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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Der große Tourenwagen der Eichbergs surrte über die Autobahn. Die Familie war auf dem Weg nach Frankfurt, wo der Balladensänger Simon Eichberg zu einem Liederabend in der Konzerthalle erwartet wurde. Draußen blaute ein herrlicher Sommertag. Wiesen flogen an ihnen vorbei, Wälder, in tiefem Grün. Doch Sabine Eichberg hatte keine Zeit, die Schönheit der Landschaft zu genießen. Christian, ihr fünfjähriger Sohn, lehnte seinen dunklen Kopf an ihre Schulter und hustete leise vor sich hin. Durch den dünnen Stoff ihres Sommerkleides fühlte Sabine die Hitze, die von ihm ausging. Er hatte Fieber! »Es tut mir leid, Mutti«, keuchte der Bub. »Papa ist sicher böse auf mich. Er hat doch Angst, dass ich ihn anstecke.« »Deswegen ist Papa doch nicht ärgerlich.« Sabine sagte es sanft, um ihren Sohn zu beruhigen. Aber sie wusste, dass ihr Mann nichts mehr fürchtete als eine Erkältung, die seinen Stimmbändern schaden konnte. Er war vor dem fiebernden Jungen nach vorn zum Chauffeur geflüchtet und trug einen weißen Wollschal um den Hals – trotz der Sommerhitze. Ab und zu drehte er sich um und schaute durch die trennende Glaswand hindurch nervös auf sie. Seine Lippen formten Worte, die Sabine nicht verstand. Erneut wurde Christian von einem quälenden Hustenanfall geschüttelt. Charlotte, die knapp Vierjährige, seufzte: »Du wirst uns alle noch krank machen.
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Seitenzahl: 151
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Der große Tourenwagen der Eichbergs surrte über die Autobahn. Die Familie war auf dem Weg nach Frankfurt, wo der Balladensänger Simon Eichberg zu einem Liederabend in der Konzerthalle erwartet wurde. Draußen blaute ein herrlicher Sommertag. Wiesen flogen an ihnen vorbei, Wälder, in tiefem Grün. Doch Sabine Eichberg hatte keine Zeit, die Schönheit der Landschaft zu genießen. Christian, ihr fünfjähriger Sohn, lehnte seinen dunklen Kopf an ihre Schulter und hustete leise vor sich hin. Durch den dünnen Stoff ihres Sommerkleides fühlte Sabine die Hitze, die von ihm ausging. Er hatte Fieber!
»Es tut mir leid, Mutti«, keuchte der Bub. »Papa ist sicher böse auf mich. Er hat doch Angst, dass ich ihn anstecke.«
»Deswegen ist Papa doch nicht ärgerlich.« Sabine sagte es sanft, um ihren Sohn zu beruhigen. Aber sie wusste, dass ihr Mann nichts mehr fürchtete als eine Erkältung, die seinen Stimmbändern schaden konnte. Er war vor dem fiebernden Jungen nach vorn zum Chauffeur geflüchtet und trug einen weißen Wollschal um den Hals – trotz der Sommerhitze. Ab und zu drehte er sich um und schaute durch die trennende Glaswand hindurch nervös auf sie. Seine Lippen formten Worte, die Sabine nicht verstand.
Erneut wurde Christian von einem quälenden Hustenanfall geschüttelt. Charlotte, die knapp Vierjährige, seufzte: »Du wirst uns alle noch krank machen. Deinetwegen muss ich diese grässlichen Eukalyptusbonbons lutschen.«
Sabine sah das Schild, das die Ausfahrt nach Bachenau anzeigte. Sie wusste, in der Nähe dieses Ortes lag Wildmoos, und dazu gehörte das berühmte Kinderheim Sophienlust. Dort musste es auch einen guten Arzt geben.
Schnell entschlossen klopfte Sabine an die Glasscheibe und bedeutete ihrem Mann, den Wagen anhalten zu lassen.
Der Chauffeur fuhr auf die nächste Park-Ausweichstelle und hielt an. Sabine stieg aus dem Wagen, ebenso ihr Mann, der sich ein Taschentuch vor Mund und Nase gebunden hatte.
