritierte von den Websters einbrachte.
»Tut mir leid. Ich lache nicht über dich, Alan, nur über den Gedanken, dass ausgerechnet du etwas von mir lernen könntest. Henning erzählte mir, dass du im Laufe deiner beruflichen Karriere mehr als zehn marode Unternehmen gekauft und mit Profit wieder verkauft hast. Abgesehen von deiner Beratertätigkeit. Du hättest dich schon längst zur Ruhe setzen können, machst es aber nicht, weil du einfach zu viel Spaß an deiner Arbeit hast. Ich hingegen arbeite jeden Tag zwölf bis sechzehn Stunden und drehe jeden Cent dreimal um. Wenn jemand etwas lernen kann, dann ich von dir.«
Alan wirkte geschmeichelt. Ich hatte mir die Websters vollkommen anders vorgestellt. Längst nicht so sympathisch und bodenständig. In keiner Weise war ihnen anzumerken, dass sie über ein Vermögen verfügten, welches laut Hennings Andeutungen das der Sanders noch übertraf. Henning war als Austauschschüler in die Familie der Websters gekommen; seit dieser Zeit existierte die Freundschaft zwischen ihnen. Wann immer er von den Websters sprach, bekam seine Stimme diesen liebevollen, warmen Klang, den ich so liebte.
»Das denke ich nicht. Aber vielleicht können wir beide etwas voneinander lernen. Erklär mir die Geschäftsidee hinter deinem Hof.«
Tief in mir breitete sich ein warmes Gefühl aus. Zwei Jahre lang war ich vor meiner Berufung geflüchtet. Erst ein kräftiger Tritt von Henning in meinen Allerwertesten hatte mich zurück auf meinen Lebensweg gebracht.
»Die ist simpel: Das, was Pferde uns zu schenken bereit sind, zurückzugeben.«
»Wie pathetisch«, kommentierte Therese. »Dahinter steckt kein Business, lediglich Idealismus. Mit dieser Einstellung bist du innerhalb eines Jahres pleite.«
»Nein, gar nicht«, erwiderte Alan. »Im Gegenteil, Therese, es zeigt die Leidenschaft und die Liebe, die Vera für ihre Arbeit empfindet. Es ist kein Job, sondern eine Berufung. Das ist ein solides Fundament, auf dem sich ein langfristiges Geschäft aufbauen lässt.«
Ich war hundemüde. Die Augen halb geschlossen, den linken, nackten Fuß auf den rechten gestellt, stützte ich mich auf die Waschkommode und putzte mir die Zähne. Die Haare hatte ich mit einem Gummiband in eine Form zwischen Pferdeschwanz und Dutt gebracht. Ich hasste es, wenn sie mir ins Gesicht hingen. Eine Kurzhaarfrisur wäre viel praktischer, wenn ich dafür nicht ständig zum Friseur rennen müsste. Mit der aktuellen Frisur brauchte ich das nur einmal alle zwei Jahre zu tun. Das Licht im Bad hatte ich gedimmt. Es ging bereits auf ein Uhr morgens zu, und mein Tag würde wie immer pünktlich um halb sechs beginnen. Ich hörte die Wohnungstür.
Als ich die Zahnpasta ausspuckte, mit Wasser nachspülte und den Kopf hob, sah ich im Spiegel, dass Hennig im Türrahmen stand. Das Jackett hatte er abgelegt, die obersten Knöpfe seines silbergrauen Hemdes standen offen. Sein zerzaustes Haar, die Art, wie er mich mit seinen schokoladenfarbenen Augen ansah, ließen meine Knie weich werden. Schlagartig wich die Müdigkeit aus meinen Knochen. Er sah mir das erwachende Verlangen an. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen, als er langsam hinter mich trat. Seine Arme umschlossen meine Taille, er zog mich dicht an sich heran. Bereitwillig neigte ich meinen Kopf auf die Brust und schloss die Augen. Seine Lippen liebkosten meinen Nacken, sandten warme Schauer der Erregung durch meinen Körper. Ich würde auch mit vier Stunden Schlaf auskommen, entschied ich.
