Ein Kuss um Mitternacht - Eloisa James - E-Book
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Ein Kuss um Mitternacht E-Book

Eloisa James

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Beschreibung

Miss Kate Daltry glaubt nicht an Märchen. Doch als sie auf einem Ball dem Prinzen Gabriel begegnet, verliert sie augenblicklich ihr Herz an ihn. Allerdings ist Gabriel schon einer anderen Frau versprochen. Kann es für Kate und ihn ein glückliches Ende geben?

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Inhalt

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Prolog

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Epilog

Historische Anmerkung

Die Autorin

Die Romane von Eloisa James bei LYX

Impressum

Über dieses Buch

Seit dem Tod ihres Vaters ist Kate Daltry kaum mehr als eine Bedienstete im Haushalt ihrer Stiefmutter. Zudem hat sie alle Hände voll damit zu tun, die unverschämte Mariana davon abzuhalten, das Gut in Grund und Boden zu wirtschaften und all ihre Pächter vor die Tür zu setzen. Im Gegensatz zu Kate überschüttet Mariana ihre eigene Tochter nur so mit Liebe und schönen Kleidern. Zwar hat die naive Victoria nichts mit ihrer garstigen Mutter gemein. Trotzdem ist Kate alles andere als begeistert, als ihre Stiefmutter sie nötigt, sich bei einem Ball als ihre Schwester auszugeben. Denn deren Verlobter Algie kann sie nur heiraten, wenn er den Segen seines Onkels Prinz Gabriel erhält. Da Victoria jedoch eine geschwollene Lippe hat, kann sie unmöglich unter Leute gehen. Als Kate dem Prinzen gegenübersteht, ist sie mehr als überrascht. Er ist nicht nur jung, sondern auch äußerst attraktiv – aber leider bereits verlobt und ganz und gar von sich eingenommen. Daher zeigt Kate ihm erst einmal die kalte Schulter – auch wenn er ihr Herz in Wirklichkeit gehörig in Aufruhr bringt. Doch Kates kühle Abweisung spornt Gabriel erst recht an, ihr Herz zu gewinnen …

ELOISA JAMES

Ein Kuss

um Mitternacht

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Barbara Först

Dieser Roman ist dem Andenken meiner Mutter Carol Bly gewidmet. Sie hat sich nie sonderlich für Liebesromane interessiert – oder es zumindest immer behauptet. Aber sie hat meiner Schwester und mir stets Märchen vorgelesen und uns mit Prinzen verzaubert, die auf weißen Rössern dahingaloppierten, und Prinzessinnen mit wallenden Goldhaaren, an denen man emporklettern konnte. Sie hat mir Anne auf Green Gables, Little Women und Stolz und Vorurteil geschenkt. Es ist also ganz allein deine Schuld, Mom!

Prolog

Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit …

Diese Geschichte beginnt mit einer Kutsche, die kein Kürbis war, aber trotzdem um Mitternacht verschwand, mit einer Patentante, die ihren Schützling aus dem Auge verlor, aber keinen Zauberstab besaß, und einigen frechen Ratten, die am liebsten Livree getragen hätten.

Und natürlich kommt ein Mädchen vor, das aber nicht tanzen konnte und erst recht keinen Prinzen heiraten wollte.

Doch im Grunde beginnt die Geschichte mit den Ratten. Sie waren nicht mehr zu bändigen, so lautete die einhellige Meinung. Für die Haushälterin Mrs Swallow waren sie ein ständiger Quell des Aufruhrs. »Es ist einfach nicht zu ertragen, wie diese kleinen Biester Schuhe annagen, wenn man nicht aufpasst«, vertraute sie dem Butler an, einem behäbigen Mann mit Namen Cherryderry.

»Ich weiß genau, was Sie meinen«, entgegnete er mit einer Schärfe in der Stimme, die man bei ihm nicht oft vernahm. »Ich kann sie nicht ausstehen. Diese spitzen Schnauzen und dieses nächtliche Kläffen und …«

»Und wie sie fressen!«, fiel ihm Mrs Swallow ins Wort. »Vom Tisch, von den Tellern!«

»Von den Tellern, das stimmt«, pflichtete Mr Cherryderry der Haushälterin bei. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, Mrs Swallow, oh ja! Sie haben aus Mrs Daltrys Hand gefressen!«

Mrs Swallows leiser Aufschrei hätte im Salon gehört werden können … doch die Ratten machten einen derartigen Lärm, dass er unterging.

1

Yarrow House

Wohnsitz von Mrs Mariana Daltry,

ihrer Tochter Victoria und Miss Katherine Daltry

Miss Katherine Daltry, von fast allen nur Kate genannt, stieg wutschnaubend vom Pferd.

Es sollte angemerkt werden, dass ihr dieser Zustand durchaus vertraut war. Früher hatte sie sich lediglich über ihre Stiefmutter aufgeregt. Doch erst nachdem ihr Vater gestorben war, und die neue Mrs Daltry Herrin im Hause spielte, hatte Kate gelernt, die volle Bedeutung von Zorn zu ermessen.

Sie wurde zornig, wenn sie zusehen musste, wie alteingesessene Pächter gezwungen wurden, entweder die doppelte Pacht zu entrichten oder aber Cottages zu verlassen, in denen sie ihr Leben lang gewohnt hatten. Sie war zornig, wenn die Ernte verdarb und Unkraut die Hecken überwucherte, weil ihre Stiefmutter zu geizig war, um Geld in die Erhaltung der Ländereien zu stecken. Sie wurde zornig, wenn das Geld ihres Vaters dazu herhalten musste, um immer neue Kleider und Hüte und Rüschenplunder zu kaufen … und zwar in solchen Mengen, dass ihre Stiefmutter und Stiefschwester wohl kaum genug Tage im Jahr finden würden, um den Flitterkram zu tragen.

Ebenso mit Wut erfüllten sie die mitleidigen Blicke ihrer Bekannten, die sie beim Dinner nicht mehr zu Gesicht bekamen. Darüber hinaus war sie in eine Dachkammer verbannt worden, deren verwohntes Mobiliar nur allzu deutlich zeigte, welche Stellung sie nun in der Familie einnahm. Kate verachtete sich dafür, dass sie es nicht fertigbrachte, dieses Haus zu verlassen und einen Schlussstrich zu ziehen. Außerdem war sie von Demütigung und Verzweiflung erfüllt und davon überzeugt, dass ihr Vater sich vor Gram in seinem Grabe umdrehen müsse.

Sie stampfte die Vordertreppe hinauf und wappnete sich für die Schlacht, wie ihr Vater gesagt hätte. »Hallo, Cherryderry«, begrüßte sie den liebenswerten, alten Butler, der ihr die Tür öffnete. »Spielen Sie neuerdings auch den Lakai?«

»Ihre Durchlaucht hat die Lakaien nach London geschickt, um einen Arzt zu holen«, sagte Cherryderry. »Oder besser gesagt, zwei Ärzte.«

»Hat sie mal wieder einen Anfall?« Kate streifte vorsichtig ihre Handschuhe ab, da das Futter bereits lose saß. Früher einmal hätte sie sich Sorgen gemacht, ob ihre Stiefmutter, die vom Personal nur »Durchlaucht« genannt wurde, ernstlich erkrankt war, doch diese Zeiten waren lange vorbei. Nach Jahren des blinden Alarms und nächtlichem Gekreische, man sei dem Tode nahe – und am Ende hatten sich die Anfälle als Verdauungsbeschwerden entpuppt.

Doch wie Cherryderry einmal angedeutet hatte, konnte man immer noch hoffen.

»Nicht Ihre Durchlaucht diesmal. Es geht, soweit ich verstanden habe, um Miss Victorias Gesicht.«

»Um den Biss?«

Der Butler nickte. »Ihre Lippe ist schief, wie uns ihre Zofe heute Morgen sagte. Außerdem ist die Stelle geschwollen.«

Trotz ihrer Bitterkeit verspürte Kate einen Anflug von Mitleid. Die arme Victoria hatte außer ihrem hübschen Gesicht und ihren noch hübscheren Kleidern nicht viel vorzuweisen. Wenn sie fürs Leben entstellt wäre, würde es ihrer Stiefschwester das Herz brechen.

»Ich muss mit Ihrer Durchlaucht über die Frau des Vikars sprechen«, sagte sie und reichte Cherryderry ihre Pelisse. »Vielmehr die Witwe des Vikars. Nach seinem Tod habe ich der Familie ein anderes Cottage gegeben.«

»Eine schlimme Sache«, bemerkte der Butler. »Besonders bei einem Vikar. Ein Vikar sollte keinen Selbstmord begehen.«

»Er hat sie mit vier Kindern alleingelassen«, sagte Kate.

»Es ist für einen Mann auch nicht einfach, den Verlust eines Beins zu verschmerzen.«

»Aber nun müssen die vier Kinder seinen Verlust verschmerzen«, konterte sie kühl. »Ganz zu schweigen davon, dass meine Stiefmutter seiner Witwe gestern einen Räumungsbefehl geschickt hat.«

Cherryderry starrte finster vor sich hin. »Ihre Durchlaucht befiehlt, dass Sie heute Abend mit ihnen speisen.«

Kate blieb auf der Treppe stehen. »Was hat sie gesagt?«

»Sie sollen heute Abend mit ihnen speisen. Lord Dimsdale wird auch zugegen sein.«

»Das soll doch wohl ein Scherz sein!«

Doch der Butler schüttelte den Kopf. »So hat sie es befohlen. Und außerdem hat sie beschlossen, dass Miss Victorias Ratten fortmüssen, und hat sie vorerst in Ihre Kammer verbannt.«

Kate schloss einen Moment lang die Augen. Der Tag, der bereits schlecht begonnen hatte, drohte, noch schlimmer zu werden. Sie verabscheute die Schoßhündchen ihrer Stiefschwester, die im Haus liebevoll – oder auch nicht ganz so liebevoll – die »Ratten« genannt wurden. Ebenso wenig konnte sie Algernon Bennett leiden, den Verlobten ihrer Stiefschwester. Er lächelte zu viel. Doch am meisten widerstrebte ihr die Aussicht, zu einem Dinner im engsten Familienkreis erscheinen zu müssen.

