Nur geduldet – nicht geliebt - Gert Rothberg - E-Book

Nur geduldet – nicht geliebt E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Als helles Tageslicht ins Zimmer flutete, kniff Heidi noch einmal ganz fest die Augen zusammen. »Steh auf, du Faulpelz«, hörte sie Henriks Stimme. »Es ist schon spät.« Heidi setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. »Wie spät?«, fragte sie und blinzelte den hübschen Jungen mit den grauen Augen und dem braunen Haarschopf an. »Gleich halb acht. Und heute ist Sonnabend. Da haben wir doch schulfrei. Deshalb kann ich ja auch mit dir und Mutti nach Maibach fahren.« Heidi fiel nun wieder ein, dass sie an diesem Tag ein neues Kleid bekommen sollte. Sie wünschte sich ein rotes mit weißen Punkten. Oder sollte sie sich vielleicht doch lieber für ein himmelblaues mit bunten Blümchen entscheiden? »Ich stehe schon auf«, sagte sie voller Freude und schob die Bettdecke zurück. Mit Schwester Regines Hilfe war die Kleine schnell angezogen. Kritisch musterte sie sich im Spiegel. »Findest du nicht auch, dass dieses Kleid schon sehr abgetragen ist?«, fragte sie geringschätzig und rümpfte die Nase.

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Sophienlust Extra – 102 –

Nur geduldet – nicht geliebt

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

Als helles Tageslicht ins Zimmer flutete, kniff Heidi noch einmal ganz fest die Augen zusammen.

»Steh auf, du Faulpelz«, hörte sie Henriks Stimme. »Es ist schon spät.«

Heidi setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. »Wie spät?«, fragte sie und blinzelte den hübschen Jungen mit den grauen Augen und dem braunen Haarschopf an.

»Gleich halb acht. Und heute ist Sonnabend. Da haben wir doch schulfrei. Deshalb kann ich ja auch mit dir und Mutti nach Maibach fahren.«

Heidi fiel nun wieder ein, dass sie an diesem Tag ein neues Kleid bekommen sollte. Sie wünschte sich ein rotes mit weißen Punkten. Oder sollte sie sich vielleicht doch lieber für ein himmelblaues mit bunten Blümchen entscheiden?

»Ich stehe schon auf«, sagte sie voller Freude und schob die Bettdecke zurück.

Mit Schwester Regines Hilfe war die Kleine schnell angezogen. Kritisch musterte sie sich im Spiegel. »Findest du nicht auch, dass dieses Kleid schon sehr abgetragen ist?«, fragte sie geringschätzig und rümpfte die Nase.

»Dieses karierte Kleid kannst du gut noch tragen«, meinte die Kinderschwester von Sophienlust lächelnd.

»Aber es ist doch schon an der Tasche gestopft. Auf dem Heimweg ziehe ich aber schon mein neues Kleid an.«

»Das kannst du tun, aber nun komm endlich. Die anderen Kinder sitzen schon beim Frühstück. Tante Isi wird in ungefähr einer halben Stunde da sein.«

»Dann werde ich mich beeilen.« Das kleine Mädchen mit den hellblonden Haaren und den blauen Augen verließ das Zimmer und sprang dann übermütig die Treppe hinab, die in die Wohnhalle mündete.

Henrik saß schon auf seinem Platz, als Heidi den Speisesaal betrat. Es kam nur selten vor, dass er zum Frühstück in Sophienlust war. Er wohnte ja in Schoeneich bei seinen Eltern. Doch die letzte Nacht hatte er in Sophienlust verbracht. Sein älterer Bruder Nick hatte ihm sein Zimmer abgetreten. Nick wohnte sonst auch in Schoeneich, aber als zukünftiger Besitzer von Sophienlust hatte er auch hier ein Zimmer, in dem er jederzeit übernachten durfte. Um dieses Zimmer beneidete Henrik ihn glühend. Er fand es ungerecht, dass er nicht auch ein eigenes Zimmer in dem Kinderheim bekam.

Heidi wünschte allen fröhlich einen guten Morgen. Dann setzte sie sich an den Esstisch.

»Ich freue mich sehr auf mein neues Kleid«, sagte sie zu Pünktchen, die neben ihr saß.

