Ein Freund wie du - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Ein Freund wie du E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Nach Jahren eines nicht immer leichten, aber erfüllten Lebens findet der frühere Missionar Braunäcker im Altenheim von Waldhügel seine Bleibe. Im gleichen Ort lebt sein langjähriger Freund, Pfarrer Seeliger. Als bekannt wird, dass des Pfarrers einzige, von ihm über alles geliebte Tochter Miriam ein Kind erwartet, bricht für den sittenstrengen Vater eine Welt zusammen. Hat Gott seiner Frau und ihm mit dem hirngeschädigten, körperlich zurückgebliebenen Sohn nicht schon genug zu tragen gegeben? Der gepeinigte Mann verschließt sich allem Zuspruch. Erst dem alten Missionar gelingt es, in liebevoller und zugleich schonungsloser Offenheit seinem Freund das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel zu zeigen. Als dann der kleine Matthias geboren wird, nehmen ihn nicht nur Mutter und Großeltern mit Dank und Freude an - er und die junge Frau tragen auch zu Versöhnung der miteinander zerstrittenen Familie des tödlich verunglückten Verlobten von Miriam bei. Wie Gott Menschen aus der Verstrickung von Schuld und falsch verstandener Ehre herausholt und sie dann befähigt, anderen ein Zeugnis seiner Barmherzigkeit zu sein, das stellt die bekannte Autorin sehr lebensnah und überzeugend dar. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Ein Freund wie du

Band 30

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-151-0

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Ausnahmsweise ein Vorwort

Ein Freund wie du

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Ausnahmsweise ein Vorwort

Der alte Missionar hatte mir die Geschichte seines Lebens erzählt. Mit bewegter Stimme vertraute er mir an, dass er ein ungewolltes Kind gewesen war, dass Lieblosigkeit und Verachtung den Weg seiner Jugend gekennzeichnet hatten. Unter dem Wissen, überall im Wege zu sein und nirgends richtig hinzugehören – unter seiner inneren und äußeren Heimatlosigkeit hatte er sehr gelitten. Durch fortlaufende Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten hoffnungslos geworden, erwartete er nichts von seiner Zukunft, bis eines Tages der Pfarrer, der ihm und einer Anzahl Jungen und Mädchen den Konfirmandenunterricht erteilte, im Zusammenhang mit der Berufungsgeschichte des Propheten Jeremia sagte: »Vielleicht ist einer unter euch, den Gott später in die Diakonie, in die Mission oder ins Predigtamt ruft.«

»Diese Worte fuhren in mich hinein«, berichtete mir der nun schon über Achtzigjährige. »Ich hätte nicht erklären können, wieso das so war; aber irgendwie wurde es mir zur Gewißheit: Gott hat auch mit mir, dem Heimatlosen, einen Plan und will meinem Leben Sinn, Auftrag und Ziel geben.«

Es war erstaunlich, wie rege der Geist des alten Mannes noch arbeitete, wie flüssig und interessant er aus seiner Vergangenheit erzählte und mir Einblick gab in die Erfahrungen seines langen Lebens.

Plötzlich war es mir klar: Ich musste diesen Stoff, den er so spannend und doch in bescheidener Art vor mir ausgebreitet hatte, irgendwie verwenden, ihn vielleicht einbauen in eine andere Begebenheit. Zwar wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie das werden könnte. Doch war ich mir darüber klar, dass ich das Lebensbild dieses Mannes ohne Nennung seines wirklichen Namens und unter Veränderung der äußeren Umstände aufzeichnen musste. Dabei wollte ich das Wesentliche und Wunderbare seiner Führungen weitergeben, um anderen zu helfen und dazu beizutragen, dass Menschen neuen Lebensmut fassten, wie es ja alle meine Bücher wollen, die ich in den vergangenen fünfzig Jahren geschrieben habe.

Ich konnte auch nicht unverzüglich mit Schreiben beginnen. Irgendwie musste das Gehörte in mir erst Gestalt gewinnen und vielleicht mit einem anderen Schicksal verknüpft werden. Es musste einem klaren inneren Auftrag entgegenreifen. Eines Tages, wenn die Zeit gekommen war, würde ich wissen, wie alles werden sollte.

Und dann begegnete mir jener Mann, ein geachteter Pfarrer, der es nicht verstehen konnte, dass er in seiner eigenen Familie Enttäuschungen erlebte, mit denen er nie gerechnet hatte. Seine einzige, vielversprechende Tochter, der seine ganze Liebe gehörte, erwartete ein uneheliches Kind und teilte seine – wie sie es nannte – veraltete Auffassung über Moral und Sitte nicht.

Er, der den Ruf eines sittenstrengen Pfarrers hatte, fühlte sich vor seiner Gemeinde – obgleich er inzwischen pensioniert war – kompromittiert, bis ihm sein Freund, der alte Missionar, in liebevoller Art, zugleich aber auch in schonungsloser Offenheit half, die besondere Situation von einer neuen Sicht her zu erkennen und zu bewältigen.

So ist nun auch dieses Buch aus Wahrheit und Dichtung zusammengetragen. Weil dahinter aber gelebtes Leben steht, wird es verstanden werden und, will's Gott, seinen Auftrag erfüllen.

Ein Freund wie du

Fragend blickte der alte Mann Ludmilla Seeliger entgegen, die ihm soeben die Haustür geöffnet hatte. Ob er wohl heute Einlass fand? Nun kam er schon zum dritten Mal, um seinen Freund, den Pfarrer, zu besuchen. Bereits in der vergangenen Woche hatte er den Eindruck, dass dessen Frau nach einer Ausrede suchte, als sie ihm sagte: »Es ist heute nicht so geschickt. Kommen Sie doch bitte in ein paar Tagen wieder.«

Vorgestern hatte er aufs Neue den Versuch unternommen. Wieder vergeblich! Weil er so etwas nicht gewöhnt war, hatte er direkt gefragt: »Ist Joachim krank? Oder hat er einen anderen Besuch? Dann will ich natürlich nicht stören.«

Aber auch dieses Mal ging die Pfarrfrau nicht direkt auf seine Fragen ein, und in sie dringen wollte er nicht.

