The Duchess Circle - Ein unerhörter Ehemann - Eloisa James - E-Book

The Duchess Circle - Ein unerhörter Ehemann E-Book

Eloisa James

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Beschreibung

Für alle Bridgerton-Fans - Regency-Romance zum Dahinschmelzen!

Um einen Skandal zu vermeiden, wurde die junge Gina bereits mit elf Jahren an ihren Cousin Camden Serrard verheiratet. Dieser flüchtete jedoch noch am Tag der Hochzeit außer Landes. Seither sind zwölf Jahre vergangen, und Gina hat sich zu einer der schönsten und begehrtesten Frauen Londons entwickelt. Als der Marquess Bonnington um ihre Hand anhält, bittet sie ihren Cousin um eine Scheidung. Doch dann begegnen Camden und Gina einander nach Jahren der Trennung wieder und entdecken unerwartete Gefühle füreinander.

Band 1 des Duchess-Quartetts

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Inhalt

Titel

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Eloisa James bei LYX.digital

Impressum

ELOISA JAMES

The Duchess Circle

Ein unerhörter Ehemann

Roman

Ins Deutsche übertragen von Barbara Först

Zu diesem Buch

Bereits mit elf Jahren wurde Gina, die Herzogin von Girton, mit Camden Serrard verheiratet. Doch noch am Tag der Hochzeit flüchtete Cam außer Landes. Zwölf Jahre später hat sich Gina in den vornehmen Marquis Bonnington verliebt und bittet ihren Ehemann um die Scheidung. Als Cam nach all der Zeit nach England zurückkehrt, muss Gina feststellen, dass ihr Ehemann ihr Herz weit höher schlagen lässt als ihr steifer und stets korrekter Marquis …

1

Eine kurze Unterhaltung im Schlafzimmer der Herzogin von Girton

Hausgesellschaft bei Lady Troubridge

East Cliff

»Nun, wie sieht er aus?«

Gina antwortete nicht sogleich. »Er hat schwarzes Haar. Daran kann ich mich noch erinnern«, erwiderte sie unsicher. Sie saß vor ihrer Frisierkommode und hielt ein Haarband in der Hand, in das sie einen kleinen Knoten nach dem anderen knüpfte. Ambrogina, die Herzogin von Girton, war selten so zappelig wie in diesem Moment. Eine Herzogin bewahrt stets Haltung, pflegte eine ihrer Gouvernanten immer zu sagen. Im Augenblick jedoch stand Gina kurz davor, in Panik auszubrechen. Das konnte selbst Herzoginnen passieren, unter gewissen Umständen.

Esme Rawlings brach in Gelächter aus. »Du weißt nicht einmal, wie dein eigener Ehemann aussieht?«

Gina bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Du hast gut lachen. Dein Ehemann kehrt ja nicht vom Kontinent zurück und findet dich in einer prekären Lage vor. Ich will, dass Cam unsere Ehe annullieren lässt, damit ich Sebastian heiraten kann. Aber wenn er diese schrecklichen Verleumdungen im Tatler liest, wird er mich für ein liederliches Weibsbild halten.«

»Nicht, wenn er dich kennt«, gluckste Esme.

»Das ist es ja gerade! Er kennt mich eben nicht. Was ist, wenn er dem Gerede über Mr Wapping Glauben schenkt?«

»Wirf deinen Privatlehrer hinaus, und die ganze Sache ist in einer Woche vergessen.«

»Ich werde den armen Mr Wapping nicht hinauswerfen. Er ist den weiten Weg von Griechenland gekommen, um mein Lehrer zu sein. Wo soll er denn hin? Abgesehen davon hat er nichts Falsches getan, und ich auch nicht. Warum also sollte ich mich so verhalten, als hätte ich einen Fehler begangen?«

»Jedenfalls war es nicht besonders klug, sich von Willoughby Broke und seiner Frau um zwei Uhr morgens gemeinsam mit Mr Wapping sehen zu lassen.«

»Du weißt ganz genau, dass wir lediglich den Meteorschauer betrachtet haben. Auf jeden Fall hast du mir noch keine Antwort gegeben. Was ist, wenn ich meinen eigenen Mann nicht wiedererkenne?« Gina drehte sich auf dem Stuhl um und sah Esme an. »Das wird der demütigendste Augenblick meines Lebens!«

»Um Himmels willen, du klingst ja wie eine Schmierenkomödiantin in einem Trauerstück. Der Butler wird ihn doch ankündigen, nicht wahr? Somit gewinnst du Zeit, um dich zu sammeln. Oh, mein teuerster Gemahl,« sprach Esme mit verstellter Stimme und warf Gina einen schmachtenden Willkommensblick zu. »Wie unerträglich, dass du so lange fort warst!« Träge fächelte sie sich dabei Luft zu.

Gina schnitt ihr eine Grimasse. »Ich nehme an, dass du diesen Satz häufig benutzt?«

»Natürlich. Miles und ich sind immer sehr höflich zueinander, wenn wir uns sehen. Was zum Glück nicht oft der Fall ist.«

Gina legte das Haarband, das nun nicht weniger als fünfzig Knoten aufwies, auf ihre Frisierkommode. »Schau dir nur an, wie meine Hände zittern. Ich kenne niemanden, dem je eine so furchtbare Begegnung bevorstand.«

»Du übertreibst. Überleg doch mal, wie sich die arme Caroline Pratt gefühlt haben muss, als sie ihrem Gemahl gestand, dass sie schwanger war. Dabei hatte er doch während des vorangegangenen Jahres in den Niederlanden geweilt!«

»Das muss wirklich schwer gewesen sein.«

»Obschon sie ihm eigentlich einen Gefallen erwiesen hat. Was in Gottes Namen wäre nur aus dem Besitz geworden, wenn sie keinen Erben geboren hätte? Immerhin waren sie bereits zehn Jahre verheiratet. Pratt hätte sich im Grunde bei ihr bedanken müssen, obwohl er das ganz gewiss nicht getan hat. Männer sind solche Rüpel!«

»In meinem Fall ist allein die Begegnung mit Cam schon ungeheuer schwierig«, sagte Gina. »Ich kenne ihn doch überhaupt nicht.«

»Ich dachte immer, ihr hättet eure Kindheit miteinander verbracht.«

»Es ist aber etwas ganz anderes, ihm als Erwachsenem wiederzubegegnen. Als wir heirateten, war er noch ein Junge.«

»Es gibt viele Frauen, die sich glücklich schätzen würden, wenn ihre Männer auf den Kontinent gingen«, meinte Esme.

»Cam ist nicht wirklich mein Ehemann. Gütiger Himmel, von Kind an wurde mir beigebracht, dass er mein Cousin ersten Grades ist – bis zu dem Tag, als man uns miteinander verheiratete.«

»Ich wüsste nicht, was das an der Sachlage ändern sollte. Leider gibt es sehr viele Vettern und Cousinen ersten Grades, die miteinander verheiratet sind. Außerdem seid ihr in Wahrheit gar nicht so eng miteinander verwandt, da deine Mutter dich ja nicht geboren, sondern lediglich großgezogen hat.«

»Ganz genauso, wie mein Ehemann auch nicht wirklich mein Ehemann ist«, ergänzte Gina prompt. »Fünfzehn Minuten nachdem Cams Vater ihn dazu gezwungen hatte, mir das Jawort zu geben, ist er aus dem Fenster geflüchtet. Und dann hat er eben zwölf Jahre gebraucht, um zurückzukehren, damit wir unsere Ehe annullieren können.«

»Wenigstens ist mein Mann durch die Tür hinausgegangen und nicht durchs Fenster.«

»Cam konnte man damals wohl kaum als erwachsenen Mann bezeichnen. Wenige Tage zuvor hatte er seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.«

»Nun, jedenfalls siehst du in diesem rosefarbenen Kleid hinreißend aus.« Esme lächelte Gina zu. »Bei der Erinnerung, wie er aus deinem Schlafgemach geflohen ist, wird er weinen.«

»Unsinn. Ich bin nicht schön. Ich bin zu dünn, und meine Haarfarbe ähnelt allzu sehr einer Karotte.« Gina betrachtete sich kritisch im Spiegel. »Ich wünschte, ich hätte deine Augenfarbe, Esme. Meine Augen sehen aus wie Morast.«

»Deine Augen sind nicht morastfarben, sondern grün«, stellte Esme richtig. »Und was deine Behauptung, nicht schön zu sein, angeht … Schau dich doch nur an! Du ähnelst heute mehr denn je einer Renaissancemadonna: schlank und ernsthaft und ein wenig traurig. Abgesehen natürlich von deinem Haar. Kann es sein, dass du dieses üppige rote Haar von deiner skandalumwitterten französischen maman geerbt hast?«

»Woher soll ich das wissen? Vater hat sich immer geweigert, mir von meiner wahren Mutter zu erzählen.«

»Nein wirklich, ›Madonna‹ ist eine zutreffende Beschreibung für dich«, fuhr Esme mit boshaftem Zwinkern fort. »Du Arme … noch eine verheiratete Jungfrau!«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Annie, die Zofe der Herzogin, öffnete sie. »Lady Perwinkle bittet darum, Euer Gnaden besuchen zu dürfen.«

»Bitte sie herein«, antwortete Gina.

Carola Perwinkle war eine kleine, dralle Person, deren herzförmiges Gesicht von lustig tanzenden Locken eingerahmt wurde. Als sie sah, dass auch Esme anwesend war, entfuhr ihr ein Aufschrei des Entzückens.