»Das kann ich verstehen«, erwiderte die Gymnasiastin mit den goldblonden Haaren und den veilchenblauen Augen, wobei sie ihre mit Sommersprossen übersäte Stupsnase krauste. »Was für eine Farbe suchst du dir denn aus?«

Nun mischten sich die anderen Mädchen in das Gespräch ein und erteilten Heidi bezüglich der Farbe Ratschläge. »Am besten würde dir Himmelblau stehen«, meinte Angelika nachdenklich.

»Das finde ich auch«, rief ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Vicky.

»Ich finde rot sehr schön«, erklärte Henrik. »Heidi hatte schon einmal ein rotes Kleid. Das hat mir sehr gefallen.«

»Vielleicht werde ich mir ein rotes Kleid kaufen.« Heidi strahlte übers ganze Gesicht. Sie fand es wunderschön, im Mittelpunkt einer Unterhaltung zu stehen.

»Mutti kommt!«, rief Henrik, der ein Auto gehört hatte. »Darf ich aufstehen, Schwester Regine?«

»Steh nur auf«, erlaubte die Kinderschwester freundlich.

»Es ist Mutti. Und Nick ist auch da!«, rief Henrik fröhlich.

Kurz darauf wurden Denise von Schoenecker und Nick von den Kindern von Sophienlust voller Freude begrüßt.

»Seid ihr fertig?«, fragte Denise Heidi und Henrik. »Ich möchte gleich losfahren.«

»Wir sind fertig, Mutti. Komm, Heidi!«, rief Henrik dem kleinen Mädchen zu, das sogleich angelaufen kam.

Es war ein sehr schöner Junitag. In den kleinen Vorgärten der Häuser von Wildmoos blühten die Blumen in prachtvollen Farben. Später wechselte das Bild. Sie hatten den Ort bereits hinter sich gelassen und fuhren nun an Wiesen und Feldern vorbei.

Aufgeregt rutschte Heidi auf dem hinteren Sitz hin und her. »Glaubst du auch, dass mir Rot besser steht als Blau?«, fragte sie Denise schon zum x-ten Male. Und zum x-ten Male antwortete diese geduldig: »Das wird man sehen. Es kommt auf den Tort der Farben an.«

»Eigentlich ist es ungerecht, dass Mädchen mehr neue Sachen als Jungen bekommen«, beschwerte sich Henrik. »Immerzu wollen die Mädchen etwas Neues haben. Findest du das nicht auch?«

»Das ist nun einmal so«, erwiderte seine Mutter lächelnd. »Mädchen schmücken sich gern. Und später, wenn sie erwachsen sind, brauchen sie ebenfalls mehr Garderobe als die Männer.«

»Das verstehe ich nicht. In der Tierwelt ist doch meist das Männchen schöner.«

»Das schon, mein Junge. Aber bei den Menschen ist es eben anders.«

»Na ja, das ist wahr«, gab Henrik zu. »Du hast auch einen viel größeren Kleiderschrank als Vati. Er trägt fast immer die gleichen Hosen und die gleiche Jacke und zieht nur dann einen eleganten Anzug an, wenn er irgendwohin fährt. Aber du hast fast jeden Tag etwas anderes an.«

»Siehst du, mein Junge. Darum wollen auch schon kleine Mädchen immer etwas Neues haben. Das steckt nun einmal in uns drin.«

»Fahren wir zum Kaufhaus?«, fragte Henrik.

»Nein, ich möchte das Kleid für Heidi in dem neuen Kindermodengeschäft kaufen. Heidi hat sich doch etwas besonders Hübsches gewünscht.«

»O ja, Tante Isi.« Dem kleinen Mädchen wurde ganz feierlich zumute, als sie Maibach erreichten. »Ist das Geschäft am Marktplatz?«

»Ja, Heidi. Wir waren doch schon einmal dort.«

»Ach ja, nun weiß ich es wieder. Es ist in dem neu angemalten bunten Haus.« Sie meinte damit eines der renovierten alten Giebelhäuser, die den Marktplatz der Kreisstadt Maibach umrandeten.

