Ein Abend bei Claire - Gaito Gasdanow - E-Book

Ein Abend bei Claire E-Book

Gaito Gasdanow

4,3

Beschreibung

Die Geschichte einer großen Liebe und eine unvergessliche Schilderung Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts: 1917 begegnet der verträumte Kolja im vorrevolutionären St. Petersburg der bezaubernden Claire und verliebt sich in sie. Aber das Phantasiebild dieser Frau ist für ihn so viel wirklicher als die Realität, dass er ihr nicht zu folgen wagt, als die verheiratete Claire ihn eines Abends zu sich lädt. Nach der langen, sinnlosen Grausamkeit des Bürgerkriegs will er nun, Jahre später, Claire im Pariser Exil wiederfinden. Mit den Mitteln des modernen Erzählens erweckt Gaito Gasdanow die vergangene Welt seiner Jugend wieder zum Leben. Ein Abgesang auf die romantische Liebe, der bis heute ergreift und berührt.

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Hanser E-Book

Gaito Gasdanow

Ein Abend bei Claire

Roman

Deutsch und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 1930 unter dem Titel Вечер у Клэр bei Izdatel’stvo Ja. Povolockogo in Paris.

Die vorliegende Übersetzung wurde vom Institut Perevoda, Russland, gefördert.

ISBN 978-3-446-24537-2

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2014

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Motivs von Emil Bendel, 1910

Satz: Gaby Michel, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Ein Abend bei Claire

Anmerkungen

Nachwort von Rosemarie Tietze

Mein Leben gab mir die Gewähr,

Ich würde dir dereinst begegnen.