»Ich schwöre dir, eines Tages komme ich hinter das Geheimnis, warum ich dir nie lange böse sein kann, und warum du in deinem schlabberigen Sweatshirt, mit Flanellpyjamahose und deinen Haaren in diesem fusseligen Dutt noch mehr Sex-Appeal ausstrahlst als in dem schwarzen Etuikleid.«
Sein heißer Atem kitzelte auf meiner Haut. Es gab keine erotischeren Worte, die er mir hätte sagen können. Wie warmer, flüssiger Honig rannen sie durch meinen Magen in mein Herz. Das Gefühl, das dabei entstand, schnürte mir die Kehle zu, trieb mir die Tränen in die Augen. Bei Gott, wie konnte man nur einen Menschen so sehr lieben? Ich wollte mich umdrehen, meine Arme um seinen Nacken schlingen und ihn küssen, bis ich den Verstand verlor und aufhörte, über dieses Gefühl nachzudenken. Er hatte mir schon einmal das Herz gebrochen, nur dass ich es damals nicht verstanden hatte.
Er hielt mich fest, quälte mich weiter mit seinen Lippen, ließ seine Hände unter das Sweatshirt wandern, hoch zu meinen Brüsten. Scharf zog ich die Luft ein, als bei seiner Berührung eine Welle der Lust mein ohnehin hypersensibles Nervensystem überflutete. Er biss mir in den Nacken, ließ seine andere Hand zwischen meine Beine wandern. Unendlich langsam begann er, mich mit seinen Fingern zu reiben, wurde dann schneller und fester. Ich explodierte in einem Orgasmus.
Endlich ließ er es zu, dass ich mich zu ihm umdrehte. Hungrig bedeckte ich jede freie Hautstelle, die ich erreichen konnte, mit feuchten Küssen. Er hob mich in seine Arme, warf mich auf das Bett und entledigte sich im Eiltempo seiner Hose. Mit fiebrigen Händen machte ich dasselbe mit meiner Schlafanzughose. Ihn in mir zu spüren, hatte in den knapp zwei Jahren, die wir mehr oder minder zusammenlebten, seinen Reiz nie verloren. Er füllte mich aus und ließ mich alle Sorgen vergessen. Meine Hände wanderten von seinen Pobacken über seinen Rücken hoch zu seinen Haaren. Meine Finger verkrallten sich darin, als ich mir sein Gesicht holte, um ihn besinnungslos zu küssen. Ich liebte seinen Geruch, wenn wir uns liebten, den ich nie definieren konnte, der aber immer in unserer Bettwäsche hing, wenn er auf Geschäftsreise ging. Manchmal reichte allein dieser Geruch aus, um mich zu erregen.
Mein Kopf lag auf seiner Brust, unsere Beine waren ineinander verschlungen. Seine Finger glitten in einem angenehm entspannenden Rhythmus meinen Rücken hoch und wieder hinunter. Er küsste mein wirres Haar. Das Gummiband war abhandengekommen.
»Es tut mir leid, dass ich das Abendessen vergessen habe«, wisperte ich mehr schlafend als wach.
Wir beäugten uns, schätzten uns gegenseitig ab. Ich musste schmunzeln, als Obsession, das Trainingspferd, in ihrer Mimik erkennen ließ, was sie von mir hielt. Bereits bei ihrer Ankunft auf unserem Hof war mir für sie nur ein Begriff eingefallen: arrogant. Allein die Zusatzprodukte und die Liste, die uns die Besitzerin übergeben hatte, sprachen Bände. Vor mir stand eine verzogene Stute, die erwartete, dass sich die Welt um sie drehte und nicht andersherum. Sie verschmähte die schrumpeligen Äpfel aus dem Vorjahr, wühlte mit den Nüstern durch das Kraftfutter, als würde sie jedes Korn einzeln aussortieren wollen. Obsessions Körperbau war feingliedrig, elegant und schlank. Ihre Gänge, das, was sie mir bisher zu zeigen bereit gewesen war, wirkten akzentuiert, ja, tänzerisch. Als würde sie in ihrem Kopf eine Melodie hören, nach der sie sich bewegte. Ideale Voraussetzungen für ein Dressurpferd. Ein wenig hatte es mich überrascht, dass Tanja Wilhelm die Stute ausgerechnet von mir ausbilden lassen wollte. Papas und mein Schwerpunkt lag bei der Vielseitigkeit und dem Springen und nicht bei der Dressur. Als ich das zu bedenken gab, strahlte sie mich lediglich an.