»Fahren wir nachher zum Sportstadion?«, wollte Henrik nun wissen. »Vielleicht spielen dort große Jungen Fußball. Nicht wahr, Mutti, später darf ich auch Fußball spielen?« Begeistert blitzte es in Henriks Augen auf.

»Wenn du Lust hast, darfst du es.« Denise kannte ihren Jüngsten. Im Augenblick war er, wie die meisten Jungen in seinem Alter, ganz begeistert von diesem Sport. Im Winter dann würde er Skispringer werden wollen oder Abfahrtsläufer.

»Wir sind da!«, rief Heidi selig, nachdem Denise das Auto geparkt und zwei Zehncentstücke in die Parkuhr gesteckt hatte.»Sieh doch, Tante Isi, dieses blaue Kleid mit den weißen Rüschen im Schaufenster ist doch süß.«

»Es wird dir zu groß sein. Aber vielleicht haben sie dasselbe Kleid auch in deiner Größe. Kommt!«, rief Denise den Kindern zu und öffnete die Ladentür.

Der helle Ton der Türglocke rief eine Verkäuferin herbei. Andere Kunden befanden sich um diese Zeit noch nicht im Geschäft.

Heidi sah sich begeistert um. Überall hing hübsche Kindergarderobe. Zwei Stufen führten in die Abteilung hinab, in der ungezählte bunte Sommerkleidchen in allen Kindergrößen hingen.

»Guten Tag«, begrüßte Denise die Verkäuferin freundlich. »Wir brauchen ein Kleid für Heidi.«

»Guten Tag, Frau von Schoenecker«, erwiderte das junge Mädchen. »Wie schön, dass Sie uns wieder einmal beehren. Hat Pünktchen an der roten Trägerhose viel Freude?«

»Sie ist ganz begeistert davon. Am liebsten würde sie die Hose jeden Tag anziehen. Also, Heidi, nun such dir ein Kleidchen aus.«

»Dort auf der Stange hängen Kleider in deiner Größe«, sagte die Verkäuferin.

»Haben Sie für Heidi auch so ein hellblaues Kleid wie draußen in der Auslage?«, fragte Denise.

»Wir wollen einmal sehen.« Die Verkäuferin schob die Kleider auf der Stange hin und her. »Da ist so ein blaues Kleid!« rief sie und nahm es vom Bügel.

Aber Heidi konnte sich nicht so schnell entscheiden. Geduldig brachte die Verkäuferin immer wieder neue Kleider, die Heidi alle anprobierte und sich kritisch im Spiegel musterte.

Henrik langweilte sich währenddessen. Neugierig blickte er sich in dem Laden um. Plötzlich entdeckte er ein kleines Mädchen mit dunklen zerzausten Haaren und großen blauen Augen, das hinter einer mit Kleidern behangenen Stange hockte. Es trug abgetragene Jeans und einen grünweiß geringelten Pulli.

Henrik sah sich nach einer erwachsenen Begleitperson um, aber die Kleine schien ganz allein hier zu sein. Sie starrte fasziniert auf Heidi, die so viele schöne Kleider anziehen durfte. Darum bemerkte sie auch Henrik nicht, der sich an sie heranpirschte. Als er dann vor ihr stand, zuckte sie zusammen und blickte ihn aus erschreckten Augen an.

»Du brauchst vor mir keine Angst zu haben«, flüsterte der Junge. »Ich verrate dich nicht. Wie heißt du denn?«

Das kleine Mädchen schien ihm nicht zu trauen, denn es zögerte mit der Antwort.

»Bist du allein hier?«, fragte Henrik freundlich, um das Vertrauen der Kleinen zu gewinnen. Dabei schielte er zu seiner Mutter, der Verkäuferin und Heidi hinüber. Aber die drei achteten nicht auf ihn und das fremde kleine Mädchen.

Diesmal nickte das Kind.

»Wie heißt du?«, versuchte Henrik es wieder.

»Corinna.« Plötzlich lächelte die Kleine. »Und du?«, fragte sie dann scheu.

»Henrik von Schoenecker.«

»Henrik«, wiederholte die Kleine sehr leise.

Henrik nickte. Er stellte fest, dass die Kleine sehr ärmlich angezogen war. Er konnte verstehen, dass sie sich ein hübsches Kleid wünschte.

