Ein blindes Kind entdeckt die Welt - Gert Rothberg - E-Book

Ein blindes Kind entdeckt die Welt E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Schwester Regine kam mit dem Wagen Denise von Schoeneckers aus Maibach zurück. Neben ihr saß der achtjährige Henrik. Er hatte ein Tuch um die Ohren gebunden und drückte auch noch die Hand fest auf das linke Ohr. »Hast du so große Schmerzen?«, fragte Schwester Regine mitfühlend. »Ja«, bekannte Henrik. Das wehleidige Gesicht stand dem sonst so übermütigen und immer vergnügten Jungen nicht gut. »Wozu waren wir beim Ohrenarzt, wenn die Schmerzen nicht aufhören? Sicher wäre es besser gewesen, Frau Dr. Frey hätte mich weiterbehandelt.« »Aber gerade Frau Dr. Frey wollte, dass wir mit dir zum Spezialarzt gehen. Das ist doch nur fürsorglich von ihr. Sie wollte eben wissen, ob du nicht etwas Schlimmeres hast als nur eine leichte Mittelohrentzündung. Jetzt können wir beruhigt sein. In wenigen Tagen wirst du keine Schmerzen mehr haben und auch nichts zurückbehalten.« »Warum kriegt man so, dummes Zeug, Schwester Regine? Ich habe doch noch nie Mittelohrentzündung gehabt.« »Du wirst eben in starke Zugluft gekommen sein.

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Sophienlust Extra – 117 –

Ein blindes Kind entdeckt die Welt

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

Schwester Regine kam mit dem Wagen Denise von Schoeneckers aus Maibach zurück. Neben ihr saß der achtjährige Henrik. Er hatte ein Tuch um die Ohren gebunden und drückte auch noch die Hand fest auf das linke Ohr.

»Hast du so große Schmerzen?«, fragte Schwester Regine mitfühlend.

»Ja«, bekannte Henrik. Das wehleidige Gesicht stand dem sonst so übermütigen und immer vergnügten Jungen nicht gut.

»Wozu waren wir beim Ohrenarzt, wenn die Schmerzen nicht aufhören? Sicher wäre es besser gewesen, Frau Dr. Frey hätte mich weiterbehandelt.«

»Aber gerade Frau Dr. Frey wollte, dass wir mit dir zum Spezialarzt gehen. Das ist doch nur fürsorglich von ihr. Sie wollte eben wissen, ob du nicht etwas Schlimmeres hast als nur eine leichte Mittelohrentzündung. Jetzt können wir beruhigt sein. In wenigen Tagen wirst du keine Schmerzen mehr haben und auch nichts zurückbehalten.«

»Warum kriegt man so, dummes Zeug, Schwester Regine? Ich habe doch noch nie Mittelohrentzündung gehabt.«

»Du wirst eben in starke Zugluft gekommen sein. Da passiert so etwas schnell. Es gibt nur wenige Kinder, die niemals Kummer mit den Ohren bekommen.«

»Da hätte ich mir aber lieber das Bein gebrochen«, sagte Henrik mit ernsthaftem Gesicht.

Schwester Regine schüttelte den Kopf. »Manchmal redest du ganz dummes Zeug, Henrik. Wenn du dir das Bein gebrochen hättest, müsstest du wochenlang einen Gipsverband tragen.«

»Aber das wäre doch viel besser, als dieses alberne Tuch tragen zu müssen.« Henrik machte jetzt ein sehr entrüstetes Gesicht. »Mutti ist aber auch zu komisch. Sie hat mir das Tuch umgebunden. Da lachen mich doch alle aus. Ich habe gesehen, wie Peggy und Heidi gekichert haben.«

»Das darfst du ihnen nicht übel nehmen, Henrik. Du machst dich auch oft über sie lustig oder fängst Streit mit den Mädchen an.«

»Aber über ein Gipsbein würden sie nicht kichern. Vielleicht würden sie mich beneiden – genau wie die Kinder in der Schule.«