Sabine flüsterte, als sie sich an Simon wandte, damit Christian sie nicht hören sollte. »Es wäre unverantwortlich, mit unserem kranken Buben bis Frankfurt zu fahren, Simon. Er hat Fieber, und ich fürchte, ziemlich hohes. Bis Wildmoos sind es nur noch wenige Kilometer. Ich könnte Christian dort zu einem Arzt bringen.«
»In einem so kleinen Nest?«
»Zu dem Dorf gehört das Kinderheim Sophienlust, dessen Besitzerin Denise von Schoenecker ist, Simon. Es ist berühmt für die ausgezeichnete Betreuung der Kinder.«
Simon schaute ungeduldig auf seine Armbanduhr. »Bis spätestens fünf Uhr muss ich im Hotel sein. Ich muss noch proben.«
Sabine kannte seine Nervosität vor jedem Auftritt. Sie wusste auch, dass nur sie das Lampenfieber dämpfen konnte, das ihn jedes Mal überfiel. Nun aber hatte Christian Fieber, und sie hatte zuerst an das kranke Kind zu denken.
Unwillkürlich legte sie ihre Hand auf Simons Arm, um ihn zu beruhigen. Doch er wich vor ihr zurück. »Du steckst voller Bazillen, Liebste. Bitte, sei vorsichtig. Du weißt, dass meine Karriere vor einem Jahr auf dem Spiel stand durch eine lächerliche Erkältung, die meine Stimmbänder angegriffen hatte.«
»Verzeih, Simon! Selbstverständlich wollen wir vorsichtig sein. Sag Ariste, er soll uns nach Wildmoos fahren. Du selbst könntest dich währenddessen ein wenig hier im Wald erholen. Ich rufe dich später im Hotel an, Liebster.«
Simon staunte. Er war so gar nicht gewohnt, dass seine Frau die Initiative ergriff. Aber die Angst, von Christian angesteckt zu werden, war stärker als das leichte Unbehagen, das ihn plötzlich ergriff. Er stimmte Sabines Vorschlag zu.
Sabine und Charlotte winkten, als sie an ihm vorbeifuhren. Simon hob die Hand und wandelte dann den schmalen Waldweg entlang. Dabei summte er die Lieder vor sich hin, die er an diesem Abend vortragen würde. Als er den »Erlkönig«, sein Lieblingslied, anstimmte, packte ihn die Künstlerleidenschaft. Er sang laut:
»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.«
Simon verstummte erschrocken. Nicht ich, Sabine wird meinen Sohn auf dem Arm halten, dachte er. Er ist krank. Er hat Fieber wie der Junge in dem Lied, der von einem bösen Geist ergriffen wurde. Vom Erlkönig!
Gegen seinen Willen drängte sich Simon nun auch die letzte Strophe auf die Lippen:
»Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
er hält in den Armen das ächzende Kind,
erreicht den Hof mit Müh’ und Not,
in seinen Armen das Kind war tot.«
Angst packte Simon Eichberg. Der Schweiß brach ihm aus. Er eilte voller Ungeduld zur Autobahn zurück. Endlich sah er seinen Wagen. Ariste hielt und stieg aus.
»Hat meine Frau einen Arzt gefunden?«, erkundigte sich Simon Eichberg.
»Eine Frau Dr. Frey. Sie soll sehr tüchtig sein, Herr Kammersänger. Die gnädige Frau und die Kinder sind in einem sehr behaglichen Gasthof in Wildmoos abgestiegen. Sie können jetzt im Fond einsteigen, Herr Kammersänger. Die gnädige Frau hat veranlasst, dass der Wagen von einem Apotheker desinfiziert wurde.«
»Das beruhigt mich ungemein, Ariste.«
Simon Eichberg ließ sich seufzend in die Polster sinken. Er liebte seine Frau und seine Kinder. Aber mehr noch bedeutete ihm die Kunst, die Verehrung des Publikums, der Beifall, der ihn Abend für Abend umrauschte. Ohne ihn konnte er nicht leben.
*
Die freundliche Wirtin hatte der besorgten jungen Frau zwei Zimmer zur Verfügung gestellt.