Seine Mutti hatte doch viel Geld. Deshalb konnte sie diesem armen Mädchen doch auch ein Kleid kaufen, überlegte er. Genau wie Heidi. »Warte hier«, forderte er Corinna auf.

Die Kleine nickte, doch ihr Blick folgte ihm ängstlich. Sie beobachtete, dass der nette Junge mit der lieben Dame sprach, die ihr sofort gefallen hatte. Diese Dame hatte so schwarze Haare wie das Schneewittchen in dem alten zerfledderten Märchenbuch, das sie auf dem Dachboden daheim gefunden hatte. Und ihre schwarzen Augen blickten ebenso freundlich. Bestimmt würde sie nicht schimpfen, weil, sie sich heimlich in diesen Laden geschlichen hatte, um die wunderschönen Kleidchen bewundern zu können.

»Was ist denn los, mein Junge?«, fragte Denise, als Henrik sie am Rock zupfte.

»Mutti, dort ist ein armes kleines Mädchen. Bestimmt wünscht es sich ein neues Kleid.«

»Wo?«, fragte die Verkäuferin. »Ach, das ist die kleine Corinna May. Sie kommt oft zu uns. Meist hockt sie ganz still in einer Ecke und schaut zu, wenn die Kinder neue Sachen bekommen.«

Denises mitfühlendes Herz regte sich sofort, als sie in das Gesicht des niedlichen kleinen Mädchens blickte. Der trostlose Ausdruck in den großen blauen Kinderaugen erregte ihr Mitleid. Unwillkürlich dachte sie an ihren Mann Alexander, der ihr bei jeder Fahrt prophezeite, dass sie unterwegs bestimmt irgendwo ein Kind auflesen und nach Sophienlust bringen würde, um ihm aus einer Notlage herauszuhelfen.

Corinna stand auf, als die liebe Dame auf sie zukam. Leicht flatterten ihre langen dunklen Wimpern.

»Also, du bist die Corinna«, sagte Denise liebevoll. »Nicht wahr, dir gefallen die Kleidchen hier?«

Corinna nickte eifrig. Dabei begannen ihre Augen zu strahlen.

»Möchtest du auch ein Kleid haben?«

»O ja!«, rief die Kleine mit einer Stimme, in der ihre ganze Seligkeit lag.

»Dann suche dir eins aus.« Denise fasste das Kind bei der Hand und führte es zu dem Ständer, bei dem Heidi damit beschäftigt war, sich ein Kleid auszusuchen.

»Ich nehme doch das blaue mit den Rüschen!«, rief Heidi gerade. »Wie heißt du?«, fragte sie dann das fremde Kind.

»Corinna.« Die Kleine lächelte. »Und du?«

»Ich bin die Heidi. Und …«

Jäh wurden die beiden durch das Klingeln an der Ladentür unterbrochen. Eine ungefähr dreißigjährige Frau kam aufgeregt in den Laden. Ihre Augen funkelten böse. »Also, da bist du!«, rief sie erzürnt. »Wenn man dich ungeratenes Kind auch nur eine Minute aus den Augen lässt, dann läufst du schon fort. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht in dieses Geschäft gehen darfst?« Sie wandte sich an die Verkäuferin. »Verzeihen Sie. Bitte, werfen Sie Corinna auf jeden Fall hinaus, wenn sie noch einmal Ihr Geschäft betritt.«

Corinna hob abwehrend die Arme, als die Frau auf sie zutrat. »Nicht hauen«, wimmerte sie. »Bitte, bitte, nicht!«

»Halte den Mund!«, schrie die Frau das Kind unbeherrscht an und zerrte es aus dem Laden.

Nun sahen Denise, Henrik und Heidi erst, dass das kleine Mädchen ein steifes Bein hatte.

»Hat sie sich das Bein verletzt?«, fragte Henrik.

»Ja, es ist steif und wird wohl auch steif bleiben.« Die Verkäuferin unterdrückte einen Seufzer. »Corinna hat ein schweres Los. Natürlich werde ich sie beim nächsten Mal nicht aus dem Laden hinauswerfen.«

»Ihre Mutter ist sehr hässlich zu ihr. Ist das steife Bein ein Geburtsfehler?«, wollte Henrik wissen.

