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Gaito Gasdanows Romane wurden von der Kritik als Sternstunde der Literaturgeschichte gefeiert – nun erscheinen erstmals seine besten Erzählungen auf Deutsch.
Genossin Brack hätte „vor unserer Zeit und in anderer historischer Umgebung zur Welt kommen müssen“ und der Exilrusse Pawlow beschließt, „sich genau am fünfundzwanzigsten August im Bois de Boulogne zu erschießen. „Schwarze Schwäne“ vereint Gaito Gasdanows beste Erzählungen und spannt den Bogen von der vorrevolutionären Zeit über die Sowjetepoche bis ins französische Exil. Wie in den Romanen liegen auch in den Erzählungen Lebensüberdruss und Gewalt ganz nah bei Schönheit und Verletzlichkeit. Und immer „versenkt man sich in einen Stil, dessen Makellosigkeit entwaffnend ist, und lernt Menschen kennen, für deren Seelenlandschaften man keine verlässlichen Karten mehr hat“ (Die Zeit).
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Seitenzahl: 329
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Gaito Gasdanows Romane wurden von der Kritik als Sternstunde der Literaturgeschichte gefeiert — nun erscheinen erstmals seine besten Erzählungen auf Deutsch. Genossin Brack hätte »vor unserer Zeit und in anderer historischer Umgebung zur Welt kommen müssen« und der Exilrusse Pawlow beschließt, »sich genau am fünfundzwanzigsten August im Bois de Boulogne zu erschießen. »Schwarze Schwäne« vereint Gaito Gasdanows beste Erzählungen und spannt den Bogen von der vorrevolutionären Zeit über die Sowjetepoche bis ins französische Exil. Wie in den Romanen liegen auch in den Erzählungen Lebensüberdruss und Gewalt ganz nah bei Schönheit und Verletzlichkeit. Und immer »versenkt man sich in einen Stil, dessen Makellosigkeit entwaffnend ist, und lernt Menschen kennen, für deren Seelenlandschaften man keine verlässlichen Karten mehr hat« (Die Zeit).
Gaito Gasdanow
Schwarze Schwäne
Erzählungen
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwortvon Rosemarie Tietze
Carl Hanser Verlag
Genossin Brack
Martin Raskolinos
Hawaiigitarren
Schwarze Schwäne
Der Eiserne Lord
Die Befreiung
Hannah
Der nächtliche Gefährte
Eine Seelenmesse
Anmerkungen
Erlebtes und Erdachtes
Doch wirkt der Gram vergangner Zeit wie Wein
Auf mein Gemüt — je älter, desto stärker.
Puschkin
Mir schien es stets unbezweifelbar, dass Tatjana Brack vor unserer Zeit und in anderer historischer Umgebung hätte zur Welt kommen müssen. Sie hätte ihr Leben auf den weichen Betten des neunzehnten Jahrhunderts zugebracht, in Equipagen, bespannt mit holzschnitthaften Pferdchen, oder auf Schiffsdecks unter koketten weißen Segeln. An vielen Intrigen wäre sie beteiligt gewesen, hätte einen Salon und reiche Gönner gehabt, und gestorben wäre sie in Armut. Aber Tatjana Brack trat erst im zwanzigsten Jahrhundert in Erscheinung, darum verlief ihr Leben anders; und mit ihrer Biographie sind einige blutige Vorkommnisse verbunden, in die General Soikin, einer der sanftmütigsten Menschen, die ich je gekannt habe, wider Willen verwickelt war.
Zu der Zeit, als Tatjana Brack ihre traurige Karriere begann, war sie achtzehn Jahre alt, und wir hatten unser Wohlgefallen an ihrem weißblonden Haar und der erstaunlichen Vollkommenheit ihres Körpers. Sie war die außereheliche Tochter eines reichen jüdischen Bankiers und wohnte bei ihrer Mutter, einer kleinen, grauhaarigen Frau mit Augen voller Wärme. In der Wohnung war es immer düster; vor tiefblauen Tapeten hingen nichtssagende, finstere Bilder, in mattem Schwarz schimmerte das Klavier, auf schweren Etageren glänzten vergoldete Buchrücken. Tatjanas Mutter gab Musik- und Französisch-Stunden.
Als Tatjana Brack auf die neunzehn zuging und ihre Augen plötzlich eine aufrührerische Härte annahmen, erkannten wir, dass sich die klebrigen Teppiche des Lasters bereits unter ihren Füßen ausbreiteten. Wir täuschten uns nicht; einmal kam Tatjana erst weit nach Mitternacht heim, und wir erfuhren, dass sie die Zeit zunächst im Restaurant Rumänien, dann im Hotel Europa verbracht hatte, und das in Gesellschaft des Geschäftsmanns Sergejew. Es gab allen Anlass, über die Folgen ihrer Bekanntschaft mit Sergejew in Sorge zu sein. Darauf wies uns General Soikin hin, ein athletischer Mann von vierunddreißig Jahren; der diente damals in keiner Armee und war auch gar kein Soldat, »General« war sein Spitzname. Unser »Wir« bestand aus drei Mann, Soikin selbst, seinem Freund Wila, einem ehemaligen Gymnasiallehrer, und mir.
Ich wäre nicht imstande, genau zu benennen, was unsere Existenz eigentlich mit dem Leben von Tatjana Brack verband. In diesem Punkt waren wir nicht mit Wila einverstanden, dem einzigen von uns, der für Erörterungen und Analysen etwas übrighatte. Er sagte, es gebe Frauentypen, die imstande seien, eine Epoche zu verkörpern, und in Tatjana Brack liebten wir das flexible Spiegelbild, das alles reflektiere, woran wir uns gewöhnt hätten und was uns teuer sei. Außerdem, behauptete Wila, liebten wir an Tatjana Brack ihre ungewöhnliche Ganzheit, ihre Festigkeit und Bestimmtheit, die auf unerklärliche Weise mit Fraulichkeit und Warmherzigkeit einhergingen. »Das alles trifft es nicht, Wila«, sagte der General, »nicht darum geht es.«
Ich weiß allerdings, dass General Soikin für Tatjana eine außergewöhnliche, verhaltene Liebe hegte — und weiß auch, dass Tatjana Brack davon nie etwas ahnte. Die Liebe des Generals glich überhaupt nicht den üblichen Liebesgeschichten draufgängerischer junger Männer; der Gedanke, Tatjana in Besitz nehmen zu können, hätte ihn wahrscheinlich erschreckt. Der General liebte Tatjana, weil seine uneigennützige Natur, die im Leben auf nichts als — ihn kränkende — Grobheit und Bedrängnis stieß, in Tatjana Brack eine Art sentimentaler Oase errungen hatte. Sein Leben lang war der General in die Musik verliebt, er sang Romanzen und spielte Mandoline. Und er hatte begriffen, dass wohl niemand seine schüchterne, kindliche Bescheidenheit, die Romanzen wie die billige Mandoline brauchen konnte; aber wenn Tatjana, die wir oft besuchten, ihn bat, noch etwas zu singen, kam es ihm auf einmal fast so vor, als wäre auch er, der General, nicht umsonst auf der Welt. Und für die maßlose Freude, die er in solchen Augenblicken empfand, hätte er alles gegeben, was er hatte.