Alexander Puschkin

Claire war krank; ganze Abende hindurch saß ich bei ihr, und wenn ich aufbrach, verpasste ich jedesmal unweigerlich den letzten Zug der Untergrundbahn und ging dann zu Fuß von der Rue Raynouard zur Place Saint-Michel, in deren Nähe ich wohnte. Ich kam an den Pferdeställen der École Militaire vorüber, von dort schlug mir das Klirren der Ketten, mit denen die Pferde angebunden waren, und heftiger, für Paris so unüblicher Pferdegeruch entgegen; dann schritt ich durch die lange und schmale Rue Babylone, und gegen Ende dieser Straße blickte mich aus einer Photovitrine, im trügerischen Licht ferner Straßenlaternen, das Gesicht eines berühmten Schriftstellers an, gänzlich aus schrägen Flächen zusammengesetzt; die allwissenden Augen hinter der europäischen Hornbrille begleiteten mich ein halbes Häuserkarree, bis ich das funkelnde schwarze Band des Boulevard Raspail überquerte. Endlich erreichte ich die Gegend meines Hotels. Geschäftige alte Frauen, die Kleidung zerlumpt, überholten mich, trippelten auf schwachen Beinen; über der Seine brannten zahllose Lichter, im Dunkel versinkend, und wenn ich von der Brücke darauf blickte, hatte ich bald den Eindruck, als stünde ich über einem Hafen und als wäre das Meer bedeckt von ausländischen Schiffen, auf denen die Laternen angezündet waren. Ein letzter Blick zurück auf die Seine, und ich stieg hinauf in mein Zimmer und legte mich schlafen und tauchte sogleich in tiefe Finsternis; darin regten sich irgendwelche bebenden Leiber, manchmal kamen sie gar nicht dazu, sich in Gestalten zu verkörpern, wie mein Auge sie gewohnt war, und verschwanden wieder, unverkörpert; im Traum bedauerte ich ihr Verschwinden, empfand Mitgefühl für ihre, so stellte ich mir vor, unverständliche Traurigkeit, ich lebte und schlummerte in diesem unerklärbaren Zustand, den ich im Wachen niemals erfahren sollte. Das hätte mich bekümmern müssen; morgens hatte ich jedoch vergessen, was mir im Traum erschienen war, und die letzte Erinnerung an den gestrigen Tag war, dass ich wieder den Zug verpasst hatte. Abends begab ich mich erneut zu Claire. Ihr Mann war einige Monate zuvor nach Ceylon gereist, wir beide waren allein; und nur die Dienstmagd, die auf einem Holztablett mit dem Bild eines fein gezeichneten, hageren Chinesen Tee und Gebäck brachte, eine Frau von vielleicht fünfundvierzig Jahren, mit Pincenez, darum keineswegs einem Dienstboten gleich, und ewig war sie gedankenverloren, mal hatte sie die Zuckerzange vergessen, mal die Zuckerdose, mal eine Untertasse oder ein Löffelchen – nur die Dienstmagd unterbrach unsere Zweisamkeit, wenn sie hereinkam und fragte, ob Madame nicht etwas brauche. Und Claire, die aus irgendeinem Grund überzeugt war, die Dienstmagd wäre beleidigt, wenn sie um nichts gebeten würde, sagte: Ja, bringen Sie bitte das Grammophon mit den Schallplatten aus dem Kabinett von Monsieur – obgleich das Grammophon überhaupt nicht gebraucht wurde, und wenn die Dienstmagd gegangen war, blieb es dort stehen, wo sie es hingestellt hatte, und Claire hatte es sofort vergessen. Die Dienstmagd kam und ging gewiss fünfmal im Lauf des Abends; und als ich einmal zu Claire sagte, ihre Dienstmagd habe sich für ihr Alter sehr gut gehalten und ihre Beine verfügten über eine geradezu jugendliche Unermüdbarkeit, doch ansonsten hielte ich sie für nicht ganz normal, sie leide entweder an Bewegungsmanie oder schlicht an einem kaum merklichen, aber unbezweifelbaren Nachlassen ihrer geistigen Kräfte, was mit dem beginnenden Alter zu tun habe – da schaute Claire mich bedauernd an und erwiderte, ich solle meinen spezifischen russischen Scharfsinn besser an anderen wetzen. Und vor allem, meinte Claire, müsse ich mir ins Gedächtnis rufen, dass ich gestern erneut in einem Hemd mit unterschiedlichen Manschettenknöpfen erschienen sei, dass es sich nicht gehöre, wie ich das vorgestern getan hatte, meine Handschuhe auf ihr Bett zu legen und Claire an den Schultern zu packen, als ob ich sie nicht mit Handschlag, sondern an den Schultern begrüßen wollte, was nun wirklich das unmöglichste von der Welt sei, und dass sie, wollte sie alle meine Verstöße gegen die elementarsten Anstandsregeln aufzählen, sehr lange zu reden hätte ... sie dachte nach und sagte: fünf Jahre. Sie sagte das mit ernster Miene, und es tat mir leid, dass solche Kleinigkeiten sie bekümmern konnten, und ich wollte sie um Verzeihung bitten; aber sie wandte sich ab, ihr Rücken erbebte, sie führte ihr Tuch zu den Augen – und als sie mich schließlich anschaute, sah ich, dass sie lachte. Und sie erzählte mir, die Dienstmagd stecke mal wieder in einer Liebesaffäre und der Mann, der sie zu heiraten versprochen hatte, weigere sich jetzt rundweg. Deshalb sei sie so nachdenklich. »Was gibt es da groß nachzudenken ?« fragte ich. »Er weigert sich, sie zu heiraten. Braucht es denn soviel Zeit, um diese schlichte Tatsache zu begreifen ?« – »Sie stellen die Fragen immer viel zu direkt«, sagte Claire. »Bei Frauen geht das so nicht. Sie denkt nach, weil es ihr leid tut, wieso verstehen Sie das nicht ?« – »Hat die Affäre denn lange gedauert ?« – »Nein«, antwortete Claire, »ganze zwei Wochen.« – »Seltsam, sie ist doch immer schon so gedankenverloren gewesen«, bemerkte ich. »Vor einem Monat war sie ebenso melancholisch und verträumt wie jetzt.« – »Mein Gott«, sagte Claire, »damals hatte sie einfach eine andere Affäre.« – »In der Tat, sehr einfach«, sagte ich, »verzeihen Sie, ich wusste nicht, dass sich hinterm Pincenez Ihrer Dienstmagd die Tragödie eines weiblichen Don Juan verbirgt, der allerdings gerne geheiratet werden würde, im Gegensatz zum Don Juan der Literatur, der der Ehe ablehnend gegenüberstand.« Aber Claire unterbrach mich und deklamierte voll Pathos einen Satz, den sie auf einem Reklameplakat gelesen und über den sie beim Lesen Tränen gelacht hatte:

Heureux acquéreurs de la vraie Salamandre

Jamais abandonnés par le constructeur1

Danach kehrte das Gespräch zu Don Juan zurück, dann sprang es, irgendwie, zu den Glaubenskämpfern, zum Protopopen Awwakum, aber als ich bis zu den Versuchungen des heiligen Antonius gelangt war, hielt ich inne, da mir einfiel, dass derartige Gespräche Claire nicht sonderlich interessierten; sie bevorzugte andere Themen – Theater, Musik; am liebsten hatte sie jedoch Witze, von denen sie eine Unmenge kannte. Sie erzählte mir diese Witze, die äußerst geistreich und ebenso unanständig waren; daraufhin nahm das Gespräch eine besondere Wendung, auch die allerunschuldigsten Sätze schienen nun Zweideutigkeiten zu enthalten, und Claires Augen begannen zu glänzen; und wenn sie zu lachen aufhörte, wurden die Augen dunkel und frevelhaft und ihre dünnen Augenbrauen zogen sich zusammen; sobald ich jedoch näher zu ihr rückte, stieß sie ein zorniges Flüstern hervor: Mais vous êtes fou!2  – und ich rückte weg. Sie lächelte, und ihr Lächeln drückte deutlich aus: Mon Dieu, qu’il est simple!3 Worauf ich, in Fortsetzung des unterbrochenen Gesprächs, nun anfing, erbittert auf alles zu schimpfen, dem ich sonst gleichgültig gegenüberstand; ich bemühte mich, so barsch und kränkend wie möglich zu reden, als wollte ich mich für die Niederlage rächen, die ich gerade erlitten hatte. Claire stimmte meinen Argumenten spöttisch zu; und weil sie mir hier so leicht nachgab, wurde meine Niederlage noch augenfälliger. »Oui, mon petit, c’est très intéressant, ce que vous dites là4«, sagte sie, ohne ihr Lachen zu verbergen, das sich allerdings gar nicht auf meine Worte bezog, sondern immer noch auf jene Niederlage, und mit dem abschätzigen »là« unterstrich sie, dass sie allen meinen Beweisen nicht die geringste Bedeutung beimaß. Ich bezwang mich, überwand die neue Versuchung, mich Claire zu nähern, da ich einsah, dass es nun zu spät war; ich dachte angestrengt an etwas anderes, und Claires Stimme drang halb gedämpft zu mir; sie lachte und erzählte mir irgendwelche Nichtigkeiten, denen ich mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte, bis ich merkte, dass Claire sich einfach lustig machte. Es amüsierte sie, dass ich in solchen Augenblicken rein gar nichts mehr verstand. Am nächsten Tag kam ich zu ihr, wieder mit mir im reinen; ich hatte mir geschworen, mich ihr nicht mehr zu nähern, und wählte Gesprächsthemen, die der Gefahr auswichen, dass die erniedrigenden Augenblicke von gestern sich wiederholten. Ich sprach über all das Traurige, was ich hatte mitansehen müssen, und Claire wurde still und ernst und erzählte mir ihrerseits, wie ihre Mutter gestorben war. »Asseyez-vous ici5«, sagte sie und deutete auf das Bett, und ich setzte mich ganz nah zu ihr, und sie legte mir den Kopf auf die Knie und sprach: »Oui, mon petit, c’est triste, nous sommes bien malheureux quand même.6« Ich hörte ihr zu und wagte mich nicht zu rühren, da schon meine geringste Bewegung ihren Gram hätte entweihen können. Claire strich mit der Hand über die Decke, mal in der einen, mal der anderen Richtung; und ihre Trauer verausgabte sich gleichsam in diesen Bewegungen, die zunächst unbewusst waren, dann ihre Aufmerksamkeit erregten, und es endete damit, dass ihr am kleinen Finger ein Nagelhäutchen auffiel, das schlecht abgeschnitten war, und sie die Hand zum Nachttisch reckte, wo eine Schere lag. Und wieder lächelte sie ein ausdauerndes Lächeln, als ob sie eine lange Folge von Erinnerungen begriffen und für sich nachvollzogen hätte und als ob diese nun mit einem überraschenden, aber keineswegs betrüblichen Gedanken endeten; und Claire blickte mich aus im Nu dunkel gewordenen Augen an. Vorsichtig legte ich ihren Kopf zurück aufs Kissen und sagte: Verzeihen Sie, Claire, ich habe die Zigaretten in der Manteltasche vergessen – und ging hinaus in den Flur, und ihr leises Lachen folgte mir. Als ich zurückkehrte, bemerkte sie:

»J’étais étonnée tout à l’heure. Je croyais que vous portiez vos cigarettes toujours sur vous, dans la poche de votre pantalon, comme vous le faisiez jusqu’à présent. Vous avez changé d’habitude ?7«

Und sie schaute mir in die Augen, lachend und mich bedauernd, und ich wusste, dass sie nur zu gut begriff, weshalb ich aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen war. Noch dazu war ich so unvorsichtig, mein Zigarettenetui sogleich aus der hinteren Hosentasche zu ziehen. »Dites moi«, sagte Claire, wie wenn sie mich anflehte, ihr die Wahrheit zu sagen, »quelle est la différence entre un trench-coat et un pantalon ?8«

»Claire, das ist sehr grausam«, erwiderte ich.