»Ich bin ein großer Fan von Ihnen, Frau Kamphoven. Als ich Sie letztes Mal mit dem neuen Turnierpferd von Thomas auf dem Abreitplatz gesehen habe, war mir klar, dass ich niemanden anderes als Sie an meine Obsession heranlasse.« Sie warf der Stute einen liebevollen Blick zu und sprach dann weiter. »Dawinja ist ein schwieriges Pferd, und bei Ihnen sah alles unglaublich leicht aus. Diese Ruhe, die Sie ausstrahlten, und die Art, wie Ihnen die Stute am Ende vollkommen entspannt folgte! Ich glaube, Sie hätten nicht einmal den Führstrick benötigt.«
Ich holte Luft, um zu widersprechen, doch Frau Wilhelm, ich schätzte sie auf etwa Mitte vierzig, schüttelte lediglich energisch den Kopf.
»Sie sind eine ausgezeichnete Reiterin, Sie kennen sich mit der Dressur aus, da bin ich sicher, und mir geht es vor allem darum, dass Obsession sanft ausgebildet wird.«
Prima, da hast du dir ja mal wieder was eingebrockt, dachte ich grimmig, als mir Obsession das Hinterteil zudrehte und auskeilte. Eine verzogene Zicke mit über einer halben Tonne Lebendgewicht plus jeder Menge Energie. Sanfte Ausbildung. Warum sagte das niemand den Pferden? Ich nahm die Führleine, wedelte damit, was die Stute nicht im Mindesten interessierte. Kräftig schlug ich mit dem zusammengefassten Strick auf meine Oberschenkel. Immerhin, jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich. Meine Kommunikationsversuche liefen weiterhin ins Leere, bis ich den Führstrick durch die Luft wirbeln ließ. Obsession machte ein Satz, bekam von mir weiter Druck über meine Körperhaltung sowie meine Position zu ihr und startete einen langsamen, zögernden Trab. Voll konzentriert ging ich in unendlich winzigen Schritten an das Feintuning unserer Kommunikation. Jeden Ansatz von ihrer Seite in die von mir gewünschte Richtung belohnte ich, indem ich den Druck wegnahm. Jeder selbstständigen Entscheidung der Stute begegnete ich mit einer Erhöhung des Drucks durch straffe Körperhaltung und energiegeladene Schritte. Nach einer halben Stunde waren wir immerhin so weit, dass sie begriff, dass ich, der Zweibeiner in der Mitte des Longierzirkels, derjenige war, der das Tempo und die Manöver vorgab. Ich beendete die Arbeit und wandte mich ab.
Loreen Webster, bekleidet mit Jeans, Stiefeln und taillierter, weich gefütterter Jacke, kam zum Zirkel. Begleitet von David Livingstone im selben Outfit, nur dass er noch eine Kappe auf dem Kopf trug. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, grinste er mich an, als er meinen Blick bemerkte. Dann blieben beide stehen, sahen auf einen Punkt hinter meiner Schulter. Ich hielt die Luft an. Ja, es war meine Absicht gewesen, eine Verbindung zu Obsession aufzubauen. Mein Herz begann schneller zu klopfen, als ich ihren warmen Atem in meinen Nacken spürte. Egal wie oft am Tag ich ein Join-Up ausführte, egal wie viele Tausend Male ich es erlebt hatte, nie verlor es für mich seine Faszination, wenn sich ein Pferd mir anschloss. Schon gar nicht, wenn dieses Pferd dermaßen stur auf meine Kommunikationsversuche reagiert hatte wie die Stute. Im Stillen hatte ich mir für diese Aufgabe mindestens drei weitere Arbeitsrunden gegeben, vielleicht sogar fünf. Probehalber ging ich einen Schritt und seufzte. Natürlich war Obsession stehen geblieben. Sie ging weiter bis zum Zaun, machte den Hals Richtung Loreen lang. Der Ausdruck in Loreens Gesicht änderte sich, als hätte jemand einen Weichzeichner darübergelegt. Sie liebte Pferde. Ein fragender Blick ging in meine Richtung.
Ich nickte. »Klar.«
Sie streckte in einer Art und Weise die Hand aus, als würde sie ein kostbares, heiliges Relikt berühren wollen.