Wila war ein Mensch vollkommen unbestimmten Typs. Er war ziemlich gebildet, aber trotz seines Hangs zum Philosophieren hatte er niemals eigene Überzeugungen und nicht einmal Gewohnheiten, also rein gar nichts von alledem, wodurch ein Mensch sich vom anderen unterscheidet. Seine einzige Eigenschaft war organische Furchtlosigkeit und wohl noch ein ungewöhnliches, instinktives Orientierungsvermögen — es ist mir unvorstellbar, Wila könnte sich irgendwo verirren oder irgendwas nicht finden. Mit General Soikin verband ihn fünfjährige Freundschaft und irgendeine uralte Geschichte, über die weder der General noch er sich auslassen mochte. Jedenfalls folgte er dem General überallhin, auch wenn wir Tatjana Brack besuchten, war er unser beständiger Gefährte.
Und schließlich — war nicht Tatjana Brack die strahlendste Heldin unserer Phantasie? Wir waren verzaubert vom Winter und der Außergewöhnlichkeit unseres Lebens; wir waren bereit zu allen erdenklichen Bewährungsproben, uns kümmerte weder unsere Sicherheit noch unsere Ruhe; hinterm steinernen Rücken des Generals wären wir zur Verteidigung Tatjana Bracks ebenso losgezogen, wie wir aufgebrochen wären, um Australien zu erobern oder Moskau in Brand zu stecken.
Andrerseits, was hatte der General schon zu verlieren? Er hatte weder Häuser noch Ländereien, noch Geld, hatte nur seine Mandoline, gekauft per Zufall, und seine Melancholie, beschienen von einer Petroleumlampe.
Doch erst viel später versuchten wir, unsere Liebe zu Tatjana Brack zu erklären; in früheren, besseren Zeiten mochten wir daran nicht denken. Und in dem Augenblick, über den ich schreibe, beschäftigte uns nur ein Gedanke, nämlich, wie wir Tatjana von dem Geschäftsmann Sergejew erretten könnten.
Niemand wusste, weshalb er Geschäftsmann war und was er verkaufte, denn seine Zeit verbrachte er meistens mit Frauen, im Theater, in der Operette und in Tingeltangels draußen vor der Stadt; er galt als jemand, der in höchst verwerfliche Dinge verwickelt war, sich aber nie greifen ließ, sondern entglitt, ihn direkt zu beschuldigen war unmöglich. Den Frauen gefiel er sehr, ich glaube, weil er mit honigsüßer Tenorstimme sprach, lange Wimpern hatte und einen unüberwindlichen Hang zu Igor-Sewerjanin-Zitaten besaß. Bei näherer Bekanntschaft stellte sich heraus, dass er dümmlich war, allerdings von einer besonderen, prätentiösen und koketten, ich würde sagen, einer unrussischen Dummheit. In seinem Vorgehen und unter schwierigen Umständen war er unerbittlich, bestialisch grausam; man erzählte sich, einer seiner Geliebten habe er die Körperhaare abgesengt und sie habe sich zwei Wochen lang nicht rühren können.
Obgleich wir sehr wohl wussten, dass Tatjana Brack Ratschläge überhaupt nicht mochte, schickten wir Wila mit dem Auftrag zu ihr, sie vor den gefährlichen Treffen mit Sergejew zu warnen. Tatjana hörte sich seine Argumente nicht bis zum Ende an, fast hätte sie Wila aus dem Haus gejagt.
»Nein«, sagte er seufzend. »Ein außerordentlich mutiges junges Mädchen. Nicht einmal vor Geschlechtskrankheiten hat sie Angst. Weißt du, General, das führt zu nichts. Du solltest dich persönlich mit Sergejew unterreden.«
»Gut, ich unterrede mich persönlich mit ihm«, erwiderte nachdenklich der General.
*
Dieser Tag war überhaupt einer der misslungensten in Sergejews Leben. Ein ferner Verwandter von ihm, ein kleiner, boshafter, zerlumpter Buckliger, kam angereist und verlangte Geld; andernfalls ginge er nicht fort. Sergejew suchte Ausgaben immer zu vermeiden, in dem Fall jedoch brachte ihn die tumbe Hartnäckigkeit dieser Missgeburt um den Verstand.
»Ich schmeiß dich aus dem Fenster«, sagte er leise und wutentbrannt zu dem Buckligen. Der fing an zu greinen.
»Na klar, ein Krüppel ist schnell rausgeschmissen! Gib mir Geld!«
Sergejew gab ihm Geld; danach verpasste er dem Zwerg ein paar Ohrfeigen, worauf der Zwerg, das Gesicht geschwollen, von der Straße gegen Sergejews Fenster Steine warf und die Scheiben kaputtschlug, und als Sergejew, rasend vor Zorn, aus dem Haus stürmte, nahm der Bucklige Reißaus, drehte sich aber rasch noch um, blickte auf seinen Verfolger und streckte ihm die Zunge raus, dann flitzte er davon. Der Zwerg rannte in ungewöhnlichem Tempo, er sah aus wie ein hässliches und grässliches Tier. Sergejew jagte ihm nicht nach.