»Je ne vous reconnais pas, mon petit. Mettez toujours en marche le phono, ça va vous distraire.9«

Als ich an jenem Abend Claire verließ, hörte ich aus der Küche, leise und brüchig, die Stimme der Dienstmagd. Sie sang mit Wehmut ein fröhliches Lied, und das wunderte mich.

C’est une chemise rose

Avec une petite femme dedans,

Fraîche comme la fleur éclose,

Simple comme la fleur des champs.10

Sie legte soviel Melancholie in diese Worte, soviel trägen Kummer, dass die Worte nun anders klangen als sonst, und der Satz »Fraîche comme la fleur éclose« rief mir gleich das betagte Gesicht der Dienstmagd ins Gedächtnis, ihr Pincenez, ihre Liebesaffäre und ihre ständige Gedankenverlorenheit. Ich erzählte es Claire; am Unglück der Dienstmagd nahm sie Anteil – denn Claire konnte nichts dergleichen zustoßen, dieses Mitgefühl weckte in ihr keine persönlichen Gefühle oder Befürchtungen, außerdem gefiel ihr sehr das Liedchen:

C’est une chemise rose

Avec une petite femme dedans.

Sie verlieh den Worten die unterschiedlichsten Nuancen, mal fragend, mal bestätigend, mal triumphierend und spöttisch. Jedesmal, wenn ich die Melodie auf der Straße oder im Café hörte, wurde mir ganz anders zumute. Einmal kam ich zu Claire und schmähte das Liedchen, es sei zu französisch, sagte ich, sei vulgär, und diese leichte Geistreichelei hätte einen auch nur halbwegs begabten Komponisten niemals hingerissen; dies sei eben der Hauptunterschied zwischen der französischen Psyche und ernsthaften Dingen, sagte ich, dies sei eine Kunst, die echter Kunst ebensowenig gleiche wie eine künstliche Perle einer echten. »Es fehlt darin das Allerwichtigste«, sagte ich, und damit hatte ich meine sämtlichen Argumente erschöpft und war wütend auf mich selbst. Claire nickte bestätigend, dann nahm sie meine Hand und sagte:

»Il n’y manque qu’une chose.11«

»Was denn ?«

Sie lachte und trällerte:

C’est une chemise rose

Avec une petite femme dedans.

Als Claire genesen war und einige Tage nicht mehr im Bett, sondern im Sessel oder auf der Chaiselongue verbracht hatte und sich durchaus wohl fühlte, verlangte sie, ich solle sie in den Kinematographen begleiten. Nach dem Kinematographen saßen wir noch eine Stunde in einem Nachtcafé. Claire war sehr barsch zu mir, unterbrach mich oft; wenn ich scherzte, zügelte sie ihr Lachen, und wenn sie gegen ihren Willen lächeln musste, sagte sie: »Non, ce n’est pas bien dit, ça!12« Und da sie, wie mir schien, schlechter Laune war, meinte sie, auch andere seien mit allem unzufrieden und gereizt. Verwundert fragte sie mich: »Mais qu’est-ce que vous avez ce soir ? Vous n’êtes pas comme toujours13«, obwohl ich mich kein bisschen anders als sonst verhielt. Ich brachte sie nach Hause; es regnete. Als ich ihr an der Tür zum Abschied die Hand küsste, sagte sie plötzlich gereizt: »Mais entrez donc, vous allez boire une tasse de thé14« – und das brachte sie in derart ärgerlichem Tonfall vor, als ob sie mich fortjagen wollte: Nun gehen Sie schon, sehen Sie denn nicht, dass Sie mir auf die Nerven fallen ? Ich folgte ihr. Den Tee tranken wir schweigend. Mir war schwer ums Herz, ich trat zu Claire und sagte:

»Claire, seien Sie mir nicht böse. Ich habe zehn Jahre auf die Begegnung mit Ihnen gewartet. Und ich bitte Sie um gar nichts ...« Ich wollte hinzufügen, eine so lange Wartezeit berechtige zu der Bitte um schlichteste, minimalste Nachsicht; aber Claires Augen wechselten aus Grau fast in Schwarz; ich sah entsetzt – da ich zu lange darauf gewartet hatte und nun nicht mehr darauf hoffte –, dass Claire dicht vor mich hintrat und ihre Brust mein zugeknöpftes zweireihiges Jackett berührte; sie umarmte mich, ihr Gesicht kam noch näher; der Eisgeruch des Gefrorenen, das sie im Café gegessen hatte, umfing mich mit einemmal ganz außerordentlich; und Claire sagte: »Comment ne compreniez vous pas ?15«, und ein krampfhaftes Zittern lief durch ihren Körper. Claires umschleierte Augen, die über die Gabe so vieler Wandlungen verfügten – mal waren sie grausam, mal schamlos, mal lachend –, diese verhangenen Augen sah ich nun lange vor mir; und als Claire eingeschlafen war, drehte ich mich mit dem Gesicht zur Wand, und mich suchte die frühere Traurigkeit heim; die Traurigkeit lag in der Luft, ihre lichten Wellen flossen über Claires weißen Körper, an ihren Beinen und Brüsten entlang; und als unsichtbarer Atem strömte die Traurigkeit aus Claires Mund. Ich lag neben Claire und konnte nicht einschlafen; und als ich den Blick von ihrem blass gewordenen Gesicht abwandte, entdeckte ich, dass das Blau der Tapeten in Claires Zimmer mir auf einmal heller und merkwürdig verändert vorkam. Das tiefe Blau, wie ich es vor meinen geschlossenen Augen sah, war mir stets als Ausdruck eines entschlüsselten Geheimnisses erschienen – und dieses Entschlüsseln war düster und unvermittelt gewesen und gleichsam erstarrt, bevor alles restlos preisgegeben war; wie wenn jemandes geistiges Bemühen plötzlich gestockt hätte und erstorben wäre, und statt dessen wäre der tiefblaue Hintergrund aufgetaucht. Jetzt hatte er sich in einen helleren verwandelt; als ob das Bemühen noch nicht geendet und das tiefe Blau, heller geworden, eine überraschende, gedämpft melancholische Nuance in sich entdeckt hätte, die auf seltsame Weise meinem Gefühl entsprach und zweifellos einen Bezug hatte zu Claire. Lichtblaue Phantome mit abgehackten Händen saßen in den beiden Sesseln, die im Zimmer standen; sie waren einander gleichmütig feind, wie Menschen, die dasselbe Schicksal ereilt hat, dieselbe Strafe, doch für unterschiedliche Verfehlungen. Die lila Tapetenbordüre hatte sich zu einer Wellenlinie verzogen, gleichsam zum kartographischen Zeichen für den Weg, den ein Fisch in einem unbekannten Meer zurücklegt; und durch die zuckenden Gardinen am offenen Fenster drängte zu mir andauernd, doch erfolglos, eine ferne Luftströmung, ebenso lichtblau gefärbt und durchsetzt mit einer langen Galerie von Erinnerungen, die so gewöhnlich wie Regen herabfielen und ebenso unaufhaltsam; aber Claire drehte sich um, erwachte und murmelte: »Vous ne dormez pas ? Dormez toujours, mon petit, vous serez fatigué le matin16«, und ihre Augen wollten sich schon erneut verdunkeln. Allerdings war sie außerstande, die Schlafbenommenheit abzuschütteln, und kaum hatte sie den Satz gesagt, schlief sie wieder ein; ihre Augenbrauen blieben hochgezogen, und im Schlaf wunderte sie sich gleichsam darüber, was jetzt mit ihr geschah. Dass sie sich darüber wunderte, hatte etwas für sie besonders Typisches: Gab sie sich der Macht des Schlafs oder der Melancholie oder eines anderen Gefühls hin, ganz gleich, wie stark es war, blieb sie doch stets sie selbst; auch die stärksten Erschütterungen, so schien es, konnten diesen so vollendeten Körper nicht im mindesten verändern, konnten diesen letzten, unbesiegbaren Zauber nicht zerstören, der mich dazu gebracht hatte, zehn Jahre meines Lebens auf die Suche nach Claire zu verwenden und sie nie und nirgends zu vergessen. ›Aber in jeder Liebe steckt auch Traurigkeit‹, ging es mir durch den Sinn, ›Traurigkeit über die Vollendung und den näher rückenden Tod der Liebe, falls sie glücklich ist, und Traurigkeit über ihre Unmöglichkeit und den Verlust dessen, was uns niemals gehört hat, falls die Liebe vergeblich bleibt.‹ Und wie ich mich grämte, dass ich keine Reichtümer hatte, so hatte ich früher bedauert, dass Claire anderen gehörte; und ebenso jetzt, da ich auf ihrem Bett lag, in ihrer Wohnung in Paris, in den lichtblauen Wolken ihres Zimmers, die ich bis zu diesem Abend für nie erfahrbar und nie verwirklichbar gehalten hatte und die nun Claires weißen, an drei Stellen von so beschämenden und quälend verführerischen Haaren bedeckten Körper umgaben – ebenso bedauerte ich jetzt, dass ich nicht mehr von Claire träumen konnte, wie ich immer von ihr geträumt hatte; und dass noch viel Zeit vergehen würde, bis ich mir ein anderes Bild von ihr geschaffen hätte und es in anderem Sinne für mich ebenso unerreichbar wäre, wie dieser Körper, diese Haare, diese lichtblauen Wolken bisher für mich unerreichbar gewesen waren.