Ziemlich regelmäßig besuchte der alte Missionar seinen Kollegen. Er freute sich immer wieder über den belebenden Gedankenaustausch zwischen ihnen. Was bedeutete es nur, dass er keinen Einlass fand?

Heute hatte er es nun wieder versucht. Aber mit der Entgegnung der Pfarrfrau wusste er auch diesmal nichts anzufangen. Vielleicht hatte er sie nicht richtig verstanden.

»Er ist noch immer nicht ansprechbar«, hatte Frau Seeliger gesagt.

Ludwig Braunäcker legte die Hand an sein Ohr, eine typische Bewegung solcher, deren Gehör nachgelassen hat.

Die Pfarrfrau mochte empfinden, dass sie den Freund ihres Mannes unmöglich ein drittes Mal ab weisen konnte. Sie legte den Finger auf den Mund, warf einen fast scheuen Blick zur Tür, die ins Studierzimmer führte, und lud den Besucher kurzerhand ein, mit ihr in die am äußersten Ende des Ganges gelegene Küche zu kommen. Sie hätte, um sich dem schwerhörigen alten Mann verständlich zu machen, in einer Lautstärke reden müssen, dass ihr Mann das mitbekommen hätte, und das wollte sie auf alle Fälle vermeiden.

In der Küche bot sie dem Erstaunten einen Stuhl an. »Herr Missionar, entschuldigen Sie, dass ich Sie heute wieder nicht zu meinem Mann führe. Aber er ist, wie ich Ihnen bereits sagte, noch für niemanden zu sprechen, nicht einmal für Sie, seinen Freund.«

Da der alte Mann sie auch jetzt nicht verstanden hatte, fragte sie fast ein wenig ungeduldig: »Haben Sie wieder Ihr Hörgerät daheim in der Schublade liegen lassen?« Als er dies schuldbewusst bejahte, antwortete sie, während ein kleines Lächeln über ihr Gesicht huschte: »Dort allerdings nützt es Ihnen nicht viel.« Sofort aber wurde sie wieder ernst, ja, ihr Aussehen war fast unglücklich zu nennen. Sie wiederholte ihre Worte von vorhin: »Joachim ist immer noch völlig unansprechbar.«

»Aber wieso nur? Sagen Sie mir doch endlich die Ursache.« In diesem Augenblick öffnete sich die Küchentür, und Miriam, die zwanzigjährige Tochter der Pfarrersleute, kam herein. Als sie den Missionar sah, grüßte sie nur kurz und in sichtlicher Verlegenheit. Dann verließ sie sofort wieder die Küche.

Fragend blickte Ludwig Braunäcker die Mutter an. Das Benehmen Miriams befremdete ihn. Noch jedes Mal, wenn er kam, war sie freudig auf ihn zugegangen und hatte ihn lebhaft begrüßt. Was hatte das alles zu bedeuten?

Frau Seeliger ging nicht auf seinen fragenden Blick ein, sondern machte sich nervös in der Küche zu schaffen. Plötzlich aber konnte sie das heftig in ihr emporsteigende Weinen nicht mehr unterdrücken.

Erschrocken näherte sich ihr der alte Mann und bat, indem er väterlich die Hand auf ihre Schulter legte: »Wollen Sie mich nicht endlich wissen lassen, was geschehen ist?«

Frau Seeliger, die nicht länger ausweichen konnte, versuchte ihrer Tränen Herr zu werden und die an sie gestellte Frage zu beantworten. Dabei blickte sie immer wieder fast ängstlich zur Tür, als befürchtete sie, ihr Mann könnte erscheinen. Schließlich stieß sie unter Schluchzen hervor: »Es ist besser, Sie hören es von Joachim selber. Wahrscheinlich wünscht er nicht, dass ich zu Ihnen darüber rede.«

Ludwig Braunäcker hatte sich einen zweiten Stuhl herangezogen und saß nun der Pfarrfrau gegenüber. Diese mochte empfinden, dass sie dem langjährigen Freund ihres Hauses eine Erklärung schuldig sei. Sie blickte ihn aus fast verzweifelten Augen an und nannte nun doch den Grund ihres Kummers: »Miriam erwartet ein Kind.«

Obwohl der alte Mann diesmal nicht von seinem Gehör im Stich gelassen wurde, war er doch geneigt zu glauben, dass er Ludmilla Seeliger missverstanden hatte.

»Miriam?« wiederholte er. »Miriam erwartet ein Kind? Hab' ich recht gehört?«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum zweiten Mal, und der Pfarrer streckte den Kopf in die Küche. Aber auch er benahm sich, genau wie seine Tochter, eigenartig. »Ach, du bist's!« stellte er mit einem Blick auf den Freund fest. Dann ging auch er, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Man hörte ihn in sein Arbeitszimmer gehen und den Schlüssel hinter sich im Schloss umdrehen.

»So ist es nun seit Tagen«, erklärte Frau Seeliger. »Er will keinen Menschen sehen, spricht nur das Allernötigste mit mir, nimmt keine Mahlzeit mit uns gemeinsam ein, und lässt sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Höchstens, dass er ein–, zweimal am Tag zu Daniel geht und wortlos an dessen Bett sitzt. Ich kann es nicht mehr mit ansehen. Es ist, als habe ihn die Nachricht vom Zustand seiner Tochter bis ins Lebensmark getroffen. Sie war ja immer sein ein und alles, sein Stolz, seine ganze Hoffnung. Er hatte ehrgeizige Pläne mit ihr. Nie hätte er so etwas für möglich gehalten.«

Es schien, als sei im Innern der Pfarrfrau ein Damm gebrochen, jetzt, nachdem sie, eigentlich ungewollt, zu reden angefangen hatte. Dem erfahrenen Seelsorger war klar, dass er jetzt nichts anderes zu tun hatte, als still zuzuhören. Ludmilla musste ihrem Herzen einfach Luft machen.