Über irgendwelche unklaren Kanäle hatte Wila erfahren, dass Sergejew um neun Uhr abends Tatjana zum Rendezvous geladen hatte, wieder ins Restaurant Rumänien. Wir fanden, dieses Rendezvous dürfe nicht stattfinden, und um acht Uhr begab sich General Soikin zu einer persönlichen Unterredung mit Sergejew. Sergejew saß, in seinen Pelz gewickelt, im Zimmer mit den kaputtgeschlagenen Fensterscheiben, fror und haderte mit aller Welt. Den General attackierte er nach wenigen Worten mit Fäusten, bereute es aber sogleich, da der gewöhnlich sanftmütige General, der auf seine diplomatischen Fähigkeiten große Stücke hielt und zu nichts weniger neigte, als Körperkraft einzusetzen, mit einemmal fuchsteufelswild und gefährlich wurde. Er schlug die zahllosen Vasen mit Blumen, die in Sergejews Zimmer standen, kurz und klein, zerbrach die Stühle, zertrümmerte den Spiegel, riss die Teppiche von den Wänden und warf sie aus dem Fenster. Sergejew hätte er beinahe erstickt, lange schleifte er ihn durchs verheerte Zimmer, und die Vasenscherben bohrten sich in Sergejews Leib; dann wieder schüttelte er ihn, warf ihn angewidert auf den Boden — und als er nach einer halben Stunde das Zimmer verließ, lag Sergejew, den Mund mit den Goldzähnen geöffnet, stumm auf dem Rücken. Sergejews Nachbarn aus den möblierten Zimmern, wo das Ganze stattfand, empfingen General Soikin vor der Tür, alle bewaffnet mit Flaschen, Stöcken und anderen, mehr oder weniger wuchtigen Gegenständen, die dazu ausersehen waren, den General zu zerschmettern. Der General retirierte zügig, schloss hinter sich die Tür ab, stieg zum Fenster hinaus und rannte davon. Als er bei uns eintraf, wirkte er sehr verstört.
Überhaupt bestand Soikins gesamtes Leben durchweg aus Enttäuschungen. Im Prinzip war er Pazifist; Schlägereien ertrug er nicht, Menschen, die ihre Fäuste gebrauchten, verachtete er, und nichts auf der Welt mochte er mehr als höfliche Gespräche und die Mandoline. In einer idyllischen Republik des Humanismus wäre er der mustergültigste Staatsbürger gewesen. Doch ähnlich wie viele andere — wie Tatjana Brack zum Beispiel — war er in Verhältnisse geraten, die seinen harmlosen Vorlieben überhaupt nicht entsprachen. Ständig wurde er attackiert, irgendwer fühlte sich beleidigt, irgendwer suchte, betrunken, mit ihm eine Rechnung zu begleichen, und der friedliche Soikin war gezwungen, auf Schläge mit Schlägen zu reagieren; da er jedoch über außergewöhnliche Körperkraft verfügte, nahm es stets ein schlimmes Ende. Bisweilen allerdings, wenn den General die Verzweiflung packte ob der hartnäckigen Weigerung der Menschen, Konflikte durch höfliche Gespräche und Mandolinenspiel zu lösen, und wenn dieser bestialische Starrsinn ihn zur Weißglut brachte, geriet der General plötzlich in unbändige Raserei, und auch sehr mutige Menschen fürchteten dann, sich ihm zu nähern. Jedesmal wenn er darauf nach Hause kam, seufzte er, wiegte kläglich den Kopf und spielte nur Melodien in tiefstem Moll.
So geschah es auch diesmal. Wir warteten auf den General in seiner Wohnung; die Wohnung des Generals befand sich unmittelbar über einem Leichenbegängnisbüro, was den General andauernd in Betrübnis versetzte. Allerdings schätzte der General seine Wohnung, weil der Hauswirt ein recht anormaler Mensch war. Er hatte mit einem Bekannten die Wette abgeschlossen, dass er ein Jahr lang von den Mietern keine Miete verlangen würde, und bestimmt werde sich zumindest ein Mensch finden, der trotzdem zahlte. Der Hauswirt täuschte sich nicht: Als dieser eine Mensch erwies sich der General, der sich danach dem Hauswirt ungewöhnlich verpflichtet fühlte und meinte, er habe kein Recht auszuziehen, zumal außer dem General überhaupt niemand zahlte, nicht einmal der Besitzer des Leichenbegängnisbüros, der dank der Spanischen Grippe hohe Summen eingenommen hatte.
Unter reumütigem Kopfschütteln und Händeringen berichtete uns der General, dass der Versuch, mittels höflichen Dialogs zu einer Einigung mit Sergejew zu kommen, aufs schlimmste gescheitert war. Die Schrammen an den Händen des Generals bezeugten es mit unanfechtbarer Klarheit. »Ins Rumänien kommt er jedoch nicht«, meinte der General finster.
»Was sind die Leute doch für ein Gesindel«, äußerte Wila teilnahmsvoll. »Da geht man zu ihm, um zu reden, doch er — gleich mit Fäusten. Muss eins in die Fresse kriegen, so ein Mensch, ist doch klar.«
Anstelle von Sergejew, der für längere Zeit der Möglichkeit beraubt war, zum Rendezvous zu laden, begaben wir uns ins Restaurant Rumänien. Tatjana Brack saß bereits an einem Tischchen auf dem Sofa; ein Wandleuchter mit gelbem Schirm beschien ihr wunderschönes Haar und die obere Körperhälfte. Sie trug ein Kleid mit großem Dekolleté. Lebemänner, den leichten Kopf von glänzenden Scheiteln durchschnitten, näherten sich ein paarmal Tatjana Bracks Tischchen, doch sobald sie die düstere Miene des Generals erblickten, gerieten sie in Verwirrung, wichen zurück, stießen mit dem Hintern gegen Stühle und verschwanden. Tatjana Brack saß vor Groll und Erwartung ganz zusammengekrümmt, die Scham lähmte ihre Bewegungen.
»Schaut doch nur«, sagte Wila, »wie die Liebe mit dem Menschen umspringt.«
»Was faselst du?«, fragte der General melancholisch. »Das Schicksal springt mit dem Menschen um, nicht die Liebe. Dabei warst du Lehrer! Sieht man gleich, dass du deinen Pflichten nicht gewissenhaft nachgekommen bist. Was hast du unterrichtet?«
»Geographie«, sagte Wila. »Und Geschichte in den unteren Klassen. Du sagst zu Unrecht, General, ich sei nicht gewissenhaft gewesen. Da du Mandoline spielst, kennst du natürlich das Lied ›Es loht und braust der Brand von Moskau‹. Frag ich dich aber, wo die Antillen liegen, sagst du — im Gouvernement Kostroma.«
»Antillen hin oder her, ist doch alles Krampf«, meinte der General.
»Tja, bei solch einem Pessimismus …«
In dem Augenblick bemerkten wir, dass ein unbekannter Mann in Reithosen an Tatjana Bracks Tischchen Platz genommen hatte. Wila blickte vorwurfsvoll zum General. Der unbekannte Mann sagte rasch etwas zu Tatjana, und sie lächelte.
Ich nahm allen Mut zusammen. »Sauber, wie der vorgeht«, sagte ich.
