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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Wenn du mich nicht mitfahren lässt, hast du mich nicht lieb, Mutti«, behauptete Henrik von Schoenecker. Dabei bedachte er seine schöne Mutter mit einem Blick, der nicht nur einen Stein, sondern ein ganzes Gebirge hätte erweichen können. »Er ist zu klein«, wandte Nick abweisend ein. »Ich habe genügend zu tun, wenn ich auf Pünktchen und Vicky achtgeben muss. So eine Radtour ist anstrengend, Henrik. Die hältst du nicht durch.« »Und wie ich sie durchhalte«, schrie Henrik wütend. »Es ist einfach gemein, dass ich nicht mitfahren soll. Vicky ist gar nicht so viel älter als ich und obendrein ein Mädchen. In deinem Zelt ist doch noch Platz. Du langweilst dich bestimmt allein in deinem Zelt, Nick. Außerdem kann ich beim Zelt aufbauen helfen und natürlich auch beim Kochen.« Denise von Schoenecker strich ihrem Jüngsten über den hellen Haarschopf. »Du bettelst jetzt seit einer Woche darum, Henrik. Wir müssen Vati fragen. Wenn er es erlaubt und wenn du versprichst, immer rechtzeitig schlafen zu gehen, lässt sich vielleicht etwas machen. Schließlich steht sonst in diesen Ferien für dich keine Reise auf dem Programm.
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Seitenzahl: 156
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»Wenn du mich nicht mitfahren lässt, hast du mich nicht lieb, Mutti«, behauptete Henrik von Schoenecker. Dabei bedachte er seine schöne Mutter mit einem Blick, der nicht nur einen Stein, sondern ein ganzes Gebirge hätte erweichen können.
»Er ist zu klein«, wandte Nick abweisend ein. »Ich habe genügend zu tun, wenn ich auf Pünktchen und Vicky achtgeben muss. So eine Radtour ist anstrengend, Henrik. Die hältst du nicht durch.«
»Und wie ich sie durchhalte«, schrie Henrik wütend.
»Es ist einfach gemein, dass ich nicht mitfahren soll. Vicky ist gar nicht so viel älter als ich und obendrein ein Mädchen. In deinem Zelt ist doch noch Platz. Du langweilst dich bestimmt allein in deinem Zelt, Nick. Außerdem kann ich beim Zelt aufbauen helfen und natürlich auch beim Kochen.«
Denise von Schoenecker strich ihrem Jüngsten über den hellen Haarschopf.
»Du bettelst jetzt seit einer Woche darum, Henrik. Wir müssen Vati fragen. Wenn er es erlaubt und wenn du versprichst, immer rechtzeitig schlafen zu gehen, lässt sich vielleicht etwas machen. Schließlich steht sonst in diesen Ferien für dich keine Reise auf dem Programm. Nick, Pünktchen und Vicky werden schon auf dich achtgeben.«
Henrik zog eine herrliche Schnute. »Auf mich braucht keiner aufzupassen. Ich bin kein Baby mehr.«
»Wenn du immerzu maulst, nehmen wir dich bestimmt nicht mit«, drohte Nick. In seinen dunklen Augen blitzte der Schalk auf. Er hatte bei seiner Mutter bereits ein gutes Wort für Henrik eingelegt, denn er war gern bereit, auch den jüngeren Bruder mitzunehmen. Umso mehr Vergnügen bereitete es ihm im Moment, den Kleinen ein bisschen zappeln zu lassen. Da seine Mutter schon halb und halb Ja gesagt hatte, rechnete er damit, dass auch der Vater seinen Segen erteilen würde.
Denise von Schoenecker lächelte. »Da hinten sehe ich Vati kommen, Kinder. Hört, was er sagt.«
Die beiden Buben schossen davon. Denise blickte ihnen mit einem zärtlich versonnen Ausdruck und mütterlichem Stolz nach. Die beiden liefen dem Vater entgegen, der eben von einem Ritt über die Ländereien des Gutes Schoeneich zurückkehrte.