Normalerweise konnte Kate verdrängen, dass sie einst die Herrin dieses Hauses gewesen war. Bevor ihre Mutter starb, war sie jahrelang bettlägerig gewesen, und Kate hatte sie nur als ständig kränkelnde Frau in Erinnerung. Stets hatte sie mit dem Vater allein am Esstisch gesessen, jeden Tag mit ihrer Haushälterin Mrs Swallow das Menü besprochen. Sie hatte erwartet, bald in die Gesellschaft eingeführt zu werden, eines Tages zu heiraten und in diesem Haus ihre Kinder großzuziehen.

Doch das war vor Vaters Tod gewesen. Danach war sie zu einer Dienstmagd degradiert und in die Dachkammer verbannt worden.

Und jetzt sollte sie zum Dinner erscheinen, in einem aus der Mode gekommenen Kleid, und die absurden Komplimente Lord Dimsdales ertragen? Warum nur?

Mit einer unguten Vorahnung im Bauch stürmte Kate die Treppe hoch. Ihre Stiefmutter saß vor der Frisierkommode und begutachtete ihren Teint. Nachmittägliches Licht fiel durch das Fenster auf ihre Schultern und ließ ihr Haar aufleuchten. Es wirkte grell und hart, dieses gelbliche, metallisch glänzende Haar, als wäre es aus Erz. Sie trug ein Morgenkleid mit einem plissierten Mieder aus veilchenblauem Tüll, das unter den Brüsten mit einem Band geschnürt wurde. Ein wunderbares Kleid … für eine blutjunge Debütantin.

Mariana konnte es nicht ertragen, dass sie die Vierzig bereits überschritten hatte. Wahrscheinlich war sie schon verzweifelt gewesen, als sie dreißig wurde. Und so kleidete sie sich in einem Stil, der eigentlich dem einer Zwanzigjährigen entsprach. Eines musste man Kates Stiefmutter zugestehen: Sie besaß Mut und gab nichts auf die Konventionen, die einer alternden Frau gewisse Zwänge auferlegten.

Doch so viel Ehrgeiz die Kleider auch demonstrierten, sie gestanden zugleich Marianas Scheitern ein. Denn noch hatte es keine Frau geschafft, mit vierzig wie zwanzig auszusehen, und kein hinreißendes Kleid konnte einem die Jugend zurückgeben.

»Wie ich sehe, hast du die Besuche bei deinen Freunden beendet und dich endlich dazu bequemt, heimzukehren«, sagte Mariana schroff.

Kate sah sich kurz im Boudoir ihrer Stiefmutter um und beschloss, einen Kleiderstapel von einem Möbel zu entfernen, das mit großer Wahrscheinlichkeit ein Schemel war. Überall im Zimmer türmten sich Stoffe zu bauschigen Hügeln auf, auf sämtlichen Stühlen gestapelt – oder zumindest dort, wo man Stühle vermuten würde. Das Zimmer wirkte daher wie eine Schneelandschaft in Pastelltönen, aus der hier und da weiche Stoffhügel aufragten.

»Was tust du da?«, fragte die Stiefmutter, als Kate die Kleider auf ihre Arme stapelte.

»Ich setze mich«, erwiderte sie und ließ den Kleiderhaufen auf den Boden fallen.

Mit einem schrillen Schrei sprang die Stiefmutter auf. »Geh nicht so mit meinen Kleidern um, dummes Ding! Die zwei oberen sind gerade erst geliefert worden, und sie sind kostbar. Wenn ich auch nur eine Falte entdecke, wirst du die ganze Nacht bügeln!«

»Ich bügele doch nie«, entgegnete Kate. »Hast du’s schon vergessen? Ich habe einmal eines deiner Kleider versengt, ein weißes, vor drei Jahren.«

»Ach, der persische Brokat!«, rief die Stiefmutter und faltete ihre Hände wie eine geläuterte Lady Macbeth. »Es liegt dort.« Sie wies mit dem Zeigefinger in eine Ecke, wo der Kleiderberg fast bis zur Decke reichte. »Ich werde es demnächst ändern lassen.« Sie setzte sich wieder.

Kate schob den Kleiderberg behutsam mit dem Fuß beiseite. »Ich muss mit dir über die Crabtrees reden.«

»Ich hoffe doch sehr, dass du es geschafft hast, diese Frau aus dem Haus zu werfen.« Mariana steckte sich einen Zigarillo an. »Du weißt, nächste Woche kommt dieser verdammte Anwalt und will prüfen, wie gut ich meine Aufgaben als Gutsherrin erfülle. Wenn er diesen Müllhaufen von Cottage zu sehen bekommt, wird er mir endlose Vorträge halten. Im letzten Quartal hat er darüber so viel salbadert, dass ich vor Langeweile fast gestorben wäre.«

»Du bist dafür verantwortlich, dass die Cottages in gutem Zustand sind«, äußerte Kate vorwurfsvoll und erhob sich, um ein Fenster zu öffnen.

Mariana wedelte verächtlich mit ihrem Zigarillo. »Unsinn. Diese Leute leben fast umsonst auf meinem Grund und Boden. Da kann man doch verlangen, dass sie wenigstens ihre Häuser ordentlich in Schuss halten. Diese Crabtree haust ja wie in einem Schweinestall! Neulich bin ich zufällig an ihrem Haus vorbeigekommen und war entsetzt.«

Kate setzte sich wieder und ließ ihre Blicke durch Marianas Zimmer schweifen. Durch den Schweinestall von einem Zimmer. Doch vorwurfsvolle Blicke fruchteten nicht bei ihrer Stiefmutter, die soeben einen kleinen Tiegel geöffnet hatte und sich seelenruhig mit einer dunklen Kupferfarbe die Lippen bemalte.

»Seit ihr Ehemann gestorben ist«, berichtete Kate, »hat Mrs Crabtree allen Lebensmut verloren. Ihr Haus ist kein Schweinestall, sondern lediglich unaufgeräumt. Du kannst sie nicht einfach hinauswerfen. Wo soll sie denn hin?«

»Das ist doch Unsinn«, erwiderte Mariana. Sie beugte sich näher zum Spiegel, um ihre Lippen zu begutachten. »Ich bin sicher, dass ihr irgendetwas einfallen wird. Vermutlich ein neuer Mann. Ist doch schon ein Jahr her, seit Crabtree sich umgebracht hat, also lauert bestimmt ein neuer Verehrer im Busch. Du wirst schon sehen.«

Ein Gespräch mit ihrer Stiefmutter war so, als ob man gezwungen sei, sich in einem stockfinsteren Klohäuschen zu erleichtern: Man hatte keine Ahnung, was hochkommen konnte, und wusste mit Sicherheit nur, dass es einem nicht gefallen würde.

»Das ist gemein«, sagte Kate und bemühte sich, ihrer Stimme einen Anstrich von Autorität zu verleihen.

»Sie müssen fort«, erklärte Mariana kategorisch. »Ich kann Faulpelze nicht ausstehen. Schließlich habe ich sie besucht, gleich am nächsten Morgen, nachdem ihr Mann von der Brücke gesprungen war. Ich habe ihr persönlich mein Beileid ausgesprochen.«

Im Allgemeinen hielt Mariana sich von den Pächtern und Dorfbewohnern fern, nur zuweilen überkam sie plötzlich das Bedürfnis, die Grundherrin herauszukehren. Dann erschien sie in einer Aufmachung, die das Landvolk schockieren musste, stieg in königlicher Haltung aus ihrer Kutsche und schloss aus den erschrockenen Mienen ihrer Pächter, dass diese allesamt unbeholfene Tölpel waren. Und am Ende trug sie Kate auf, sie aus ihren Häusern zu werfen.

Zum Glück vergaß sie diesen Befehl meistens schon nach einer Woche.

»Und da lag diese Crabtree auf dem Sofa und heulte. Das Zimmer voller Kinder, schrecklich viele Kinder, und sie lag da und heulte, und ihre Schultern zitterten wie bei einer schlechten Schauspielerin. Hat mir die Ohren vollgeheult. Vielleicht sollte sie sich einem Wandertheater anschließen«, sagte Mariana. »Denn hässlich ist sie nicht.«

»Sie …«

Doch Mariana fiel ihr ins Wort. »Ich kann Müßiggänger nicht ertragen. Glaubst du, ich hätte auf dem Sofa gelegen und geheult, nachdem mein erster Mann, der Oberst, gestorben war? Hast du mich etwa nach dem Tod deines Vaters eine einzige Träne vergießen sehen, obwohl uns nur eine so kurze Zeit gemeinsamen Glücks vergönnt war?«

Kate hatte zwar keine Tränen gesehen, aber Mariana war ohnehin nicht auf Bestätigung aus. »Auch wenn Mrs Crabtree vielleicht nicht so tapfer ist wie du, hat sie doch immerhin vier Kinder, und wir sind in gewisser Weise verantwortlich für …«

»Das Thema langweilt mich allmählich, und außerdem gibt es Wichtigeres zu besprechen. Heute Abend kommt Lord Dimsdale zum Dinner, und du sollst auch mit von der Partie sein.« Mariana blies eine Rauchwolke in die Höhe. Es sah aus, als entwiche Nebel aus einem schmalen Kupferrohr.