Ich dachte an Claire, an die Abende, die ich bei ihr verbracht hatte, und nach und nach kam mir alles in den Sinn, was ihnen vorausgegangen war; und mich bedrückte, wie unmöglich es war, das alles zu begreifen und in Worte zu kleiden. An jenem Abend hatte ich deutlicher denn je vor Augen, dass ich, trotz sämtlicher Mühen, nicht auf einen Schlag die endlose Folge von Gedanken, Eindrücken und Empfindungen erfassen und erfühlen könnte, die allesamt in meinem Gedächtnis als eine Reihe von Schatten auftauchten, als Reflexe im vagen und wässrigen Spiegel späterer Vorstellungen. Die schönsten, ergreifendsten Gefühle, die ich jemals erlebt habe, verdanke ich der Musik; ihre zauberische, dem Augenblick verhaftete Daseinsweise ist jedoch etwas, wonach ich allerdings erfolglos strebe – so leben kann ich nicht. Sehr oft begann ich in einem Konzert mit einemmal zu verstehen, was mir bislang als unfassbar erschienen war; die Musik rief sonderbare körperliche Empfindungen in mir wach, deren ich mich nicht für fähig erachtet hätte, aber sobald die letzten Orchesterklänge erstarben, verschwanden diese Empfindungen, und ich fand mich erneut in der Ungewissheit und Unsicherheit, die mir oft eigen waren. Die Krankheit, die mich so unangemessen zwischen Wirklichem und Eingebildetem verharren ließ, bestand darin, dass ich zwischen den Früchten meiner Einbildungskraft und echten, unmittelbaren Gefühlen, hervorgerufen durch äußere Ereignisse, nicht zu unterscheiden wusste. Gleichsam als fehlte mir der seelische Tastsinn. Ein jeder Gegenstand hatte in meinen Augen fast keine exakten körperlichen Konturen; kraft dieser sonderbaren Schwäche konnte ich nie eine Zeichnung anfertigen, nicht einmal eine schlechte; auch später, im Gymnasium, konnte ich mir trotz allen Bemühens die komplizierten Linien von Planskizzen nicht vorstellen, obwohl mir klar war, wozu das Liniengeflecht diente. Andererseits hatte ich stets ein gutes visuelles Gedächtnis, und ich weiß bis heute nicht, wie dieser offenkundige Widerspruch aufzulösen wäre – er war der erste jener zahllosen Widersprüche, die mich zuletzt in kraftlosen Träumereien versinken ließen; sie bestärkten mich in dem Bewusstsein, das Wesen abstrakter Ideen zu ergründen sei mir unmöglich; und dieses Bewusstsein wiederum entzog mir alle Selbstsicherheit. Ich war deshalb sehr schüchtern; und dass ich als Kind den Ruf hatte, ein frecher Junge zu sein, ließ sich, nach dem Verständnis einiger Menschen, beispielsweise meiner Mutter, eben mit dem starken Bedürfnis erklären, diesen ständigen Mangel an Selbstsicherheit zu überwinden. Später nahm ich die Gewohnheit an, mit den verschiedenartigsten Menschen zu verkehren, ich entwickelte sogar bestimmte Regeln der Gesprächsführung, von denen ich fast nie abwich. Dazu hatte ich mir ein paar Dutzend Gedanken zurechtgelegt, dem Anschein nach ziemlich komplizierte und in Wirklichkeit höchst primitive, jedem Gesprächspartner fassliche Gedanken; diese schlichten, allgemein anerkannten und unvermeidlichen Begriffe waren mir im Grunde jedoch fremd und uninteressant. Allerdings konnte ich meine seichte Neugier nicht überwinden, es machte mir Vergnügen, bestimmte Menschen zu Offenherzigkeit zu verleiten; ihre erniedrigenden und erbärmlichen Geständnisse lösten bei mir auch niemals berechtigten und verständlichen Abscheu aus; er hätte aufkommen müssen, kam aber nicht auf. Das verhielt sich deshalb so, glaube ich, weil heftige negative Gefühle für mich untypisch waren, äußeren Ereignissen gegenüber war ich viel zu gleichgültig; mein lautloses Innenleben hatte für mich eine unvergleichlich größere Bedeutung. Dennoch war es in meiner Kindheit stärker mit der Außenwelt verbunden als danach; später rückte es immer weiter von mir weg, und um mich erneut in diese dunklen Räume mit ihrer schweren und spürbaren Luft zu versetzen, musste ich jedesmal eine Entfernung zurücklegen, die desto länger wurde, je mehr Lebenserfahrung ich angehäuft hatte, je größer also mein Schatz an Überlegungen und visuellen oder