Wie glücklich sind wir doch, dachte Denise. Manchmal fürchtete sie sogar nach so vielen Jahren noch, dass sie aus dem Traum erwachen und wieder die Tänzerin Denise sein würde, die mit harter Arbeit das Brot für Nick und sich selbst verdienen musste, weil adelsstolze Verwandte ihr und dem kleinen Jungen den Zugang zur Familie ihres viel zu früh verstorbenen ersten Mannes nicht gestatten wollten. Nick hatte damals in einem Kinderheim gelebt. Die Trennung von ihm war für Denise fast noch schwerer zu ertragen gewesen als die Armut und die ständige anstrengende Arbeit.
Dann aber war die Wende gekommen, sozusagen über Nacht. Die Großmutter ihres verstorbenen Mannes – Nicks Urgroßmutter also – hatte anders als die übrigen Familienmitglieder gedacht. Sie hatte nach ihrem Tod dem kleinen Jungen das Gut Sophienlust zusammen mit ihrem gesamten großen Vermögen hinterlassen. Sophie von Wellentin hatte nicht mehr erleben können, wie überwältigt Mutter und Sohn gewesen waren, als ihnen klar geworden war, dass die Trennung für immer ein Ende hatte. Mit Elan war Denise daran gegangen, das Vermächtnis der alten Dame zu erfüllen. Sophie von Wellentin hatte in ihrem Testament verfügt, dass das ehemalige Herrenhaus von Sophienlust eine Zufluchtsstätte für in Not geratende Kinder werden sollte. Seither war das ehrwürdige Gebäude von hellen jungen Stimmen, von Lachen und Frohsinn erfüllt.
Lange war das alles her. Nick war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Jetzt war er schon ein Gymnasiast, dessen Stimme bereits männlich klang, der in die ihm durch das Testament der Urgroßmutter gestellte Aufgabe immer mehr hineinwuchs. Es stand für ihn schon fest, dass er später die Leitung des Kinderheims Sophienlust – des »Hauses der glücklichen Kinder« übernehmen würde.
Doch bis dahin würden noch viele Jahre vergehen. Es war tröstlich für Denise, daran zu denken, dass Nick trotz seiner tiefen Stimme noch ein Schüler war. Denn sie fühlte sich noch jung und wollte die verantwortungsvolle Leitung des Kinderheims vorerst nicht aus den Händen geben.
Denise von Schoenecker umfasste ihren Mann, der nun abstieg und das Pferd Nick übergab, zusammen mit den beiden Jungen mit einem liebevollen Blick. Nicht nur in finanzieller Hinsicht hatte der Umzug nach Sophienlust alles verändert – nein, auch ein zweites persönliches Glück war ihr zuteil geworden. Sie hatte damals den verwitweten Gutsnachbarn Alexander von Schoenecker kennen- und lieben gelernt, mit dem sie nun seit vielen Jahren eine harmonische und erfüllte Ehe führte. Henrik entstammte dieser Ehe. Es war fast ein wenig schmerzlich für Denise, dass der Junge jetzt schon mit den größeren Kindern zum Zelten wegfahren wollte. Andrea von Schoenecker und ihr Bruder Sascha, Kinder aus der ersten Ehe Alexanders, waren damals noch Schüler gewesen. Heute studierte Sascha in Heidelberg, während Andrea mit einem Tierarzt verheiratet war und im unweit gelegenen Bachenau lebte. Dort gab es sogar ein erstes Enkelkind, den kleinen Peter, der der Stolz der gesamten Familie war.
»Nun, träumst du ein bisschen?«, fragte Alexander, der, von Denise unbemerkt, herangekommen war, während Nick und Henrik das Pferd wegführten.