»Das hat Cherryderry mir schon gesagt. Aber was versprichst du dir davon?« Kate und ihre Stiefmutter gingen schon lange nicht mehr höflich miteinander um. Sie verabscheuten einander, und Kate konnte sich absolut nicht vorstellen, warum ihre Anwesenheit beim Dinner plötzlich von Bedeutung sein sollte.

»In ein paar Tagen wirst du Dimsdales Verwandte kennenlernen.« Mariana zog an ihrem Zigarillo. »Zum Glück bist du schlanker als Victoria. Wir können die Kleider problemlos enger machen. Andersherum wäre es schwieriger gewesen.«

»Wovon redest du da? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lord Dimsdale auch nur das geringste Interesse daran hegt, mit mir zu dinieren oder mir seine Verwandten vorzustellen. Und dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit!«

Bevor Mariana darauf eingehen konnte, wurde die Zimmertür aufgerissen und Victoria stürzte heulend auf ihre Mutter zu. »Die Creme wirkt nicht!«, schluchzte sie. Ohne Kate zu sehen, fiel sie auf die Knie und begrub ihr Gesicht im Schoß der Mutter.

Sofort legte Mariana ihren Zigarillo weg und legte die Arme um die Schultern ihrer Tochter. »Ruhig, Kleines«, gurrte sie. »Natürlich wirkt die Creme. Wir müssen nur ein wenig Geduld haben. Ich verspreche dir, deine Mutter verspricht dir, dass die Creme wirkt. Dein Gesicht wird wieder so schön wie vorher. Und für alle Fälle habe ich nach London schicken lassen, um zwei der besten Ärzte herzuholen.«

Kate erwärmte sich allmählich für die Angelegenheit. »Was für eine Creme nimmst du denn?«

Mariana bedachte sie mit einem unfreundlichen Blick. »Keine, die du kennst. Sie besteht aus zerstoßenen Perlen und anderen guten Dingen. Wirkt wie ein Zauber gegen alle Arten von Unreinheiten. Ich selbst benutze sie täglich.«

»Schau dir nur meine Lippe an, Kate!«, rief Victoria und bog den Kopf zurück. »Ich bin für mein Leben entstellt.« Tränen glitzerten in ihren Augen.

Ihre Unterlippe sah tatsächlich schlimm aus. Eine seltsame violette Schwellung deutete auf eine Entzündung hin, und der Mund war eindeutig schief gezogen.

Kate stand auf und trat näher heran. »Hat Dr. Busby sich das angesehen?«

»Er war gestern da, aber er ist ein alter Dummkopf«, sagte Mariana. »Wie sollte man auch erwarten, dass er die Schwere der Erkrankung erkennen würde. Er wusste keinen wirksamen Trank, keine Creme dagegen. Tölpel!«

Kate drehte Victorias Kopf zur Seite, sodass Licht auf ihr Gesicht fiel. »Der Biss sieht entzündet aus«, urteilte sie. »Seid ihr auch sicher, dass die Creme nicht verunreinigt ist?«

»Willst du etwa mein Urteil infrage stellen?«, rief Mariana, indem sie sich drohend erhob.

»Aber ja«, gab Kate unerschrocken zurück. »Wenn Victoria am Ende einen entstellten Mund hat, weil du ihr eine Quacksalbermedizin verabreicht hast, die man dir in London aufgeschwatzt hat, dann ist es ganz allein deine Schuld!«

»Freche Kröte!« Mariana kam auf sie zu.

Doch Victoria streckte ihre Hand aus. »Mutter, nicht. Kate, glaubst du wirklich, dass mit der Creme etwas nicht stimmt? Meine Lippe tut ganz furchtbar weh.« Victoria war ein sehr hübsches Mädchen mit einem wunderschönen Teint und großen, sanften Augen, die immer ein wenig umflort wirkten, als ob sie gerade gefühlsselige Tränen vergossen hätte oder jeden Moment damit anfangen würde. Und sie weinte auch des Öfteren am Tag, ob aus Sentimentalität oder welchem Grund auch immer. Auch jetzt bahnten sich bereits zwei Tränen den Weg über ihre Wangen.

»Meiner Meinung nach könnte sich in der Wunde eine Entzündung gebildet haben«, sagte Kate nachdenklich. »Der Biss selber war ja schnell abgeheilt, aber …« Sie drückte die Stelle leicht, und Victoria schrie vor Schmerz auf. »Die Entzündung wird wahrscheinlich aufgestochen werden müssen.«

»Niemals!«, brüllte Mariana.

»Ich lasse nicht zu, dass sie mir das Gesicht aufschneiden.« Victoria zitterte am ganzen Leib.

»Aber du willst auch nicht fürs Leben entstellt sein«, entgegnete Kate um einen geduldigen Ton bemüht.

Victoria blinzelte verwirrt, während sie über das drohende Unheil nachdachte.

»Bevor die Londoner Ärzte eintreffen, wird gar nichts geschehen«, verkündete Mariana und setzte sich wieder. Sie war begeistert von allem und jedem, das aus London kam. Kate nahm an, dass es wohl an einer auf dem Lande verbrachten Kindheit lag, aber da Mariana niemals die geringste Andeutung über ihre Vergangenheit machte, war es lediglich eine Vermutung.

»Dann wollen wir hoffen, dass sie bald eintreffen.« Kate überlegte, ob eine entzündete Lippe eventuell zu einer Blutvergiftung führen könnte. Wahrscheinlich nicht … »Warum ist es so wichtig, dass ich zum Dinner erscheine, Mariana?«, wandte sie sich an ihre Stiefmutter.

»Wegen meiner Lippe natürlich«, schnaubte Victoria.

»Wegen deiner Lippe, soso«, wiederholte Kate.

»Ich kann ja den Besuch nicht machen, oder?«, fügte Victoria hinzu, wie immer auf irritierend unverständliche Weise.

»Deine Schwester soll in wenigen Tagen einen sehr wichtigen Besuch bei einem Mitglied von Lord Dimsdales Familie machen«, klärte Mariana Kate auf. »Wenn du nicht ständig auf den Ländereien unterwegs wärst und dir rührselige Geschichten nutzloser Weiber anhören würdest, dann wüsstest du das. Er ist ein Prinz. Ein Prinz!«

Kate ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen und starrte ihre beiden Verwandten an. Mariana war so hart und glänzend wie ein frisch geprägter Halfpenny, Victorias Züge dagegen ein wenig verschwommen. Ihr Haar war von einem lieblichen Blassrosa, das irgendwo zwischen Blond und Rot changierte, und umgab schmeichelnd ihr Gesicht. Marianas Frisur hingegen hatte genau die Form, die ihr eine geduldige Zofe nach dreistündiger schwerer Arbeit mit der Brennschere verlieh.

»Ich kann nicht erkennen, was dieser aufgeschobene Besuch mit mir zu tun haben soll«, sagte Kate, »obwohl ich es natürlich für dich bedauerlich finde, Victoria.« Das war ernst gemeint. Auch wenn Kate ihre Stiefmutter verabscheute, hatte sich dieser Hass doch niemals auf ihre Stiefschwester übertragen. Zum einen war Victoria viel zu nachgiebig, als dass sie jemandes Unmut auf sich hätte ziehen können. Und zum anderen konnte Kate gar nicht anders, als sie zu mögen. Denn die Affenliebe, mit der Mariana ihre Tochter überschüttete, war in Kates Augen schlimmer als sämtliche Demütigungen, die sie selbst von ihr zu ertragen hatte.

»Tja«, sagte Victoria und setzte sich auf einen Kleiderhaufen, der ungefähr Stuhlhöhe besaß, »du musst eben ich sein. Ich habe eine Weile gebraucht, um es zu verstehen, aber Mutter hat wirklich alles klug durchdacht. Und ich bin sicher, dass auch mein liebster Algie nichts dagegen haben wird.«

»Ich könnte auf keinen Fall du sein, was auch immer das heißen soll«, erklärte Kate kategorisch.

»Doch, du kannst«, sagte Mariana. Sie hatte ihren Zigarillo aufgeraucht und zündete sich einen zweiten an. »Und du wirst«, fügte sie hinzu.

»Nein, ganz gewiss nicht. Außerdem habe ich nicht die leiseste Ahnung, was ihr damit meint. Auf welche Weise soll ich Victoria sein? Und wo?«

»In Gegenwart von Lord Dimsdales Prinz natürlich.« Mariana betrachtete sie durch einen dünnen Rauchschleier. »Hast du denn nicht zugehört?«

»Ihr wollt, dass ich mich als Victoria ausgebe? Vor einem Prinzen? Welchem Prinzen?«

»Ich habe es zuerst auch nicht verstanden«, gestand Victoria und fuhr sich mit einem Finger über die verletzte Lippe. »Es ist so: Bevor Algie mich heiraten darf, brauchen wir die Einwilligung eines Verwandten.«

»Des Prinzen eben«, warf Mariana ein.

»Er ist Prinz von irgendeinem kleinen Land am Ende der Welt, das sagt jedenfalls Algie. Aber er ist der einzige Vertreter von Algie mütterlicherseits, der in England lebt, und die werden ihm nicht sein Erbe freigeben, ohne dass der Prinz seine Einwilligung gibt. Das Testament seines Vaters«, offenbarte Victoria, »ist ganz schrecklich unfair. Wenn Algie vor seinem dreißigsten Geburtstag heiratet, ohne dass seine Mutter ihre Einwilligung gibt, dann verliert er einen Teil seines Erbes – und er ist noch nicht mal zwanzig!«

Sehr klug von Papa Dimsdale, fand Kate. Ihrer Meinung nach war Dimsdale Junior ebenso unfähig, Grundherr zu sein, wie die Ratten, Chorgesang zu lernen. Aber das alles ging sie überhaupt nichts an. »Morgen früh werden die Ärzte dich untersuchen«, sagte sie zu Victoria, »und dann wirst du den Prinzen besuchen. Selbst die Katze darf ja die Königin ansehen.«

»So kann sie auf keinen Fall gehen!«, fauchte Mariana. Es war das erste Mal, dass Kate Abscheu hörte, der ihrer leiblichen Tochter galt.