»Meine Lieben! Ich musste einfach kommen, obwohl es schon ein wenig spät ist, aber Lady Troubridge hat mir etwas so Unerhörtes von Ginas Ehemann berichtet …«

»Es ist wahr«, fiel ihr Gina ins Wort. »Cam kehrt nach England zurück.«

Carola faltete andächtig ihre Hände. »Wie romantisch!«

»Wieso? Ich kann nichts Romantisches an der Tatsache erkennen, dass mein Mann unsere Ehe annullieren lässt.«

»Er kommt den ganzen Weg von Griechenland angereist, nur um dich von den Ehebanden zu befreien, damit du den Mann heiraten kannst, den du liebst? Ich zweifle nicht im Geringsten, dass sein Herz insgeheim bei dem bloßen Gedanken daran zerbrochen ist.«

Esme schaute ein wenig angewidert drein. »Manchmal weiß ich nicht, warum ich mit dir befreundet bin, Carola. Meiner Meinung nach ist Ginas Gemahl vermutlich froh, seine Frau loszuwerden. Unsere Ehemänner würden sich doch mit Freuden auf diese Möglichkeit stürzen, wenn sie ihnen offenstünde, meinst du nicht? Warum sollte Ginas Mann in dieser Hinsicht anders sein?«

»Ich ziehe es vor, die Dinge ein wenig anders zu betrachten«, entgegnete Carola und reckte ihre kleine Nase in die Höhe. »Mein Gemahl und ich mögen nicht immer einer Meinung sein, aber es würde ihm nie in den Sinn kommen, unsere Ehe annullieren zu lassen.«

»Nun, meinem schon«, bekannte Esme schlicht. »Er ist nur zu gutmütig, um es auszusprechen. Nachdem wir uns zum ersten Mal getrennt hatten, versuchte ich, ihn so wütend zu machen, dass er die Scheidung einreicht, aber vergebens: Er ist eben ein Gentleman. Wenn jedoch die entfernteste Möglichkeit einer Annullierung bestünde, so würde er diese Gelegenheit gewiss beim Schopfe packen.«

»Du bist wirklich eine Närrin«, sagte Gina und schaute ihre Freundin liebevoll an. »Du hast deinen guten Ruf zerstört, nur um Miles’ Aufmerksamkeit zu erregen?«

Esme grinste reumütig. »So ungefähr. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum du mit mir befreundet bist, du tugendhafte Herzogin.«

»Weil ich heiraten will. Wen sollte ich diesbezüglich um Rat fragen, wenn nicht dich?« Gina zwinkerte schelmisch.

»Da fragst du wirklich besser Esme als mich«, gestand Carola mit einem verlegenen Kichern. »Mein Mann und ich sind nach einem Monat Ehe getrennte Wege gegangen, wohingegen es bei Esme erst nach einem ganzen Jahr so weit war.«

»In Wahrheit bist du die Einzige, die uns Ratschläge erteilen könnte, Gina«, sagte Esme. »Carola und ich haben uns unserer Gatten entledigt und seitdem eine Menge Zeit damit verbracht, Skandale zu inszenieren. Du dagegen hast dich stets wie das Musterbeispiel einer verheirateten Herzogin verhalten.«

»Das klingt ja, als wäre ich eine tödlich langweilige Person!«, protestierte Gina.

»Nun, im Vergleich zu unserem schlechten Ruf …«

»Sprich bitte nur für dich«, wandte Carola ein. »Mein Ruf mag getrübt sein, aber schlecht ist er noch nicht.«

»Schon gut, der meine ist so verdorben, dass es für uns alle reicht«, sagte Esme leichthin.

Carola war bereits an der Tür. »Ich sollte mich besser umziehen, wenn ich heute Abend nicht wie eine alte Hexe aussehen will.« Sie schlüpfte hinaus.

Esme sprang von ihrem Stuhl auf. »Ich sollte mich auch beeilen. Jeannie will mein Haar à la grecque frisieren, und ich möchte lieber nicht zu spät kommen. Bernie könnte sonst daran verzweifeln, auf meine Ankunft zu warten.«

»Bernie Burdett? Habe ich dich nicht sagen hören, dass er ein schrecklicher Langweiler sei?«, fragte Gina.

Esme lächelte spitzbübisch. »Es sind nicht seine Geisteskräfte, an denen ich interessiert bin, Liebes.«

»Du erinnerst dich noch an Lady Troubridges Ankündigung, dass dein Mann heute zurückkommt?«

Esmes Antwort bestand in einem Achselzucken. »Natürlich wird Miles da sein. Schließlich ist Lady Randolph Childe eingeladen, nicht wahr?«

Gina biss sich auf die Lippe. »Das ist doch nur ein Gerücht. Vielleicht möchte er dich sehen.«

Esmes Augen waren von einem leuchtenden Blau. Viele junge Männer hatten sie mit Saphiren verglichen, und oft genug waren sie auch so glänzend und hart wie die kostbaren Steine. Doch als sie nun ihren Blick auf Gina richtete, lag ein weicher Ausdruck darin. »Du bist wahrlich ein lieber Mensch, Gina.« Sie beugte sich herab und küsste die Freundin auf die Wange. »Ich muss nun gehen und mich in eine Femme fatale verwandeln lassen. Es wäre doch grässlich unpassend, wenn Lady Childe besser aussehen würde als ich.«

»Das ist nicht möglich«, verkündete Gina aus tiefster Überzeugung. »Du willst nur Komplimente von mir hören.«

Esmes seidige Locken, ihr aufreizender Mund und die köstlichen Kurven hatten seit ihrer ersten Ballsaison den Vergleich mit Londons schönsten Kurtisanen herausgefordert. Und dem allgemeinen Urteil zufolge ließ die junge Esme jegliche Konkurrenz weit hinter sich.

»Warst du etwa nicht auf Komplimente aus, als du dich über deine morastfarbenen Augen beschwert hast?«

Gina tat die Frage der Freundin mit einer Handbewegung ab. »Das ist nicht dasselbe. Jeder Gentleman meines Bekanntenkreises würde auf Knien rutschen, um in dein Schlafzimmer zu gelangen. Wohingegen ich nur als prüde, dürre Herzogin gelte.«

Esme schnaubte verächtlich. »Du bist ja verrückt! Versuche nur einmal, Sebastian davon zu überzeugen, dass du unattraktiv bist! Er wird sich sogleich sehr eloquent über deine Alabasterstirn und Ähnliches auslassen … Doch ich muss mich beeilen.« Sie warf Gina eine Kusshand zu und verließ raschen Schrittes das Zimmer.

Gina stieß einen tiefen Seufzer aus. Das war das Zeichen für ihre Zofe, eine Haarbürste zur Hand zu nehmen und ihre Herrin zu frisieren, wobei sie wie ein Wasserfall auf sie einredete. »Es ist einfach eine Schande, sage ich. Da ist Lady Rawlings, eine der schönsten Frauen von ganz London, und ihr Mann gibt sich gar keine Mühe, seine Affäre mit Lady Childe zu verheimlichen. Eine Schande ist das.«

Gina nickte stumm.

»Haben Sie schon gehört, dass ihr Mann um ein Zimmer gebeten hat, das neben dem von Lady Childe liegt?«, fuhr Annie fort.

Gina schaute ihre Zofe im Spiegel erschrocken an. »Tatsächlich?«

»Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Eher im Gegenteil. Weil ich doch jetzt zur höheren Dienerschaft gehöre, nimmt Mrs Massey vor mir kein Blatt mehr vor den Mund. Die vielen Scherereien, die sie und Lady Troubridge mit dieser Hausgesellschaft haben, diese ganzen Zimmertauschs … Sie würden es nicht glauben!«

»Meine Güte«, sagte Gina matt. Zum Glück würden sie und Sebastian nicht diese Art Paar sein, wenn sie erst einmal verheiratet waren. Arme Esme!

2

Eine Begegnung zwischen einem Herzog, einem Ferkel und einem Anwalt

Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er seinen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte, dachte Camden Serrard niedergeschlagen, während er Regenwasser von seiner Hutkrempe schüttelte. Seine italienischen Stiefel versanken im Schlamm. Es regnete so stark, dass die Luft fast weiß war, und er konnte nicht einmal das Ende des Pfades ausmachen, der vom Bootsanleger wegführte.

»Vorsicht, Sir!«

Camden sprang aus dem Weg, jedoch nicht rasch genug, um einem Ferkel auszuweichen, das freudig in die Freiheit davonsauste. Scharfe kleine Hufe rannten schneller über seine schlammbespritzten Stiefel, als er dies für möglich gehalten hätte.

Missmutig setzte Cam seinen Weg in Richtung der Lichter fort, wo er eine Art Gasthaus vermutete. Warum zum Teufel sie an einem gottverlassenen Kai hatten anlegen müssen, der noch ein ganzes Stück von dem Dorf Riddlesgate entfernt war, begriff er nicht. Der Kapitän der Rose hatte dreist verkündet, dass ihm in der Navigation ein kleiner Fehler unterlaufen sei, sich jedoch mit der Behauptung entschuldigt, London sei lediglich eine Stunde Kutschfahrt entfernt. Was Cam anging, so hätte London ebenso gut auf einem anderen Kontinent liegen können, denn so weit sein Auge reichte, waren in alle vier Himmelsrichtungen nur schlammbedeckte Salzmarschen zu sehen.

Beim Eintreten zog er den Kopf ein und sah, dass sein Diener Phillipos schon vor ihm eingetroffen war und nun vermutlich ein Zimmer bestellte. Leider nahm auch das kleine Schwein die Gastfreundschaft des Hauses in Anspruch und schnüffelte um einen Stuhl herum. Außer Phillipos, dem Ferkel und dem Wirt war nur ein weiterer Gast anwesend: ein blonder Mann, der im Schein des Kaminfeuers las und kaum den Blick hob, als Cam eintrat.