Wila rief den Kellner, steckte ihm einen Schein in die Hand und bat ihn, Tatjanas Gesprächspartner ins Ohr zu flüstern, eine sehr reizvolle Dame mit Schleier bitte ihn für einen Moment in den Vorraum. In den Vorraum ging der General, und wenige Sekunden nach ihm erschien Tatjanas Gesprächspartner. Er blickte auf den mattroten Samt der Portieren, schaute sich ein paarmal um und wollte schon gehen, da hielt der General ihn auf.
»Verzeihen Sie bitte, gnädiger Herr«, sagte der General; mit dieser höflichen Anrede entschädigte er sich für die Verprügelung Sergejews, und er genoss vollauf die eigene Feinfühligkeit. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich, ohne Ihnen vorgestellt zu sein, so vermessen bin, Sie anzusprechen …«
»Sind Sie das, die reizvolle Dame mit Schleier?«, fragte der Unbekannte mit stolzem Lächeln.
»Ja, und wenn Sie die Güte hätten, mich zu entschuldigen …«
»Was wollen Sie?«, fragte der Unbekannte ungeduldig.
Der General lief rot an, beherrschte sich aber.
»Könnten Sie nicht ein wenig verbindlicher reden?«, sagte er in bittendem Tonfall. »Ich wollte Ihnen die Bitte vortragen, das Tischchen jenes jungen Mädchens zu verlassen, mit dem Sie gesprochen haben. Schauen Sie, ich sage Ihnen offen: Das ist ein sehr ehrbares und zutiefst anständiges junges Mädchen. Sie werden es ja nicht heiraten? Und, wissen Sie, ich bin gegen solche leichten Beziehungen.«
»Wer sind Sie eigentlich?«
»Sie weichen vom Thema ab«, entgegnete der General. »Wichtig ist doch, vor allem anderen, das Prinzip. Die Details aber? Die sind vollkommen unwesentlich.«
»Sie sind anscheinend betrunken?«
»Sie haben nicht ganz recht. Ich bin, wenn Sie gestatten, durchaus nüchtern.«
»Dann sind Sie ein Idiot und ein Rüpel«, sagte der Gesprächspartner des Generals, »und ich werde Sie lehren, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen.« Der Gesprächspartner des Generals holte aus. Der General erblasste, fing die ausholende Hand im Flug, hob dann den Unbekannten hoch, öffnete die Tür und trug ihn auf die Straße.
»Ich habe mit Ihnen wie mit einem Menschen gesprochen«, sagte er beim Blick auf die verdutzte Miene des Gesprächspartners. »Aber wenn Sie nicht verstehen können, müssen Sie fühlen.« Der General suchte sich zu erinnern, wie der Spruch auf Deutsch lautete, aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. »Ich warne Sie: Wenn Sie dieses junge Mädchen nicht in Ruhe lassen und nicht in zehn Minuten aus dem Restaurant verschwunden sind, werden Sie das Ihr ganzes weiteres Leben bereuen. Haben Sie verstanden?«
Diesmal verstand der Unbekannte, und kaum war der General an unser Tischchen zurückgekehrt, war er bereits verschwunden.
»Der ist auch wie alle anderen«, befand der General träge. »Wann werden die Menschen endlich anständiger?«
Der Abend nahm ein gutes Ende. Tatjana Brack ging nach Hause. Wir folgten ihr durch den kräftigen, knarzigen Schnee, durch Wolken weißen Eisstaubs. Ihn jagte der Wind knisternd gegen die Straßenlaternen mit ihrer flackernden Flamme; in der langen Galerie melancholischer weißer Lichter bewegten sich schwarze Figuren vorbei an langsam fortschwimmenden, vielstöckigen Eisschollen aus Stein.
*
Viele Jahre später sagte mir General Soikin, für den gewichtigsten Umstand, der auf Tatjana Brack Einfluss hatte, halte er die Wetterbedingungen, also die Temperatur von zwanzig Grad unter null, den trockenen Winterfrost und die ungewöhnliche Reinheit der für jene Zeit typischen Eisluft.
»Nun«, sagte er, »da außergewöhnlich viel Wasser den Fluss hinabgeflossen ist, können wir das vollkommen leidenschaftslos bezeugen.«
Vielleicht hatte der General recht. Jedenfalls ist die schwarze Silhouette von Tatjana Brack, wie sie zwischen den weißen Straßenlaternen entlangging, uns als eines der überzeugendsten, der wunderbarsten Bilder im Gedächtnis geblieben. »Ich habe nicht vergessen«, sagte ich zum General, »und ich werde niemals vergessen können, dass sich das im Winter in unserer Stadt ereignet hat. Weißt du noch, General, wie sogar die Romanze ›Gerätst du ins Sinnen in frostiger Nacht‹, die du auf der Mandoline gespielt hast und die hier, im poesielosen Westen, natürlich keiner Kritik standhält, uns damals von tiefer Bedeutung erfüllt zu sein schien? Überhaupt, damals waren wir besser, General. Erinnere dich an die ungewöhnlichen Schneepyramiden der Bäume, an die Lichter der Restaurants, wo die Spekulanten sich trafen, an die spärlichen und scharfen Windstöße der Freiheit und die Blasorchester der Revolution, die dir als Musiker besonders am Herzen liegen müssten. Natürlich ist diese Romantik verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen, und nur Tatjana Brack könnte diese Schneeöden der Poesie, in deren blauem Weiß wir nach wie vor die triumphale Musik jener Zeit vernehmen, vor uns wiedererstehen lassen. Aber Tatjana Brack ist leider tot — und du bevorzugst deine Mandoline, General?«
»Nein, wieso die Mandoline?«, sagte der General. »Ich bevorzuge sogar, wenn du es wissen möchtest, das Klavier.«
»Ja, ein Klavier ist auch keine schlechte Sache. Weißt du noch, General, wer gut Klavier gespielt hat?«
»Lasar Raschewski?«
Ich nickte. Lasar Raschewski war der Mann, der Tatjana Brack ins Verderben stürzte. Seine Vorzüge haben wir nie bestritten: Tapferkeit, Rednergabe und großes musikalisches Talent. Von Herzen zuwider war uns aber seine lange, hagere, biegsame Gestalt, die ungewöhnlich dünnen und klebrigen Finger, die raschen, affenartigen, widerwärtigen Bewegungen. Der General konnte sich nicht mit seiner Härte abfinden, mit den scharfen, beißenden Bemerkungen und seinem radikalen Unwillen, die Regeln der Höflichkeit anzuerkennen. Wila verachtete ihn wegen ungenügender Geschichtskenntnisse, und ich hatte meinerseits ebenfalls Anlass, Lasar nicht gewogen zu sein, denn ich konnte ihm nicht verzeihen, wie bereitwillig er sich der absurden Exaktheit einer politischen Doktrin unterworfen hatte. Das Schicksal behandelte ihn freilich unbarmherzig: Im Winter neunzehnhundertneunzehn wurde er auf Befehl des Generals Siwuchin als Machno-Spion an der Eisenbahnbrücke der Station Sinelnikowo aufgehängt. Doch von seinem Tod und der unerschrockenen Haltung als Gefangener der Weißen sollte uns erst später Wila erzählen.