Victoria drehte den Kopf und starrte ihre Mutter an.

»Natürlich kann sie«, beharrte Kate. »Meiner Meinung nach ist das ein törichter Plan. Niemand wird auch nur für einen Moment glauben, dass ich Victoria bin. Und selbst wenn – meint ihr nicht, dass sie sich später erinnern werden? Was ist, wenn dieser Prinz in der Kirche aufsteht und die Trauung unterbricht, weil die Braut nicht die Braut ist, die er kennengelernt hat?«

»Das wird nicht passieren, und zwar schon aus dem Grund nicht, weil Victoria sofort nach dem Besuch im Schloss heiraten wird, und zwar mit einer Sondergenehmigung von Dimsdales Pfarrer«, behauptete Mariana. »Dimsdale ist noch nie aufs Schloss eingeladen worden, und das ist eine Gelegenheit, die wir nicht verpassen dürfen. Seine Hoheit gibt einen Ball zur Feier seiner Verlobung, und du wirst zu diesem Ball gehen – als Victoria!«

»Warum verschiebt ihr euren Besuch nicht bis nach dem Ball?«

»Weil ich unbedingt heiraten muss«, meldete sich Victoria.

Kate wurde schwer ums Herz. »Du musst heiraten?«

Victoria nickte. Kate schaute ihre Stiefmutter an, die nur die Achseln zuckte. »Sie hat sich kompromittiert. Vor drei Monaten.«

»Um Gottes willen!«, rief Kate aus. »Du kennst Dimsdale doch kaum, Victoria!«

»Ich liebe Algie«, erwiderte Victoria ernsthaft. »Ich wollte gar nicht in die Gesellschaft eingeführt werden, nachdem ich ihn an diesem Sonntag im März in der Westminster Abbey gesehen hatte, aber Mutter hat mich dazu gezwungen.«

»März«, sagte Kate. »Du hast ihn im März kennengelernt, und jetzt haben wir Juni. Bitte sag mir jetzt, dass dein geliebter Algie dir bereits vor drei Monaten einen Antrag gemacht hat, und du ihn bloß geheim gehalten hast?«

Darauf musste Victoria kichern. »Du weißt doch ganz genau, wann er mir den Antrag gemacht hat, Kate! Dir hab ich es doch als Erstes erzählt, gleich nach Mutter. Es ist erst zwei Wochen her.«

Die Falten, die nun zwischen Marianas Nase und ihren Mundwinkeln erschienen, hätten auch von einer Wundercreme auf Basis zerstoßener Perlen nicht wieder aufgefüllt werden können. »Dimsdale war ein wenig säumig mit seinen Aufmerksamkeiten.«

»Mit seinen Aufmerksamkeiten gewiss nicht«, widersprach Kate. »Auf dem Gebiet scheint er bemerkenswert aufgeweckt zu sein.«

Mariana warf ihr einen Blick äußersten Missfallens zu. »Lord Dimsdale hat ganz korrekt um Victorias Hand angehalten, nachdem ich ihn über ihre Situation unterrichtet hatte.«

»An deiner Stelle würde ich den Mann umbringen«, sagte Kate.

»Würdest du?« Mariana lächelte seltsam. »Du warst immer schon ein wenig begriffsstutzig. Der Viscount besitzt einen Titel und ein ansehnliches Vermögen – sobald er darüber verfügen kann. Er ist rasend verliebt in deine Schwester und will sie unbedingt heiraten.«

»Was für ein Glück«, bemerkte Kate säuerlich. Sie schaute wieder zu Victoria, die ihre Finger nicht von der verletzten Lippe lassen konnte. »Ich habe dir ja gesagt, dass sie eine Anstandsdame braucht, Mariana. Victoria hätte noch eine bessere Partie machen können.«

Mariana wandte sich achselzuckend wieder ihrem Spiegel zu. Es verhielt sich in Wahrheit so, dass Victoria nicht unbedingt einen anderen Mann hätte finden können. Dazu war sie zu nachgiebig, einem weichen Pudding zu ähnlich. Sie weinte zu viel.

Obwohl sie schrecklich hübsch und offenbar auch fruchtbar war, eine unverzichtbare und höchst begehrte Eigenschaft bei einer künftigen Ehefrau. Das sah man schon daran, wie verzweifelt ihr Vater gewesen war, weil er keinen Sohn besaß. Da Kates Mutter nach der Geburt ihrer Tochter keine Kinder mehr bekommen konnte, hatte er bereits zwei Wochen nach ihrem Tod erneut geheiratet – so stark war sein Wunsch, sich fortzupflanzen.

Vermutlich hatte er gehofft, Mariana werde so fruchtbar sein wie jetzt ihre Tochter. Aber er war gestorben, bevor er davon Gebrauch machen konnte.

»Du bittest mich also darum, den Prinzen zu besuchen und ihm vorzuspielen, ich sei Victoria«, sagte Kate.

»Ich bitte dich nicht darum«, gab Mariana ihr zu verstehen. »Sondern ich befehle es.«

»Ach, Mutter«, sagte Victoria. »Bitte, Kate. Bitte. Ich will Algie heiraten. Und ich muss unbedingt … ich habe das nicht richtig begriffen, und … nun ja …« Sie strich ihr Kleid glatt. »Ich will nicht, dass alle von dem Baby wissen. Und Algie auch nicht.«

Natürlich war Victoria zunächst nicht klar gewesen, dass sie in anderen Umständen war. Kate hätte es bereits erstaunt, wenn ihre Stiefschwester den dazu notwendigen Akt verstanden hätte, von seinen Folgen gar nicht zu reden.

»Du wirst mich darum bitten«, sagte Kate mit Nachdruck zu ihrer Stiefmutter. »Denn du kannst mich zwar dazu zwingen, neben Lord Dimsdale in der Kutsche Platz zu nehmen, aber du hast keinen Einfluss darauf, was ich zu diesem Prinzen sage, sobald ich ihm begegne.«

Mariana knirschte mit den Zähnen.

»Noch wichtiger«, fuhr Kate fort, »ist der Umstand, dass Victoria vor wenigen Monaten auf recht aufsehenerregende Weise in die Gesellschaft eingeführt worden ist. Also werden einige der Ballbesucher sie bereits kennengelernt oder immerhin gesehen haben.«

»Darum schicke ich ja dich anstelle irgendeines Mädchens, das ich von der Straße aufgelesen habe«, verkündete Mariana mit der ihr eigenen Höflichkeit.

»Du wirst auch meine Hunde mitnehmen«, sagte Victoria. »Die haben mich ja berühmt gemacht, und deshalb wird jeder dich für mich halten.« Doch dann fiel ihr etwas ein, und eine große Träne rann über ihre Wange. »Obwohl Mutter sagt, dass ich sie nicht behalten darf.«

»Allem Anschein nach befinden sie sich jetzt in meiner Schlafkammer«, sagte Kate.

»Sie gehören nun dir«, erklärte Mariana. »Zumindest für die Dauer des Besuchs. Danach werden wir sie …« Nach einem Blick auf ihre Tochter brach sie mitten im Satz ab. »Wir werden sie armen Waisenkindern schenken.«

»Die kleinen Knirpse werden sie lieben«, sagte Victoria rührselig. Offenbar kam es ihr gar nicht in den Sinn, dass die armen Waisen von bissigen Schoßtieren vielleicht nicht allzu begeistert wären.

»Und wer wird mich als Anstandsdame begleiten?«, fragte Kate, um nicht mehr über Victorias Ratten sprechen zu müssen.

»Du brauchst keine«, beschied ihr Mariana. »Du bist ja sonst auch immer auf eigene Faust in der ganzen Grafschaft unterwegs.«

»Wie schade, dass ich nie mit Victoria unterwegs war«, konterte Kate. »Ich hätte schon darauf geachtet, dass Dimsdale sie nicht wie eine gewöhnliche Dirne behandelte.«

»Dass du auf deine Tugend achtgeben kannst, weiß ich!«, fauchte Mariana. »Wenn du glaubst, dass das nötig ist … Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass Lord Dimsdale danach trachtet, dir deine kostbare Unschuld zu rauben – dazu ist er viel zu sehr in Victoria verliebt.«

»Ja, das stimmt«, schniefte Victoria. »Und ich liebe ihn auch sehr.« Eine weitere Träne rann ihre Wange hinab.

Kate seufzte. »Wenn ich als Victoria auftrete, dann ist es skandalös, allein mit Dimsdale in einer Kutsche zu fahren, und dieser Skandal wird nicht an mir haften bleiben, sondern an Victoria. Kurz gesagt, kein Mensch wird überrascht sein, wenn ihr Kind schon allzu bald nach der Hochzeit geboren wird.«

Einen Moment herrschte Schweigen. »Na schön«, sagte Mariana schließlich. »Ich hätte Victoria natürlich begleitet, aber ich kann sie in ihrem Zustand nicht allein lassen. Du kannst Rosalie mitnehmen.«

»Eine Zofe? Du gibst mir eine Zofe als Anstandsdame mit?«

»Was soll daran falsch sein?«, herrschte Mariana sie an. »Sie kann zwischen euch sitzen, falls du den Kopf verlierst und dich auf Lord Dimsdale stürzt. Außerdem kannst du natürlich auch die Zofe der Ratten mitnehmen.«

»Victorias Hunde haben ihre eigene Zofe?«

»Mary, das Hausmädchen«, sagte Victoria. »Sie macht die Kamine sauber, aber sie badet die Kleinen auch jeden Tag und bürstet sie. Denn Haustiere«, fügte sie ganz ernsthaft hinzu, »sind eine große Verantwortung.«

»Ich werde Mary ganz gewiss nicht mitnehmen«, stellte Kate klar. »Wie in aller Welt soll Mrs Swallow ohne sie zurechtkommen?«

Mariana zuckte nur die Achseln.