geschmacklichen Empfindungen war. Bisweilen dachte ich entsetzt, irgendwann käme vielleicht der Moment, da ich nicht mehr die Möglichkeit hätte, in mich zurückzukehren; dann würde ich zum Tier werden – und bei diesem Gedanken tauchte vor meinem geistigen Auge stets der Kopf eines Hundes auf, der Abfälle aus der Müllgrube frisst. Die Gefahr, dass Eingebildetes und Wirkliches sich überlagerten, was ich für meine Krankheit hielt, war mir jedoch nie fern; und bisweilen, bei seelischen Fieberanfällen, konnte ich mein eigentliches Dasein gar nicht mehr empfinden; mir klang und lärmte es in den Ohren, und auf der Straße wurde mir das Gehen auf einmal so beschwerlich, so beschwerlich, als suchte mein massiger Körper sich in jener dichten Luft fortzubewegen, in jenen düsteren Landschaften meiner Phantasie, durch die so leicht der verwunderte Schatten meines Kopfes glitt. In solchen Augenblicken ließ mich das Gedächtnis im Stich. Ohnehin war es die unvollkommenste meiner Geistesgaben, und das, obwohl ich mir mit Leichtigkeit ganze Druckseiten auswendig merken konnte. Es überdeckte meine Erinnerungen mit einem durchsichtigen gläsernen Spinnennetz und zerstörte ihre wunderbare Unbeweglichkeit; das Gedächtnis für Gefühle war unendlich viel reicher und stärker als das für Gedanken. Bis zu meiner ersten Empfindung konnte ich jedoch nie zurückgehen, ich wusste nicht, wie sie gewesen war; mir bewusst zu werden, was geschieht, und die Ursachen zu verstehen begann ich erst, als ich ungefähr sechs war; und ganze acht war ich, als ich dank einer recht großen Zahl von Büchern, die vor mir weggesperrt wurden und die ich trotzdem las, dazu fähig war, meine Gedanken schriftlich darzulegen; ich verfasste damals eine ziemlich lange Erzählung über einen Tigerjäger. Aus meiner frühen Kindheit hat sich mir lediglich ein Ereignis eingeprägt. Ich war drei Jahre alt; meine Eltern kehrten für einige Zeit nach Petersburg zurück, von wo sie nicht lange davor weggezogen waren; auch wollten sie nur kurz bleiben, vielleicht zwei Wochen. Sie quartierten sich bei der Großmutter ein, in ihrem großen Haus an der Kabinetskaja uliza, dem Haus, wo ich zur Welt gekommen war. Die Fenster der Wohnung, die sich im dritten Stock befand, gingen auf den Hof. Ich weiß noch, dass ich allein im Salon geblieben war und meinen Spielzeughasen mit einer Möhre fütterte, die ich von der Köchin erbettelt hatte. Plötzlich fesselten seltsame, aus dem Hof heraufdringende Töne meine Aufmerksamkeit. Sie hörten sich an wie ein leises Scharren, bisweilen unterbrochen von einem langgezogenen metallischen Klingen, einem sehr feinen und reinen. Ich ging zum Fenster, aber wie sehr ich mich auch auf die Zehenspitzen reckte, um etwas zu sehen, es wollte mir nicht gelingen. Darauf rollte ich einen großen Sessel zum Fenster, kletterte hinauf und stieg von dort aufs Fensterbrett. Als wäre es heute, sehe ich unten den verlassenen Hof und zwei Männer, die Holz sägen; sie bewegten sich abwechselnd vor und zurück, wie schlecht gefertigtes Blechspielzeug mit einer Mechanik innendrin. Manchmal hielten sie inne, um auszuruhen; dann war das Klingen der plötzlich angehaltenen und nachbebenden Säge zu hören. Ich schaute ihnen zu wie verzaubert und glitt, ohne es zu merken, aus dem Fenster hinaus. Der ganze obere Teil meines Körpers hing schon draußen im Hof. Die Säger entdeckten mich; sie hielten inne, hoben den Kopf und schauten nach oben, sagten aber kein Wort. Es war Ende September; ich weiß noch, dass ich plötzlich die kalte Luft spürte und, da die Ärmel hochgerutscht waren, an den Händen zu frieren anfing. Unterdessen war Mutter ins Zimmer gekommen. Sie näherte sich leise dem Fenster, nahm mich herab, machte das Fenster zu – und fiel in Ohnmacht. Dieser Zwischenfall hat sich mir außerordentlich tief eingeprägt; noch an ein weiteres Ereignis erinnere ich mich, das sich viel später zutrug, und diese beiden Erinnerungen versetzen mich jeweils unmittelbar in die Kindheit, in jene Zeit, die zu verstehen mir jetzt nicht mehr gegeben ist.