»Pass nur auf, ihre Besitzerin hat sie …« Meine Warnung kam zu spät, die Ohren angelegt, wollte Obsession nach Loreen schnappen. Geistesgegenwärtig gab David der Stute einen Klaps auf die Nüstern, was diese erschrocken wegspringen ließ. Zum Glück hatte ihre Besitzerin das nicht gesehen. Loreen stiegen die Tränen in die Augen, die sie rasch hinunterschluckte.
»Sorry, das war ein Reflex«, entschuldigte David sich zerknirscht. Offensichtlich war mir deutlich anzusehen, was ich dachte. Henning sagte immer, mein Gesicht spräche Bände. »Es wird eine Zeit dauern, ihr klarzumachen, dass sie ein Pferd ist.«
Die Stute wandte ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen auf dem Reitplatz zu, wo Papa mit The Lucky One und Melanie mit Lady Star arbeiteten. Ersterer war ein weiteres Turnierpferd von Thomas, Letztere eine Stute von uns, die wir im diesjährigen Bundeschampionat vorstellen wollten.
»David hat mir viel von dieser Join-Up-Methode erzählt, doch ich muss gestehen, ich habe es noch nie leibhaftig erlebt«, sagte Loreen. »Es war ein berührender Moment, als die Stute zu dir trottete. Dieses Vertrauen zu sehen, das sie dir entgegenbringt.«
»Ich denke, in diesem Fall war es eher Zufall. Obsession ist ein intelligentes, neugieriges Pferd. Sie war an euch beiden interessiert.«
»Nein, das denke ich nicht«, widersprach David. »Du hattest dich von ihr abgewendet. Die Stute zögerte, ging zu deiner Schulter und erst dann, als wäre es ihr bewusst geworden, was sie machte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf uns.«
Beide Geschwister hatten dieselbe haselnussfarbene Schattierung in ihren Haaren. Loreen trug sie in einem raffinierten, stufig geschnittenen Bob, David kurz und im Nacken anrasiert. Die Augen seiner Schwester waren schokoladenbraun, seine hingegen dunkelgrün mit braunen Sprenkeln. Beide hatten dieses verschmitzte, ja jugendlich anmutende Lächeln. Ich hoffte, dass ich eines Tages einmal genauso jung aussehen würde wie Loreen in ihrem Alter. Die geborene Engländerin, jetzt Kanadierin, wirkte in ihrem Outfit jung und sportlich. Mit dem Eintagesbart strahlte ihr Bruder für einen Engländer ungewohnte Lässigkeit und Sex-Appeal aus. Puh, seit wann fielen mir solche Sachen an Männern auf? Damals auf dem Turnier hatte ich den Reiter von Dancing Girl kaum wahrgenommen. Amüsiert blitzte es in seinen Augen auf, als hätte er meine Gedanken gelesen. Hastig wandte ich mich Loreen zu.
»Reitest du auch?«
»Früher einmal, doch nach einem Sturz, bei dem ich mir den Arm gebrochen hatte, habe ich aufgehört.«
Ich nahm die Sehnsucht in ihrem Blick wahr.
»Wenn du Lust hast, könnten wir am Spätnachmittag zusammen ausreiten.«
»Eine hervorragende Idee, darf ich euch begleiten?«, mischte sich David ein.
»Nein«, rutschte es mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte. Diesmal brannten mir die Wangen, als er mich mit fragend gehobenen Augenbrauen ansah.
»Im Stall stehen überwiegend Trainings- und Rehapferde. Ziehe ich unsere tragenden Zuchtstuten ab, bleiben im Grunde nur zwei Pferde übrig. Auf Duke kann niemand außer mir reiten, bleibt also nur noch eines.«
»Duke? Der Duke?«, hakte David nach.
Ich ignorierte die Frage, da ich in Loreens geweiteten Pupillen Angst wahrnahm. Ich kannte diese Angst – und die Sehnsucht.
»Ich würde dir den Vorschlag niemals unterbreiten, wenn ich bei Nobless unsicher wäre. Es gibt kein Pferd, dem ich mehr vertraue als ihr«, versicherte ich ihr. »Nach meinem Unfall hatte ich Angst, mich wieder auf ein Pferd zu setzen. Was hältst du davon, wenn wir erst einmal auf dem Reitplatz schauen, wie ihr beide miteinander klarkommt, und dann sehen wir weiter?«
Der letzte Satz gab den Ausschlag.