»Das kann nicht klappen«, sagte Kate im Versuch, das Gespräch in vernünftige Bahnen zu lenken. »Wir sehen uns nicht einmal ähnlich.«

»Natürlich tut ihr das!«, fauchte Mariana.

»Also, eigentlich sehen wir uns wirklich nicht ähnlich«, gab Victoria zu. »Ich – also, ich sehe wie ich aus, und Kate sieht … also …« Vor Unsicherheit verhaspelte sie sich.

»Victoria versucht damit auszudrücken, dass sie außergewöhnlich schön ist«, sagte Kate, deren Herz sich wie ein kleiner Stein in der Brust anfühlte, »und ich eben nicht. Das und die Tatsache, dass wir nur durch Heirat Stiefschwestern sind, führt dazu, dass wir einander nicht ähnlicher sehen als zwei ganz beliebige Engländerinnen.«

»Ihr habt die gleiche Haarfarbe«, sagte Mariana und nahm einen Zug von ihrem Zigarillo.

»Wirklich?«, meinte Victoria zweifelnd.

Im Grunde hatte Mariana sogar recht. Aber Victoria besaß geschmeidige Locken, die sich anmutig um ihren Kopf ringelten. Sie war nach der neuesten Mode frisiert und trug ein feines Haarband. Kate bürstete sich morgens die Haare, drehte sie zu einem Knoten und steckte ihn am Kopf fest. Sie hatte keine Zeit für sorgfältige Haarpflege – oder Körperpflege überhaupt.

»Du bist ja verrückt.« Kate starrte ihre Stiefmutter an. »Du kannst mich unmöglich für deine Tochter ausgeben.«

Victoria hatte vor angestrengtem Nachdenken die Stirn in Falten gelegt. »Ich fürchte, da hat sie recht, Mutter. Ich habe einfach nicht richtig nachgedacht.«

Mariana machte die Augen schmal, was, wie Kate aus langer Erfahrung wusste, auf einen drohenden Wutausbruch hindeutete. Doch im Moment begriff sie nicht, was genau Mariana so zornig machte.

»Kate ist größer als ich«, begann Victoria und zählte die Gründe an den Fingern ab. »Ihr Haar ist ein wenig blonder und überdies länger, und wir sehen ganz verschieden aus. Selbst wenn sie meine Kleider anzöge …«

»Sie ist deine Schwester«, sagte Mariana schmallippig.

»Sie ist meine Stiefschwester«, sagte Kate geduldig. »Dass du meinen Vater geheiratet hast, macht uns nicht zu Blutsverwandten, und dein erster Mann …«

»Sie ist deine Schwester.«

2

Schloss Pomeroy

Lancashire

»Euer Hoheit.«

Der Prinz, dessen voller Name Gabriel Friedrich-Albrecht Wilhelm von Aschenberg zu Warl-Marburg-Baalsfeld lautete, schaute zu seinem Majordomus Berwick auf, der ein Tablett in der Hand hielt. »Dieses Unguentarium besteht nur noch aus Scherben, Wick. Sag rasch, was du auf dem Herzen hast.«

»Unguentarium«, wiederholte Wick widerwillig. »Das klingt wie ein schlüpfriges Etwas, das man in Paris erwirbt. In gewissen Vierteln«, setzte er hinzu.

»Verschone mich mit deiner Wortklauberei«, sagte Gabriel. »Dieses spezielle Gefäß war für die Toten bestimmt, nicht für die Lebenden. Es hat einst sechs kleine Knochen enthalten, mit denen man das Knöchelspiel spielen konnte, und wurde in einem Kindergrab gefunden.«

Wick beugte sich vor und betrachtete die Tonscherben, die auf dem Tisch verstreut lagen. »Und wo sind die Knöchelchen?«

»Dieser Dummkopf Biggitstiff hat sie fortgeworfen. Ebenso wie dieses kleine Gefäß, denn das verstorbene Kind ist arm gewesen, und Biggitstiff ist nur daran interessiert, die Gräber von Königen zu plündern. Ich versuche gerade herauszufinden, wie der Deckel – den ich nicht habe – daran befestigt gewesen ist. Ich glaube, an diesen beiden Teilen haben einmal Bronzenieten gesessen.« Er wies auf die entsprechenden Scherben. »Und die Nieten sind mindestens einmal repariert worden, bevor das Unguentarium als Beigabe ins Grab gelegt wurde, verstehst du?«

Wick schaute die Scherben an. »Muss wohl noch einmal repariert werden. Warum machst du dir die Mühe?«

»Die Eltern des Kindes konnten ihm nichts weiter in die Unterwelt mitgeben als sein Knöchelspiel«, erklärte Gabriel und nahm sein Vergrößerungsglas zur Hand. »Warum sollte diese Grabbeigabe nicht ebensolche Wertschätzung erfahren wie das Talmigold, auf das Biggitstiff so versessen ist?«

»Wir haben eine Nachricht von Prinzessin Tatianas Gesandtschaft erhalten«, sagte Wick, der offensichtlich Gabriels Beurteilung des Knöchelspiels akzeptierte. »Sie befindet sich zurzeit in Belgien und wird pünktlich eintreffen. Wir haben zweihundert Zusagen für den Verlobungsball, unter anderem die deines Neffen Algernon Bennett, Lord Dimsdale. Soweit ich gehört habe, beabsichtigt der Viscount sogar noch vor dem Ball einzutreffen.«

»Und bringt er das Goldene Vlies mit?« Gabriels Neffe, an den er sich vage als einen Jungen mit dickem Hintern erinnerte, hatte sich mit einer der reichsten Erbinnen Englands verlobt.

»Seine Lordschaft reist in Begleitung seiner Verlobten, Miss Victoria Daltry, an«, berichtete Wick nach einem Blick auf seine Liste.

»Es ist kaum zu fassen, dass Dimsdale solch ein Weib errungen hat. Vielleicht hat sie Sommersprossen oder schielt«, bemerkte Gabriel und legte die Tonscherben sorgfältig aneinander, um zu bestimmen, wo die Nieten angebracht gewesen waren.

Wick schüttelte den Kopf. »Als Miss Daltry letzten Frühling in die Gesellschaft eingeführt wurde, galt sie als eine der schönsten Frauen auf dem Heiratsmarkt.« Sie waren erst seit wenigen Monaten in England, doch Wick hatte sich bereits einen guten Überblick über den Klatsch in Adelskreisen verschafft. »Und dass sie in ihren Verlobten schier vernarrt ist, war nicht zu übersehen«, fügte er hinzu.

»Noch kennt sie mich nicht«, sagte Gabriel lässig. »Vielleicht sollte ich sie ihm ausspannen, bevor meine Braut eintrifft. Ein englisches Goldenes Vlies statt eines russischen. Ich spreche ja auch weitaus besser Englisch als Russisch.«

Wick schwieg, doch er musterte Gabriel betont langsam von Kopf bis Fuß. Gabriel wusste genau, was er sah: schwarzes Haar, vom spitzen Ansatz zurückgekämmt, teuflisch geschwungene Augenbrauen, die manchen Damen Angst einjagten, sowie ein Bartschatten, der niemals ganz verschwand. Ein gewisses Etwas in seiner Miene erschreckte sanfte Frauen, die gern kuschelten und sein Haar nach der Liebe um ihre Finger wickelten.

»Natürlich könntest du es versuchen«, lautete Wicks trockener Kommentar. »Aber ich stelle mir vor, dass du genug damit zu tun haben wirst, deine eigene Braut zu bezaubern.«

Nicht gerade die beste seiner Beleidigungen, aber schon ganz gut.

»Bei dir klingt es so, als ob Tatiana bei meinem Anblick schreiend das Weite suchen würde.« Gabriel wusste nur zu gut, dass das wilde Funkeln in seinen Augen Frauen verscheuchte, die es gewohnt waren, Männer als Schoßhündchen zu betrachten. Trotzdem hatte noch jede Frau, der er begegnet war, mit verzücktem Augenaufschlag auf seine edle Abstammung reagiert. Jede Frau sehnte sich nach einem Prinzen – und war ihm oft genug zu Willen.

Doch nun musste er zum ersten Mal versuchen, eine künftige Ehefrau zu bezaubern, und nicht eine Geliebte. Es würde gewiss schwerer fallen, da Frauen Angelegenheiten der Ehe ernster nahmen als gelegentliche Liebesnächte.

Ein Kraftwort ging ihm durch den Kopf, erstarb jedoch, bevor er es aussprechen konnte. Gabriel widmete sich wieder dem kleinen Gefäß auf seinem Tisch. »Vielleicht ist es ja mein Glück, dass meine Verlobte in dieser Sache ebenso wenig zu bestimmen hat wie ich.«

Wick verneigte sich. Er ging so leise, wie er gekommen war.

3

Yarrow House

Einen Moment lang herrschte kühles Schweigen im Zimmer. Es war wie die Stille nach einem Schuss.

Selbst Victoria sagte nichts. Kate schaute ihr kurz in die sanften, verwirrten Augen und erkannte, dass sie die Enthüllung ihrer Mutter gar nicht begriffen hatte.

»Victoria ist meine Schwester«, wiederholte Kate tonlos.