Lasar Raschewski, den damals niemand von uns kannte, hatte Tatjana Brack auf einem politischen Meeting kennengelernt, wo er als Verteidiger des Anarchismus auftrat. Tatjana erklärte nicht, weshalb er ihr gefiel, aber als wir einmal zu ihr kamen, erblickten wir Lasar, der mit einer Miene im Sessel saß, als sei er seit mindestens zehn Jahren Stammgast im Hause Brack. Wir wechselten untereinander Blicke.
»Genossin Brack«, sagte Lasar; seine Stimme war sehr harsch, den Buchstaben »r« sprach er französisch knarrend aus. »Ich vergaß, Ihnen zu sagen, was ich denke: Sie haben einen schicksalsträchtigen Namen. Erinnert an ›Wrack‹. Oder ›Ausschuss‹. Daher klingt ›Genossin Brack‹ paradox.« Tatjana erwiderte darauf nichts. Lasars Blick blieb am Klavier hängen. »Ach, Sie treiben Musik? Spielen Sie gut? Ich spiele ebenfalls gut.«
»Na, spielen Sie doch«, sagte misstrauisch der General, der bislang geschwiegen hatte. Lasar setzte sich ans Klavier, und wir hörten Musik, wie wir sie noch nie gehört hatten. Der General blinzelte fassungslos, und als Tatjana ihn später bat, etwas zur Mandoline zu singen, setzte er sich sogar über seine — sonst absolut vollendete — Höflichkeit hinweg und lehnte aufs kategorischste ab.
Gleich am ersten Tag unserer neuen Bekanntschaft erfuhren wir alles, was über Lasar zu erfahren war. Er war Anarchist und Terrorist, hatte lange in Frankreich gelebt und war erst einige Wochen zuvor nach Russland gekommen. Hier beabsichtigte er, Genossen zu organisieren, um gegen die Machthaber und für Expropriation zu kämpfen. Seiner Energie musste man Gerechtigkeit widerfahren lassen; innerhalb von zehn Tagen war die Organisation aufgebaut, irgendwoher beschaffte Lasar Maschinengewehre, und zu unserem Erstaunen wurde bekannt, Genossin Brack sei in der »achten Sektion der Allrussischen Partei der Anarchisten und Terroristen« zum Sekretär gewählt worden.
*
In tiefer Dezembernacht bog die Kampfeinheit der achten Sektion auf die Hauptstraße, schwenkte dann nach rechts und ritt hinauf zum Aristokratenviertel der Stadt. Die Einheit war mit Gewehren, Revolvern und zwei MGs bewaffnet. Sie bestand aus zehn Mann, und vorneweg, neben Lasar Raschewski, ritt, mit Eisfingern ungeschickt an die Pferdemähne geklammert, Genossin Brack. Der Schatten einer schwarzen Fahne wankte über den festgefahrenen Schnee.
Gemäß einem Beschluss des Exekutivkomitees wurden die Geldvorräte der Bank Kerner & Co, einer Aktiengesellschaft, expropriiert. Die Beute war schon fast auf die Fuhren geladen, da hörten wir eine heftige Schießerei. Wir saßen zu der Zeit in General Soikins Wohnung und hatten uns aufs friedlichste unterhalten. Als wir die Schüsse hörten, gingen wir hinaus auf die Straße. Maschinengewehre ratterten jenseits der Ecke, kein Quartal von uns entfernt, und bevor wir noch ein paar Schritte tun konnten, sprengte auf einem Pferd Tatjana Brack an uns vorüber. Bestürzt sahen wir ihr nach. Die Schießerei hörte nicht auf. Kurz darauf rannte Lasar Raschewski vorbei, einen Revolver in der Hand. Danach war Getrappel zu hören, die Schüsse häuften sich, und schließlich wurde es still. Wir begaben uns dorthin, wo der Lärm hergekommen war.
Vor der Tür der Aktiengesellschaft standen vier Männer und schauten auf zwei getötete Milizionäre, obwohl es da nichts zu schauen gab: Beide waren tot. Im Schnee waren zahllose Hufspuren zu sehen. Die Sachlage ließ sich leicht klären: Als die Miliz zur Bank hastete, um die Anarchisten zu verhaften, wurde sie mit MG-Feuer empfangen. Zwei Milizionäre wurden getötet, vier verwundet, und die Anarchisten waren allesamt nicht nur entwischt, sondern hatten auch alles Expropriierte fortgebracht.
*
Von da an wurde der Name der Genossin Brack bekannt. Einige Tage nach Plünderung der Aktiengesellschaft wurde noch eine Expropriation unternommen, wieder mit menschlichen Opfern. Wir bekamen mit, wie man sich über Genossin Brack Legenden erzählte, die sie in den schwärzesten Farben schilderten. Ihre Mutter weinte tagelang. Tatjana kam all diese Zeit nicht nach Hause, und keiner von uns wusste auch nur das geringste über ihren Aufenthaltsort. Daraufhin machte sich Wila, der eine Spürnase hatte wie ein Hund, auf die Suche nach Genossin Brack. Drei Tage trieb er sich in der Stadt herum, danach kam er zu uns und berichtete, Tatjana habe er nicht gefunden, aber erfahren, wo Lasar sich oft aufhalte.
»Also, weißt du, so eine Konspiration«, sagte Wila zum General. »Richtig komisch. Ja, und Lasar wäre in der ehemals Dodonow’schen Pastetenbude anzutreffen.«
Die ehemals Dodonow’sche Pastetenbude kannten wir gut. Sie unterhielt der Buchbinder Wanja, ein schweigsamer und verdächtiger Mensch. Aber die letzten drei Wochen war die Pastetenbude geschlossen, Wanja selbst war verschollen, und wir wunderten uns sehr: »Ach, hat sie wieder auf?« Noch am selben Abend gingen wir hin.