»Du bleibst an meiner Seite?«
»Ich werde dich führen, bis du sicher bist, dass du allein klarkommst.«
Loreens Augen begannen zu leuchten, ihre Lippen zogen sich zu einem breiten Lächeln auseinander. »Einverstanden.«
»Dann wäre das ja geklärt«, brachte sich David wieder in Erinnerung. »Du erwähntest vorhin Duke. Ist das der Hengst aus derselben Blutlinie wie dein damaliges Turnierpferd Flying High?«
»Ja«, antwortete ich knapp.
»Ich dachte, er hätte einen Unfall gehabt und wäre seitdem unreitbar? Wollte Henning ihn nicht sogar einschläfern lassen, weil er Menschen angreift?«
Seine Schwester wurde blass. Ich fühlte den alten Ärger in mir aufwallen. Der Gedanke daran, dass Henning die damalige Situation einem wildfremden Menschen anvertraut hatte, versetzte mir immer noch einen Stich. Tatsächlich waren er und Thomas kurz davor gewesen, Duke einschläfern zu lassen. Nur Papas Eingreifen verdanke ich es, dass die Situation an dem Abend nicht eskalierte. Dennoch war der Vorfall der Grund gewesen, weshalb es zu einem Bruch zwischen mir und Henning gekommen war. Und weil er mir verschwiegen hatte, dass er all die Zeit gewusst hatte, dass Thomas damals auf dem Turnier den Hufschmied bestochen hatte. Ein bewusst vernageltes Eisen sollte unseren Turnierstart verhindern. Doch ich war gestartet und Flying High für mich gesprungen. Zu viel meiner Zukunft hatte an dem Sieg gehangen, einschließlich der Tatsache, dass der Hengst damit mir gehört hätte. Am Ende verlor ich durch meine Ignoranz alles. Ich hatte meinen Partner verraten, mein Pferd, das für mich durchs Feuer gegangen wäre. Seine Treue zu mir kostete ihn sein Leben. Rasch verdrängte ich die aufsteigenden Schuldgefühle.
»Ja, hatte er, und nein, sonst könnte ich ihn wohl schlecht reiten.« Abrupt wandte ich mich ab und ging zu der Stute. Mir war klar, dass ich mich unhöflich verhielt. Sensibel nahm Obsession meine Stimmung auf und begann an meiner Hand zu tänzeln, als ich mit ihr zum Eingangstor ging. David öffnete es für mich, während sich Loreen hinter dem Rücken ihres Bruders verbarg. Keiner von beiden konnte etwas für das, was vor einer halben Ewigkeit geschehen war. Tief atmete ich durch.
»Ich bringe Obsession in die Box, dann bekommt ihr eine kleine Führung durch unsere Anlage und ich erkläre das Geschäftsmodell. Was ist mit Alan? Kommt er noch?«
Loreen schüttelte den Kopf. »Er schafft es leider nicht. Er und Henning hängen in einer Besprechung fest.«
»Trainierst du heute noch ein Pferd? Womöglich sogar Duke beim Springen?« David schenkte mir ein entwaffnendes, sonniges Lächeln. Er war hartnäckig.
»Mein Vater«, ich deutet auf Papa, der auf dem Platz Lucky über unseren Trainingsparcours springen ließ, »hat das Springpferd von Thomas unter dem Sattel. Wenn du also an unserem Training interessiert bist …«
»Und der Rappe?«
»Lady Star ist die Stute, die wir beim Bundeschampionat vorstellen möchten. Melanie, unsere Auszubildende, reitet sie.«
»Hübsch. Sauber gesprungen, etwas nervös, aber mit viel Potenzial.«
»Für mich ist es gerade die Sensibilität von Lady, die ihre Stärke ausmacht; sie braucht nur eine Führungshand, der sie sich anvertrauen kann.«
David lachte. »Ich meinte eher die Reiterin, nicht die Stute.«
»Oh.« Ich räusperte mich, warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Ich konnte nur hoffen, dass Melanie, die sich ständig in alles verliebte, was auf zwei Beinen herumlief, dem Charme des Engländers standhielt. Andererseits war der Mann in ihren Augen vermutlich viel zu alt. »Melanie hat sich in den letzten Monaten unglaublich gemacht. Manchmal macht es sie nervös, wenn andere ihr zusehen.«
Tatsächlich warf Melanie in diesem Augenblick einen Blick auf uns, zog die Zügel an, als sie bemerkte, dass wir sie beobachteten, und Lady erwischte mit der Hinterhand die Stange des nächsten Hindernisses. Ein vollkommen unnötiger Fehler. Die Stute buckelte, macht einen Satz zur Seite und Melanie lag auf der Erde. Papa parierte Lucky durch, bevor dieser sich von Lady anstecken ließ, Blödsinn zu machen. Die Stute nutzte ihre Freiheit und legte eine Galopprunde über den Platz ein. Während ich noch überlegte, wie ich Melanie mit der piaffierenden Obsession an der Hand zu Hilfe eilen konnte, sprintete David bereits los. Er half Melanie auf, klopfte ihr den Sand aus den Sachen und sprach auf sie ein. Indessen hatte Papa Lady eingefangen. Mit beiden Pferden an der Hand ging er zu Melanie und David. Ich sollte zusehen, dass ich Obsession in die Box packte, bevor noch mehr passierte. Loreen folgte mir.