»Ja, und deshalb tust du verdammt noch mal, was ich dir sage. Du reist an ihrer Stelle und sorgst dafür, dass sie heiraten kann, bevor ihr Ruf ruiniert ist. Weil sie deine Schwester ist!«

Kate durchströmte eine Welle der Erleichterung. Sie musste Mariana missverstanden haben, sie hatte nur gemeint, dass …

»Sie ist deine Halbschwester«, fügte Mariana krächzend hinzu.

»Aber … sie ist doch …« Kate wandte sich an Victoria. »Wie alt bist du?«

»Das weißt du doch«, erwiderte Victoria und schniefte, während sie ihre Unterlippe rieb. »Ich bin fast genau fünf Jahre jünger als du.«

»Du bist achtzehn«, sagte Kate. Ihr Herz hämmerte in der Brust.

»Und du reife dreiundzwanzig«, sagte Mariana liebenswürdig. »Oder vielleicht schon vierundzwanzig. In deinem Alter vergisst man das leicht.«

»Aber dein Mann, der Oberst …«

Mariana zuckte lediglich die Achseln.

Kate stellte fest, dass ihr das Atmen schwerfiel. Sie hatte das Gefühl, ihr ganzes bisheriges Leben werde vor ihr ausgebreitet. Fragen tauchten auf, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie stellen wollte. Der Schock, als ihr Vater heimgekommen war, gerade einmal zwei Wochen nach Mutters Beerdigung, und ihr sagte, dass er mithilfe einer Sondergenehmigung eine neue Ehe eingehen werde.

Während all der Jahre hatte ihre Mutter im Bett gelegen, und ihr Vater hatte nur ab und an den Kopf zur Tür hereingesteckt und ihr eine Kusshand zugeworfen. Aber am Bett seiner Frau hatte er nie gesessen.

Denn ganz offensichtlich hatte er sich davongeschlichen, um stattdessen bei Mariana zu sitzen!

»Ich komme nicht ganz mit«, gestand Victoria und ihre Blicke gingen zwischen ihnen hin und her. »Weinst du etwa, Kate?«

Kate zuckte zusammen. Seit Vaters Beerdigung hatte sie nicht mehr geweint. »Natürlich nicht!«, fauchte sie.

Wieder herrschte ungemütliches Schweigen.

»Möchtest du uns nicht erleuchten …?«, wandte sich Kate schließlich an ihre Stiefmutter. »Auf die Einzelheiten bin ich sehr gespannt.«

»Die Einzelheiten gehen dich überhaupt nichts an«, stellte Mariana klar. Dann wandte sie sich an Victoria. »Liebling, du erinnerst dich doch, dass uns der liebe Victor oft besucht hat – noch bevor wir in diesem Haus wohnten?«

Victor! Kate war nie der Gedanke gekommen, dass der Name ihres Vaters mit dem ihrer Stiefschwester zu tun haben könnte.

»Ja«, nickte Victoria eifrig. »Das stimmt.«

»Das lag daran, dass deine Mutter seine Mätresse war«, erklärte Kate kühl. »Mir wird allmählich klar, dass er euer Haus mindestens elf Jahre lang besucht haben muss, die ganze Zeit, während Mutter krank war. Hat es überhaupt einen Oberst gegeben? Ist Victoria vielleicht ein uneheliches Kind?«, fragte sie Mariana.

»Das spielt wohl kaum eine Rolle«, gab diese ihr kühl zu verstehen. »Ich habe sie gut versorgt.«

Weiß Gott, das hatte sie. Kates wohlmeinender, aber irregeleiteter Vater hatte seiner Frau sein gesamtes Vermögen hinterlassen … und Mariana hatte es in eine ansehnliche Mitgift für Victoria umgewandelt, statt mehr Geld in die Ländereien zu stecken. Alles, alles gehörte jetzt Victoria.

Die nicht nur schwanger, sondern zudem unverheiratet war. Man musste wohl annehmen, dass der Oberst, Marianas erster Ehemann, eine reine Erfindung war.

Mariana erhob sich und drückte ihren Zigarillo auf einem Teller aus, der bereits vor Stummeln überquoll. »Ich finde es erschütternd, dass ihr beide nicht aufgesprungen seid und euch in mädchenhaftem Überschwang umarmt habt. Aber sei’s drum. Ich will mich kurz fassen: Du, Katherine, wirst nach Schloss Pomeroy fahren, weil deine Schwester ein Kind erwartet und für ihre Heirat die Erlaubnis des Prinzen benötigt. Du wirst dich wie deine Schwester kleiden, du wirst diese verdammten Promenadenmischungen mit dir nehmen und dafür sorgen, dass alles nach Plan verläuft.«

Mariana sah müder und angespannter aus denn je.

»Wenn ich das für euch tue, wirst du im Gegenzug den Crabtrees ihr Cottage lassen«, bestimmte Kate mit Nachdruck.

Die Stiefmutter zuckte nur die Achseln. Es war ihr ohnehin vollkommen gleichgültig, wie Kate nun erkannte. Sie hatte die Crabtrees nur als letztes Druckmittel einsetzen wollen, falls der Appell an die Blutsverwandtschaft nicht fruchtete.

»Ich habe den Friseur bestellt, der sonst Victoria die Haare schneidet«, verkündete Mariana aufgeräumt. »Er kommt morgen früh und wird dir diese Fransen vom Kopf scheren. Außerdem kommen drei Schneiderinnen. Wir müssen mindestens zwanzig Kleider ändern lassen.«

»Du wirst nämlich drei oder vier Tage auf dem Schloss verbringen«, warf Victoria erklärend ein.

Sie stand auf, und nun sah Kate zum ersten Mal, dass sie ein Kind erwartete. Ihre Bewegungen waren ein wenig schwerfällig.

»Es tut mir leid.« Victoria blieb vor Kate stehen.

»Es gibt nichts, was dir leidtun müsste!«, rief Mariana sofort.

»Aber ja doch!«, beharrte ihre Tochter. »Es tut mir leid, dass dein Vater so war, wie er war. Es tut mir nicht leid, dass er Mutter geheiratet hat, aber ich … es tut mir einfach alles so leid. Was du jetzt von ihm halten musst!«

Kate wollte nicht an ihren Vater denken. Seit seinem Tod vor sieben Jahren hatte sie versucht, jeden Gedanken an ihn zu verdrängen. Es war zu schmerzlich, sich an sein Lachen zu erinnern oder an die Geschichten, die er über London zu erzählen pflegte, wenn er am Kamin stand und die Flammen sich in seinem Weinglas spiegelten.

Und jetzt bestand ein vollkommen neuer Grund, nicht an ihn zu denken.

Höflich erwiderte sie Victorias Umarmung, dann löste sie sich von der Schwester und wandte sich wieder an Mariana. »Und warum muss ich heute Abend beim Dinner erscheinen?«

»Weil Lord Dimsdale nicht glauben will, dass die Ähnlichkeit groß genug ist, um jemanden zu täuschen, der deine Schwester bereits kennt.«

»Aber mein Haar …«

»Es liegt nicht an deinen Haaren«, sagte die Stiefmutter. »Wir stecken dich in ein anständiges Kleid, dann wirst du schon sehen, wie ähnlich ihr euch seid. Victoria ist berühmt für ihre Schönheit, ihre Hunde und ihre gläsernen Schuhe. Und solange du deine lose Zunge im Zaum hältst, kannst du ihre Rolle ohne Weiteres spielen.«

»Was in aller Welt sind denn gläserne Schuhe?«, fragte Kate.

»Oh, sie sind fantastisch!«, rief Victoria und klatschte begeistert in die Hände. »Ich habe sie in dieser Saison in Mode gebracht, und seitdem haben alle angefangen, sie zu tragen!«

»Ihr habt ungefähr die gleiche Schuhgröße«, sagte Mariana. »Sie werden also passen.«

Kate sah an ihrem groben grauen Kleid herab, dann sah sie ihre Stiefmutter scharf an. »Was hättest du eigentlich getan, wenn Vater noch lebte? Wenn ich zur rechten Zeit in die Gesellschaft eingeführt worden wäre und die Leute die Ähnlichkeit zwischen Victoria und mir erkannt hätten?«

»Darüber habe ich mir nie Sorgen gemacht«, meinte Mariana mit ihrem typischen Achselzucken.

»Warum nicht? Hätte nicht das Risiko bestanden, dass man uns zusammen gesehen und alles erraten hätte?«

»Victoria ist fünf Jahre jünger als du. Ich hätte sie im Schulzimmer gehalten, bis du verheiratet gewesen wärest.«

»Vielleicht hätte ich keinen Erfolg auf dem Heiratsmarkt gehabt. Vielleicht hätte ich keinen Mann gefunden. Vielleicht wäre Vater …«

Ein Lächeln hob Marianas Mundwinkel. »Oh, du hättest schon Erfolg gehabt. Schaust du eigentlich nie in den Spiegel?«

Kate starrte sie ungläubig an. Natürlich schaute sie in den Spiegel. Darin erblickte sie ihre kantigen Gesichtszüge und nicht Victorias umflorte Augen, weiche Locken oder deren bezauberndes Lächeln, weil sie eben nichts davon besaß.

»Du bist eine verdammte Närrin«, sagte Mariana. Sie streckte die Hand nach dem Zigarillokästchen aus, ließ sie jedoch wieder sinken. »Ich rauche zu viel, und das ist ganz allein deine Schuld. Sieh um Himmels willen zu, dass du bis heute Abend um acht ein anständiges Kleid trägst. Vielleicht solltest du sofort Victorias Zofe herzitieren. Denn in dem Lumpen, den du da trägst, kannst du nicht mal den Kamin kehren.«

»Ich will aber nicht, dass Algie meine Lippe sieht«, schniefte Victoria.