Jetzt lachte Schwester Regine laut. »Du willst angeben. Ich kenne dich doch. Aber lass es gut sein. Es würde dir auch nur in den ersten Tagen Spaß machen, das Gipsbein herzuzeigen. Dann würde es dir bald zu schwer werden, und du würdest sehr schlechte Laune bekommen, wenn du nicht mit den anderen durch den Park toben könntest. Das Tuch um die Ohren wirst du bald los sein, und zum Ohrenarzt brauchen wir auch nicht mehr zu fahren. Jetzt wird dich wieder Frau Dr. Frey behandeln.«

Henrik wurde jetzt abgelenkt. Er drückte das Gesicht an das Wagenfenster und sah zu einer großen Baustelle, die am Stadtrand lag, wo sie jetzt angekommen waren. »Das gibt ein tolles Haus«, sagte er und begann die Stockwerke zu zählen. »Gibt das schon ein Hochhaus, Schwester Regine?«, fragte er. »Fünf Stockwerke …« Er brach ab. Dann stieß er einen so lauten Schrei aus, dass Schwester Regine zusammenzuckte.

Unwillig sagte sie: »Jetzt bin ich aber erschrocken.«

»Ein Mann ist vom Gerüst gestürzt. Ich habe es gesehen!« Henrik war ganz blass geworden. »Halten Sie, Schwester Regine.«

»Aus Neugierde? Nein, Henrik, davon hat niemand etwas.« Schwester Regine fuhr jedoch langsamer. »Hast du wirklich gesehen, dass jemand vom Gerüst gestürzt ist?«

»Ja, ganz genau habe ich es gesehen. Fahren Sie doch zurück, Schwester Regine. Vielleicht braucht der Mann Hilfe. Ich konnte nicht sehen, ob unten jemand stand.«

Schwester Regine ließ sich zum Umkehren bewegen. Sie wendete den Wagen in einer Seitenstraße und ging etwas ängstlich zu der Baustelle.

Dort stand schon ein Pulk von Menschen. Die meisten waren Bauarbeiter. Den Verletzten konnte man nicht sehen.

»Es ist vielleicht noch gar kein Arzt dort«, sagte Henrik. »Sie sind doch auch Krankenschwester.«

»Ja, du hast recht, wir werden aussteigen.« Jetzt hatte es Schwester Regine eilig, einen Platz für den Wagen zu finden. »Willst du nicht lieber hier auf mich warten?«, fragte sie, als sie ausstieg.

»Nein, ich komme mit.« Henrik sprang schon aus dem Wagen.

Schwester Regine nahm den Jungen an die Hand. Ganz wohl war ihr nicht, als sie ihn mitnahm. Vielleicht bot sich ihnen ein sehr trauriger Anblick?

»Leistet schon jemand erste Hilfe?«, fragte Schwester Regine einen Bauarbeiter.

»Nein, noch nicht, aber aus der Baubude wird schon der Arzt und der Krankenwagen herbeigerufen«, bekam sie zur Antwort.

»Ich bin Krankenschwester. Vielleicht kann ich dem Verletzten irgendwie helfen.« Schwester Regine drängte sich zwischen den aufgeregten Bauarbeitern durch.

Auf dem Boden lag ein jüngerer Mann. Er war bewusstlos.

»Nein, lassen sie ihn flach liegen«, bat Schwester Regine, als jemand versuchen wollte, den Schwerverletzten aufzurichten. Sie schob ihm die Augenlider zurück und prüfte seinen Puls. Als sie eine stark blutende Wunde am Hinterkopf sah, wollte sie zu ihrem Wagen zurücklaufen, um den Verbandskasten zu holen. Aber da erklang schon das Martinshorn des Polizeiwagens. Ihm folgte ein Rot-Kreuz-Wagen.

»Der Arzt sitzt darin«, rief jemand.