»Nein, Henrik. Das Bein ist durch einen Unfall steif geworden.«

»Dann finde ich es von ihrer Mutter noch gemeiner, dass sie so hässlich zu Corinna ist!«, empörte sich Heidi.

»Die Kleine kann einem wirklich leidtun«, erklärte Denise. »Ist die Frau immer so hässlich zu ihrem Kind?«

»Frau Moser ist nicht ihre Mutter. Corinna ist ein Waisenkind«, berichtete die Verkäuferin. »Vor ungefähr einem halben Jahr sind die Eltern der Kleinen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Corinna war auch im Wagen. Von ihren Verletzungen hat sie das steife Knie zurückbehalten. Nun lebt sie bei einer Cousine ihrer Mutter. Frau Anna Moser ist nicht so unrecht«, warf die Verkäuferin ein, »aber sie ist schrecklich nervös. Ihr Mann mag das Kind dagegen nicht, weil es ihm, wie er sagt, auf der Tasche liegt. Die Eltern haben das Kind völlig mittellos zurückgelassen. Vor allem bekommt es von keiner Seite eine Rente.«

»Armes kleines Mädchen«, flüsterte Heidi.

»Mutti, wir müssen Corinna helfen«, erklärte Henrik.

»Aber wie?«, fragte Denise. »Sollte Corinna noch einmal zu Ihnen kommen, lassen Sie sie ein Kleidchen aussuchen. Die Rechnung schicken Sie dann bitte an mich.«

»Gut, Frau von Schoenecker. Also, du möchtest das blaue Kleid haben?«, fragte die nette Verkäuferin die kleine Heidi, die heftig nickte.

»Packen sie auch noch das rote mit den weißen Punkten ein«, erlaubte Denise.

Heidi jubelte vor Freude. »Darf ich das blaue Kleid gleich anbehalten?«, fragte sie.

»Aber ja, Heidi.« Denise strich dem Kind, das nach dem tragischen Tod seiner Eltern eine zweite Heimat in Sophienlust gefunden hatte, über den blonden Scheitel.

»Wo wohnt denn Corinna?«, fragte Henrik, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, Corinna zu helfen.

Die Verkäuferin nannte die Adresse, die Denise sich notierte. Dann bezahlte sie.

*

In Sophienlust ließ sich Heidi zuerst in ihrem neuen blauen Kleid bewundern, dann zeigte sie allen stolz das rote mit den weißen Punkten.

Henrik erzählte dagegen sogleich von Corinna. »Und sie hat ein steifes Knie«, fügte er hinzu. »Corinna befindet sich in Not.«

Pünktchen horchte auf. »Dann müsste Tante Isi ihr helfen«, meinte sie. »Findest du das nicht auch?«, wandte sie sich an Nick, einen großen schwarzlockigen Jungen mit dunklen Augen.

»Das finde ich auch. Schade, dass Mutti schon nach Schoeneich weitergefahren ist. Aber ich werde gleich nach dem Mittagessen nach Hause radeln und mit ihr sprechen.«

»Ich möchte gern mitfahren«, sagte Pünktchen.

»Meinetwegen.« Nick grinste das Mädchen an.

Er liebte Pünktchen sehr. Vielleicht würde er sie später heiraten. Denn er fühlte sich seit dem Tag, an dem er Pünktchen, die in Wirklichkeit Angelina Dommin hieß, nach Sophienlust gebracht hatte, für sie verantwortlich. Umgekehrt hing Pünktchen mit großer Liebe an ihrem Nick, der ihr auch den Namen Pünktchen gegeben hatte – wegen der unzähligen Sommersprossen auf ihrer Nase und in ihrem Gesicht.

»Ich radele auch mit«, erklärte Henrik.

»Darf ich auch mitkommen?« fragte Heidi.

»Nein, Heidi«, erwiderte Nick. »Wir radeln sehr schnell.«

Heidi zog einen Flunsch, aber dann dachte sie an ihre neuen Kleider und lachte schon wieder.

*

Denise und Alexander von Schoenecker saßen auf der Terrasse des Herrenhauses von Schoeneich und tranken den Mokka, den sie nach dem Mittagessen stets zu sich nahmen.