»Ich werde Cherryderry anweisen, nur einen Kerzenleuchter auf die Tafel zu stellen«, sagte ihre Mutter beschwichtigend. »Dimsdale wird nicht mal eine der Ratten sehen können, wenn sie vor ihm auf den Teller hüpft.«

Womit wir wieder bei den Ratten wären, was nur zu gut passt, denn mit ihnen hat die Geschichte ja angefangen.

4

Kate wusste recht gut, dass die Hausangestellten auf ihrer Seite waren. Wie sollte es auch anders sein? Gutes Dienstpersonal war darin geschult, feinen Herrschaften zu dienen und nicht den Angehörigen der eigenen Klasse. Und ganz offensichtlich hatten sie immer schon gespürt, dass Mariana nicht aus vornehmem Hause stammte. Kate hatte immer gedacht, ihre Stiefmutter stamme aus einer Kaufmannsfamilie und sei nur durch die Heirat mit dem Obersten in bessere Kreise aufgestiegen. Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass Mariana …

… eine gefallene Frau gewesen sein könnte. Die Geliebte ihres Vaters. Eine Hure, mit anderen Worten.

Kein Wunder, dass die arme Victoria schwanger geworden war. Ihre Mutter war wohl kaum dazu geeignet, ihr ein Vorbild zu sein.

Wenn sie an die bevorstehende Reise dachte, war ihr unwohl zumute. Sie besaß nicht den nötigen gesellschaftlichen Feinschliff. Kate war zwölf gewesen, als ihre Mutter bettlägerig wurde, und sechzehn, als sie starb und der Vater eine neue Ehe einging. Zwar hatte sie gelernt, in welcher Reihenfolge das Tischbesteck zu benutzen war, doch die feineren Nuancen gesitteten Benehmens hatte sie nie richtig erlernt.

Sie hatte zwar ein Jahr lang Tanzunterricht genommen, doch mittlerweile kam es ihr so vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Gab es nicht gewisse Regeln, wie man sich beim Gespräch mit einem Prinzen verhielt? Musste man das Zimmer rückwärtsgehend verlassen? Oder galt diese Vorschrift nur bei Königen und Königinnen?

Sie fand Victorias Zofe Rosalie in Victorias Ankleidezimmer. Eigentlich sollte dieses Gemach ein Gästezimmer werden, doch als Victoria immer mehr Kleider anhäufte und es an Besuchern mangelte, war es kurzerhand zur Garderobe erklärt worden.

Kate sah sich neugierig in dem Zimmer um. Die Wände waren mit Kirschholzschränken zugestellt und diese wiederum mit Kleidern vollgestopft. Spitzenrüschen und bestickte Stoffe quollen aus halb offenen Schubladen. Im Zimmer roch es nach Rosen und frischer Wäsche.

»Cherryderry hat mir von dem Dinner erzählt und von den Schneiderinnen, die morgen kommen«, bemerkte Rosalie, »und ich habe schon alle Kleider von Miss Victoria durchgesehen.«

Keine leichte Aufgabe, da Victoria anderthalb Mal so viele Kleider besaß wie Mariana, wenn auch besser aufgeräumt.

»Ich finde, Sie sollten heute Abend dieses Kleid anziehen, weil wir nur am Mieder ein wenig ändern müssen.«

Sie hielt ein blassrosa Seidenkleid in die Höhe. Es war nicht besonders tief ausgeschnitten, saß jedoch am Busen eng. Darunter war der Überrock gefältelt und zurückgeschlagen, sodass man das Futter in einem dunkleren Rosaton sehen konnte.

Kate strich mit einem Finger über das Kleid. Ihr Vater war gestorben, bevor sie Gelegenheit hatte, Modistinnen aufzusuchen, um die angemessene Garderobe für ihr Debüt zusammenzustellen. Von Trauerschwarz war sie direkt zu robusten Leinenstoffen übergegangen, die ihre veränderte Position im Haus nur zu deutlich anzeigten.

»Couleur de rosette«, sagte Rosalie andächtig. »Ganz wunderbar zu Ihrem Haar. Und Sie brauchen auch kein Korsett, weil Sie so schlank sind.«

Sie fing an, Kates Kleid aufzuknöpfen, doch diese schob die Hände der Zofe fort.

»Bitte erlauben Sie …«, setzte Rosalie an.

Doch Kate schüttelte den Kopf. »Ich kleide mich seit Jahren selber an, Rosalie. Du darfst mir mit dem Kleid helfen, aber ausziehen kann ich mich allein.« Und sie tat es und stand dann in einer sehr alten Chemise vor der Zofe. Kate besaß zwar ein Korsett, trug es aber nie, da es beim Reiten zu unbequem war.

Rosalie sagte nichts, sondern starrte nur stumm auf das alte Unterkleid, das Kate nicht sehr geschickt gestopft hatte. Sie vermerkte auch, dass es zu kurz war. »Mr Daltry …«, begann sie und brach ab.

»Würde sich im Grabe umdrehen, ich weiß«, sagte Kate. »Lass uns weitermachen, Rosalie.«

Die Zofe begann also, die Nadeln aus Kates Haar zu ziehen, wobei sie mit der Zunge schnalzte, als würde sie Pennys zählen. »Ich hätte nie gedacht, dass Sie so dichtes Haar haben!«, sagte sie, als endlich alle Haarnadeln entfernt waren.

»Ich mag mein Haar nicht offen tragen«, erklärte Kate. »Es stört mich beim Arbeiten.«

»Sie sollten auch nicht arbeiten!«, rief Rosalie empört. »Das ist einfach Unrecht, das ist es, und dann tragen Sie obendrein eine Chemise, die aussieht wie ein Spültuch. Davon habe ich gar nichts gewusst!« Sie warf die Haarbürste hin und zog eine große Schublade auf, in der stapelweise schneeweiße Chemisen lagen.

Rosalie nahm eine heraus. »Miss Victoria wird’s nicht einmal merken, aber es würde ihr auch nichts ausmachen, sie ist ja nicht wie ihre Mutter. Sie trägt gern Seiden-Chemisen«, fuhr die Zofe fort, zog Kate das alte Unterkleid über den Kopf und warf es achtlos auf den Boden. »Ich selber mag ja richtige Baumwolle lieber, denn wenn man schwitzt, macht das auf Seide so hässliche Flecken. Aber bei Ihnen ist das was anderes: Sie müssen auch unten drunter anständig gekleidet sein, sonst sind Sie keine richtig feine Dame.«

Die Chemise hüllte Kate ein wie eine durchsichtige Wolke. Sie war mit zartester Spitze besetzt.

Wäre der Vater nicht so früh verstorben, und wäre sie in die Gesellschaft eingeführt worden, dann würde sie nur solche Unterkleider tragen und keine ausgefransten, alten Hemden in nüchternem Grau und Blau, die ihr das Aussehen einer verarmten Verwandten verliehen.

Die Mutter hatte ihr eine spärliche Mitgift hinterlassen, doch das spielte keine Rolle, da sie ohnehin keine heiratsfähigen jungen Männer kennenlernte. Seit Jahren nahm sie sich vor, das väterliche Haus zu verlassen und nach London zu gehen, um Arbeit als Hauslehrerin zu finden … kurz, zu fliehen. Doch dann hätte sie die Pächter und die Dienerschaft Marianas willkürlicher und herzloser Aufsicht überlassen müssen.

Also war sie geblieben.

Eine Stunde später war Kates Haar gelockt und auf eine Art frisiert, die annähernd der Victorias entsprach. Auf ihrem Gesicht lag eine Schicht Reispuder, um die zarte rosige Haut ihrer Schwester nachzuempfinden. Kate war förmlich in Rosa gebadet, ihre Lippen in einem passenden Farbton geschminkt.

Sie stand vor dem Spiegel und versuchte, Ähnlichkeit mit ihrer Schwester zu entdecken. Dann würde auch sie als umwerfende Schönheit gerühmt werden.

Aber sie konnte keinerlei Übereinstimmung feststellen. Ihre Gestalt war zu eckig, und das Kleid hing auf seltsame Weise von ihren Schultern herab.

Rosalie zupfte an einem Ärmel herum, ohne am Sitz des Kleides etwas verbessern zu können. »Sie sind breiter in den Schultern als Miss Victoria«, bemerkte sie.

Kate betrachtete ihre Arme und wusste sogleich, worin das Problem lag. Sie verbrachte täglich zwei bis drei Stunden im Sattel und versuchte, den Besitz so in Schuss zu halten, wie es der Gutsverwalter ihres Vaters getan hatte, bevor Mariana ihn vor die Tür setzte. Ihre Arme waren kräftig und von der Sonne gebräunt. Sie glaubte nicht, dass andere junge Damen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten.

Überdies traten ihre Wangenknochen zu weit hervor, und ihre Augenbrauen waren zu kräftig. »Ich sehe Victoria kein bisschen ähnlich«, murmelte sie niedergeschlagen. Sie hatte die leise Hoffnung gehegt, dass Kleider der neuesten Mode aus ihr eine Schönheit machen würden, eine Frau, die von der feinen Gesellschaft als kostbarer Edelstein bezeichnet werden würde.

Doch sie glich eher einem Feuerstein. Sie sah aus – wie Kate.

»Das ist nicht Ihr Stil«, gab Rosalie zu. »Rosa war keine gute Idee. Sie brauchen etwas Kräftigeres, eine starke Farbe.«

»Du weißt vermutlich, warum ich wie Victoria aussehen soll?« Kate war sich bewusst, dass Cherryderry ihr nach oben gefolgt war und nun vor dem Zimmer Posten bezogen hatte, um ihr Gespräch zu belauschen.