Kaum hatte der Krankenwagen gehalten, sprang ein älterer Arzt aus Maibach heraus. Er ordnete an, dass der Schwerverletzte sofort ins nahe gelegene Krankenhaus gebracht werde.

Schwester Regine ging mit Henrik zum Wagen zurück.

»Muss der Mann sterben?«, fragte Henrik.

»Hoffentlich nicht. Es wird darauf ankommen, ob er schwere innere Verletzungen davongetragen hat.«

Schwester Regine sprach auf der weiteren Fahrt nach Wildmoos nicht mehr.

Auch Henrik schwieg. Sie dachten beide an den Verletzten. Es griff immer an, wenn man sich fragen musste, ob ein Verletzter mit dem Leben davonkommen würde.

Im Kinderheim Sophienlust erzählte Henrik später von dem Unglück, das er gesehen hatte.

*

Am nächsten Tag erfuhr Schwester Regine von der jungen Ärztin Dr. Anja Frey, dass der Bauführer Karl Trapp gestorben war. So hieß der Mann, dessen Sturz vom Gerüst Henrik von Schoenecker beobachtet hatte.

Dr. Anja Frey wusste, dass Karl Trapp eine junge Frau und ein vierjähriges Töchterchen hinterließ, die untröstlich über den Verlust des Mannes und des Vaters sein sollten.

»Ich weiß nicht«, sagte Schwester Regine zu Denise von Schoenecker, »mir ist so, als sollten wir uns um die beiden kümmern. Warum mussten gerade Henrik und ich an der Baustelle vorbeikommen, als das entsetzliche Unglück geschah?« Sie zuckte die Schultern. »Ich kann mir eben nicht helfen, ich denke bei solchen Dingen oft, dass das Schicksal im Spiel ist.«

Denise von Schoenecker kannte Schwester Regine sehr gut und wusste, dass sie seit dem Tod ihres Mannes und ihres einzigen Kindes für das Leid mehr Verständnis hatte als andere Menschen. »Wenn Sie meinen, dass es gut ist, Frau Trapp und deren Töchterchen zu besuchen, dann tun Sie es doch, Schwester Regine. Vielleicht kann Ihnen Frau Dr. Frey die Adresse der beiden beschaffen.«

Das konnte die junge Ärztin. Noch am selben Tag fuhr Schwester Regine mit dem Bus nach Maibach und ging in die Lindenstraße. Dort standen mehrere neue Häuserblocks. Im dritten Stock eines der Häuser wohnte Celia Trapp mit ihrem Töchterchen.

Während Schwester Regine die Treppe hinaufstieg, hatte sie Sorge, abgewiesen zu werden. Sie war doch für Celia Trapp eine Fremde. Und im Leid wurde mancher Mensch abweisend.

Als Schwester Regine an der Wohnungstür läutete, hörte sie schnelle trippelnde Schritte. Schon wurde die Tür aufgerissen. »Onkel Eckart«, rief ein kleines Mädchen, verstummte aber sofort, als es Schwester Regine sah.

Die Kinderschwester strich dem kleinen Mädchen über das blonde Haar. »Hast du jemanden anderen erwartet?«

Große graue Augen sahen sie enttäuscht an. »Ja, wir warten auf Onkel Eckart, Mutti und ich.«

»Kann ich deine Mutti sprechen?«

»Sie liegt auf der Couch, weil sie krank ist«, sagte das kleine Mädchen leise.

Jetzt erklang aus der Wohnung die ungehaltene Frage: »Was ist los, Fränzi?«

»Eine fremde Frau ist da, Tante Oda. Sie will mit Mutti sprechen.« Das Mädchen lief zurück.

Nun kam eine junge rothaarige Frau in die kleine Diele.