»Leg dich ein wenig auf das Bett, Charlotte«, sagte Sabine. »Frau Doktor wird gleich kommen.«
»Ich habe Durst. Ich möchte ein Glas Milch. Und meinen Teddy!«, trotzte die Kleine.
»Milch kannst du haben, so viel du willst, Kleines.« Die Wirtin selbst brachte das Glas.
»Hast du auch einen Teddy für mich?«, fragte Charlotte und lächelte spitzbübisch. Sie sah allerliebst aus in ihrem bunten Sommerkleidchen und den rosa Häkelbändchen, die ihr blondes Haar über den Ohren zusammenhielten.
Der geliebte Teddy war im Wagen geblieben. Sabine fühlte sich hilflos. Da mischte sich die Wirtin ein. »Hier ganz in der Nähe ist ein Tierheim. Es heißt Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere. Dort gibt es die Bärin Isabell mit zwei süßen kleinen Teddys, die von den Sophienluster Kindern Taps und Tölpl getauft wurden. Wenn deine Mama es erlaubt, führe ich dich morgen hin.« Bei diesen Worten blickte die Wirtin die Dame mit den sanften braunen Augen unter dem aschblonden Haar, die sich sichtlich bemühte, ihre Nervosität und Angst zu verbergen, fragend an. Sabine erinnerte sie an ein Reh. Deshalb fügte sie rasch hinzu: »Es gibt noch viele andere Tiere in dem Heim, das dem Tierarzt Dr. von Lehn und seiner Frau Andrea gehört. Auch ein Reh, das Bambi heißt, ist dabei.«
»Bitte, Mutti, erlaube es«, bettelte die kleine Charlotte.
Sabine nickte und verständigte sich mit der Wirtin durch einen bedeutsamen Blick.
Die mütterliche Frau führte das kleine Mädchen in das Nebenzimmer, zog ihm das Kleidchen aus und brachte es zu Bett. Wenige Minuten später war Charlotte eingeschlafen. Sie hörte nicht mehr die eiligen Schritte und den erlösenden Ausruf ihrer Mutter: »Wie froh bin ich, dass Sie da sind, Frau Doktor. Ich mache mir Sorgen um meinen Sohn.«
*
Dr. Anja Frey trat an das Bett, griff mit einer Hand an die Stirn des Jungen, fühlte mit der anderen den Puls. Dann musste Christian weit den Mund öffnen. Die Ärztin horchte seinen Körper ab und nannte danach ihre Diagnose. »Ein akuter grippaler Infekt. Die Lungen sind nicht angegriffen. Da Sie mir am Telefon die Krankheitserscheinungen so deutlich geschildert hatten, habe ich die entsprechenden Medikamente bei mir. In wenigen Tagen können Sie mit dem kleinen Patienten heimfahren.«
»Wir wohnen nicht daheim. Wir sind immer in Hotels«, ächzte Christian, wurde aber gleich darauf wieder von einem quälenden Husten geschüttelt.
Dr. Frey hob die Augenbrauen, versagte sich aber vorläufig jede Frage. Sie bat um Wasser, flößte ihrem Patienten die Medizin ein, maß noch einmal das Fieber und bat Sabine Eichberg, das Fenster einen Spalt zu öffnen. »Ich möchte noch mit Ihnen sprechen«, flüsterte sie, als sie sah, dass der Junge die Augen bereits geschlossen hatte. »Er wird jetzt einschlafen.«
Die Medizin wirkte sehr schnell. Wenige Minuten später verrieten Christians regelmäßige Atemzüge, dass er eingeschlummert war.
»Kann ich ihn denn allein lassen, Frau Doktor?«
Die junge Ärztin nickte beruhigend, schob Sabine sanft zur Tür hinaus und schloss diese nach einem letzten prüfenden Blick auf den Kranken.
Die Mutter hat eine Behandlung vielleicht noch nötiger als der Sohn, dachte die Ärztin und sagte laut: »Ein Kaffee würde mir jetzt guttun und Ihnen auch, Frau Eichberg. Wollen wir zusammen eine Tasse in der Gaststube nehmen?«
»Gern, wenn Sie Zeit dazu haben, Frau Doktor.«
Die nehme ich mir, dachte Anja Frey und schob sich auf die Eckbank. Sabine Eichberg nahm ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz. Sie hat Angst, spürte die erfahrene Ärztin.