John Mumby, der Wirt, eilte dienstfertig herbei, als er den breitschultrigen Aristokraten in seiner Tür stehen sah. »Guten Tag, Euer Gnaden! Es ist mir eine Ehre – wahrhaftig eine Ehre –, dass ich Euer Gnaden in meinem bescheidenen Gasthaus, dem Queen’s Smile, willkommen heißen darf. Darf ich Euer Gnaden eine Erfrischung bringen?«

Cam legte seinen Reisemantel über Phillipos´ ausgestreckten Arm. »Was immer Sie haben«, erklärte er mit matter Stimme. »Aber reden Sie mich nicht mit ›Euer Gnaden‹ an.«

Mumby blinzelte verblüfft, fing sich jedoch rasch wieder. »Selbstverständlich, Mylord«, sagte er strahlend. »Ja, Sir. Kommt sofort, Sir. Lord Perwinkle, ich muss Sie bitten, dieses Schwein zu entfernen. Vieh ist im Schankraum nicht gestattet.«

Der blonde Mann schaute gekränkt auf. »Verdammt, Mumby, eben noch haben Sie mir gesagt, ich soll das Tier in Ruhe lassen. Sie wissen genau, dass das elende Vieh nicht mir gehört.«

»Ihr Kutscher hat für das Schwein bezahlt«, entgegnete der Gastwirt mit unwiderlegbarer Logik, »und ich habe keinen Zweifel, dass er es holen wird, sobald Ihre Achse repariert ist. Wenn es Ihnen recht ist, Sir, soll der Junge das Schwein in den Schuppen sperren.«

Perwinkle nickte, und ein Junge klemmte sich das Ferkel unter den Arm und rannte hinaus in den Regen.

Cam ließ sich in einen bequemen Lehnstuhl vor dem Kamin fallen. Es war doch ein gutes Gefühl, wieder in England zu sein. Als er das letzte Mal in seiner Heimat weilte, war er ein ungeschliffener Diamant gewesen, ein achtzehnjähriger, von Wut erfüllter Bursche … Und trotzdem erinnerte er sich deutlich und voll inniger Zuneigung an den rauchigen, malzigen Geruch englischer Gasthäuser. Nichts kommt dem gleich, dachte er, als Mumby ihm einen dampfenden Krug Bier in die Hand drückte.

»Oder mögen Sie lieber einen Brandy?«, erkundigte sich der Wirt. »Ich muss Ihnen gestehen, Sir, dass ein Freund mir hin und wieder eine Flasche zukommen lässt … an der Hintertür. Ein vorzügliches Getränk, auch wenn es aus Frankreich kommt. Ein edler Tropfen.«

Wahrscheinlich der Kapitän, vermutete Cam. Schmuggelt Brandy, dieser dreiste Kerl. Deshalb mussten wir am Ende der Welt anlegen. Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Krug. Vorzügliches Bier und dazu ein geschmuggelter Brandy. Das Leben schmeckte zusehends besser.

»Ich hätte als ersten Gang gebratenen Fasan anzubieten«, sagte Mumby zaghaft, »und dann vielleicht frisches Schweinefleisch.«

»Wie frisch?«, fragte Cam argwöhnisch. Er legte keinen besonderen Wert darauf, Perwinkles Ferkel zum Dinner serviert zu bekommen.

»Gerade vor einer Woche geschlachtet«, versicherte Mumby. »Gut abgehangen und nun zur Vollendung gereift. Meine Frau versteht sich vorzüglich darauf, Schwein zuzubereiten, Sir, das kann ich Ihnen versichern.«

»Gut. Und den Brandy bringen Sie, wenn Sie einen Augenblick Zeit haben.«

»Jawohl, Sir!«, bellte Mumby, vor dessen geistigem Auge bereits glänzende Münzentürme in die Höhe wuchsen.

Nachdem der Wirt die Stube verlassen hatte, machten sich die Herren miteinander bekannt. Eins kam zum anderen, und schon bald entdeckten die beiden eine Dartscheibe im Gastraum. Während der Abend voranschritt, entpuppte sich Lord Perwinkle nicht nur als meisterhafter Dartspieler, sondern auch als begeisterter Angler – eine Leidenschaft, die er mit Cam teilte. Und als sich schließlich herausstellte, dass Tuppy Perwinkle und Cam auf die gleiche Schule gegangen waren – wenn auch getrennt durch einen unbedeutenden Altersunterschied von fünf Jahren –, hatten die beiden einen Grad der Vertrautheit erreicht, wie er nur durch das Aufwachsen in der gleichen Kinderstube oder den übermäßigen Genuss von französischem Brandy erlangt werden kann.

Als Mumby höflich anfragte, ob Cam beim ersten Morgengrauen eine Kutsche zu mieten wünsche, lehnte dieser ab. Die Reise von Griechenland war beschwerlich genug gewesen, mit fünfundvierzig Tagen auf See und einem schweren Sturm im Golf von Biscaya. Er würde noch mehr als genug Zeit haben, sich die gesellschaftlichen Fesseln wieder anzulegen, und verspürte daher keinerlei Bedürfnis, so rasch wie möglich nach London zu eilen.

Tuppy stimmte ihm hierin vollkommen zu, denn auch er lebte seit Jahren ohne Frau. »Sie hat mich im Zorn verlassen, ist zu ihrer Mutter gefahren und nie zurückgekehrt. Da ich ihre Klagen satthatte, habe ich keinerlei Anstalten gemacht, sie zurückzuholen. Und dabei ist es geblieben.«

»Bestelle meinem Anwalt, er möge mich aufsuchen«, sagte Cam zu Phillipos. »Ich bezahle den Mann schließlich gut genug. Er soll sich zum Frühstück hier einfinden.«

Phillipos hegte eine nie erlöschende Bewunderung für die Fähigkeit seines Dienstherrn, ausgiebig alkoholischen Getränken zuzusprechen, ohne am nächsten Tag unter den Folgen leiden zu müssen. Dennoch bezweifelte er, dass der Herzog wirklich in aller Herrgottsfrühe seinen Anwalt zu sehen wünschte, da er sah, dass die dritte Flasche Brandy bereits entkorkt auf dem Tisch stand. Doch er verneigte sich geflissentlich und schickte eine dringliche Nachricht in die Metropole, in der Mr Rounton, Rechtsanwalt bei Rounton & Rounton, zu einer Frühstücksbesprechung mit seinem geschätzten Klienten Camden Serrard, Herzog von Girton, gebeten wurde.

Wie sich herausstellen sollte, war Phillipos´ Sorge unbegründet gewesen.

Edmund Rounton, der Rechtsbeistand des Herzogs von Girton, war kein Dummkopf. Dazu hatte er den verstorbenen Vater des Herzogs zu gut – viel zu gut – gekannt. Und für den Fall, dass der junge Herzog eine, wenn auch noch so entfernte Ähnlichkeit mit dem Charakter seines Ahnherrn besaß, traf Rounton die kluge Vorkehrung, nicht vor dem frühen Nachmittag einzutreffen, wenn der Herzog durch ein üppiges Mittagsmahl milde gestimmt sein würde.

Am nächsten Nachmittag gegen zwei Uhr entstieg der Kutsche ein strahlender Rounton im frisch gestärkten Rock, der sich dennoch einer gewissen Nervosität in der Magengrube nicht erwehren konnte. Besprechungen mit dem Vater des Herzogs waren stets eine Strapaze gewesen, um es milde auszudrücken. Der alte Herzog nahm immer wieder Projekte in Angriff, die Rountons Treuepflicht bisweilen auf eine harte Probe stellten. Wagte er jedoch zu widersprechen, musste er sich auf einen Wutanfall gefasst machen.

Auf den ersten Blick wirkte der junge Herzog ganz anders als sein alter Herr. »Guten Tag, Mr Rounton«, grüßte er, während er sich rasch vom Stuhl erhob. Er hatte die dunklen Augen des Vaters, doch ihr Ausdruck war fröhlicher. Dagegen hatte der alte Herzog mit seinem gemeinen Blick und der bleichen Gesichtsfarbe wie Beelzebub persönlich gewirkt.

Rounton verneigte sich. »Euer Gnaden, es ist wahrlich eine Freude, Sie bei so guter Gesundheit in der Heimat zu sehen.«

»Ja, vielen Dank«, erwiderte Girton und bedeutete seinem Anwalt mit einer Geste, Platz zu nehmen. »Ich werde nicht lange in England bleiben und brauche Ihre Hilfe.«

»Wenn ich irgendetwas tun kann, stehe ich Euer Gnaden natürlich bereitwilligst zu Diensten.«

»Dann hören Sie zunächst einmal auf, mich mit ›Euer Gnaden‹ anzureden«, befahl sein Klient. »Ich kann Förmlichkeit nicht ausstehen.«

»Selbstverständlich, Euer … sehr wohl.« Rounton musterte die lässige Kleidung des Herzogs. Er trug keinen Rock! Und seine Hemdsärmel waren aufgerollt, sodass man seine muskulösen Unterarme sah. Solcherlei Formlosigkeit fand Rounton schlicht skandalös.

»Ich habe vor, meine Ehe annullieren zu lassen«, begann Girton. »Unter den gegebenen Umständen sollte dies nicht allzu lange dauern. Alle Welt weiß, dass es keine richtige Ehe ist und niemals war. Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, die Papiere aufzusetzen?«

Rounton blinzelte verständnislos. Der Herzog fuhr unbekümmert fort: »Und da ich im Lande bin, kann ich auch gleich Bicksfiddle besuchen. Nicht etwa, um Änderungen hinsichtlich der Verwaltung vorzunehmen. Er hat eine erstaunliche Menge Geld erwirtschaftet. Ich möchte aber dafür Sorge tragen, dass der Besitz Stephen in gutem Zustand übergeben wird.«

Als der Anwalt dies hörte, klappte ihm der Mund auf.

»Meiner Frau werde ich natürlich auch eine anständige Summe überschreiben«, fügte Girton hinzu. »Sie hat sich in der ganzen Angelegenheit mehr als verständnisvoll gezeigt.«

Mr Rounton gewann seine Fassung wieder. »Sie wünschen die Annullierung Ihrer Ehe, Euer Gnaden.«

»Ganz richtig.«

»Und habe ich richtig verstanden, dass Sie die Übertragung Ihres Anwesens auf Ihren Cousin wünschen … auf den Earl of Splade?« In den Augen des Anwalts wirkte sein Klient absolut zurechnungsfähig, wenn auch ein wenig unkonventionell. Mit seinem merkwürdig hochstehenden Haar sah er zwar ungepflegt aus, betrunken schien er jedoch nicht zu sein.