Rosalie schürzte züchtig die Lippen. »Hoffentlich ist es nichts, was ich nicht wissen darf.«

»Ich soll Lord Dimsdale zu einem Besuch auf Schloss Pomeroy begleiten und dort alle glauben machen, ich sei Victoria.«

Die beiden Augenpaare trafen sich im Spiegel.

»Aber es geht nicht«, sagte Kate ergeben. »Sie ist eben zu schön.«

»Sie sind auch schön«, beharrte Rosalie. »Aber auf eine andere Art.«

»Mein Mund ist zu groß, und wann bin ich eigentlich so dünn geworden?«

»Seit Ihr Vater gestorben ist, und Sie die Arbeit von zehn Leuten tun. Miss Victoria, Gott schütze sie, ist so weich wie ein Kissen, aber wie sollte es auch anders sein, nicht wahr?«

Kate beäugte den Stoff, der sich über ihre Brust bauschte. Oder vielmehr an der Stelle, wo ihre Brust sein sollte. »Können wir nicht irgendetwas an meiner Brust ändern, Rosalie? In diesem Kleid habe ich gar keine.«

Rosalie zupfte an dem Stoff herum. »Sie haben einen hübschen kleinen Busen, Miss Kate. Machen Sie sich mal keine Sorgen. An diesem Kleid kann ich nicht viel ändern, aber wir finden schon ein anderes, das Ihnen besser passt. Zum Glück hat Miss Victoria mehr Kleider in diesem Zimmer als eine Modistin, nachdem sie ein Jahr lang fleißig genäht hat.« Und flugs stopfte sie zwei zusammengerollte Strümpfe vorn in Kates Chemise, um ihre Aufmachung zu vollenden.

Es war schon merkwürdig, dass sie ähnliche Gesichtszüge besaßen und dennoch so grundverschieden aussahen. Natürlich war Kate fünf Jahre älter. Doch so berüscht und gelockt und herausgeputzt sah sie wie eine verzweifelte alternde Jungfer aus.

Panik war eine ganz neue Erfahrung für sie. Da Kate nie wirklich Gelegenheit gehabt hatte, sich wie eine Dame zu kleiden, hatte sie beinahe vergessen, dass sie bald nicht mehr im heiratsfähigen Alter sein würde.

In wenigen Wochen würde sie vierundzwanzig sein, und sie kam sich schon jetzt wie eine alte Matrone vor.

Warum war ihr nicht aufgefallen, dass sie nicht mehr drall und bezaubernd und begehrenswert war? Wann war die Bitterkeit eingedrungen und hatte das junge Mädchen von einst dahingerafft?

»Das wird niemals klappen«, schloss sie. »Ich habe nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer jungen Debütantin, die die Gesellschaft im Sturm erobert.«

»Es ist immer eine Frage der richtigen Kleider«, sagte die unerschütterliche Rosalie. »Dieses Kleid ist einfach unvorteilhaft, Miss. Aber ich finde schon ein besseres für Sie.«

Kate konnte darauf nur nicken. Sie hatte gedacht …

Nun ja, viel daran gedacht hatte sie nicht. Aber sie hatte immer geglaubt, sie würde eines Tages heiraten und Kinder haben.

Panik schnürte ihr die Kehle zusammen. Was, wenn sie bereits zu alt war? Was, wenn sie niemals …

Sie würgte den Gedanken ab.

Den Besuch im Schloss würde sie Victoria zuliebe machen, nur um ihrer neu gewonnenen Schwester einen Gefallen zu tun. Danach würde sie das Haus verlassen, nach London gehen und ihr bescheidenes Erbe, die Mitgift ihrer Mutter, dazu benutzen, eine Heiratserlaubnis zu erwerben.

Das taten Frauen schon seit Jahren, warum also nicht auch sie?

Kate straffte ihre Schultern. Seit Vater gestorben war, wusste sie, was Demütigung bedeutete: Wenn man bei zufälligen Treffen mit Bekannten seine Hände verbarg, seine wund gearbeiteten Finger. Wenn man seine Stiefel an die Flanken des Pferdes drückte, damit niemand die abgescheuerten Stellen sah. Wenn man stets so tun musste, als habe man seinen Hut zu Hause vergessen.

Und dies hier war lediglich eine neue Form der Demütigung: wie ein Schaf hergerichtet zu werden, während man sich wie ein Hammel vorkam. Doch sie würde auch das überstehen.

5

Als Kate Stunden später ihre Kammer aufsuchte, war sie völlig erschöpft. Frühmorgens um fünf aufgestanden, drei Stunden lang die Bücher geführt, um acht dann im Sattel gesessen – von der psychischen Belastung durch die reizenden Enthüllungen des Tages gar nicht zu reden. Beim Dinner war Mariana sogar dem Viscount gegenüber schnippisch geworden, und Victoria hatte während der drei Gänge leise vor sich hin geweint.

Und nun warteten die Hunde – die »Ratten« – auf sie. Sie saßen in einem Halbkreis um sie herum und schauten erwartungsvoll zu ihr hoch.

Es gab kein modischeres Accessoire als einen kleinen Hund, und Victoria und Mariana hatten, getreu ihrem Grundsatz, dass dreiundzwanzig Ballkleider besser waren als gar keines, nicht ein Hündchen gekauft, sondern gleich drei.

Drei kleine, kläffende Malteser mit seidigem Fell.

Sie waren kleiner als die meisten Katzen. Und allzu glatt und gepflegt, fand Kate. Für sie käme nur ein Hund mit Hängeohren und grinsenden Lefzen infrage, ein Hund von der Art, die sie auf ihren Ritten an den Cottages von Marianas Ländereien begrüßten. Und zwar mit Gebell und nicht mit Gekläff.

Doch dass Victorias Hunde kläfften, konnte man im Augenblick nicht behaupten. Als Kate das Zimmer betreten hatte, waren sie lediglich aufgesprungen und schwanzwedelnd um ihre Beine gestrichen. Entweder fühlten sie sich einsam, denn vor dem Vorfall mit dem Biss waren sie stets bei Victoria gewesen, oder … sie mussten mal hinaus. Wenn sie doch nur eine Klingel in ihrer Kammer hätte … aber Menschen ihres Standes durften ja nicht die Diener bemühen.

»Dann muss ich«, sagte Kate zögernd, eingedenk der vielen Treppen und ihrer müden Beine, »euch wohl selber hinausführen.« Im Grunde sollte sie den Hunden dankbar dafür sein, dass sie nicht in ihr Zimmer gepinkelt hatten. Denn dieses war so winzig und das einzige Fenster so hoch angebracht, dass der Geruch mindestens einen Monat in der Kammer gehangen hätte.

Kate brauchte ein paar Minuten, um die Leinen an den diamantbesetzten Halsbändern zu befestigen. Die Aufgabe wurde ihr noch dadurch erschwert, dass die Ratten nun kläfften, aufgeregt an ihr hochsprangen und versuchten, ihr das Gesicht zu lecken. Zähneknirschend ließ sie die Zärtlichkeiten der Tiere über sich ergehen.

Kate nahm die Hintertreppe, um auf schnellstem Wege aus dem Haus zu gelangen. Die Pfoten der Ratten kratzten auf dem Holz und schufen ein Echo zu ihren Schritten. Kate war so müde, dass sie sich nicht einmal an die Namen der Hündchen erinnern konnte. Sie meinte aber, es müsse sich um Alliterationen handeln, um Fiora oder Floris oder Ähnliches.

»Was fressen sie eigentlich?«, erkundigte sie sich einige Minuten später bei Cherryderry. Er war so freundlich gewesen, sie zum Küchengarten zu begleiten und ihr das eingezäunte Stück zu zeigen, auf dem die Hunde sich erleichtern durften.

»Ich habe Richard vor einer Stunde auf Ihre Kammer geschickt, der hat sie gefüttert und ein bisschen spazieren geführt. Ich gebe gern zu, dass ich diese Hunde nicht leiden kann, aber sie sind nicht böse«, sagte er, den Blick auf die Tiere gerichtet. »Es ist ja nicht ihre Schuld.«

Die Hunde spielten: Sie kletterten übereinander, ein wuseliger Haufen aus wehenden, seidigen Schwänzen und spitzen Schnauzen.

»Caesar hat Miss Victoria nicht beißen wollen«, fuhr der Butler fort. »Sie brauchen keine Angst zu haben, dass er Sie beißt.«

»Caesar? Ich habe immer geglaubt, sie hätten Blumennamen.«

»Auch das macht es für die Tiere nicht gerade leichter«, erklärte Cherryderry. »Miss Victoria hat sich nie für drei Namen entscheiden können, sondern die Hunde jede Woche umgetauft. Am Anfang hießen sie Ferdinand, Felicity und Frederick, und augenblicklich lauten ihre Namen Coco, Caesar und Chester. Davor waren es Mopsie, Maria und irgendwas. Der Anführer – sehen Sie den, der etwas größer ist als die anderen? Das ist Caesar. Und die beiden anderen sind Coco und Chester. Chester hat allerdings nie gelernt, auf einen anderen Namen als Frederick oder Freddie zu hören.«

»Warum hat Caesar Victoria überhaupt gebissen? Ich habe sie nie danach gefragt.«

»Sie hat ihn von ihren Lippen gefüttert.«

»Wie bitte?«

»Sie hat ein Stück Fleisch zwischen den Lippen gehalten und ihm zugeredet, es zu schnappen. Wirklich töricht, sich zwischen einen Hund und sein Futter zu stellen.«

Kate überlief ein Schauder. »Das ist ja widerlich.«

»Prinzessin Charlotte hat angeblich allen ihren Hunden solche Kunststücke beigebracht«, erzählte Cherryderry. »Diese Prinzessin trägt die Verantwortung für so einiges.«

»Und wie schaffe ich es, dass sie nachts ruhig bleiben?«, fragte Kate, die sich nach ihrem Bett sehnte.