Schwester Regine ging ihr entgegen. »Entschuldigen Sie, dass ich störe.« Sie war irritiert. Die junge Frau, der sie gegenüberstand, war sehr aufdringlich geschminkt und trug ein grellgrünes Kleid und auffallend hohe Plateauschuhe. Sie sah aus wie der letzte Schrei aus einem Modejournal. »Sind Sie Frau Trapp?«

»Nein, ich bin ihre Schwester – Oda Gernot.«

»Ich bin Schwester Regine Nielsen. Zufällig kam ich zu dem schrecklichen Unfall.« Schwester Regine dämpfte ihre Stimme. »Nun dachte ich, dass Frau Trapp vielleicht Hilfe braucht.«

Oda Gernot sah die Kinderschwester etwas verständnislos an. »Gibt es das noch, dass sich die Menschen um andere kümmern? Ich meine, dass sie anderen helfen wollen? Bitte, kommen Sie mit zu meiner Schwester. Sie fühlt sich nicht ganz wohl. Morgen soll die Beerdigung sein. Da muss sich Celia noch etwas erholen.« Die Stimme Oda Gernots klang oberflächlich. Das war nicht zu überhören.

Jetzt kam das kleine Mädchen wieder in die Diele. »Ja, du sollst zu meiner Mutti kommen«, sagte es eifrig. »Sie wartet auf dich.«

»Heißt du Fränzi? Habe ich das vorhin richtig gehört?«, fragte Schwester Regine.

»Ich heiße Franziska, aber alle rufen mich Fränzi. Das wollte mein Vati so.« Die grauen Kinderaugen waren traurig geworden. »Er ist gestorben. Tante, kann er da wirklich nicht mehr zu uns kommen?«

Oda Gernot enthob Schwester Regine der schweren Antwort, indem sie ungeduldig bat: »Gehen Sie schon zu meiner Schwester. Ich muss jetzt leider Besorgungen machen.« Sie sah an sich hinab. »Ich habe noch keine Trauerkleidung. Die Leute würden sicher darüber reden, wenn die Schwägerin des Toten nicht in schwarzer Kleidung am Grab stehen würde.«

Schwester Regine betrat zusammen mit der kleinen Fränzi ein bescheiden, aber sehr gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Auf der Couch lag eine junge braunhaarige Frau. Schon auf dem ersten Blick war zu sehen, wie zart sie war. Sie hatte ein schmales feines Gesicht, in dem die funkelnden Augen ganz besonders auffielen.

Schwester Regine stellte sich vor und reichte Celia Trapp die Hand.

»Ich habe Sie in der Diele mit meiner Schwester sprechen hören und weiß, warum Sie gekommen sind.« Die achtundzwanzigjährige Celia kämpfte gegen die Tränen. »Ich habe nicht gedacht, dass es fremde Menschen gibt, die für mein Leid Verständnis haben. Sind Sie aus Maibach?«

»Nein, ich komme aus Wildmoos. Den kleinen Ort kennen Sie sicher. Ich arbeite dort im Kinderheim Sophienlust.«

»Das kenne ich. Natürlich nur von außen.« Celia wurde etwas lebhafter. »Über dem Tor steht ein großes Schild: Sophienlust – das Heim der glücklichen Kinder. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob das stimmt. Kinder, die in einem Heim sind, können doch nicht glücklich sein.« Unwillkürlich sah Celia auf die kleine Fränzi.

Diese zupfte Schwester Regine jetzt am Kleid und fragte: »Tante, in Wildmoos gibt es so lustige Wegweiser mit Tieren.«

Schwester Regine lachte. »Ja, die sollen zeigen, wie man zum Kinderheim Sophienlust kommt. Du warst also schon öfters in Wildmoos?«

»Vati ist am Sonntag immer mit uns hinaus ins Grüne gefahren, Tante. Das war schön. Jetzt kann er das nicht mehr tun. Deshalb sind Mutti und ich sehr traurig. Mutti wäre auch nicht krank, wenn sie nicht so viel geweint hätte.« Das alles sagte Fränzi mit wichtiger Stimme. Sie schien ein sehr aufgewecktes Kind zu sein. »Aber Mutti soll nicht immerzu weinen. Wir haben doch noch Onkel Eckart. Er sagt, dass er sich immer um uns kümmern wird.«