Dieses zweite Ereignis war das folgende. Kaum dass mir Lesen beigebracht worden war, las ich in einer kleinen Anthologie für Kinder die Erzählung von einem Waisenkind, das die Lehrerin aus Barmherzigkeit in die Dorfschule aufgenommen hatte. Der Junge half dem Hausmeister, den Ofen zu heizen, er hielt die Räume sauber und lernte sehr eifrig. Da brannte eines Tages die Schule ab, und der Junge stand im Winter, bei schlimmem Frost, auf der Straße. Kein einziges Buch sollte mich später so beeindrucken; ich sah das Waisenkind vor mir, sah seine toten Eltern und die verkohlten Ruinen der Schule; und mein Kummer war so stark, dass ich zwei Tage lang heulte, fast nichts aß und sehr wenig schlief. Mein Vater war aufgebracht und sagte:

»Da habt ihr dem Jungen so früh das Lesen beigebracht, und das ist jetzt dabei herausgekommen. Er muss herumrennen, nicht lesen. Gott sei Dank hat er dafür noch Zeit. Weshalb werden in Kinderbüchern bloß solche Erzählungen gedruckt ?«

Mein Vater starb, als ich acht Jahre alt war. Ich weiß noch, wie Mutter mich zu der Heilanstalt brachte, wo er lag. Ich hatte ihn gewiss anderthalb Monate nicht gesehen, von Beginn der Krankheit an, und mich bestürzte sein abgezehrtes Gesicht, der schwarze Bart und die brennenden Augen. Er strich mir über den Kopf und sagte tonlos, zu Mutter gewandt:

»Behüte die Kinder.«

Mutter konnte ihm nicht antworten. Darauf fügte er hinzu, mit ungewöhnlichem Nachdruck:

»Mein Gott, wenn man mir sagte, ich wäre ein einfacher Hirte, nur ein Hirte, aber ich würde leben !«

Dann schickte Mutter mich aus dem Zimmer. Ich ging hinaus in das Gärtchen; unter meinen Füßen knirschte der Sand, es war heiß und hell und sehr weit zu sehen. Als ich mit Mutter in der Kutsche saß, sagte ich:

»Mama, trotz allem sieht Papa nicht schlecht aus, ich hatte gedacht, es wäre viel schlimmer.«

Sie gab nichts zur Antwort, drückte bloß meinen Kopf gegen ihre Knie, und so fuhren wir nach Hause.