Kummer bedrückt sie. Ich muss versuchen, sie zum Sprechen zu bringen. Aber ich muss behutsam vorgehen. Sie sieht so verletzlich aus.
Doch Sabine Eichberg machte es Frau Dr. Frey leicht, in ein Gespräch mit ihr zu kommen. Sie, die sonst so schüchtern war, hatte sofort Zutrauen zu dieser hochgewachsenen und ernsten Frau gefasst, deren Gesichtszüge ihr zeigten, dass sie kein sorgloses Leben hinter sich hatte.
»Mein Sohn sagte Ihnen schon, dass wir in Hotels wohnen«, begann Sabine.
Anja Frey nickte stumm.
»Es ist nicht so, dass wir kein Zuhause hätten. Wir besitzen ein wundervolles Landhaus im Taunus. Aber leider ist es mir nicht vergönnt, dort mit meinem Mann und meinen Kindern zu leben. Er braucht mich.«
»Wer? Ihr Mann?«
»Ja, Frau Doktor. Sie sehen so aus, als hätten Sie Verständnis für die Probleme eines Künstlers.«
»Ich gebe mir Mühe«, erwiderte die Ärztin.
»Mein Mann ist der Balladensänger Simon Eichberg.«
»Ein großer Künstler«, meinte Anja Frey. »Ich habe schon einige Liederabende mit ihm erlebt.«
Das Lob ihres Mannes trieb Sabine das Blut in die Wangen. Sie wurde lebhafter. »Eine Ehe mit einem solchen Mann ist oft problematisch. Als er mich bat, seine Frau zu werden, hatte ich Angst, ich würde diese Aufgabe nicht bewältigen können. Aber ich hatte mir geschworen, alles für ihn zu tun und ihn niemals in seiner Karriere zu behindern. Er braucht mich, Frau Doktor! Das ist für eine Frau eine tiefe Befriedigung, und ich sollte glücklich und stolz sein. Aber die Kinder müssen darunter leiden.«
»Sie haben kein warmes Nest«, stellte Anja Frey sachlich fest.
»Das ist mein Kummer. Wir sind ständig unterwegs, hetzen von einer Stadt zur anderen. Von meinen Kindern kann ich mich nicht trennen. Also nehmen wir sie mit. Ich darf gar nicht daran denken, wie unser Leben aussehen wird, wenn Christian zur Schule muss.«
»Wenn Sie sich nicht für einen Privatlehrer entscheiden, werden Sie Ihren Sohn fremden Leuten überlassen müssen. Oder Ihr Mann muss auf Ihre ständige Begleitung verzichten.«
»Ich kann weder das eine noch das andere.« Verzweiflung stand auf Sabines Gesicht. »Unsere Kinder sollen nicht wie Treibhauspflanzen aufwachsen. Sie sollen Freunde und eine fröhliche Kindheit haben. Aber wie soll ich das mit den Pflichten meinem Mann gegenüber vereinbaren?«
»Wie ich es sehe, haben Sie drei Kinder zu behüten, Frau Eichberg.« Die junge Ärztin machte keine Umschweife, wenn es um das Glück hilfloser Kinder ging. Nicht umsonst behandelte sie die kleinen Insassen von Sophienlust. Sie liebte diese verlassenen Kleinen und wurde von ihnen heiß verehrt. »Ein Leben im Hotel ist Erwachsenen nicht zuträglich. Für Kinder aber bedeutet der Verzicht auf Geborgenheit und auf Freunde einen Verlust, der im Leben niemals wieder gutgemacht werden kann. Verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich spreche aus Erfahrung. Ist Ihnen das Kinderheim Sophienlust ein Begriff?«
»Ja«, bestätigte Sabine. »Darum habe ich meinen Mann ja gebeten, uns in Wildmoos abzusetzen. Es heißt, Sophienlust sei das ›Haus der glücklichen Kinder‹. Daraus schloss ich, dass hier auch eine gute ärztliche Betreuung sein müsse. Ich habe schon öfter von Denise von Schoenecker gehört. Ihr gehört doch das Kinderheim?«