Celia fühlte sich verpflichtet, diese Worte ihres Kindes zu erklären. »Eckart Degner ist Architekt. Er war ein Freund meines Mannes. Die beiden haben meistens zusammengearbeitet. Herr Degner hat auch die Leitung des Baues, auf dem das Unglück passiert ist. Er hat mir alle nötigen Wege abgenommen. Ich hätte sie nicht geschafft, und meine Schwester ist oft nicht zuverlässig genug.« Jetzt erschrak Celia. Dann sprach sie weiter: »Damit wollte ich nichts Nachteiliges über meine Schwester sagen. Es ist eben jeder Mensch anders. Manchmal wünschte ich mir, Odas leichtere Veranlagung zu haben. Vielleicht würde sie nicht so viel leiden wie ich. Sie weiß immer, wie es weitergehen soll, aber ich sehe jetzt keinen Weg mehr. Es ist furchtbar, wenn man von einer Stunde zur anderen aus seinem Glück gerissen wird. Uns ging es wirklich gut. Mein Mann kannte nur seine Arbeit und uns beide.« Celia zog ihr Kind zu sich und streichelte es. »Aber wir werden zurechtkommen müssen. Wenn ich mich nur wieder erholen würde.« Auf einmal sah sie noch ängstlicher aus als zuvor. Leise sagte sie: »Ich hatte nach Fränzis Geburt einen Lungenspitzenkatarrh und musste monatelang liegen. Meine Lunge ist seitdem anfällig. Bei einem solchen Leiden sind Sorgen Gift.«

»Tante Oda kommt schon zurück«, rief Fränzi auf einmal und lief hinaus. Schon an der Tür zur Diele jubelte sie: »Onkel Eckart, jetzt bist du endlich da.«

»Siehst du, Eckart«, war Odas Stimme zu hören, »du bist bei Fränzi immer Hahn im Korb. Dass ich mit zurückgekommen bin, sieht sie gar nicht.«

»Sie bekommen Besuch«, sagte Schwester Regine zu Celia. »Ich werde mich jetzt verabschieden.«

»Aber nein, Schwester Regine, bleiben Sie doch noch. Wir haben ja noch kaum miteinander sprechen können.« Celia sah Schwester Regine bittend an.

Jetzt kam Fränzi mit einem großen kräftigen Mann ins Wohnzimmer. Er hatte blondes volles Haar und einen Bart, ein leicht gebräuntes Gesicht und dunkle Augen.

»Ich habe unerwartet Besuch bekommen, Eckart«, sagte Celia. Ihr Gesicht hatte sich etwas gerötet. Sie machte Schwester Regine mit dem Architekten Eckart Degner bekannt. Danach sprach sie wieder von Sophienlust. Alle interessierten sich dafür, wie die Kinder dort lebten.

»Ich werde dich einmal besuchen, Tante«, sagte Fränzi in ihrer lebhaften Art. »Darf ich dann auch mit den Kindern spielen? Weißt du, hier muss ich immer erst auf den Spielplatz gehen, und dann muss Mutti mich begleiten, weil ich noch zu klein bin. Sie hat immer Angst, dass ich von einem Auto überfahren werde.«

»Bei dir Wirbelwind muss man auch Angst haben«, sagte Eckart Degner und zog das kleine Mädchen an sich. Es war ihm anzumerken, dass er es sehr gernhatte.