Ich band die Stute im Gang an, putzte sie über, kratzte die Hufe aus und ließ prüfend meine Hände über ihren gesamten Körper gleiten. Gelassen ließ sie es sich gefallen. Überhaupt war sie in der Handhabung ein angenehmes Pferd, wenn man von dem Schnappen absah. Mir war es einfach schleierhaft, warum viele Pferdebesitzer dazu neigten, ihre Pferde ständig aus der Hand zu füttern. Meiner Meinung nach resultierte das Verhalten daher.
»Wenn wir dich bei der Arbeit stören, dann schnappe ich mir David und wir verschwinden.«
»Ihr stört nicht. Es tut mir leid, wenn ich vorhin etwas unwirsch war. Ich werde nicht gerne an den Tod von Flying High erinnert.«
»Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Dein Unfall hat David damals völlig aus der Bahn geworfen. Ich höre noch heute die Erschütterung in seiner Stimme, als er mich anrief. Es war das erste Mal, dass ich erlebte, wie mein Bruder weinte.«
Ich hielt in meiner Arbeit inne und sah sie überrascht an.
»Verrate mich bloß nicht. Der Tod von Flying High hat ihn echt getroffen. Er muss wirklich ein außergewöhnliches Pferd gewesen sein. Ich befürchte, er wird dich mit all seinem zur Verfügung stehenden Charme nicht eher in Ruhe lassen, bis er deinen Duke gesehen hat. Mein Bruder kann ziemlich hartnäckig sein.«
»Dein Rat?«
»Damit du ihn schnell wieder loswirst, bevor er weitere Unruhe anrichtet?« Ein wissendes Grinsen huschte über ihr Gesicht, sie zwinkerte mir zu. »Junge Mädchen lassen sich gerne von ihm ablenken, aber er ist harmlos. Er flirtet gerne, mehr nicht.«
»Melanie hat eine Schwäche für Kavaliere und britischen Akzent. Zum Glück ist er viel zu alt für sie.«
»Das dachten wir bei der zweiten Frau meines Vaters auch, und sie sind immer noch glücklich verheiratet.«
»Also, dein Rat?«
»Befriedige seine Neugier.«
Ich runzelte die Stirn, wandte mich wieder Obsession zu. Duke mochte keine Fremden, vor allem nicht, wenn es sich um Männer handelte. »Welche Schuhgröße hast du?«
»Achtunddreißig.«
»Perfekt, dieselbe Schuhgröße wie Melanie. Du kannst ihre alten Stiefel benutzen. Sofern es dir nichts ausmacht.«
Loreen zögerte kurz. »Wenn es ihr recht ist.«
»Klar, sonst würde ich es nicht anbieten. Hast du Lust, nach dem Ausritt bei uns zu Abend zu essen? Meine Mutter ist eine hervorragende Köchin.«
»Stimmt, du erwähntest es gestern Abend, als du das Essen lobtest.«
»Du verstehst Deutsch?«
»Ein wenig, meine Großmutter mütterlicherseits ist Deutsche.«
»Bestimmt keine einfache Ehe in der damaligen politischen Situation.«
»Manchmal kam sie mir britischer vor als mein Großvater«, lachte Loreen. »Was machen wir mit unseren Männern?«
»Wir schicken David zurück und dann können sie gemeinsam einen Männerabend machen.«
»Du willst ihn wirklich loswerden.«
Ertappt – ich grinste.