»Vermögen und Titel werden eines Tages ohnehin Stephen gehören, oder nach Stephens Tod dessen Sohn. Ich mache ja doch keinen Gebrauch davon. Ich musste meinem Vater schwören, dass ich das Vermögen nicht antasten würde, und habe auch nie einen Penny davon genommen.«

»Aber … was ist mit … Ihrem Erben … Ihrer Frau …?«, stieß Rounton hervor.

»Ich habe keinen anderen Erben als Stephen«, entgegnete Girton. »Und eine Frau nur dem Namen nach. Da ich nicht die Absicht hege, eine neue Ehe einzugehen, möchte ich den Besitz so rasch wie möglich abgeben.«

»Sie wünschen die Annullierung Ihrer Ehe, ohne die Verbindung mit einer anderen Frau ins Auge zu fassen.«

Der Herzog begann Anzeichen von Ungeduld zu zeigen. »Wie ich bereits sagte.«

»Den Aufhebungsvertrag vorzubereiten dürfte relativ einfach sein, Euer Gnaden. Das Verfahren selbst wird jedoch einige Zeit in Anspruch nehmen. Viel länger als eine Woche.«

»Selbst in unserer Situation? Immerhin habe ich meine Frau nicht mehr gesehen, seit sie elf oder zwölf war. Niemand kann töricht genug sein zu glauben, dass dieses Fiasko von Ehe jemals vollzogen worden ist.«

»Ich bezweifle ebenfalls, dass dies zum Problem werden könnte, da Ihre Frau bei der Eheschließung noch so jung war«, stimmte Rounton zu. »Doch das Annullierungsverfahren erfordert die Einwilligung des Parlaments und des Regenten. So ohne Weiteres wird die Annullierung nicht bewilligt werden. Ich fürchte, Euer Gnaden werden einen längeren Aufenthalt in England in Erwägung ziehen müssen.«

»Das ist unmöglich«, gab Girton prompt zurück. »Ich habe in Griechenland zu tun.«

»Sicherlich könnten Sie …«, unternahm Rounton noch einen verzweifelten Versuch.

»Nein.« Der Anwalt erkannte, dass es seinem Klienten ernst war. »Wenn ich länger nicht im Atelier war, werde ich wahnsinnig. Und Sie möchten bestimmt nicht, dass ein verrückt gewordener Herzog das ländliche England unsicher macht, nicht wahr?« Girton erhob sich. Die Unterredung war offensichtlich beendet. »Warum fangen Sie nicht einfach an und schauen, wie weit Sie in den nächsten Tagen kommen? Ich brauche die Papiere doch nur zu unterzeichnen, danach können Sie die Sache sicher auf eigene Faust zu Ende bringen.«

Rounton erhob sich langsam. In seinem Kopf türmten sich Tausende juristischer Hürden, die es zu überwinden galt. »Ich werde Sie noch häufiger sprechen müssen, bevor Sie England wieder verlassen«, wagte er zaghaft einen neuen Vorstoß.

»Ich denke, ich bleibe noch ein oder zwei Nächte in diesem Gasthof«, antwortete der Herzog. »Wie ich hörte, soll es in der Nähe ein paar anständige Fischteiche geben. Warum bringen Sie nicht in Erfahrung, wie das übliche Prozedere aussieht, und kommen morgen wieder?«

»Ich werde mein Bestes tun«, versicherte Rounton. Der junge Herzog war doch ganz wie sein Vater: Beide wollten das Unmögliche und das möglichst gestern.

»Dann erwarte ich Sie zum Dinner. Und vielen Dank!« Der Herzog machte eine Verbeugung.

Zurück in London, schloss sich Rounton in seinem behaglichen Amtszimmer in den Inns of Court ein und dachte lange und angestrengt über die Situation nach. Der Herzog ließ keinen Zweifel daran, dass er seine Ehe annullieren lassen und schnellstmöglich nach Griechenland zurückkehren wollte – was auch immer er dort in den letzten zwölf Jahren getrieben hatte. Und damit wäre der Herzogtitel verloren …

Schon Rountons Vater und Großvater hatten im Dienst der Herzöge von Girton gestanden. Und Edmund Rounton wollte verflucht sein, wenn er sich von einem jungen Spund, der sich nur für Marmorskulpturen und nicht für die Bedeutung seines Titels interessierte, Vorschriften machen ließ.

»Ich darf nicht zulassen, dass der Junge so weit geht«, brummelte der Anwalt vor sich hin, während er ruhelos um seinen Schreibtisch wanderte. Einen alten und ehrwürdigen Herzogstitel in neue Hände zu legen, war eine ernste Angelegenheit.

Er konnte gut verstehen, warum der Herzog damals ins Ausland gegangen war. Niemals würde Rounton die Verwirrung und den Zorn auf dem Gesicht des jungen Burschen vergessen, während er das Ehegelübde murmelte und dabei ungläubig seine zukünftige Frau anstarrte, die er bis zu jenem Morgen für seine Cousine gehalten hatte. Es hatte den Anwalt keineswegs überrascht, dass der Bräutigam unmittelbar nach der Zeremonie aus einem Fenster gesprungen war und keinen Fuß mehr auf englischen Boden gesetzt hatte. Nicht einmal dann, als sein Vater das Zeitliche segnete.

»Möge Gott seiner Seele gnädig sein«, sagte Rounton reflexartig und fügte dann »der alte Bastard« hinzu.

Girtons einziger Erbe war der Earl of Splade, der jedoch als Abgeordneter der Tory-Partei für den Bezirk Oxfordshire lange Zeit keinen Gebrauch von seinem Titel gemacht hatte. Das spielte allerdings keine Rolle, denn Splade war um keinen Deut besser als sein Cousin. Auch er würde nie heiraten. Er war zu sehr an Politik interessiert. Zudem war er älter als Girton, musste jetzt mindestens sechsunddreißig sein, wenn nicht noch älter. Splade würde eines Tages tot auf dem Boden des Unterhauses liegen, Girton würde sein fröhliches, ungebundenes, liederliches Leben im fernen Europa weiterführen, und die Herzogswürde wäre für immer verloren. Dem Untergang geweiht. Ausgestorben.

Rounton selbst hatte auch keinen männlichen Erben zustande gebracht, und deshalb würde die alte und ehrwürdige Kanzlei Rounton & Rounton ebenfalls in die Hände von Fremden übergehen, sobald er sich zur Ruhe setzte. Bei diesem Gedanken verspürte er einen Stich im Magen. Rounton seufzte tief. Sollte Girton doch machen, was er wollte. Sollte er doch seinen Titel wegwerfen. Zur Hölle damit!

Er schlug die Zeitung auf, die glatt gebügelt auf seinem Schreibtisch bereitlag. Sein Arzt hatte ihm ruhige Tätigkeiten wie Lesen empfohlen, um seine chronischen Magenbeschwerden zu lindern. Einige Augenblicke starrte Rounton teilnahmslos auf die Rubrik »Stadtgespräch«, in der eine Reihe frivoler Taten frivoler Menschen aufgelistet waren. Plötzlich sprang ihm ein Absatz ins Auge:

In jüngster Zeit mussten wir eine bestürzende Entwicklung in der mondänen Gesellschaft beobachten: Die schöne junge Herzogin von G., welche gewiss nicht über einen Mangel an Zerstreuung klagen kann, da sie Einladungen zu jeder Lustbarkeit in der Stadt erhält, hat zu Lady Troubridges berühmter Hausgesellschaft ihren Geschichtslehrer mitgebracht. Gerüchten zufolge handelt es sich um einen gut aussehenden jungen Mann … Wir können nur hoffen, dass der Herzog aus der Ferne heimkehren und die Zerstreuung seiner Gemahlin wieder selbst in die Hand nehmen wird.

Rounton kniff die Augen zusammen und vergaß das Brennen in seinem Magen. Neue Kraft durchströmte seine Glieder. Er würde erst dann in den Ruhestand treten, wenn er das noble Haus Girton vor dem Untergang bewahrt hatte! Dies würde sein letzter Akt der Ergebenheit sein, das letzte und kostbarste Geschenk der loyalen Rountons an die Herzöge von Girton.

Er selber hatte immerhin den Versuch unternommen, einen kleinen Anwalt zu zeugen, der eines Tages die Kanzlei übernehmen sollte. Er und seine Mary, Gott segne ihr gutes Herz, hatten keine Kinder bekommen können; nun, dies war der Wille des Herrn. Aber der Herzog besaß eine junge, gesunde Frau und deshalb sollte er verflixt noch mal versuchen, mit ihr ein Kind zu zeugen, bevor er wieder auf den Kontinent verschwand!

»Ich werde ihn dazu bringen«, versprach sich Rounton. Seine Stimme hatte den Tonfall eines Mannes, der sich ständig mit dem Gesetz herumschlagen musste, um den Interessen seiner Klienten dienlich zu sein. »Und mehr noch«, beschloss er, »ich werde es schlau einfädeln. Nun ist Kreativität gefragt.«

Im Dienste des alten Herzogs war er oft gezwungen gewesen, erfinderisch zu sein und die Lücken im Gesetz ausfindig zu machen. Es sollte daher nicht allzu schwierig sein, den neuen Herzog nach der alten Pfeife tanzen zu lassen.

3

Familienpolitik

The Queen’s Smile, Riddlesgate

Mr Rountons Beschluss, das noble Haus Girton vor dem Sturz in die Vergessenheit zu bewahren, hatte zur Folge, dass am nächsten Abend gegen sechs Uhr vor dem Queen’s Smile drei Herren einer Kutsche entstiegen.