Denise bot ihm die Lippen. »Hm, ich dachte an die Vergangenheit und an unser Glück. Ob man ein solches Glück überhaupt verdient, Alexander?« Der Gutsherr beugte sich nieder und küsste seine Frau. »Du ganz gewiss, Isi«, meinte er und strich ihr über das dunkle Haar. »Ich bin jedoch nicht so sicher, ob mir ohne deine Mitwirkung ein so wunderbares Schicksal zuteil geworden wäre.«
»Ich betrachte unser Glück als Geschenk, Alexander. Und ich glaube, so sollte man es auch ansehen, damit man nicht übermütig wird. Als ein kostbares Geschenk, das zerbrechlich ist, sodass man behutsam damit umgehen muss.«
Alexander küsste sie noch einmal. »Ja, man darf es nicht für selbstverständlich halten. Das könnte ein böses Erwachen geben.« Er setzte sich zu ihr auf die Terrasse des Gutshauses, von der man den parkartigen Garten überschaute. »Henrik will unbedingt mit den drei anderen Kindern an den Tegernsee fahren, Isi. Er sagte, du hättest die Entscheidung mir überlassen. Glaubst du, dass wir unseren Benjamin auf eine so große Fahrt schicken können?«
»Nick, Pünktchen und Vicky sind zuverlässig und vernünftig, Alexander. Wenn du derselben Ansicht bist, wollen wir den armen Kleinen nicht länger auf die Folter spannen. Er ist schon ganz verrückt vor lauter Aufregung, weil er natürlich den Braten riecht und genau merkt, dass er schließlich den Sieg davontragen wird.«
»Ich habe die Route mit Nick genau besprochen«, sagte der Gutsherr. »Sie ist in einzelne Etappen von jeweils nicht mehr als achtzig Kilometern aufgeteilt. Das habe ich zur Bedingung gemacht. Dort, wo es bergig ist, dürfen die Kinder nur fünfzig Kilometer am Tag zurücklegen. Dem sind die Mädchen unter allen Umständen gewachsen, und Henrik schafft das auch.«
»Also, ja?«
»Also, ja!« Alexander lachte. »Wir sind schwache Eltern. Aber die Jüngsten können eben gar so herzzerbrechend betteln. So, wie Henrik mich vorhin angesehen hat …«
»Du brauchst es mir nicht zu beschreiben. Ich werde seit Tagen mit diesem Blick bearbeitet. Nun hat er es also geschafft. Es ist sicherlich richtig, dass wir ihm etwas zutrauen. Man darf die Kinder nicht gar zu sehr zurückhalten und behüten. Das Leben packt sie später auch rau an. Dann können wir sie nicht mehr in Watte wickeln und vor jedem Puff schützen.«
Einige Minuten später ertönte ein Indianergeheul, sodass die Köchin unten in der Gutsküche Angst bekam, Henrik hatte die Erlaubnis bekommen, an der Tour teilzunehmen. Er rannte hin und her, als habe er den Verstand verloren, er brüllte und jubilierte, dass seine Eltern sich erschrocken beide Ohren zuhielten.
»Fasse dich, Kleiner«, bemühte sich Nick, seinen jüngeren Bruder auf den Erdboden zurückzuholen. »Wenn du so schreist, sagt Vati vielleicht, dass du doch noch zu kindisch und unvernünftig bist, und dann macht er einen Rückzieher.«
Henrik verstummte jäh. Er starrte seinen Vater entsetzt an. »Würdest du so etwas machen, Vati?«, stotterte er.
»Nein, Henrik. Versprochen ist versprochen. Ich finde jedoch, dass es nicht nötig ist, einen solchen Lärm zu vollführen.«
»Du bist ein Ekel«, wandte sich Henrik an seinen größeren Bruder und streckte ihm die Zunge heraus.
Denise lachte. »Benimm dich, Henrik. Gerade bei Nick solltest du dich nicht unbeliebt machen. Er hat sich nämlich dafür eingesetzt, dass du mitfahren darfst.«
»Ehrlich, Nick?«
»Hm«, antwortete Nick. »Aber du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken, ich meine, du wirst es schon schaffen und dich auch anständig benehmen.«
»Ehrenwort«, versprach Henrik feierlich. »Ich werde sogar früher schlafen gehen, wenn es unbedingt sein muss.«
»Na ja, sagen wir, du um neun, die anderen um zehn. Ist das fair?«, mischte sich der Vater wieder ein.
»Sehr anständig, Vati«, sagte Henrik zufrieden, denn zu Hause und während der Schulzeit musste er schon früher zu Bett gehen. Er hatte also doch noch etwas herausgeschunden.
*
Die beiden folgenden Tage vergingen mit Reisevorbereitungen. Henrik trug viel zu viele Sachen zusammen, die er durchaus mitnehmen wollte. Immer wieder musste er sich von Nick belehren lassen, dass ein Fahrrad kein Lastauto sei. Nur das Nötigste könne man mitnehmen. Das sei doch gerade das Nette, dass man auf so einer Reise einmal ganz einfach leben und auf alles Unnötige verzichten müsse.