»Sie verwaltet es für ihren Sohn Dominik von Wellentin-Schoenecker. Die frühere Besitzerin von Sophienlust hat den großen Besitz ihrem Urenkel Dominik hinterlassen mit der Bitte, das Herrenhaus in ein Kinderheim umzuwandeln. Es sollten dort Kinder aufgenommen werden, die aus irgendeinem Grund die Elternliebe entbehren müssen oder Waisen sind. Auch Dominik, der von allen Nick genannt wird, musste einige Jahre in einem Kinderheim leben, da seine Mutter als Tänzerin den Unterhalt für sich und ihr Kind verdienen musste.«
»War er ein uneheliches Kind?«
»Nein.« Die Ärztin lächelte. Sie fühlte, dass Sabine Eichberg nicht aus Vorurteilen heraus diese Frage gestellt hatte, sondern aus menschlichem Interesse. »Denise von Schoenecker hatte in erster Ehe den Enkel von Sophie von Wellentin geheiratet, der kurz vor der Geburt seines Sohnes Dominik tödlich verunglückte. Denise war und ist eine sehr stolze, aber auch warmherzige, gütige Frau. Da die von Wellentin sie abgelehnt hatten, weil sie Tänzerin gewesen war, hatte sie die reiche Familie ihres verstorbenen Mannes niemals um finanzielle Hilfe gebeten. Sophie von Wellentin entdeckte ihren Urenkel Dominik durch Zufall und hinterließ ihm den größten Teil ihres sehr beachtlichen Vermögens. Denise hat später den Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker geheiratet, der aus erster Ehe selbst zwei Kinder hatte. Die beiden Kinder sind Sascha, der einst das Gut Schoeneich erben wird, und Andrea, die mit dem Tierarzt Dr. von Lehn verheiratet ist.«
»Gehört den beiden vielleicht das Tierheim Waldi & Co?«
»Sie wissen davon?«
»Die Wirtin hat meiner kleinen Charlotte versprochen, ihr morgen die Bären und andere Tiere dort zu zeigen. Meine Tochter war begeistert. Sie liebt alle Vierbeiner sehr.«
»Ja, die von Lehns sind die Besitzer des Tierheims. Er ist ein beliebter Tierarzt, seine Frau ein bezauberndes Geschöpf, das ein so weites Herz hat, dass darin Kinder, Tiere, Pflanzen und die ganze herrliche Natur Platz haben.
Wenn ich über die Familie Schonecker-Wellentin-Lehn spreche, begehe ich keine Indiskretion. Jeder hier kennt sie und verehrt sie.«
»Ob ich meinen Kindern dieses Heim einmal zeigen darf?«
»Denise von Schoenecker und ihren Kindern sind alle Besucher willkommen, Frau Eichberg. Andrea von Lehn aber ist es das größte Vergnügen, Besuchern ihren Zoo vorzuführen.« Die Ärztin schaute auf ihre Armbanduhr und rief dann nach der Wirtin, um zu bezahlen.
»Bitte, überlassen Sie diese Kleinigkeit mir«, bat Sabine Eichberg rasch. »Darf ich noch eine Frage an Sie stellen, die mir sehr am Herzen liegt?«
Dr. Anja Frey nickte.
»Ich wünsche mir so sehr, dass Sie mich verstehen. Sie sagten vorhin, dass ich drei Kinder zu behüten hätte. Sie haben recht, Frau Doktor. Mein Mann leidet, wie viele Künstler, vor jedem Auftritt unter Lampenfieber. Ich allein kann ihn beruhigen. Warum es so ist, weiß ich nicht. Aber ich empfinde es als meine Aufgabe, ihm zu helfen. Und …« Sabine verstummte.