Cam benötigte nur einen Augenblick, um seinen Erben Stephen Fairfax-Lacy, den Earl of Splade, zu erkennen. »Stephen!«, rief er erfreut, sprang vom Stuhl auf und riss den Cousin in seine Arme. »Wie schön, dass du gekommen bist! Es muss acht Jahre her sein, seit wir uns zuletzt auf Nissos gesehen haben!«

Stephen löste sich aus der Umarmung und setzte sich. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. »Seit wann hast du es mit Umarmungen? Wie soll ich dich übrigens anreden? ›Euer Gnaden‹ wäre wohl angemessen.«

»So ein Unsinn! Ich bin Cam, und du bist immer noch Stephen für mich. Ich habe diese verfluchte englische Förmlichkeit, die meinem Vater so wichtig war, weit hinter mir gelassen. In Griechenland zeigt ein Mann, was er fühlt!«

Rounton räusperte sich. »Euer Gnaden haben hoffentlich nichts dagegen, dass ich den Earl of Splade gebeten habe, mich zu begleiten. Es haben sich unvorhergesehene Schwierigkeiten ergeben.«

Sofort grinste Cam Stephen an. »Es ist mir eine Freude.«

»Darf ich Ihnen Mr Finkbottle, meinen Juniorpartner, vorstellen?«, sagte Rounton und machte eine Geste zu einem nervös aussehenden jungen Mann von Mitte zwanzig. »Er wird als Verbindungsmann zwischen Ihnen und meiner Kanzlei fungieren.«

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir. Wollen wir uns nicht setzen? Hier gibt es genug Stühle, und der Wirt hat einen ausgezeichneten Brandy.«

Stephen nahm Platz und streckte seine Beine aus. Für einen Mann seiner Größe – er maß mehr als einen Meter neunzig – war selbst eine nur einstündige Kutschfahrt äußerst unbequem. »Du wirkst älter, Cam«, sagte er unvermittelt.

Sein Cousin zuckte die Achseln. »Alter ist ein Gebrechen, das jeden von uns heimsucht. Schließlich habe ich die letzten zwölf Jahre nicht wie ein Dandy gelebt.«

Mr Rounton räusperte sich erneut und ließ eine penible Aufzählung der juristischen Hürden vom Stapel, die man bei dem Verfahren der Annullierung zu überwinden habe. Stephen nippte an dem Brandy und ließ seinen Cousin nicht aus den Augen. Für einen Mann, der in Griechenland lebte, war Cams Haut außerordentlich weiß. Im flackernden Licht des Kaminfeuers wirkten seine Brauen wie Kohlestriche auf Pergament. Sein Antlitz schien nur aus scharfen Kanten und schimmernden Flächen zu bestehen. Doch seine Hände hatten sich nicht verändert, dachte Stephen, der sich undeutlich an vergangene schöne Zeiten erinnerte. Ihrer beider Kindheit war von jenen Dingen belebt worden, die diese langen Finger aus Holz anfertigen konnten …

»Schnitzt du noch, Cam?«, fragte er unvermittelt in eine plötzliche Gesprächspause hinein.

Ein flüchtiges Lächeln glitt über das Gesicht seines Cousins. »Schau mal.« Cam streckte die Hand aus und hob etwas auf, das neben seinem Stuhl auf dem Boden lag. Ein Holzsplitter.

»Was soll das sein?«

»Ein Dartpfeil«, erklärte Cam und drehte das Holz in den Fingern. Seine Augen leuchteten begeistert. »Mir kam der Gedanke, dass der Pfeil schneller fliegen müsste, wenn ich die Befiederung höher am Schaft ansetzte.«

Stephen streckte die Hand aus und nahm das schlanke Stück Holz entgegen. Wie alles, was Cam schnitzte, war auch dieser Pfeil wunderbar geformt: ein schnittiger, gefährlicher Stachel mit einer schmalen Kerbe, in welche die Feder gesteckt werden sollte.

»Was hältst du davon?«

»Wenn du ihn mit einem Gewicht versiehst, wird er sinken. Er mag vielleicht schneller fliegen, aber sobald du eine Spitze anbringst, wird die Feder das Gewicht nicht mehr ausbalancieren.« Er beschrieb mit seinem Finger eine Abwärtskurve. »Verstehst du? Der Pfeil wird nach unten trudeln, statt geradeaus zu fliegen. Dem kannst du möglicherweise entgegenwirken, indem du die Spitze verjüngst.«

Cam betrachtete sein Werk grübelnd. »Vermutlich hast du recht«, gab er zu.

»Mechanik war nie so recht deine Stärke«, bemerkte Stephen. »Erinnerst du dich an die vielen Boote, die du geschnitzt hast?«

»Sie sind fast alle gesunken«, stimmte Cam lachend zu.

»Was sie nicht wären, wenn du sie in der üblichen Form geschnitzt hättest. Du wolltest einfach immer besonders schlau sein.«

Mr Rounton hielt es nun für eine gute Gelegenheit, das Gespräch auf ein delikateres Thema zu lenken, da der Herzog ihm nun zugänglicher erschien. »Ihre Gemahlin weilt zurzeit bei der Hausgesellschaft in East Cliff. Das ist eine Stunde Fahrt von hier«, begann er.

Cams lebhafte Augen verweilten für einen Moment auf dem Gesicht des Anwalts, dann senkte er den Blick wieder auf den Dartpfeil in seiner Hand. »Was für ein Jammer«, sagte er leichthin. »Ich hätte das Mädel ja nach all den Jahren zu gern wiedergesehen. Aber ich habe keine Zeit, ziellos im Land umherzureisen.«

Die Kiefer seines Brotherrn mahlten, und Rounton erkannte die Art sogleich wieder, denn er hatte dies oft genug beim Vater des Herzogs beobachtet. Doch er hatte seine Entgegnung schon sorgfältig vorbereitet.

»Wie es scheint, ist es gewissermaßen unmöglich, den Annullierungsvertrag innerhalb einer Woche vorzubereiten«, sagte er mit fester Stimme.

»Dürfte ich vorschlagen, dass Sie Ihr Äußerstes geben, um es zu versuchen?« Des Herzogs Ton war außerordentlich liebenswürdig.

Ganz der Vater, dachte Rounton finster. »Es gibt jedoch noch ein Problem, Euer Gnaden.«

»Ach ja?« Der Herzog hatte ein kleines Messer zur Hand genommen und begann an der Pfeilspitze herumzuschnitzen.

»Ich bin in jedem Fall gewillt, die Annullierung Ihrer Ehe in die Wege zu leiten. Doch leider ist Ihrer Gemahlin vor Kurzem etwas widerfahren, das die Angelegenheit verkompliziert.«

Nun blickte der Herzog auf. »Was ist ihr widerfahren?«

»Die Herzogin ist …« Rounton zögerte. »Die Herzogin hat leider in der Gesellschaft Ärgernis erregt. Einen Skandal.«

»Einen Skandal?« Der Herzog schien dafür nur wenig Interesse aufbringen zu können. »Gina? Welchen Skandal könnte Gina schon verursachen? Das dürfte ein Sturm im Wasserglas sein, Rounton. Sie ist ein süßes kleines Ding.«

»Natürlich stimme ich hinsichtlich der Tugenden der Herzogin vollkommen mit Euer Gnaden überein. Dennoch wird sie derzeit von der guten Gesellschaft in weniger schmeichelhaftem Licht gesehen.«

Cam drehte den Pfeil hin und her, während seine langen Finger nach Unregelmäßigkeiten in dessen Oberfläche suchten. »Das fällt mir wirklich schwer zu glauben. Jeder Engländer, der in den letzten Jahren nach Griechenland reiste – und es waren überraschend viele, da Frankreich so unsicher geworden ist –, hat sich schier ein Bein ausgerissen, um die Tugenden meiner Frau zu preisen.«

Rounton schwieg.

Cam seufzte. »Ich nehme an, das würden sie doch sagen?«

»Wenn Sie darauf drängen, Ihre Ehe gerade zu diesem Zeitpunkt aufzuheben, dürften keinerlei Schwierigkeiten auftreten, die Annullierung durchzusetzen. Ich fürchte nur, Ihrer Gattin wäre in der Folgezeit der Zutritt zur Gesellschaft verwehrt.«

»Soweit ich es verstehe, hat meine kleine Gina es wohl ein bisschen übertrieben«, sagte Cam. Fragend blickte er Stephen an. »Nicht wahr?«

Sein Cousin zuckte die Achseln. »Ich bewege mich nicht in diesen Kreisen.«

Cam wartete, während seine langen Finger den gefährlichen kleinen Pfeil unaufhörlich drehten.

»Ich habe Gerüchte gehört«, räumte Stephen schließlich ein. »Gina hat einige Freundinnen, die sich recht … zügellos gebärden. Junge verheiratete Frauen …«

»Alle verheiratet?«

»Sie genießen nicht eben den Ruf der Tugendhaftigkeit«, fügte Stephen eher widerwillig hinzu.