Sämtliche Sophienluster Kinder nahmen an den Vorbereitungen der vier Camper lebhaften Anteil. Die kleine schwarze Peggy machte sich einen Spaß daraus, Henrik damit aufzuziehen, dass er vielleicht mit den größeren Kindern beim Radfahren nicht werde Schritt halten können. Henrik bekam prompt einen Wutanfall – und Peggy strahlte, weil sie ihn ja nur geneckt hatte. Als er sie an ihren krausen Haaren ziehen wollte, rannte sie blitzschnell davon und versteckte sich so gut, dass er sie nicht finden konnte.
Schließlich waren die Taschen sachgemäß gepackt, die Räder geputzt und geölt und die Riemen zum Festschnallen der Ladung bereit. Eines Morgens fuhren die vier bei strahlendem Wetter sehr früh los.
Trotz der frühen Stunde waren alle Sophienluster Kinder hellwach und winkten. Nick und Henrik waren von Schoeneich herübergekommen, und in Sophienlust gesellten sich nun die beiden Mädchen zu ihnen. Pünktchen hatte blanke Augen. Sie war besonders glücklich, dass sie mitfahren durfte. Sie hatte keine Familie mehr, die sich ihrer liebevoll annahm. Als kleines, verwahrlostes und misshandeltes Kind war sie von Nick vor vielen Jahren im Wald gefunden und nach Sophienlust gebracht worden, das ihr seitdem zur geliebten Heimat geworden war. Sie hatte ihr kleines Herz damals an den etwas älteren Nick verschenkt, und daran hatte sich bis jetzt nichts geändert. Im Gegenteil, aus den kindlichen Träumen waren inzwischen Jungmädchenträume geworden.
Pünktchen war fest entschlossen, Nick eines Tages zu heiraten. Niemals wollte sie Sophienlust verlassen, sondern später einmal die Stelle einnehmen, die jetzt von Denise von Schoenecker, der von allen zärtlich geliebten Tante Isi, ausgefüllt wurde.
»Viel Glück! Fahrt vorsichtig und ruft jeden zweiten Tag an, damit wir wissen, wie es euch geht.« Frau Rennert, die Heimleiterin von Sophienlust, von den Kindern Tante Ma genannt, wiederholte das, was auch Denise von Schoenecker ihren Söhnen mit auf den Weg gegeben hatte.
Die Reisenden nickten höflich, sagten immer wieder »ja, ja bestimmt«, »natürlich« und »ihr könnt euch auf uns verlassen.« Dann endlich radelten sie in Richtung Bachenau davon.
»Das hätte noch bis heute Abend gedauert mit dem großen Bahnhof«, stellte Nick vergnügt fest. »Aber jetzt haben wir es hinter uns.«
»Müssen wir nicht noch bei Tante Andrea vorbeifahren?«, fragte Pünktchen, die ihren Namen den lustigen Sommersprossen auf ihrer Nase verdankte und ihren schönen Taufnamen Angela fast vergessen hatte.
»Vergesse ich schon nicht«, antwortete Nick ruhig. »Sie will uns nämlich eine dicke hausgemachte Dauerwurst und eine Blechdose mit Kuchen mitgeben. Ich kriege die Sachen noch auf meinen Gepäckträger. Wir haben auf diese Weise ein bisschen mehr Proviant. Das spart Geld.«
»Tante Andrea ist eine Wonne«, seufzte Vicky auf. »Sie ist einfach große Klasse.«
»Ist ja auch unsere Schwester«, prahlte Henrik, als sei das sein Verdienst.
Pünktchen fuhr nun neben Nick, was sie für selbstverständlich hielt, während Henrik mit Vicky folgte. »Ist doch fein, dass du dabei bist«, konstatierte Vicky Langenbach vergnügt. »Die zwei wären immer vorausgefahren, und ich hätte allein hinterdreinstrampeln können, weil man zu dritt nicht fahren darf.«
»Siehst du«, antwortete Henrik befriedigt, »ich bin auch froh.«
»Na ja, wir hätten aber auch Angelika mitnehmen können«, dämpfte Vicky seinen Übermut.