»Horch!«, rief Alexander. »Ich höre das Klingeln von Fahrrädern.«

»Es werden die Kinder sein«, meinte Denise. »Wie ich es mir gedacht habe«, fügte sie lebhaft hinzu, als sie Nick, Pünktchen und Henrik auf ihren Rädern erblickte. »Ich glaube auch den Grund, weshalb sie gekommen sind, zu kennen.«

»Ich auch.« Alexander lächelte verhalten. »Bestimmt wegen des kleinen Mädchens mit dem steifen Knie, von dem du mir beim Mittagessen erzählt hast.«

»So wird es sein.« Denise beobachtete, wie die Kinder ihre Räder an die Hauswand lehnten und dann angelaufen kamen.

»Guten Tag, Pünktchen«, begrüßte Alexander das hübsche Kind, das ihn als einziges Heimkind duzte und mit Onkel Alexander anredete. »Wie lieb von dir, uns einmal zu besuchen. Und dich, mein Sohn Henrik, begrüße ich auch«, fügte er scherzend hinzu. »Hast du heute Nacht gut geschlafen?«

»Sehr gut, Vati. Vielleicht kann ich nun doch ein eigenes Zimmer in Sophienlust bekommen?«

»Damit wollen wir noch etwas warten«, sagte Denise.

»Warten! Immer warten!«, rief der Junge ärgerlich.

»Mutti, wir wollen mit dir sprechen«, warf nun Nick ein.

»Dacht ich es mir doch.« Denise nickte ihrem Sohn zu. »Henrik, sag doch bitte in der Küche Bescheid, dass Martha für euch Kakao zubereiten soll.«

»Hat Martha auch Kuchen gebacken?«, fragte der Kleine neugierig. »Woher kommt es eigentlich, dass sie keinen so guten Kuchen backen kann wie Magda in Sophienlust? Die beiden sind doch Schwestern!«

»Psst!« Warnend legte Alexander den Zeigefinger an seine Lippen.

»Lass das nur nicht Martha hören, sonst ist sie beleidigt. Dann haben deine Mutter und ich die Hölle hier. Eine schlecht gelaunte Köchin kann einem die ganze Stimmung verderben.«

»Übertreib doch nicht so!«, rief Denise lachend.

»Es ist doch wahr«, meinte Alexander schmunzelnd. »Wenn ich an die verbrannten Wiener Schnitzel denke, die sie uns vor zwei Wochen serviert hat, dann …«

»Da hatte sie Ärger mit ihrer Schwester«, erwiderte Denise. »Also, Henrik, lauf zu Martha.«

»Ja, Mutti.« Der Junge ging ins Haus.

Nick und Pünktchen setzten sich. »Henrik und Heidi haben uns von Corinna erzählt. Wie heißt sie denn mit Familiennamen?«

»May. Und ihre Verwandten heißen Moser.«

»Das müssen gemeine Menschen sein«, erklärte Pünktchen. »Henrik hat erzählt, dass Frau Moser das Kind brutal hinter sich hergezerrt hat. Dabei hat Corinna doch ein steifes Bein.«

»Sie muss es sehr schlecht haben bei ihren Verwandten«, meinte Nick. »Mutti, bitte, hole das Kind doch nach Sophienlust. Henrik sagt, dass Herr Moser Corinna überhaupt nicht haben möchte. Vielleicht ist er sogar erleichtert, wenn du Corinna nach Sophienlust holst.«

»Das könnte schon sein.« Denise fing einen Blick ihres Mannes auf und lächelte ihn an. »Du scheinst wieder einmal recht zu haben«, wandte sie sich an ihn.

»Ich habe immer recht«, antwortete Alexander und stopfte seine Pfeife. »Heute früh hatte ich mir bereits so etwas gedacht. Schon eine Fahrt nach Maibach bringt ein neues Kind nach Sophienlust.«

»Später, wenn ich ganz erwachsen bin, werde ich einen Bungalow im Park von Sophienlust erbauen. Einen mit vielen Kinderschlafzimmern, damit auch alle Kinder bei uns Platz haben«, überlegte Nick laut.