»Sie wissen doch, dass Artur Bogner, der älteste Sohn vom Mühlenhofbauern, letzte Woche beerdigt wurde. Er ist tödlich verunglückt. Mein Mann hat ihn konfirmiert. Er war im gleichen Jahrgang wie unsere Tochter. Damals bestand zwischen den beiden noch keine erkennbare Freundschaft. Erst vor etwa drei Jahren bemerkten Joachim und ich, dass Miriam sich des Öfteren mit Artur traf. Ihr Vater stellte sie zur Rede und machte ihr klar, dass er andere Pläne mit ihr habe. Schon damals hatte sie eine gute Stelle in der Firma Wisskott. Sie war in der Schule in Fremdsprachen immer den anderen Mitschülerinnen überlegen. Ihr Chef vertraute ihr bereits die französische und englische Korrespondenz an. Mein Mann wollte sie noch auf eine Dolmetscherschule schicken. Der Chef war damit einverstanden und versprach, ihr die Stelle freizuhalten, bis sie ihr Examen gemacht hatte. Joachim war sogar dafür, dass sie noch einige Monate nach Frankreich und ebenso nach England und Spanien gehen konnte, um ihre Sprachkenntnisse zu vervollständigen. Eines Tages jedoch erklärte sie, in ihrer Firma kündigen zu wollen, um eine Landfrauenfachschule zu besuchen. Wir waren sprachlos. Aber sie sagte, dass sie fest entschlossen sei, Artur Bogner zu heiraten. Nie aber würde dessen Vater dazu die Genehmigung geben, wenn sie keine landwirtschaftliche Ausbildung vorweisen könne. Sie sei bereit, aus Liebe zu Artur Bäuerin zu werden.

Von da an schien unser Familienleben ins Wanken zu geraten. Unsere Tochter versuchte, ihren Vater, an dem sie in besonderer Weise hing, davon zu überzeugen, dass sie mit dieser Heirat ganz in unserer Nähe bleiben würde und sich auch weiterhin um ihren kranken Bruder kümmern und ihn schließlich ganz zu sich nehmen könne, wenn wir beide nicht mehr lebten. Davon, dass der Mühlenhofbauer strikt gegen eine Verbindung seines Sohnes mit unserer Tochter war und ihm mit Enterbung drohte, hatte sie zu uns nie ein Wort gesagt. Das habe ich erst jetzt nach der Beerdigung erfahren, als sie mir in ihrer großen Verzweiflung anvertraute, dass sie ein Kind von Artur erwartet.« Frau Seeliger sprach nicht weiter und blickte den alten Mann fragend an. Dieser aber schwieg.

Nach einer kleinen Pause fragte die Pfarrfrau fast ungeduldig: »Warum äußern Sie sich nicht zu dem, was ich Ihnen an vertraut habe?«

»Was soll ich dazu sagen?« erwiderte der Missionar. »Ich verstehe Ihren Kummer. Aber das ist doch kein Grund zum Verzweifeln! Wir müssen es lernen, mit unabänderlichen Tatsachen fertig zu werden und aus den nun einmal bestehenden Situationen das Beste zu machen. Ändern können Sie daran ja nichts mehr.«

»Manche wüssten schon, wie es zu ändern wäre. Miriam ist erst im dritten Monat schwanger, aber –«

»Frau Seeliger!« fiel Herr Braunäcker ihr erschrocken ins Wort. »Sie denken doch nicht etwa daran?«

»Nein, nein!« beschwichtigte sie ihn. »Nie würde Miriam das Kind abtreiben lassen. Sie stellt sich dazu. Sie will es haben, auch wenn sie darüber unter diesen Umständen nicht glücklich ist.«

»Das ist verständlich.«

»Wenn nur Joachim ansprechbar wäre«, jammerte die Pfarrfrau. »Aber so, wie er sich benimmt, seitdem er es weiß – das hält ja kein Mensch aus! Mit mir, seiner Frau, könnte er doch wenigstens offen darüber reden.«

»Lassen Sie ihm Zeit!« sagte der alte Mann. »In ihm ist eine Welt zusammengebrochen. Haben Sie Geduld mit ihm. Warten Sie, bis er von selbst darüber zu Ihnen spricht. Der Tag kommt bestimmt, an dem er es tut.«

»Wenn ich nun genauso reagieren würde wie er!«

»Jeder von uns hat seine eigene Art. Vergessen Sie nicht, Frau Seeliger, sowohl Miriam als auch Joachim benötigen jetzt ein behutsames Auf-sie-Eingehen. Beide tragen schwer. Ich kenne Miriam lang genug, um zu wissen, dass sie kein leichtfertiges Mädchen ist. Aber jetzt muss ich gehen. Darf ich noch für einen Augenblick zu Daniel hineinschauen?«

»Gerne, Herr Braunäcker. Sie wissen doch, wie er sich über jeden Besuch freut.«

Eine Weile setzte sich der alte Mann an das Bett des einzigen Sohnes der Pfarrersleute, der, obgleich achtzehn Jahre alt, wie ein Säugling versorgt werden musste. Er konnte weder sitzen noch stehen, vermochte kein Wort zu reden, musste gefüttert und gesäubert werden, stieß nur unverständliche Laute aus, um sich bemerkbar zu machen, und schien auch geistig nicht entwicklungsfähig. Manchmal hatte man allerdings den Eindruck, als verstehe er mehr von dem, was man ihm sagte, als man annahm. Aber gewiss war es nur äußerst wenig.