Angelika war Vickys Schwester. Sie war älter als Vicky und in diesen Ferien mit Sascha von Schoenecker und ihrem Bruder Michael für eine Reise nach Holland verabredet, an der außerdem Irmela, ein größeres Mädchen von Sophienlust, teilnehmen sollte. Vicky interessierte sich noch nicht sehr für Museen und für einen Abstecher nach Gent und Brügge. Deswegen hatte sie sich für die Fahrt mit Nick entschieden, obgleich die drei Geschwister Zangenbach für gewöhnlich so ziemlich alles gemeinsam machten, Michael, der zusammen mit Sascha in Heidelberg studierte, betrachtete Sophienlust noch immer als seine Heimat. Die Eltern der drei Langenbach-Kinder waren vor vielen Jahren bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen. Damals hatten die drei Kinder Zuflucht in Sophienlust gefunden.
»Angelika fährt doch lieber mit Irmela und den Studenten mit«, erklärte Henrik. »Das sagst du jetzt bloß, um mich zu ärgern. Es wäre auch mit den Zelten nicht gut gegangen – drei Mädchen und nur ein Junge. Jetzt passt es tadellos.«
Vicky lachte ein bisschen. »Na ja, zugegeben, ich wollte dich bloß aufziehen, ich freue mich wirklich, dass du mitkommst.«
Pünktchen und Nick sagten gar nichts. Pünktchen war wunschlos glücklich, während Nick in Gedanken die Etappe überschlug, die sie an diesem Tag schaffen wollten. Es kamen für die Nacht zwei Camping-Plätze infrage. Der eine nach fünfundsiebzig Kilometern, der andere nach zweiundachtzig. Sie würden ja sehen, wie müde sie sein würden.
Jetzt erreichten sie Bachenau und staunten nicht schlecht, dass Andrea und deren Mann Dr. Hans-Joachim von Lehn sie vor dem Grundstück erwarteten. Die Hunde bellten und machten einen Heidenlärm, und Peterle krähte dazu vergnügt. Den kleinen Jungen störte der Lärm gar nicht. Im Gegenteil, er fand ihn wunderbar.
Andrea sah noch so jung aus, dass manch einer ihr den Sohn gar nicht zutrauen wollte. Dr. von Lehn hingegen wirkte männlich und reif. Ihm glaubte man ohne Weiteres, dass er zu Hause Frau und Kind hatte.
»Machen wir noch einen Rundgang durchs Tierheim?«, fragte Henrik.
»Nein, damit verlieren wir zu viel Zeit«, sagte Nick mit aller Entschiedenheit. »Du kannst es dir jetzt noch überlegen, ob du lieber hierbleiben willst, Henrik. Andrea bringt dich nach Hause, wenn es dir zu viel wird.«
Henrik verzog das Gesicht. »Ich wollte doch bloß den Tieren auf Wiedersehen sagen. Aber wenn wir gleich weiterfahren, dann eben nicht.«
Auf dem Lehnschen Grundstück gab es ein Gebäude besonderer Art. Es trug über dem Eingang ein von den Sophienluster Kindern gemaltes Schild mit der Aufschrift: »Waldi & Co., Heim der glücklichen Tiere.« Andrea hatte dieses Asyl gegründet. Hier fanden verlassene, alte und kranke Tiere Unterkunft. Kein Wunder, dass das Tierheim bei den Bewohnern des Hauses der glücklichen Kinder eine wichtige Rolle spielte.
»Ich grüße alle Tiere von euch«, legte sich die junge Doktorsfrau ins Mittel. »Streitet euch doch nicht. Schau, Nick, hier ist der Kuchen und da die Wurst. Außerdem habe ich für jeden von euch noch eine kleine Radlerflasche gekauft mit Klammern zum Befestigen am Rahmen. Es ist selbstgemachter Himbeersaft darin für unterwegs. Später könnt ihr Sprudel oder irgendeinen Fruchtsaft einfüllen. Wenn es unterwegs sehr heiß wird und ihr bergauf schieben müsst, tut es euch sicher wohl, wenn ihr zwischendurch einen Schluck aus der Pulle nehmen könnt.«
»Du bist ein Goldstück, Andrea«, sagte Nick aus tiefstem Herzensgrund. »Warte, ich schnalle den Kuchen und die Wurst hier auf meinen Gepäckträger. Das war schon einkalkuliert. Die Flaschen sind Klasse. Wie die Radler bei der Tour de France. Dass mir das nicht eingefallen ist! Limo-Flaschen kann man nicht gut mitnehmen, weil das Glas gefährlich wäre. Und Dosen spritzen beim Öffnen, wenn sie zuvor ordentlich durchgeschüttelt wurden. Aber so eine Radlerflasche ist genau richtig. Vielen Dank.«
Andrea und der Tierarzt halfen den beiden Mädchen, die Flaschen am Rahmen ihrer Räder zu befestigen. Die Jungen schafften es ohne Hilfe. Es wäre auch unter ihrer Würde gewesen, sich helfen zu lassen.