Die Pastetenbude erkannten wir nicht wieder. Aus einer hundsgewöhnlichen Spelunke mit schmutzigem Wachstuch auf den Tischen und fliegenbesetzten Wasserkaraffen hatte sie sich in ein properes Restaurant mit einem gewissen Anspruch auf orientalischen Stil verwandelt. Wir traten ein, schauten uns um und erblickten an die acht Gäste, die wir alle kannten und von denen, weder von allen zusammen noch von jedem einzelnen, niemand irgendwas Gutes hätte sagen können. Lasar war nicht da.
Wir setzten uns an ein Tischchen und bestellten eine Flasche Limonade, worauf der Kerl, der mit seinem um den Kopf geschlungenen grünen Tuch und dem dunkelhäutigen, blatternarbigen Gesicht eher einem orientalischen Trickkünstler als einem Kellner glich, verächtlich prustete, und zwar Wila ins Gesicht. Der General wechselte einen Blick mit Wila und trat dem Kellner auf den Fuß, er quetschte ihn mit solcher Kraft, dass das dunkelhäutige Gesicht unter dem grünen Stoff purpurrot wurde vor Schmerz. Wila kippte mit dem Stuhl nach hinten und stieß dem Kellner die Faust in den Bauch; der Kellner knickte in der Taille ein und ließ sein Tablett fallen, das im übrigen leer war. Wanja schaute hinter dem Tresen vor und lächelte unfroh.
»Mit den Gästen sollte man höflicher umgehen, Freundchen«, sagte der General sanft. »Bestellen sie Limonade, ist es eben Limonade. Das idiotische Gepruste sollte man sein lassen, das gehört sich nicht.«
Der Kellner entfernte sich unsicheren Schrittes. Die Gäste schauten auf den General, schwiegen aber.
Fünf Minuten später kam Lasar. »Genosse Raschewski!«, rief der General. »Dürften wir Sie kurz sprechen?« Und der General erklärte Lasar, die Mutter der Genossin Brack gräme sich sehr; es wäre gut, wenn Tatjana zu Hause vorbeikäme; er, der General, werde die Unversehrtheit der Genossin Brack garantieren. Lasar runzelte die Stirn, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und erwiderte:
»Ich kann der Genossin Brack das nicht erlauben. Wissen Sie, Genosse, diese dumme Sentimentalität muss überwunden werden. Erst die Mutter, dann der Bruder, dann der Vetter … Ich kann das nicht erlauben.«
Der General beharrte: »Seien Sie so gut, ich bitte Sie sehr.«
»Ich habe nein gesagt, also nein.«
»Tja, dann«, sagte der General, »lasse ich Sie so lange nicht frei, bis Genossin Brack ihre Mutter besucht.«
Lasar lachte und wollte vom Tisch aufstehen. Aber der General hielt ihn auf.
»Nein, Genosse Raschewski, so gehen Sie mir nicht.« Lasars Gesicht wurde ernst. Er riss sich mit einem Ruck vom Stuhl, aber die Hand des Generals ließ nicht locker. »Es gibt noch einen Ausweg«, sagte der General. »Geleiten Sie uns zu Genossin Brack, und wir reden mit ihr.«
»Das kann ich machen«, erwiderte Lasar.
Wir verließen die Pastetenbude durch den Hinterausgang, überquerten eine Straße und gelangten in ein hell erleuchtetes sechsstöckiges Haus mit vielen Wohnungen. Im dritten Stock blieb Lasar stehen, sperrte mit dem Schlüssel eine Tür auf und ließ uns eintreten. Im Wohnzimmer saßen auf einem Sofa zwei Frauen und zwei Männer — und von weitem schon erkannten wir das weißblonde Haar der Genossin Brack.
Eine halbe Stunde später trat Tatjana, in einen Pelz gehüllt, aus ihrem Zimmer.
»Wohin?«, fragte Lasar.
»Ich bin bald zurück.«
»Ich erlaube Ihnen das nicht.«
»Ich habe Sie nicht um Erlaubnis gebeten.«
Lasar, sonst nicht auf den Mund gefallen und um keine Antwort verlegen, war diesmal betreten:
»Verzeihen Sie.«
Und wir fuhren zu Genossin Bracks alter Wohnung. Ihre Mutter weinte vor Freude, küsste Tatjana unablässig und hielt ihr vor:
»Hab Mitleid mit mir, Tanetschka, ich werde doch weinen um dich. Wozu soll ich noch leben, wenn du nicht mehr bist?«
»Ich kann nicht, Mama«, sagte Tanja, »es muss sein, da lässt sich nichts machen.«
Das Gesicht der Mutter verschwand in lauter Falten, sie begann still zu weinen. Der General blickte düster, in seinen Augen stand ausufernde Verzweiflung. Wila schluckte Spucke, ich schaute aus dem dunklen Fenster — vor mir funkelten unglaubliche Frostornamente, aus der Ritze wehte es kalt.
»Tja, Gott sei mit dir, Tanetschka«, stieß die Mutter hervor.
Als wir auf dem Rückweg im Schlitten durchgerüttelt wurden, hob der General mehrfach an:
»Ach, Genossin Tanja … ach, Genossin Tanja …« Doch vor Aufregung sagte er dann nichts weiter.
»Klare Aussage, nichts einzuwenden«, murmelte Wila spöttisch.
Der General blitzte ihn zornentbrannt an, doch Wila ruckte schnell zur Seite.
»Dein Glück.« Der General beruhigte sich wieder. »Begreif doch, Wila, es dauert mich.«
*
Dann verließ die Kampfeinheit der Anarchisten und Terroristen unsere Stadt. Das fiel mit der Ankunft der Roten Armee zusammen. Die Truppen erschienen im weißen Morgennebel, nach einer öden, erwartungsvollen Nacht, sie überfluteten die Stadt mit zottigen, reifbedeckten Pferdefellen, platten Soldatennasen, roten Kommissarsternen und den geschminkten Gesichtern der Prostituierten, die zu dieser — für Prostituierte späten — Stunde auf die Straßen hinausdrängten. Regimenter bunt gekleideter Menschen zogen an zugenagelten Geschäften vorüber; stolze Fahnenträger schleppten dünne Stecken mit roten Stofffetzen auf den Schultern; triumphierende Offiziere, vor Befriedigung übers ganze Gesicht strahlend, schritten außerhalb der Marschkolonnen auf dem Trottoir und lächelten liebenswürdig auf die gefühlsseligen Blicke von Hausmädchen, Kokotten und Krämerinnen mit roten Händen und heiseren Kehlen. In der Stadt herrschte ein hektisches Treiben, nach wenigen Stunden waren viele Gebäude requiriert, und auf den Schreibmaschinen hackten nun Legionen junger Mädchen — sie verkörperten die ideale Verbindung von feinen Lippen, fröhlichen Näslein und Äuglein und unermüdlichem Eifer im Dienste des Proletariats und der Internationale, dieser rätselhaften Fremdwörter, mit denen die Remington-Tippfräulein sich nicht unbedingt auskennen mussten. Eine Armee sowjetischer Heiliger war das; der General und ich liebten sie für ihr Nichtdenken, für ihr Nichtverstehen vieler Dinge, für jenes glückselige Nichtwissen und die seelische Schlichtheit, die für die gigantischen Zirkusvorstellungen des Himmelreichs als Freikarte taugen. Der anspruchsvollere Wila bezeichnete die Remington-Tippfräulein verächtlich als die Geschlechtsfunktionen des Staatsapparats. Die Stadt hustete, die Stadt seufzte — und lebte erneut ihr früheres Leben; wir aber fanden unsere Ruhe nicht wieder: Genossin Brack war nicht mehr mit uns.