Miriam war zwei Jahre alt gewesen, als Frau Seeliger wieder ein Kind erwartete. Natürlich wünschten sie und ihr Mann sich einen Jungen. Schon bald nach der Geburt stellten die Ärzte fest, dass das Kind sich nicht normal entwickelte. Es kam die Zeit, in der Daniel seine Umgebung hätte erkennen, wo er hätte sitzen, stehen, gehen, reden lernen müssen. Nichts von alledem geschah. Voller Sorge beugten sich die Eltern immer wieder über sein Bettchen, bis einer der vielen Ärzte und Professoren, die sie konsultiert hatten, ihnen eines Tages die unumstößliche Mitteilung machte, dass das Kind gehirngeschädigt sei. Und wenn sie im Stillen noch Jahre hindurch hofften und diese leise Hoffnung bei jeder noch so kleinen Veränderung seines Aussehens wieder neu aufflammte – die Enttäuschung darauf folgte wie die Nacht dem Tage. Sein Fassungsvermögen blieb das eines Säuglings. Zwar erkannte er Vater und Mutter und ebenso seine Schwester Miriam, wenn sie mit ihm sprachen und ihn versorgten. Ein Verziehen seines Gesichtes, das sie als den Versuch eines Lächelns zu erkennen glaubten, ließ sie dies annehmen. Wurde ihm seine Nahrung gebracht – er konnte nur flüssige oder weiche Speisen zu sich nehmen – stieß er Laute aus, die seine Freude kundtaten. Mindestens dreimal täglich musste er auch jetzt noch frisch gewindelt werden. Jede Woche einmal kam die Gemeindeschwester, um seinen Darm zu entleeren. Dies alles geschah nun schon Jahr für Jahr. Frau Seeliger opferte sich auf für diesen ihren unglücklichen Sohn, den sie über alles liebte.

Als der alte Missionar wieder einmal an seinem Bette saß, meinte er: »Ob Daniel wirklich so unglücklich ist, wie wir es annehmen? Sind Sie, die Mutter und sein Vater, es nicht viel mehr? Er hat, was er benötigt, um zu leben, wenn es auch ein kümmerliches Dasein ist und er, wie wir meinen, nur dahinvegetiert. Aber, was wissen wir letztlich von ihm, dem es nicht gegeben ist, sich zu äußern? Was wissen wir von dem, was Gott dadurch bezweckt?«

Pfarrer Seeliger, der sich damals ebenfalls im Zimmer des Sohnes aufgehalten hatte, war daraufhin wortlos hinausgegangen. Er litt unter dem Zustand Daniels weit mehr, als er es in Worten hätte ausdrücken können. Ludmilla, seine Frau, trug gewiss nicht weniger schwer an dieser ihnen auferlegten Last, aber sie war in eigenartiger Weise mit diesem kranken Kind verbunden, umsorgte Daniel vorbildlich und mit unendlicher Geduld.

Eine mitfühlende Nachbarsfrau kam einmal zu Besuch, um für den armen Krüppel, wie sie Daniel nannte, ein paar frische Eier zu bringen. Sie stand betroffen an Daniels Bett und sagte: »Hat der Hitler vielleicht nicht doch recht gehabt, als er befahl, solch ein sinnloses Leben auszulöschen?«

Da war Frau Seeliger zitternd vor Erregung auf die Erschrockene losgegangen und hatte mit bebender Stimme geantwortet: »Verlassen Sie sofort unser Haus, und kommen Sie nie wieder! Sie wissen nicht, was Sie reden. Mein Daniel ist mir ebenso lieb wie meine begabte, gesunde Tochter – ja, vielleicht noch mehr.«

In Gedanken versunken verließ der alte Missionar das Haus der Familie Seeliger. In seinem langen Leben war ihm so viel Überraschendes begegnet, dass er nur zu gut verstand, was es für seinen Freund Joachim und seine Frau bedeutete, wenn ihre einzige Tochter ein uneheliches Kind erwartete. Für einige Zeit, zumindest so lange, bis eine neue Sensation die Gemüter bewegte, würde das Dorf einen interessanten Gesprächsstoff haben, wenn man heutzutage auch anders über ein außerehelich geborenes Kind dachte als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Jetzt wussten die Mädchen es eben zu verhüten, ungewollte Kinder in die Welt zu setzen. Aber dass so etwas der Tochter eines Pfarrers passiert war, das reizte die Klatschmäuler natürlich besonders.

Hinter dem gemächlich durchs Dorf schlendernden alten Mann erhob sich plötzlich unterdrücktes Kichern. Eine Schar Schuljungen stieß einen kleineren Buben vor sich her und schien ihm einen Auftrag gegeben zu haben. Offensichtlich war dieser nicht gewillt, ihn auszuführen. Da die anderen aber nicht nachließen, ihn anzustacheln, rief der Kleine schließlich mit lauter Stimme: »Herr Piep, ist es wahr, dass Sie im Ohr ein Vögelchen haben? Lassen Sie es doch mal piepsen.« Es folgte ein übermütiges Gelächter der anderen Jungen.

Der Missionar blieb stehen und wandte sich der grölenden Horde zu. Er beugte sich zu dem Kleinen herab und fragte: »Was möchtest du wissen? Ich habe dich nicht verstanden.«

»Ob Sie einen Vogel im Ohr sitzen haben?« stotterte der Junge, mit den Augen bereits nach einem Fluchtweg suchend. Er mochte das Gefühl haben, dass der alte Mann es nicht so ohne weiteres hinnehmen würde, verspottet zu werden.

»Einen Vogel?« fragte dieser, ohne sich von den aufs Neue in lautes Gelächter ausbrechenden Jungen erregen zu lassen. »In meinem Ohr?« Jetzt schien er zu begreifen. »Du meinst, weil manchmal aus meinem Hörgerät ein piepsender Ton kommt.« Er schüttelte den Kopf. »Weiß du, ich habe heute mein Hörgerät zu Hause gelassen. Sonst würde ich es extra für dich piepsen lassen. Das passiert nämlich manchmal, wenn ich es nicht richtig einstelle. Dann kann es Vorkommen, dass ich es wegen meines schlechten Gehörs nicht einmal wahrnehme.«

Der Kleine fasste Vertrauen. »Stimmt es, dass Sie Piep heißen? Die Jungen haben es behauptet.«

Der alte Mann schüttelte lachend den Kopf. »Nein, das stimmt natürlich nicht. Aber lass ihnen nur den Spaß. Ich bin deswegen nicht ärgerlich. Aber ich will dir meinen Namen sagen: Ich heiße Braunäcker, Ludwig Braunäcker.«