»Sprechen Sie sich alles vom Herzen«, bat die Ärztin warm. »Ich fühle, dass Sie noch etwas bedrückt.«
»Ja«, bestätigte Sabine. »Vor einem Jahr hatte mein Mann eine Stimmbändererkrankung. Er glaubte, nie mehr singen zu können. Aber seine Berufung ist sein Leben. Er wurde zwar geheilt, doch die Angst, diese Katastrophe könnte sich wiederholen, blieb in ihm. Sie verfolgt ihn wie ein Gespenst. Um diese Furcht zu überwinden, trinkt er manchmal mehr, als ihm guttut. Er ist ein besessener Künstler und kann nichts halb tun. Er probt auch bis zur Erschöpfung und treibt damit seinen Pianisten Anton Fassbinder manchmal zur Verzweiflung. Wenn ich nicht bremse, ruiniert er seine Gesundheit und die seines Mitarbeiters, der ihm völlig ergeben ist.«
Wie du, dachte Anja Frey mitleidig.
»So maßlos wie in der Arbeit ist er auch beim Feiern. Sie wissen ja selbst, wie es nach einem gelungenen Abend zugeht. Er wird eingeladen, es wird getrunken und gegessen. Simon verliert dann das rechte Maß, wenn ich nicht auf ihn achte. Ich weiß, dass ich ihm manchmal damit lästig werde. Er reagiert wie ein Kind auf die Ermahnungen der Mutter, die es nur gut meint.«
Frau Dr. Frey konnte sich ein Bild von dieser Ehe machen. Der Mann lebte nur für seinen Beruf, gab sich völlig für ihn auf. Seine zarte Frau aber, die aussah wie ein Reh und sie an Bambi im Tierheim Waldi & Co. erinnerte, stand nicht an jenem Platz, der ihr entsprochen hätte. Sie war überfordert von den Pflichten, die ihr Mann und Kinder abforderten. Sie lebte in einer Unordnung, an der sie litt.
Die Ärztin nahm sich vor, mit Denise von Schoenecker über die junge Frau und ihre Kinder zu sprechen. Letztere gehörten zu jenen Kindern, die wohl Elternliebe besaßen, aber kein warmes Nest hatten.
Dr. Anja Frey schaute noch einmal nach dem kleinen Patienten, der ruhig schlief. Zur Vorsorge ließ sie noch Medikamente für Sabine Eichberg und die vierjährige Charlotte zurück, falls diese sich angesteckt haben sollten, und versprach, auch am folgenden Morgen wieder vorbeizukommen.
*
Kaum hatte die Ärztin das Gasthaus verlassen, rief Sabine ihren Mann in Frankfurt an. Sie wusste, sie würde ihn noch im Hotel erreichen.
Simons Stimme war schrill vor Aufregung. Sabine kannte diesen Ton und fürchtete ihn. Nicht ihretwegen, sondern seinetwegen.
»Denke dir, Fassbinder ist noch nicht da! Heute geht aber auch alles schief. Ich habe einen leeren Kopf. Meine Stimme ist dahin. Ich werde heute Abend keinen Ton herausbringen.«
Sabine holte tief Luft. Dann begann sie auf ihn einzusprechen und ihm Mut zu machen. Wie jeden Abend.
»Du wirst wunderbar singen, Liebster, wie immer. Dass du unter Lampenfieber leidest, zeigt doch nur, welche unerhörten Kraftreserven du noch besitzt. Sonst würden deine Nerven sich einfach weigern, diese Spannung zu erzeugen. Sobald du die Bühne betrittst, wirst du ganz ruhig sein.«
Sabine sprach suggestiv, mit einer Ausdauer, die mancher wohl als Eigensinn gedeutet haben würde. Doch auf diese Art war es möglich, ihm die Verzweiflung zu nehmen und seinen Glauben an sich selbst zu stärken. Abend für Abend!
Als Simon nach Christian fragte, atmete Sabine erleichtert auf. Er hatte sich also wieder in der Gewalt! »Die Ärztin macht einen ausgezeichneten Eindruck«, berichtete sie. »Christian schläft sich gesund, Simon. Wir werden bald wieder zu dir kommen können.«
»Schnell! Ich brauche dich! Noch ein so fürchterlicher Abend und ich drehe durch,« stieß er hervor. Das Lampenfieber war also wieder zurückgekehrt. Es gelang Sabine nun nicht mehr, sein erregtes Gemüt zu beruhigen.