Sie ritt zu dieser Zeit auf ihrem Pferd, neben Lasar Raschewski, über verschneite Wege gen Süden. Wila teilte uns das mit, denn einer seiner Bekannten, ein Arbeiter, hatte ihm gesagt, die Einheit der Genossin Brack habe in der Nacht zum ersten Januar die Stadt verlassen. Wie gewöhnlich saßen wir beim General und unterhielten uns, aber nach Wilas Worten verstummten wir. Ich weiß nicht, worüber der General nachdachte, jedenfalls bin ich mir sicher, dass jeder seiner Gedanken aufs liebenswürdigste formuliert und redigiert war. Wila schüttelte heftig den Kopf, richtete sich gerade auf und starrte aus gläsernen, verständnislosen Augen vor sich hin.
Ich dagegen dachte über die Amazonen nach. Schon damals empfand ich eine Abneigung gegen die klischeehafte Heroik dieser Kämpfer im Rock, doch über Genossin Brack dachte ich anders. Das Schicksal hatte sie in den albernen und grausamen Quatsch von Russlands Revolutionsschlachten hineingezogen, ihr eigentliches Bild aber blieb für mich ohne Fehl. »Genossin Brack! Ich rufe General Soikin und Lehrer Wila zu Zeugen auf: Unritterliches Verhalten Ihnen gegenüber kann uns niemand vorwerfen.« Das murmelte ich vor mich hin, der betrübte General hob den Kopf und sagte:
»Genossen, morgen früh reisen wir Tatjana Brack nach.«
Nachts waren wir geschäftig, packten, und morgens stiegen wir bereits in einen Zug, der gen Süden fuhr. Als der Hauswirt von der Abreise des Generals erfuhr, kam er angelaufen und bat ihn, doch zu bleiben, worauf der General erwiderte:
»Ihr Haus gehört Ihnen jetzt nicht mehr, Geld darf man Ihnen nicht mehr zahlen. Ich habe meine Pflicht erfüllt.«
»Aber wohin fahren Sie denn?«
»In unbekannte Richtung«, sagte der General.
*
Uns war jedoch beschieden, zu spät zu kommen — und danach gedachte der General stets voller Hass dieses grausamen Fehlers der Zeit, wobei er die Zeit derart beschimpfte, als ob dieser sperrige und lärmige Begriff ein lebendiger Mensch wäre und uns maßlos beleidigt hätte.
Wir kamen zu spät. Als wir uns der Station Pawlograd näherten, erfuhren wir die niederschmetternde Nachricht: Ein Vergeltungskommando der Regierungstruppen, angeführt vom Genossen Sergejew, hatte die Einheit der Anarchistin Brack gefasst. Die Einheit wurde erschossen, nur ein Mann rettete sich — Lasar Raschewski. Der General saß einige Zeit schweigend auf einer langen Bank im Wartesaal dritter Klasse. Dann traten wir hinaus aufs freie Feld, sahen die Toten und, etwas abseits, die Leiche der Genossin Brack. In Unterhosen und Hemd lag sie da. »Tote sind ohne Schande!«, schrie Wila. Der Kopf der Genossin Brack war von Kugeln durchlöchert; eine Kugel war durch die Achselhöhle gedrungen, und über dem zerfetzten Fleisch ragten vereiste Haare. Die weißen Beine der Genossin Brack lagen gespreizt auf dem gefrorenen Schnee; im halbgeöffneten Mund schimmerte dunkel die nun reglose kleine Zunge.
»Bestimmt ist Genosse Sergejew noch auf der Station«, sagte der General. Wila fuhr erschrocken zur Seite, als er das hörte, obwohl der General leise und eindringlich gesprochen hatte.
Tatsächlich war Genosse Sergejew noch nicht abgereist. Der Waggon erster Klasse stand auf dem zweiten Gleis, bewacht von einem baumlangen Posten. Wir umrundeten das Bahnhofsgebäude. Das gesamte Kommando hatte sich in die Stadt begeben, um das große Weinlager zu plündern, nur Genosse Sergejew und der Posten waren auf der Station zurückgeblieben. Ohne zu zögern, schritt der General zum Waggon, und der Posten versperrte ihm den Weg.
»Kein Eintritt, Genosse«, sagte er. Im Fenster tauchte flüchtig das sauber rasierte Gesicht Sergejews auf.
»Kein Eintritt«, wiederholte der Posten, aber nach einem prüfenden Blick auf den General senkte er die Stimme und flüsterte:
»Ich schrei laut um Hilfe.«
Der General riss ihm das Gewehr aus den Händen und schlug ihm mit Wucht ins Gesicht. Der Posten sackte zusammen, sein Rücken rutschte am lackierten Holz des Waggons herab, die Beine verschwanden im Schnee, und der blutbesudelte Kopf schlug leise gegen das Gleis. Der General betrat den Waggon. Als Sergejew ihn erblickte, griff er nach dem Revolver, schaffte es aber nicht, ihn herauszuholen, denn schon umklammerten die Finger des Generals seine Hand.
»Sie haben die Genossin Brack erschossen«, sagte der General. Sergejew schwieg und blickte verzweifelt nach allen Seiten. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Mensch das war«, sagte der General und schluchzte. Er ließ Sergejews rechte Hand los, sie hing hilflos herab; ihre weiß gewordenen Finger regten sich nicht. Dann umfing er mit beiden Händen Sergejews Hals und begann, ihn langsam zuzudrücken. Sergejew wurde puterrot, ruckte und zuckte. »Widersetzen Sie sich nicht«, sagte Wila, der gerade in den Waggon trat. »Er ist ein körperlich sehr starker Mann — General Soikin, meine ich. Wissen Sie, einmal habe ich sogar mit ihm gewettet …« Aus Sergejews Augen strömten Tränen. »Glaubst du, ich hätte nicht geweint?«, sagte der General. Eine halbe Minute später gab es den Geschäftsmann, Don Juan und Chef des Vergeltungskommandos Sergejew nicht mehr. In seinem Waggon lag eine Leiche mit vorgetretenen Augen und tiefen blauen Fingerspuren am Hals.