Die Horde stob auseinander. Einige schrien herausfordernd: »Piep, der Piep!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür eines kleinen, halb zerfallenen Häuschens, das, wie nach einem Halt suchend, an der ebenfalls schon alten und unansehnlich gewordenen Friedhofsmauer zu kleben schien. Eine hagere Frau, etwa sechzig Jahre alt, deren graue Haarsträhnen wirr um ihren Kopf hingen, kam heraus. In sichtlicher Empörung, um nicht zu sagen, in Wut hob sie die Faust gegen die bei ihrem Anblick noch mehr Abstand nehmenden Jungen und schrie: »Ihr gottlose Bande! Wisst ihr nicht, dass es in der Heiligen Schrift heißt: Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten.«

»Aber, aber, Frau Traube«, versuchte der alte Mann die Erregte zu besänftigen. »Die Kinder dachten bestimmt keinen Augenblick daran, Gott zu spotten.«

»Aber Sie, Herr Missionar, Sie sind ein Diener Gottes, und es heißt in Sacharja 2, 12: Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Frau Traube, Sie maßen sich an, eine eigene Bibelauslegung zu haben.«

Inzwischen brachen die Buben in ein neues Geschrei aus: »Traube, Traube, alte Schraube!«

»Hören Sie's, hören Sie's?« empörte sich die Frau. »Die heutige Jugend hat keine Ehrfurcht mehr vor dem Alter. Dabei heißt es: Ehre die Witwen, 1. Timotheus 5, 3. – Nein, Herr Missionar, Sie sind zu gutmütig. Lässigkeit ist auch eine Sünde. Denken Sie nicht an die Geschichte in 2. Könige 2, wo die bösen Buben den Elisa verspotteten und hinter ihm her schrien: ›Kahlkopf, komm herauf! Kahlkopf, komm herauf!‹ Da erschienen zwei Bären und zerrissen sie alle, weil sie den Mann Gottes verspottet hatten.«

»Traube, Traube, alte Schraube!« tönte es aufs Neue im Chor. Ludwig Braunäcker aber fuhr fort: »Ich glaube, es ist nicht angebracht, solche Verwünschungen gegenüber diesen übermütigen Jungen auch nur in Gedanken zu äußern. Natürlich ist ihr Benehmen nicht recht. Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, Frau Traube, ob diese Kinder von Seiten ihrer Eltern Ermahnungen und Hinweise bekommen, die sie erkennen lassen, was recht und was nicht recht ist? Ihre Väter und Mütter gehen zum großen Teil in die Fabrik oder sie arbeiten auf dem Feld und auf ihren Höfen. In unserer Zeit gibt es Tausende von Kindern, mit denen keiner mehr betet, und viele haben noch nie eine Kirche von innen gesehen. Müssen wir da nicht andere Maßstäbe anlegen?«

»Ich begreife Sie nicht, Herr Missionar«, zeterte die Frau weiter, »dass Sie diese gottvergessene Bande noch verteidigen.«

»Gottvergessen?« wiederholte der alte Mann. »Vergessen kann man doch nur etwas, was man vorher schon gewusst hat. Sie würden wahrscheinlich erschrocken sein, wenn Sie mit den Jungen ins Gespräch kämen. Gotteserkenntnis, so wie man sie in früheren Jahren im Kindergottesdienst und im Religionsunterricht vermittelt bekam, ist bei vielen von ihnen heute einfach nicht mehr vorhanden, weil sie im Elternhaus nicht gelebt, ja sogar abgelehnt wird. Mich erbarmen die Kinder, und ich meine, man müsse ihnen viel mehr Liebe entgegenbringen.«

»Denen Liebe? Nein, Herr Missionar, in Matthäus 7, Vers 6 steht: Du sollst die Perlen nicht vor die Säue werfen.«

»Frau Traube«, erwiderte der alte Mann in großem Ernst, bevor er sich zum Weitergehen anschickte. »Sie mögen viel in Ihrer Bibel lesen. Das heißt aber noch längst nicht, die rechte Erkenntnis zu besitzen. Und nun will ich Ihnen zum Schluss auch noch ein Wort aus der Heiligen Schrift sagen. Sie finden es in 1. Korinther 13: … und wenn ich alle Erkenntnisse hätte und allen Glauben und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.«

Die Kinder hatten inzwischen einen neuen Reim entdeckt. In einigem Abstand schrien sie: »Seht doch nur den Piep, der hat die alte Schraube lieb!« Sie krümmten sich vor Lachen über diesen nach ihrer Meinung wohlgelungenen Vers.

Die Frau aber war außer sich vor Empörung: »Hören Sie, hören Sie! Da sollte doch gleich der Blitz einschlagen.«

Der Missionar ging nicht darauf ein: »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Zuletzt noch eins, Frau Traube: Wie geht es eigentlich Ihrer Schwester? Ich bin ihr schon lange nicht mehr begegnet.«

»Was geht mich die an?« war die Antwort. »Wenn ich sie nur nie mehr sehen müsste.«

»Ich könnte mir denken«, sagte der alte Mann, bevor er sich umwandte, »dass Sie bei ehrlichem Suchen in Ihrer Bibel auch ein Wort fänden, dass Sie davon überzeugen könnte, wie unchristlich Ihre Haltung Ihrer Schwester gegenüber ist.«

Noch eine Weile tönte der Spottreim hinter ihm her: »Seht doch nur den Piep, der hat die alte Schraube lieb.«

Gründlich und gerechtigkeitsliebend, wie der Missionar nun einmal war, sagte er sich, dass es ihm wohl schwerfallen würde, ausgerechnet dieser gehässigen Frau, die dauernd mit Bibelsprüchen um sich warf und gleichzeitig mit ihren Äußerungen Gift und Galle um sich her verspritzte, Liebe entgegenzubringen. Seit Jahren lebte sie mit ihrer Schwester in dem alten, zerfallenen Häuschen in offensichtlicher Feindschaft, ohne sich um sie zu kümmern, ohne ihr ein gutes Wort zu gönnen oder nach ihr zu sehen, wenn diese, was öfter vorkam, krank zu Bett lag. Würden gutmütige Nachbarn ihr in solchen Tagen nicht eine Schüssel Suppe gebracht oder einige notwendige Handreichungen getan haben, es wäre schlimm um die Arme bestellt gewesen. Der Mann von Frau Traube war schon seit Jahren tot. Er hatte, wie die Leute sagten, kein schönes Leben an ihrer Seite gehabt.