Waldi, der Namenspatron und Chef des Tierheims, bellte laut, als die kleine Kolonne sich wieder in Marsch setzte. Andrea und ihr Mann winkten, und Peterle schwenkte beide Händchen, obgleich er noch zu klein war, um zu verstehen, dass die vier großen Kinder auf eine weite Fahrt gehen wollten.
Bachenau und die Familie von Lehn waren so etwas wie ein letzter Stützpunkt gewesen. Nun erst nahm die Fahrt ihren richtigen Anfang. Nick lenkte aus dem Ort heraus und begann auf der Landstraße schnell und zügig in die Pedale zu treten.
»Wer müde wird, muss sich melden«, sagte er. »Wenn Autos kommen, müssen wir rechts heranfahren und einzeln fahren. Ich bleibe vorn, hinter mir fährt Pünktchen, dann folgt Henrik und zuletzt Vicky. Einverstanden?«
»Einverstanden«, antworteten die drei.
Alexander von Schoenecker hatte eine reizvolle Route auf schmalen, wenig befahrenen Straßen für die jugendlichen Radwanderer ausgesucht. So brauchten sie nur selten in einer Schlange zu fahren, wenn ein Auto oder ein landwirtschaftliches Fahrzeug auftauchte. Gegen elf Uhr machten sie die erste Rast und genossen zufrieden den herrlichen Proviant, mit dem Magda ihre Trabanten für den Anfang der Fahrt liebevoll ausgerüstet hatte.
Magda war die Köchin in Sophienlust. Sie war von Nicks Urgroßmutter übernommen worden und nach dem erklärten Urteil aller Sophienluster Kinder die beste Köchin der Welt, ganz gleich, ob es sich nun um Schokoladentorte, Himbeergrütze oder Reiseproviant handelte. Sie hatte stets genau das Richtige bereit und stellte es auch immer nach dem Geschmack der Kinder zusammen.
Selbst schlechte Esser wurden in Sophienlust sehr bald zu kräftigen gesunden Kindern, weil Magdas Gerichte einfach unwiderstehlich waren, auch wenn man keinen Hunger oder einen Kloß im Hals stecken hatte. Letzteres kam gar nicht so selten vor, da die Bewohner des Hauses der glücklichen Kinder oft aus Problem- und Notsituationen kamen, wenn sie Zuflucht in Sophienlust fanden. Im Kinderheim gab es verwaiste Kinder und solche, deren Eltern geschieden worden waren. Andere Kinder waren von verständnislosen Verwandten schlecht behandelt oder gar ausgenutzt worden. Fast jedes Kind hatte ein trauriges Schicksal erlitten, ehe es von Denise von Schoenecker in Sophienlust liebevoll aufgenommen worden war. Deshalb wunderte es niemanden, dass unter den Neulingen gelegentlich Kinder waren, denen das Essen nicht recht schmecken wollte.
In diesen Fällen fand Magda aber sehr bald die Lieblingsgerichte der Kinder heraus und verführte sie auf ihre geheime Weise dazu, den Hungerstreik innerhalb weniger Tage einzustellen. Mit dem Essen kehrte dann im Allgemeinen auch recht bald die Fröhlichkeit in die Kinderherzen zurück. Denn in Sophienlust hatte alle Not ein Ende. Selbst der bittere Schmerz um den Verlust eines Elternteiles – oder auch beider Elternteile – wurde in Sophienlust überwunden und machte neuer Lebensfreude Platz.
Nachdem die vier Radwanderer satt waren, schnallten sie ihre Taschen wieder zu und fuhren weiter. Eine zweite Rast folgte gegen halb drei Uhr. Um vier Uhr hatten sie den ersten Camping-Platz erreicht.
»Na, wollen wir noch sieben Kilometer weiterfahren, oder seid ihr zu müde?«, fragte Nick. »Von mir aus können wir weiterfahren.«