Cam biss die Zähne zusammen. »Wenn es so ist, wie sollte die Annullierung unserer Ehe Ginas Ruf noch retten?«

Der Anwalt öffnete den Mund, doch Stephen ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Rounton ist der Meinung, du solltest ihr jetzt schützend zur Seite stehen. Er hat mich gebeten, ebenfalls zu dieser Hausgesellschaft zu reisen.«

Cam blickte finster auf den Dartpfeil in seinen Händen. Was zum Teufel sollte er Gina denn sagen? Wenn sie sich mit ihrem Marquis amüsierte, dann hatte sie doch wohl ernsthaft vor, ihn zu heiraten. »Wird der Sturm sich nicht verziehen, sobald Gina Bonnington heiratet?«

»Das bezweifle ich«, entgegnete Rounton. »Sicher würde es die Wogen ein wenig glätten. Was aber ist, wenn die Hochzeit gar nicht stattfinden kann?«

»Es geht das Gerücht, dass Gina die Nacht nicht mit Marquis Bonnington, sondern mit einem Manne namens Wapping, einem Angestellten, verbracht hat«, erklärte Stephen. »Und nun bestehen Zweifel, ob Bonnington noch an einer Heirat interessiert ist.«

»Das ist doch Unsinn!«, fauchte Cam. »Wapping ist der Lehrer, denn ich ihr geschickt habe. Ich bin ihm in Griechenland begegnet und habe ihn hergesandt.«

Rounton nickte. »Daran können Euer Gnaden erkennen, wie wichtig Ihre Stimme sich bei diesem unglückseligen Debakel auswirken wird. Wenn Sie einige Tage bei der Hausgesellschaft verweilen und deutlich machen, dass Wapping Ihr Angestellter ist, wird dies viel dazu beitragen, den Argwohn der Leute zu besänftigen.«

Cams Miene war angespannt. »Gina hat mir in vielen wortreichen Briefen geschrieben, wie sehnlich sie Bonnington zu heiraten wünscht. Da muss jemand etwas falsch verstanden haben.«

»Ich zweifle nicht im Geringsten, dass dies die Wahrheit ist«, sagte Rounton. »Und nachdem Euer Gnaden Ihre Ansicht zu dem Thema deutlich gemacht haben, wird die Gesellschaft Ihrem Beispiel folgen. Denn immerhin sind Sie ihr Ehemann.«

»Wohl kaum. Ein paar lumpige Minuten am Altar vor zwölf Jahren berechtigen mich kaum zu diesem Titel. Ich mag nicht einmal von Gina als meiner Ehefrau sprechen. Sie und ich sind uns sehr wohl bewusst, dass wir nicht wirklich verheiratet sind.«

»Ich schlage vor, wir beide fahren nach East Cliff«, sagte Stephen. »Einen oder zwei Abende lang bin ich entbehrlich. Du weißt es vielleicht nicht, Cam, aber das Parlament tritt erst wieder Anfang November zusammen.«

»Natürlich weiß ich das, du Depp!«

Stephen hob die Schultern. »Da du ja nie Interesse daran gezeigt hast, deinen Platz im Oberhaus einzunehmen …«

Ein verschlagenes Grinsen huschte über Cams Gesicht. »Du magst zwar älter geworden sein, Stephen, aber du hast dich kein bisschen verändert. Du warst immer derjenige, der sich der Verantwortung stellte, während mein Charakter mir vorgab, mich davor zu drücken«, fuhr er fort. »Ich sehe keinen Anlass, ausgerechnet jetzt meine rundum angenehmen Gewohnheiten zu ändern. Ich habe Arbeit, die zu Hause auf mich wartet.«

»Ich finde, dass du es Gina schuldig bist«, insistierte sein Cousin.

»Du verstehst nicht. Ich habe zu tun.«

Stephen schaute ihn kritisch an. »Warum kannst du diese Arbeit nicht hier tun? Auch hier gibt es Stein und Meißel – und schöne Frauen, die dir Modell sitzen können.«

»Ich bin mitten in der Arbeit an einem prächtigen Stück rosa Marmor. Weißt du, wie viel Zeit ich bereits vergeudet habe, weil ich nach England reisen musste?«

»Spielt das etwa eine Rolle?«, fragte Stephen mit der Unverschämtheit des Politikers, der von seiner eigenen Wichtigkeit im großen Gefüge der Welt überzeugt ist.

»Ja, das tut es, verflucht noch mal!«, blaffte Cam. »Wenn ich nicht arbeite … nun ja, für mich ist es das Einzige, das zählt.«

»Ich habe die Proserpina gesehen, die Sladdington dir letztes Jahr abgekauft hat. Ein ganz anständiges Stück.«

»Aber schon ein wenig gewagt, nicht wahr? Jetzt arbeite ich an einer Diana. Einer züchtigen Göttin. Mein Modell ist natürlich Marissa.«

»Natürlich«, murmelte Stephen. »Ich meine, dass du es Gina schuldest«, betonte er noch einmal. »Sie ist schon fast ihr ganzes Leben lang mit dir verheiratet. Und da du ewig außer Landes warst, kannst du es ihr nicht verübeln, wenn sie ein wenig Staub aufwirbelt. Wenn sie aber die Herzoginnenwürde verliert, wird sie wahrscheinlich aus der Gesellschaft verstoßen. Ich glaube nicht, dass sie weiß, wie brutal die feine Gesellschaft mit einer Exherzogin mit beschädigtem Ruf umspringen kann.«

Cams Messer rutschte an dem Dartpfeil ab und kappte dessen Spitze. »Verdammt!« Er warf den Pfeil auf den Boden.

»Wir fahren zusammen«, schlug Stephen vor. »Ich besorge dir einen neuen Marmorstein, dann kannst du an einer weiteren Proserpina arbeiten.«

Cam verzog verächtlich die Lippen. »Höre ich da einen abfälligen Unterton, Vetter? Magst du etwa keine römischen Göttinnen?«

Stephen antwortete nicht.

»Oh, na schön«, lenkte Cam ein. »Ich lasse meine Diana im Stich. Ich hoffe nur, dass Marissa während meiner Abwesenheit nicht zu viel Gewicht zulegt. Sonst muss ich sie auf Göttinnenmaß zurückhungern.«

»Marissa ist seine Geliebte«, teilte Stephen Rounton und Finkbottle mit.

»Meine Muse«, berichtigte Cam. »Hinreißendes Weib. Zurzeit forme ich sie als Diana, die aus den Wogen emporsteigt.«

Stephen warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Keine Sorge. Ich habe Schaum um ihre Hüften gelegt.« Er lächelte sein schiefes, sardonisches Grinsen. »Du hältst das alles für wertlosen Plunder, nicht wahr?«

»Ja, das tue ich«, bekannte sein Cousin freimütig. »Weil es Plunder ist.«

»Aber die Leute mögen es. Eine schöne Frau kann den Garten ungemein beleben. Ich meißle eine für dich, wenn du magst.«

»Du hast ja selbst keinen Respekt vor deiner Arbeit«, sagte Stephen bissig. »Und das verabscheue ich am meisten daran.«

»Du irrst dich«, entgegnete Cam. Er streckte seine Hände aus und betrachtete sie. Sie waren breit und kräftig und wiesen dort, wo in der Vergangenheit der Meißel ausgerutscht war, kleine Narben auf. »Ich bin stolz auf meine Göttinnen. Mit ihnen habe ich schon viel Geld verdient.«

»Das ist kein hinreichender Grund, um weitere nackte Frauen herzustellen!«, fauchte Stephen.

»Aber das ist doch nicht der einzige Grund. Mein Talent liegt nun einmal darin, nackte Frauen aus Stein zu meißeln, Stephen. Nicht Dartpfeile oder Boote. Ich kann einfach keine nützlichen Dinge anfertigen. Aber ich kann den sanft gerundeten Bauch einer Frau so darstellen, dass dich beim bloßen Anblick Begierde überkommt.«

Stephen zog missbilligend eine Braue hoch, schwieg jedoch.

Cam wandte sich mit einem entschuldigenden Achselzucken an Rounton und Finkbottle. »Bitte vergeben Sie uns das familiäre Gezänk, Gentlemen. Stephen ist unser Geschenk an die Welt, er setzt sich für verkrüppelte Kriegsveteranen und Schornsteinfegergehilfen ein …«

»Während Cam ein Vermögen damit gemacht hat, Emporkömmlingen wie Pendleton Sladdington mollige nackte Frauen aus rosa Marmor zu verkaufen.«

»Marissa ist nicht mollig«, entgegnete Cam sanft. Dann streckte er die Hand aus und drückte Stephens Schulter. »Ist ein gutes Gefühl, wieder mit dir zu streiten. Hab dich vermisst, du nüchterner Moralapostel.«

Rounton räusperte sich diskret. »Darf ich nun davon ausgehen, dass Euer Gnaden den Earl zu einem Besuch auf Troubridge Manor begleiten werden?«

Cam nickte. »Mir ist eben wieder eingefallen, dass ich ein Geschenk für Gina habe, das mir aus dem Nachlass ihrer Mutter geschickt worden ist. Ich werde es ihr persönlich geben … wenn Stephen sich darum kümmert, dass binnen eines Tages nach meiner Ankunft ein Marmorblock mit rund dreißig Zentimeter Kantenlänge angeliefert wird.«

»Aber nur, wenn du daraus etwas anderes als einen Frauenkörper machst!«, herrschte Stephen ihn an.

»Eine Herausforderung!«, frohlockte Cam.

»Nichts weniger als das«, gab sein Cousin zurück. »Ich bezweifle, dass du etwas anderes meißeln kannst als lebensgroße weibliche Torsi.«

»Aus einem Block dieser Größe kann ich wohl kaum einen lebensgroßen Torso hauen. Aber versprich mir, dass du das Ergebnis, was es auch sei, in deinem Hause aufstellst. Dann ist der Handel perfekt.«

»Einverstanden.«

Rounton seufzte innerlich. Jetzt würde es darauf ankommen, ob die Schönheit der Herzogin das Herz ihres Gatten gewann. Er hatte sein Möglichstes getan, indem er die beiden für eine gewisse Zeitspanne zueinanderbrachte. Nun musste er darauf vertrauen, dass die Natur ihren Lauf nahm. Die junge Herzogin war berühmt für ihr rotes Haar und ihre grünen Augen. Als der Anwalt nach London zurückkehrte, betete er zu den Göttern, dass Girton zumindest ihrem Haar nicht widerstehen könnte.

Stephen blieb im Queen’s Smile und leistete seinem Cousin weiterhin Gesellschaft. Er schickte Cams Diener nach London, um seinen eigenen Kammerdiener, ein wenig Gepäck und den Marmorblock holen zu lassen. Es war seltsam anheimelnd, in einem Gasthaus am Ende der Welt zu sitzen, Brandy zu trinken und auf freundschaftliche Weise mit seinem letzten lebenden Verwandten zu streiten.

Später am Abend gesellte sich Tuppy Perwinkle zu den beiden Vettern. Offenbar war es dem Stellmacher nicht möglich gewesen, die Achse seines Gigs vor dem nächsten Morgen zu reparieren.