Das Schlimme aber war, dass diese Frau allsonntäglich in der Kirche saß, immer auf ihrem Stammplatz und außer dem Gesangbuch auch noch eine alte, große Bibel mitbrachte, in der sie während der Predigt eifrig blätterte und die angegebenen Bibelstellen nachschlug. Sie hatte keine Freunde im Dorf. Alle machten um sie einen großen Bogen, weil sie ihr böses Mundwerk fürchteten. Vielen war sie natürlich längst zum Anstoß geworden, und nicht nur einmal hatte man Aussprüche wie diesen gehört: »Wenn die Traube in den Himmel kommt, dann will ich lieber nicht hinein.«

Der Gedanke an diese Frau erfüllte das Herz des alten Missionars viel mehr mit Traurigkeit, als der Spott der hinter ihm her schreienden Jungen. Irgendwie hatte er die Buben gern, vermochte ihre Späße auch humorvoll zu ertragen. Allerdings fragte er sich, wie es kam, dass sie, die ihn bisher immer freundlich gegrüßt hatten, sich in letzter Zeit sichtlich von ihm zurückzogen und ihn verlachten oder sogar dann und wann Schimpfworte hinter ihm her schrien. Ihm war kein einziges Haus im Dorf bekannt, in dem man ihm gegenüber Feindschaft empfand. Natürlich gab es auch hier genug bewusst unchristliche Leute, für die sein missionarischer Beruf schon so etwas wie ein rotes Tuch war. Nun, er würde jedenfalls nach wie vor zu allen freundlich sein.

Ludwig Braunäcker hatte noch nicht das von einem Ehepaar geleitete Privat-Altersheim erreicht, in dem er wohnte, als er hinter sich eilige Schritte hörte und eine unsichere Stimme vernahm: »Herr Piep, Herr Piep!« Er drehte sich um. Da stand der Kleinste der Jungen, die ihm nachgeschrien hatten, fast atemlos vom schnellen Laufen und versuchte, sich verständlich zu machen.

»Herr Piep … äh, Herr Braunäcker, es tut mir leid. Ich, ich wollte Sie nicht ärgern. Aber der Benno, der Benno Fleischer, der sagt immer, wir sollen hinter Ihnen her schreien, weil Sie – weil Sie ein Pfaffe sind.«

Einen Augenblick war der Missionar geneigt, dem kleinen Kerl zu sagen, dass es nicht schön sei, seine Kameraden zu verpetzen. Aber dann sah er die bittend auf sich gerichteten Augen vor sich und meinte, ihn noch einmal zu hören: »Es tut mir leid.« Vielleicht fand er hier des Rätsels Lösung, warum die Jungen sich ihm gegenüber so anders als früher verhielten. So fragte er: »Sag mal, mein Lieber, wer ist denn der Benno Fleischer? Den kenn' ich ja noch gar nicht.«

»Der Große, der aus Berlin. Weil seine Mutter gestorben ist und sein Vater säuft und ihn dauernd schlägt, ist er hierher zu seiner Großmutter gekommen.«

»Woher weißt du das denn so genau?«

»Er hat es uns selbst gesagt.«

Der alte Mann streichelte die Wange des kleinen Jungen und sagte: »Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir darüber länger zu reden. Weiß du, bei uns im Altenheim wird pünktlich gegessen. Da darf man ebenso wenig zu spät kommen wie ihr in der Schule. Aber vielleicht kann ich bald einmal mit dir und den anderen Jungen reden. Das würde ich gerne tun.«

»Auch mit dem Berliner, dem Benno?« fragte der Kleine.

»Natürlich auch mit ihm.«

»Aber der ist furchtbar frech.«

»Trotzdem! Auf Wiedersehn, mein kleiner Freund! Aber jetzt sollte ich doch deinen Namen wissen. Weißt du, ich wohne noch nicht lange genug hier im Dorf, um euch alle zu kennen.«

»Ich heiße Fritz, Fritzle Strösel – und -«

»Was wolltest du denn noch sagen?«

»Ich trau' mich nicht.«

»Komm, sag's nur.«

»Ist das wirklich wahr?« Der Kleine errötete und wusste nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. Schließlich stotterte er: »Sie – Sie haben kleiner Freund zu mir gesagt.«

Über das gütige Gesicht des Missionars huschte ein Lächeln. »Natürlich, mein Junge, das darfst du ganz ernst nehmen. Ich möchte von Herzen gern mit euch allen gut Freund sein.«

Überglücklich sprang der Junge davon. »Kleiner Freund hat er zu mir gesagt«, flüsterte er einige Male vor sich hin. Aber den anderen wollte er lieber nichts davon mitteilen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Horde das Angebot einer solchen Freundschaft nicht zu würdigen wusste, vor allem nicht der freche Benno, dieses Großmaul! Er aber wollte die Worte des Herrn Piep wie einen Schatz in seinem Herzen hüten. Das war sein Geheimnis.