»Mein Gott«, murmelte der General, »welche Grausamkeit!«
*
Und wir verschwanden in den schwarzen Nebeln der wirren Zeit. Es verschlug uns von einer Seite zur anderen, unter dem Knattern der Gewehre und dem Pfeifen der Kugeln. Von Erde und Funken überschüttet, stolperten wir durchs Verderben, unsere Augen klammerten sich an leere blaue Himmelstiefen oder an geschweifte Sterne, die aus schrecklichen astronomischen Höhen herabfielen. Wir lebten in dunstenden Schneewehen und gesprengten Pumpwerken, wir überquerten unzählige Brücken, die unter unseren Füßen einstürzten; wir gelangten in lärmige Städte, wo dem Untergang geweihte Orchester fröhliche Operettenarien erdröhnen ließen; wir sahen unglaubliche Frauen, die sich an den finsteren Hängen der Kohleberge unweit der Bahnhöfe für englische Schuhe hingaben, wir sahen tobsüchtige Kühe und übergeschnappte Priester — wir blickten weit hinein ins schlimme Jenseits der Zeiten, wo Dutzende verstümmelter Bohèmes ergeben vor unseren Augen starben: Menschen, die an hohen russländischen Querbalken baumelten, blickten schweigend auf uns herab.
Auch Lasar Raschewski überstand eine solche Reise nicht. Er wurde von Soldaten der Weißen gefasst und der Spionage angeklagt. Entkleidet brachte man ihn zum Stab des Generals Siwuchin, hieb ihm in einem Güterwaggon, wo der Ofen brannte, einen glühenden Ladestock auf den rasierten Kopf, aber er verriet niemanden. Am Morgen des nächsten Tages sollte er aufgehängt werden. Er ging tapfer in den Tod, seufzte nicht und klagte nicht. Aber das nahe Ende ließ ihn, glaube ich, Tatjana Brack und ihren Tod, an dem er schuld war, bedauern. Und Lasar unternahm noch einen sentimentalen Schritt, den er selbst bedauert hätte, wäre er am Leben geblieben. Er bat, zu General Siwuchin geführt zu werden, und sagte, ihm persönlich wolle er ein paar wichtige Informationen übermitteln. Aber das war unwahr. Er stellte sich vor den grauhaarigen Mann mit dem Quadratschädel und sagte mit seiner harschen Stimme:
»Herr General, morgen werde ich aufgehängt.« Der General nickte. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. In Ihrem Zug gibt es ein Klavier, ich habe gehört, wie jemand spielte. Ich bin ein sehr guter Pianist, Herr General, erlauben Sie mir, heute abend zu spielen.«
»Spielen Sie nach Lust und Laune«, sagte der General.
Als Wila uns das erzählte, saß ich, den Kopf gesenkt, und suchte mich angestrengt an etwas zu erinnern. Erst als Wila endete, tauchte vor meinen Augen die Zeile von André Chénier auf:
»Au pied de l’échafaud j’essaye encore ma lyre.«*1
Lasar Raschewski spielte den ganzen Abend. Ich weiß nicht, wie er spielte — ich denke, viel schlechter als gewöhnlich. Ihm lauschten die Barmherzigen Schwestern in den weißen Häubchen mit dem Kreuz und die Offiziere des Generalstabs. Alle waren gerührt, die Schwestern weinten sogar ins Taschentuch.
»Trotzdem, die Rechtsprechung steht über allem«, sagte der General, und am nächsten Morgen haben sie Lasar an einer Eisenbahnbrücke aufgehängt, und an die Brust hatten sie ihm einen Zettel geheftet:
»Wegen Spionage zugunsten des Banditen und Anarchisten Machno«.
*
Tja, und nun — haben die heroischen Zyklen ein Ende und fließt außerordentlich viel Wasser die Flüsse hinab, wie der General sagt, und wir sehen uns erneut in bettlerhaftem Wohlbefinden. Der General verbringt seine Zeit mit lyrischen Nekrologen, Wila studiert die Geschichte des Parlamentarismus. Und ich sehe, wie aus dem zerfallenen Trödel der Kalender sich die schwarze Silhouette der Genossin Brack erhebt und durch die öden Straßen geht.
In der Taverne Au Grand Turenne saß der verlotterte Musiker Rossignol, ein Greis mit grünem Gesicht und verfilztem Bart, seit Jahren vom Pech verfolgt und dem Trunk verfallen, und spielte wie üblich auf der Ziehharmonika; Anjuta Priwlekatelny tanzte mit der verträumten Marguerite stets ein und denselben Tanz, und Anjuta war traurig und nachdenklich. Marguerite schloss oft die Augen, der Tavernenwirt las Dickens und schüttelte sich lautlos vor Lachen, und alles ging wie immer seinen Gang; schon war zwischen zwei Stammgästen, der eine dick, der andre dünn, wie jeden Abend der Streit entbrannt, und der dünne machte dem dicken Vorwürfe wegen seines Müßiggangs und nannte ihn eine dumme Seifenblase; schon wütete hinterm Tresen erneut die ruppige Verwandte des Wirts, erst unlängst aus der Provinz eingetroffen; schon greinte die Falsettstimme des riesigen Jean, eines Lastträgers vom Zentralmarkt; schon hatte der Krüppel, der den Gästen aufwartete, Rossignol eine Flasche Rotwein und ein steinhartes Sandwich mit Pferdefleisch gebracht; schon wollte Andrée, Marguerites Schwester mit der weißen Haut und den wilden Augen, das dritte Glas Kaffee mit Kognak bestellen; und natürlich würde zwei oder drei Minuten später die tagtägliche Schlägerei losgehen und noch eine halbe Stunde später der Wirt »Oliver Twist« beiseite legen, um bei sämtlichen Gästen fürs zerschlagene Geschirr Geld einzusammeln und sich über sein schwieriges Gewerbe zu beklagen — da erschien auf der Türschwelle plötzlich der heilige Martin. Rossignol brach sofort die Musik ab, und in der Taverne kehrte Stille ein; nur noch das Gas zischte in den weißen Lampen, und die Dogge des Wirts jaulte ein paarmal unterm Tresen.