»Wie geht es Ihnen, Sir?«, fragte er und schüttelte Stephen die Hand.

Stephen waren die blauen Augen des Mannes sofort sympathisch. »Sehr gut«, erwiderte er. »Wohnen Sie in diesem Teil des Landes?«

»Lass ihn in Ruhe, Stephen«, sagte Cam und hob den Blick von seinem fünften Versuch, einen Wurfpfeil zu schnitzen. »Tuppys Haus liegt in Kent, das fällt nicht in deinen Wahlbezirk. Du brauchst bei ihm nicht auf Stimmenfang zu gehen.«

Stephen presste die Lippen zusammen. »Das war nur eine höfliche Frage!«, blaffte er. Da er sah, wie Tuppy fragend eine Braue hob, erklärte er: »Ich bin zum Abgeordneten für Oxfordshire gewählt worden.«

Tuppy nickte. »Gratuliere.«

Stephen verneigte sich leicht und wandte sich seinem Cousin zu. »Woher um alles in der Welt hast du gewusst, dass ich ins Unterhaus gewählt worden bin? Behaupte jetzt nicht, dass die London Times es bis nach Griechenland geschafft hat.«

»Tatsächlich ist es so. Nicht, dass viel von Interesse darinstünde«, gestand Cam. »Nein, ich habe es natürlich von Gina gehört. Sie hat mir von deinem Wahlkampf berichtet. Ich habe dir sogar eine Stimme verschafft.«

Stephen schaute sehr zweifelnd drein.

»Habe ich wirklich!«, versicherte Cam. »So ein alter Umstandskrämer namens Peter Parkinson ist an meinem Tisch gelandet. Er war aus Oxford und versprach feierlich, für dich zu stimmen.«

»Danke! Begegnest du dort unten vielen Engländern?«

»Es werden immer mehr«, antwortete Cam. »Sie kommen aus Neugier, schätze ich. Man muss nicht einmal zwei Pennys Eintritt bezahlen, um den verrückten englischen Herzog besichtigen zu können. Und als Dreingabe nimmt man eine Statue für den Garten mit, wenn man es sich leisten kann. Ich verlange in letzter Zeit exorbitante Preise.«

Stephen schnaubte verächtlich. »Du benutzt deinen Titel, um deine Skulpturen zu verkaufen?«

»Ganz genau. Sonst nützt er mir ja nicht viel. Er ist doch nur dazu gut, ihn an einen Sohn weiterzugeben, und ich hege nicht den Wunsch, mir einen Sohn zuzulegen.«

»Du könntest doch heiraten, sobald diese Annullierung vollzogen ist«, gab Stephen zu bedenken.

»Verdammt unwahrscheinlich«, brummte Cam. Als er sich nicht weiter dazu äußerte, sprach Stephen rasch über etwas anderes.

»Was tun Sie in diesem Teil der Welt, Lord Perwinkle?«, erkundigte er sich.

»Ich bin auf dem Weg zu einem Besuch bei meiner Tante. Sie ist eine drollige alte Seele und gibt zu dieser Jahreszeit immer eine Hausgesellschaft. Sie will, dass ich dort erscheine und mich als ihr Erbe präsentiere, auch wenn ich nicht ganz ihren Erwartungen entspreche.« Er grinste schwach. »Sie wird schreien, bis sie blau anläuft, wenn sie mich in diesem Aufzug sieht, es sei denn, mein Diener spürt mich hier vorher doch noch auf. Er ist mir nämlich mit dem Gepäck nachgereist.«

»Was zum Teufel ist denn an Ihren Kleidern falsch?«, wollte Cam wissen.

Tuppy lachte. »Nichts, das nicht auch an Ihren falsch wäre.«

Cam trug ein weißes Leinenhemd, das er in die graue Hose gestopft hatte. Keines seiner Kleidungsstücke war modern oder neu, dafür jedoch bequem und außerordentlich sauber.

»Wer ist denn Ihre Tante?«, fragte Stephen.

»Lady Troubridge von East Cliff.«

»Wenn Ihr Gig morgen noch nicht repariert ist, nehmen wir Sie mit. Das ist nämlich die Hausgesellschaft, auf der du deine Frau treffen wirst, Cam.«

Er brummte nur und blickte nicht von seinem Pfeil auf.

Tuppy lächelte schief. »Dann werden wir wohl beide das Vergnügen haben, unsere Ehefrauen zu treffen.«

Als er dies hörte, schaute Cam auf. »Ich dachte, Sie hätten die Ihre verloren.«

»Was nicht bedeutet, dass wir uns nicht hier und da begegnen. In der Regel aber nur bei dieser Hausgesellschaft. Ich muss mich dort sehen lassen, andernfalls droht meine Tante, mich zu enterben. Ich verbringe meine Zeit dort mit Angeln. Auf den Ländereien meiner Tante gibt es einen Fluss mit reichen Forellenbeständen.«

»Was muss man sich unter dieser Hausgesellschaft eigentlich vorstellen?« Cam schnitzte immer noch eifrig an seinem Pfeil.

»Sie ist schlichtweg ein Ärgernis. Meine Tante hält sich für die Gastgeberin eines Literatenzirkels. Deshalb treiben sich auf ihren Gesellschaften immer eine Menge schlechter Dichter und liederlicher Schauspieler herum, außerdem einfältige junge Mädchen, herausgeputzt für ihre Einführung in die Gesellschaft. Und natürlich ist der Bekanntenkreis meiner Frau anwesend.«

Als er Stephens fragend erhobene Braue bemerkte, setzte er erklärend hinzu: »Junge verheiratete Frauen, die sich in ihrem Leben zu Tode langweilen – reich genug, um jegliche Anstandsregel zu missachten, und unzufrieden genug, um es auch zu tun.«

Cam blickte auf. »Und meine Herzogin zählt zu diesem Kreise?«

Tuppy lächelte verzagt. »Ganz recht, Euer Gnaden. Ich glaube, sie ist eine der engsten Freundinnen meiner Frau.«

»Reden Sie mich nicht so geschwollen an«, sagte Cam ungeduldig. »Ich kann diesen Firlefanz nicht ausstehen. Nennen Sie mich Cam, wenn ich bitten darf. Warum haben Sie mir nicht schon gestern enthüllt, dass unsere Frauen befreundet sind?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass dies so wichtig wäre«, erwiderte Tuppy erstaunt.

»Gina hatte es immer schon faustdick hinter den Ohren. Weißt du noch damals, als sie uns zum Angeln gefolgt ist, Stephen?« Cam wandte sich wieder an Tuppy. »Wir wollten sie nicht mitnehmen, weil sie ein Mädchen ist. Da ist sie uns heimlich gefolgt und hat uns das Mittagessen gestohlen, während wir angelten.«

Stephen schnaubte vor Lachen. »Das hatte ich ja ganz vergessen!«

»Und was hat sie damit gemacht? Weggeworfen?«, fragte Tuppy.

»Nein, das wäre ja viel zu einfach gewesen. Wir hatten ihr gesagt, sie könne nicht mit, weil Mädchen ja keinen Wurm anfassen können, ohne zu kreischen. Also hat sie sorgfältig jede Pastete und jeden Kuchen aufgeklappt und Würmer dazwischengesteckt. Sogar den Korb hat sie sauber mit Würmern ausgelegt.«

»Nachdem wir den ersten Schreck überwunden hatten«, setzte Stephen fort, »fanden wir den Einfall großartig. Denn wir hatten nun zwar kein Mittagessen mehr, dafür aber Köder für eine ganze Woche.«

Cam grinste. »Am nächsten Tag haben wir Gina natürlich mitgenommen.«

»Sie hat mehr Fische gefangen als jeder von uns.«

»Wenn ich jetzt so darüber nachdenke«, sinnierte Cam, »dann passt es durchaus zu Gina, sich mit derart zügellosen Freundinnen zu umgeben.«

»Soweit ich weiß, tun sie und ihre Freundinnen nichts anderes, als Skandale zu provozieren«, berichtete Tuppy. »Manchmal glaube ich, meine Frau hat mich nur deshalb verlassen, weil es als langweilig gilt, mit dem eigenen Ehemann zusammenzuleben.«

Stephen warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Das ist ein außergewöhnlich leichtsinniger Grund, den ehelichen Banden zu entfliehen«, bemerkte er.

Tuppy zuckte die Achseln. »Keine von ihnen hat ihren Ehemann bei sich. Ihre Frau« – er nickte Cam zu – »hat Sie, doch Sie leben im Ausland. Esme Rawlings hat einen Gatten, doch sie leben schon seit einer Ewigkeit getrennt. Wohlgemerkt, auch er macht kein Hehl aus seinen Affären. Die Letzte war übrigens Lady Godwin.«

»Oh«, machte Stephen. »Das ist doch Rees Hollands Frau, nicht wahr?«

»Der wiederum hat sich eine Opernsängerin in sein Haus in Mayfair geholt«, erzählte Tuppy. »Zumindest wird das behauptet.«

Stephen runzelte die Stirn.

»Also sind sie alle ohne Ehemann und können tun und lassen, was ihnen gefällt«, sagte Cam nachdenklich.

Schweigen breitete sich über die kleine Gruppe, nur unterbrochen von dem leisen Schaben, wenn Cams Messer über den Pfeil glitt.

4

Häusliche Freuden

Troubridge Manor, East Cliff

Emily Troubridge hielt sich für eine wahrhaft glückliche Frau. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte sie das Glück gehabt, einen Mann zu heiraten, dessen hervorstechende Eigenschaften seine Lebensjahre und seine Aktien an der Londoner Börse waren, denn von beidem besaß er enorm viel. Tatsächlich war ihr Gemahl, wie ihr ein Cousin noch am Morgen der Hochzeit zugeflüstert hatte, mit doppelt so vielen Falten wie Methusalem und mit mehr Reichtümern als Midas gesegnet.