»Es wird deinen Eltern auch nicht zu viel mit mir?«
»Loreen …«, setzte ich an und wurde von ihr unterbrochen.
»Sonst würdest du es nicht vorschlagen.«
»Ah, hier habt ihr zwei Hübschen euch vor mir versteckt.« Neugierig ging Davids Blick durch die Boxen, an denen er auf dem Weg zu uns vorbeikam.
»Duke steht auf dem Paddock hinter der Halle. Gib mir noch fünf Minuten, dann gehen wir gemeinsam rüber. Er mag keine Fremden.«
»In diesem Fall bekommst du auch zehn Minuten.«
»Ist bei Melanie alles in Ordnung?«
»Nichts gebrochen und nichts verstaucht. Sie sitzt wieder auf der Stute. Ein temperamentvolles Pferd.« Er zwinkerte mir zu.
Ich war stolz auf unsere Anlage. Seit Sam bei uns mitarbeitete auf unserem Hof Einzug gehalten hatte, erblühte der Gutshof wieder in seinem ehemaligen Glanz. Auch Henning trug dazu bei, mit all den technischen Verbesserungen, die er sich an den Wochenenden ausdachte, die er bei uns verbrachte. Vergessen war die Zeit der Verwahrlosung, wie ich sie insgeheim nannte. Wobei mir bewusst war, dass es Pferdehöfe gab, bei denen dieser Zustand die Normalität darstellte. Wir hatten die Möglichkeit geschaffen, dass auch die Pferde in den Boxen, die direkt an die Halle angrenzten, ihren Auslauf bekamen. Eine meiner wichtigsten Aufgaben sah ich darin, herauszufinden, welche Pferde am besten miteinander klarkamen. Soziale Kontakte waren in meinen Augen das A und O für das Wohlbefinden der Pferde. Sie mussten sich gegenseitig beknabbern und massieren können. Oder sich im Sommer die lästigen Insekten vom Leib halten.
Aktuell hatte ich Blue Boy zu Duke gepackt. Ein Appaloosa-Wallach, der bei uns in der Reha stand. Mit seiner ruhigen Art passte er hervorragend zu Duke. Sein Fell besaß tatsächlich einen blauen Ton; ein echter Blauschimmel mit dichten schwarzen Mähnenhaaren und ebensolchem Schweif. Zweijährig angeritten, seitdem im Turniersport als Reining-Pferd. Mit gerade mal zehn Jahren hatte der Wallach alles an europäischen Preisen in der Reining abgeräumt, was es abzuräumen gab. Mit akuten Rückenproblemen, mit denen die Besitzerin in drei Therapiezentren gewesen war, kam er auf Empfehlung einer Freundin zu mir, deren Pferd ich vor drei Monaten erfolgreich wieder fit gemacht hatte. Es war mein erster Kontakt zum Westernreitsport, mein erster Appaloosa, und ich war verliebt. Das dichte Schweif- und Mähnenhaar war untypisch für einen Appaloosa. Es konnte durch die erlaubte Einkreuzung von Quarter Horse und Vollblut in die Rasse vorkommen. Da Blue Boy nur ein Merkmal der Rasse zeigte, die gestreiften Hufe, durfte er für die Zucht nicht verwendet werden und war zweijährig gelegt worden. Seine Beine besaßen den zierlichen Knochenbau eines Vollbluts. Gemessen an seinem quadratischen, bemuskelten Körperbau wirkten die Hufe viel zu klein. Die Hinterhand wies deutlich hervortretende straffe Muskelstränge auf, ebenso die Brust. Die Hufe besaßen eine flache Stellung, was meiner Meinung nach eine Belastung für die Sehnen darstellte. Ich arbeitete gerade daran, das Pferd durch die gezielte Bearbeitung der Hufe und mit Mineralfutter ein Stück weit steiler zu stellen. Mein Gefühl war, dass ein Teil seiner Rückenproblematik daher rührte.
Blue Boy lag auf dem Sandboden, während Duke schräg hinter ihm stand. Den linken Huf hochgestellt, die Augen halb geschlossen, schien er zu dösen.