Als der alte Mann in seinem Zimmer angelangt war, fühlte er sich müde. Es war so manches, was ihn an diesem Nachmittag bewegt hatte. Ordnungsliebend wie er war, zog er die Straßenschuhe aus und schlüpfte in seine Hausschuhe. Außerdem gehörte das zur Hausordnung. Dann nahm er die Photographie seiner ersten, nun schon seit vielen Jahren verstorbenen Frau in die Hand und warf einen innigen Blick darauf. »Du Liebe!« murmelte er. Und dann griff er fast automatisch nach einem zweiten Bilderrähmchen, das auf der anderen Seite seines Schreibtisches stand. Ebenso innig blickte er das Bild seiner zweiten Frau an. »Mutti!« flüsterte er, »liebe Mutti!« Er betrachtete es in keiner Weise als ein Unrecht der einen gegenüber, dass er das liebevolle Andenken an die andere ebenfalls bewahrte. Beide, dessen war er sich sicher, waren ihm jede zurzeit von Gott an den Weg gestellt worden – und beide hatte ihm der Tod entrissen. Nein, das war nicht die rechte Formulierung. Gott der Herr hatte sie wieder zu sich gerufen. »Kommt wieder, Menschenkinder«, flüsterte der alte Mann vor sich hin und dachte dabei an den 3. Vers im 90. Psalm. Er glaubte felsenfest daran, dass sie lebten und hoffte, ihnen in der anderen Welt zu begegnen, wenn er für diese Annahme auch keine zusagende Bibelstelle hätte angeben können. Aber eins wusste er: Diejenigen, die im Glauben an Jesus Christus gestorben waren, würden bei dem Herrn sein allezeit. Und warum sollte man sich dort nicht treffen? Er war gewiss, dass seine heimgegangenen Ehefrauen ohne jede menschliche Eifersucht einander begegnen würden, denn dort waren ja alle ehelichen Bindungen gelöst. Bei dem Herrn sein allezeit! Darum und um nichts anderes ging es, und der Apostel Paulus wusste, warum er sagte: »Tröstet euch untereinander mit diesen Worten.«

Ludwig Braunäcker war von den Erlebnissen des Nachmittags müde geworden. Es ließ sich eben doch nicht leugnen, dass er achtzig Jahre alt war. Er setzte sich in den bequemen Lehnstuhl am Fenster, begrüßte seinen Kanarienvogel, der ihm aus dem Käfig, der an einem Ständer hing, fröhlich zu zwitscherte und schloss ein wenig die Augen. Ein Blick auf seine Uhr hatte ihm gezeigt, dass es bis zum Abendessen noch etwas Zeit war.

Seine Gedanken durchlebten noch einmal die Geschehnisse der letzten sieben Jahre.

So lange kannte er Joachim Seeliger. Damals war dieser als Pfarrer in die Kreisstadt gekommen. Er selbst, der alte Missionar, der dort in einem gut geführten, jedoch nicht von christlicher Art geprägtem Altersheim lebte, hatte sich bald zu dem neuen Pfarrer, dessen Gottesdienste er regelmäßig besuchte, hingezogen gefühlt. So manche gemeinsamen Interessen verbanden die beiden. Nach einiger Zeit wurde eine schöne Freundschaft daraus. Gerne übernahm Ludwig Braunäcker in Abwesenheit des Pfarrers auch manche anfallenden Amtshandlungen. Joachim Seeliger musste seines Herzleidens wegen einige Male ein Sanatorium aufsuchen. So war der Missionar bald im Pfarrhaus ganz daheim und nahm an dem, was sich dort abspielte, regen Anteil. Ludmilla Seeliger konnte sich nur wenig um die Belange der Gemeinde kümmern. Sie ging völlig in der Pflege des kranken Sohnes auf, der damals, als sie sich kennenlernten, elf Jahre alt war. Bis zum heutigen Tag bewunderte Ludwig Braunäcker die unermüdliche Hingabe und Geduld, mit der diese Frau sich dem unglücklichen Sohn widmete. Aber wirklich unglücklich über dessen Zustand, so meinte er zu beobachten, war vor allem der Vater. Nicht, dass die Pfarrfrau etwa weniger darunter litt, schließlich war sie die Mutter dieses ihres zweiten Kindes. Wie hatte sie sich auf sein Wachsen und seine Entwicklung gefreut. Wie ein Keulenschlag hatte es sie getroffen, als die Ärzte den erschrockenen Eltern die Mitteilung machten, dass ihr Kind wegen seines Gehirnschadens immer hilflos und pflegebedürftig bleiben würde. Tagelang war Ludmilla Seeliger damals wie eine Schlafwandelnde umhergegangen. Ihr Mann versuchte sie zu trösten, aber er war ja selber untröstlich. Natürlich wusste er theoretisch, dass Gott, der eine Last auflegt, auch hilft, diese zu tragen. Wie oft hatte er dieses Wort von der Kanzel verkündigt. Aber nun waren er und seine Frau von einer solchen Last selbst betroffen. Er hatte die bitterlich Weinende, die nach der Diagnose der Ärzte dem Zusammenbrechen nahe war, liebevoll umfasst. Aber der Versuch, ihr tröstende Worte zu sagen, scheiterte an seiner eigenen inneren Verfassung.

Ludmilla konnte sich nach einigen Tagen aufraffen und sich blutenden Herzens über den Jammer und die Not, die über sie hergefallen war, erheben. Es ist nun einmal so, wir haben einen Sohn, wenn auch einen, der körperlich und geistig behindert ist und bleiben wird – aber dieses Kind soll nichts entbehren. Meine ganze Liebe, Geduld und Fürsorge soll ihm gehören. Ich will es ihm an nichts fehlen lassen, was seinen armen Geist vielleicht doch noch wecken und seinem schwachen Körper zur Genesung verhelfen könnte.

Und sie pflegte und betreute das Kind, sprach mit ihm, als könne sein armer Geist ihre Worte verstehen, und sang ihm kleine Lieder vor.

Das behinderte Kind wurde ihr zum Lebensinhalt.

Dies alles hatte der alte Missionar natürlich erst nach und nach erfahren und zum Teil beobachtet. Nie würde er vergessen, wie Pfarrer Seeliger ihn zum ersten Mal an das Bett seines Sohnes geführt hatte. Ein lallender Säugling von elf Jahre lag da, unfähig, sich verständlich zu machen, nicht in der Lage, auf seinen Füßen zu stehen; nicht imstande, eines der weichen Stofftierchen, die seine Mutter ihm genäht hatte, mit seinen Händen zu umfassen. Und so war es geblieben bis zum heutigen Tag. Jetzt war Daniel ein hilfloses Kind von achtzehn Jahren, wenn er auch die Größe eines normalen jungen Mannes erreicht hatte. Damals vor sieben Jahren war er erschüttert am Bett des Jungen gestanden und hatte gut begriffen, dass Pfarrer Seeliger in stummem Schmerz nichts anderes zu sagen vermochte als: »Dies ist Daniel, unser Sohn.« Und dann hatte er das Zimmer verlassen, weil Tränen seine Stimme erstickten.