Niemand hatte Emily indes zur Ehe gezwungen. Nachdem Troubridge verkündet hatte, dass er den Reizen der jungen Miss Emily erlegen war, die Fügsamkeit mit zu erwartender Fruchtbarkeit verband, nahm Emilys Mutter kein Blatt vor den Mund, als sie die Vorteile der Verbindung aufzählte. Troubridge war alt und würde seiner blutjungen Frau infolgedessen nicht allzu lange zur Last fallen. Er war reich, mithin würde sie sowohl auf dem Lande als auch in der Stadt über eine Zofe verfügen können – und über mehr betrunkene Lakaien, als sie jemals benötigte!

Und tatsächlich tat Lord Troubridge schon bald seinen letzten Atemzug. Zu Emilys kaum verhohlener Erleichterung erlitt er nach nur zwei Monaten ehelicher Freuden einen Herzanfall. Nach der Beerdigung folgten zwei bange Wochen, in denen sowohl Familie als auch Bekannte darauf lauerten, ob Emilys Fruchtbarkeit ihre Schuldigkeit getan hatte, doch nachdem sich keinerlei Nachwuchs einstellte, fasste Lady Troubridge den Vorsatz, es sich fürderhin gut gehen zu lassen und so viel wie menschenmöglich von ihren jährlichen Einkünften auszugeben.

Anfänglich liebäugelte sie mit der Idee einer zweiten Ehe, begriff jedoch rasch, dass sie an einem langjährigen Bettgenossen kein Interesse hatte. Und noch weniger wollte sie, dass ein Mann ihr den Geldbeutel enger schnürte. Also ließ sie den Erben ihres Mannes, Lord Peregrine Perwinkle, besser bekannt als Tuppy, zu sich kommen, versicherte ihm, dass sie niemals wieder heiraten würde, und begann damit, jeden Penny ihres lieben, verstorbenen Mannes auszugeben, der nicht als Erblehn festgelegt war.

Im Laufe der nächsten Jahre entwickelte sich Emily Troubridge zu einer Frau, die ihr verstorbener Mann nicht wiedererkannt hätte. Ihr Auftreten wurde herrisch und autoritär. Ihre Kleidung nahm jenen exaltierten Stil an, der nur für jene geeignet war, die entweder sehr schön waren oder (wie Lady Troubridge) ihrer Modistin Unsummen zahlten. Emilys Gesicht war blass und zu lang, doch es wurde Tag für Tag durch eisernen Willen und den geschickten Einsatz von Kosmetik seitens ihrer Zofe in etwas Liebliches verwandelt.

Im Laufe der Zeit wurden Lady Troubridges Feste immer beliebter – besonders jene, die sie während der öden Sommermonate nach Ende der Saison und vor der Parlamentseröffnung veranstaltete. Die Gesellschaft lechzte förmlich nach ihren Einladungen, da die Zusammenkünfte im Hause Troubridge alles boten: von saftigen Skandalen bis zum Heiratsmarkt. Somit fand jedweder seine Art der Unterhaltung, sowohl diejenigen auf Partnersuche als auch die, die die Ehefesseln abstreifen wollten. Und da Lady Troubridge sehr moderne Ansichten hinsichtlich der Gartenkultur hegte, hatte sie ihren Park mit kleinen griechischen Tempeln und runden Wintergärten bestückt und damit Rückzugsmöglichkeiten geschaffen, die für jede Art der Zusammenkunft geeignet waren.

Junge Herren strömten herbei, um in Troubridges Wäldern Fasane zu jagen und mit charakterlosen verheirateten Frauen zu flirten. Und wo unverheiratete Männer weilten, waren auch kuppelnde Mütter nicht fern, deren Töchter wie mit Bändern geschmückte Spaniels hinter ihnen hertrotteten.

Ebenso wie die Spitzen der feinen Gesellschaft lud Lady Troubridge auch stets eine Schar Schauspieler, Musiker und Künstler ein, die den Festen in der Hoffnung beiwohnten, einen Gönner zu finden. Überdies konnten sie damit rechnen, einen Monat lang in Saus und Braus zu leben.

Natürlich erforderte die Anwesenheit künstlerischer Temperamente Lady Troubridges ganzes Gastgeberkönnen. Doch wie sie ihrer Freundin Mrs Austerleigh mitteilte, stellten die Künstler auch kein größeres Problem dar als die Liebespaare. Und deren gab es viele, zumindest in diesem Sommer.

»Da haben wir zum Beispiel Miles Rawlings und Lady Randolph Childe«, zählte sie an den Fingern auf. »Und ich glaube, Rawlings Frau wird uns Bernie Burdett als ihren neuesten Flirt präsentieren. Wie sie seine Gesellschaft erträgt, ist mir ein Rätsel!«

»Mir nicht«, entgegnete Mrs Austerleigh. »Er sieht furchtbar gut aus, weißt du, und Esme Rawlings hat eine Schwäche für schöne Männer.«

Solche Schwächen waren Lady Troubridge unbekannt. Sie schnaubte nur verächtlich. »Sir Rushwood hat herumgedruckst und mir gestern schließlich gestanden, dass er im gleichen Stockwerk wie Mrs Boylen untergebracht zu werden wünscht.«

»Ach ja?«, kicherte Mrs Austerleigh. »Ach, du meine Güte, ich erinnere mich noch gut, wie sie Boylen zum Mann nahm. Sie ist durch ganz London gerauscht und hat verkündet, dass keine Dame glücklicher sein könne als sie. Damals hat sie wohl noch nichts von seiner kleinen Hure gewusst? Wie viele Kinder hatte er schon: fünf oder sechs, nicht wahr? Das muss dem armen Mädchen ja einen ordentlichen Schrecken versetzt haben.«

»Und dann natürlich unsere liebe Herzogin«, fuhr Lady Troubridge in ihrer Aufzählung fort.

Aber Mrs Austerleigh unterbrach sie. »Die Herzogin von Girton? Wer sollte denn deiner Meinung nach deren Liebhaber sein? Oder vielmehr, welcher von beiden?«

»Der Marquis Bonnington natürlich, Liebes. Du wirst doch den Gerüchten über diesen Lehrer keinen Glauben schenken?«

»Ich wüsste keinen Grund, warum ich es nicht glauben sollte. Willoughby Broke behauptet steif und fest, dass er die Herzogin und ihren Lehrer vor Morgengrauen im Gartenhaus gesehen habe.«

»Sie sagt, sie hätten einen Meteorschauer betrachtet.«

»Skandalös ist das, sage ich«, brummte Mrs Austerleigh, während sie überlegte, ob der zum Frühstück gereichte kalte Schellfisch möglicherweise schlecht gewesen sei. Denn ihrem Magen ging es gar nicht gut.

»Die Herzogin verhält sich nicht unehrenhafter als Mrs Boylen.«

»Oh doch, das tut sie! Mrs Boylen wahrt Diskretion. Aber die Herzogin wurde nachts mit einem Mann gesehen – und zwar mit einem Bediensteten!« Es gehörte schon einiges dazu, Mrs Austerleigh in Empörung zu versetzen, und der Fehltritt der Herzogin empörte sie zutiefst.

»Jedenfalls glaube ich es einfach nicht«, sagte Lady Troubridge. »Die Herzogin und Mr Wapping! Er ist ein merkwürdiger kleiner Mann. Hast du ihn schon kennengelernt?«

»Natürlich nicht.« Mrs Austerleigh kicherte. »In meinem Alter sehe ich keinerlei Anlass, wieder zur Schule zu gehen!«

»Der Tatler hat sich erdreistet, ihn als ›gut aussehend‹ zu bezeichnen. Sein Gesicht ist voller Haare, was mir überhaupt nicht gefällt. Außerdem legt er ein äußerst eingebildetes Verhalten an den Tag. Knole hat sich schon darüber beschwert, dass er nicht wisse, wo sein Platz ist.«

»Aber das behaupten Butler doch immer, nicht wahr? Meiner macht auch immer ein großes Aufheben darum, wenn der Diener von irgendjemandem seine Stellung nicht kennt. Aber ob Meteorschauer oder nicht, die Herzogin sollte vorsichtiger sein. Denn der Marquis Bonnington ist für einen so jungen Mann sehr prüde.«

»Hast du schon das Gerücht gehört, dass der Ehemann der Herzogin nach England zurückgekehrt ist?«

»Nein!«

»Aber ja. Und meiner Einschätzung nach kann es dafür nur einen Grund geben: Bonnington muss um ihre Hand angehalten haben.«

»Ich vermute, das war vor dieser Wapping-Geschichte«, meinte Mrs Austerleigh. »Ich finde es immer noch sehr merkwürdig, dass sie ihren Lehrer zu deiner Hausgesellschaft mitgebracht hat, Liebes.«

»Mr Wapping hat ohnehin etwas Seltsames an sich«, stimmte Lady Troubridge der Freundin zu. »Vielleicht ist er ein verarmter jüngerer Sohn oder so etwas. Denn er …«

Doch bevor sie ihre tieferen Einsichten mitteilen konnte, sprang die Tür auf und ihre Haushälterin Mrs Massey brachte ein dringendes Anliegen vor. Sie habe soeben entdeckt, dass sich über den Winter Mäuse in der Bettwäsche eingenistet hätten, und was gedenke Ihre Ladyschaft dagegen zu unternehmen?

Mrs Austerleigh war nicht die Einzige auf Troubridge Manor, die fand, dass Lehrer auf Hausgesellschaften nichts zu suchen hätten.

»Ich sähe es gern, wenn du in Erwägung zögest, deinen Lehrer zu entlassen«, sagte Marquis Bonnington zu seiner Verlobten, der Herzogin, während er ihr eine geschälte Birne reichte. »Es ist einigermaßen ungewöhnlich, einen Geschichtslehrer zu einer Hausgesellschaft mitzubringen.« Dann setzte er unklugerweise hinzu: »Und es gibt nichts Langweiligeres als einen Blaustrumpf.«

Weiche Lippen streiften seine Wange. »Bin ich denn so langweilig?«, fragte eine verführerische Stimme.

»Lass das bitte, Gina!«