Fränzi, machte ein beleidigtes Gesicht. »Aber ich weiß doch schon, dass man nicht über die Straße gehen darf, wenn die Ampel rot ist. Erst wenn das grüne Männchen zu sehen ist, darf ich hinüber. Das hat Vati mir alles beigebracht.«

Über das Gesicht Eckart Degners lief ein Schatten. »Ja, aber trotzdem kannst du noch nicht allein in Maibach herumlaufen. Lass dir das nur nicht einfallen.«

Nun war auch Oda ins Zimmer gekommen. Sie riss sofort das Gespräch an sich. »Ihr verwöhnt Fränzi viel zu sehr. Sie sollte beizeiten lernen, selbstständig zu werden. Das braucht man im Leben wie das tägliche Brot. Fränzi ist ohnehin in Gefahr, ihrer Mutter nachzugeraten. Celia brauchte auch immer jemanden, der sie beschützte. So lebhaft Fränzi auch oft ist, am liebsten hat sie es doch, wenn immer jemand bei ihr ist.«

»Mit vier Jahren steht ihr das wohl auch zu«, sagte Eckart Degner etwas ungehalten. »Viel verstehst du wirklich nicht von Kindern, Oda. Aber bei deinen Cremetiegeln lernst du das wohl auch nicht.«

Die fünfundzwanzigjährige Oda lachte. »Mach dich ruhig über meine Cremetiegel lustig. Ich finde, dass eine Kosmetikerin sehr wichtig ist. Mein Beruf schließt aber nicht aus, dass ich auch einmal eine tüchtige Hausfrau und Mutter werde.« Sie sah Eckart Degner auffallend kokett an. »Ich werde nur etwas moderner sein als meine Schwester Celia. Obwohl sie nur drei Jahre älter ist als ich, kommt sie mir oft vor, als wollte sie leben wie im vorigen Jahrhundert. Sie hat sich nicht einmal neue Garderobe für die Beerdigung einreden lassen. Stell dir vor, Eckart, sie will den schwarzen Mantel tragen, den sie sich beim Tod unserer Mutter gekauft hat. Das war immerhin vor drei Jahren.«

Eckart Degner, der sich schon gesetzt hatte, stand auf. Ironisch sagte er: »Das ist eine unendlich lange Zeit für einen Mantel. So lange dürfte er gar nicht leben. Deine Sorgen möchte ich haben, Oda.«

»Ich auch«, sagte Celia leise. »Welche Rolle spielt die schwarze Kleidung? Sie kann mir Karl auch nicht zurückgeben.«

Eckart Degner setzte sich auf den Rand der Couch. Er tat das ganz ungezwungen. »Nun rege dich nicht wieder auf, Celia«, bat er. »Oda hat ein besonderes Talent, Themen anzuschneiden, die dich quälen müssen.«

»Also gut, dann gehe ich wieder«, sagte Oda schnippisch, »wenn ich euch nichts recht machen kann. Ich frage mich nur, wie Celia in Zukunft mit dem Leben fertig werden soll, wenn du genauso mit ihr umgehst, wie es Karl getan hat. Immer so, als ob sie ein rohes Ei wäre.« Oda verschwand. Aus der Diele rief sie zurück: »Ich komme erst am Nachmittag wieder.«

Schwester Regine war es beinahe peinlich, dieses Gespräch mitangehört zu haben.

Celia sah es ihr an. Sie sagte entschuldigend: »Oda meint das alles nicht so. Wir kennen einander ja auch alle schon seit vielen Jahren, da spricht man meistens sehr offen miteinander. Vielleicht hat Oda sogar recht, wenn sie in Sorge darüber ist, ob ich mit dem Leben fertig werde.« Jetzt sah sie Eckart Degner an. »Wie lange werde ich wohl brauchen, bis ich begreife, dass Fränzi und ich nun allein sind?«

»Ihr seid nicht allein.« Das sagte Eckart Degner sehr entschieden. »Karl war mein bester Freund. Er durfte erwarten, dass ich mich um euch kümmere. Noch dazu, da ihm der Unfall auf meiner Baustelle passiert ist. Nein, Celia, plage dich nicht mit Zukunftsgedanken. Du siehst, dass es noch mehr Menschen gibt, die sich um dich sorgen.« Er sah auf Schwester Regine.