Ganz anders war es mit der damals dreizehnjährigen Miriam gewesen. Glücklich lächelnd hatte der Pfarrer ihm seine Tochter vorgestellt, ein hübsches, schlankes Mädchen, über deren Rücken zwei prächtige goldbraune Zöpfe fielen. Spielerisch hatte der Vater diese durch seine Hand gleiten lassen.

»Das ist unsere Tochter! Du kannst dich mit ihr gut in Englisch unterhalten. Französisch und Englisch sind ihre Lieblingsfächer in der Schule. Sie ist sehr sprachbegabt.«

»Ach Vati!« hatte das Mädchen verlegen abgewehrt, »du übertreibst!«

Offensichtlich war Pfarrer Seeliger stolz auf seine Tochter und machte auch ihm, dem Missionar gegenüber, keinen Hehl daraus. »Nachdem unser armer Daniel nicht fähig ist, schulisch gebildet zu werden und wohl auch nie eine Berufslaufbahn einschlagen kann, soll Miriam alle Möglichkeiten haben, vorwärtszukommen. Meine Frau möchte ja gerne, dass sie Krankenschwester oder vielleicht sogar Ärztin wird. Dabei denkt sie in erster Linie bestimmt an unseren hilfsbedürftigen Sohn und will damit die Sicherheit haben, dass er einmal gut versorgt ist, wenn sie nicht mehr lebt. Aber meines Erachtens darf man eine derartige Lebensverpflichtung auf niemand legen, auch nicht auf sein eigenes Kind.«

Er seufzte. Ludwig Braunäcker meinte, einen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen, als er fortfuhr: »Meine Frau kennt nur noch eins – und das ist Daniel. Tag und Nacht weicht sie nicht von seinem Bett. Seit Jahren kennen wir auch kaum noch ein wirkliches Eheleben. Versteh mich bitte nicht falsch, Ludwig, aber schließlich bin ich noch kein Greis. Eine gemeinsame Ferienreise gibt es seit der Geburt Daniels ebenfalls nicht mehr. Ludmilla überlässt in beinahe eifersüchtiger Weise keinem anderen die Pflege des Jungen. Dabei hätte sie es bitter nötig, einmal auszuspannen und Abstand von ihrem Alltag zu nehmen. So verbringe ich schon lange meinen Urlaub allein mit Miriam, entweder im Gebirge oder am Meer. Sie ist mir ein unentbehrlicher Lebenskamerad geworden und macht mir mit ihrer guten Veranlagung viel Freude. Sie soll eine ausgezeichnete Ausbildung erhalten. – Zuerst hat sie ja noch in der Schule einiges zu leisten. Aber nach dem Abitur wird sie eine Dolmetscherschule besuchen und wenn möglich auch einige Zeit im Ausland zubringen, um die Fremdsprachen beherrschen zu können.«

So hatte damals Pfarrer Seeliger zu dem Missionar gesprochen. Jahre waren darüber vergangen. Der alte Mann hatte an verschiedenen Familienereignissen im Pfarrhaus teilgenommen. Es war ihm schmerzlich gewesen, dass Joachim Seeliger sich wegen seines Herzleidens vorzeitig pensionieren lassen musste.

In Waldhügel, einem schön gelegenen Nebenort seiner Gemeinde, den er auch kirchlich zu betreuen hatte – das kleine Dorf besaß keine eigene Kirche, war ihm die Möglichkeit geboten worden, ein Einfamilienhaus zu kaufen. Es lag in unmittelbarer Nähe eines bewaldeten Hügels, umgeben von einem kleinen Garten.

Nur ungern hatte die Gemeinde ihren Pfarrer ziehen lassen. Der Gedanke, dass er seinen Lebensabend in nächster Nähe zubringen würde, ließ sie jedoch hoffen, dass er wenigstens von Zeit zu Zeit – wenn sein Gesundheitszustand es zuließ – einen Predigtgottesdienst übernehmen oder auch sonst den neuen Pfarrer vertreten würde. Joachim Seeliger war wegen seiner guten Predigten und seiner Leutseligkeit beliebt gewesen. Außerdem besuchte er regelmäßig die Kranken und die Alten. Manche Jugendliche der Gemeinde nannten ihn allerdings engherzig und waren der Meinung, dass er nicht offen genug für die heutigen Zeitfragen wäre. Seine Ansichten über Moral und Sitte war ihnen, wie sie sagten, zu einseitig und zu kleinlich. Seine regelmäßigen Gottesdienstbesucher, besonders solche, die außer zur Kirche auch noch an Gemeinschaftsstunden teilnahmen, bejahten seine Einstellung und nannten ihn einen entschiedenen Christen.

Zwei Jahre nachdem Pfarrer Seeliger pensioniert worden und mit seiner Familie in das eigene Haus nach Waldhügel gezogen war, teilte er seinem Freund, dem alten Missionar mit, dass am anderen Ende des Dorfes von einem Ehepaar ein Privataltersheim erstellt würde, in dem dreißig Männer und Frauen Aufnahme finden könnten. Dieses Ehepaar hatte einen guten Leumund, es war bewusst christlich eingestellt und sah es als seine ihm noch verbleibende Lebensaufgabe an, alten Leuten, die in ihr Haus ziehen, eine wirkliche Heimat zu bieten. Herr Schwengel und seine Frau waren beide viele Jahre in einem großen Altersheim der Kirche tätig gewesen und wollten diese ihnen liebgewordene Arbeit nun im kleineren Rahmen im eigenen Haus fortsetzen. Das Seniorenheim sollte nach bewusst christlichen Grundsätzen geleitet werden. Jeden Morgen würde eine Andacht stattfinden. Die Bewohner hatten auch die Möglichkeit, als Pflegefälle im Hause zu bleiben. Zu ihrer Betreuung sollte eine geprüfte Krankenschwester angestellt werden.