Ein reizender Job für eine Frau - P. D. James - E-Book

Ein reizender Job für eine Frau E-Book

P. D. James

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Beschreibung

Mit diesem Krimi stellte P. D. James die Krimiszene auf den Kopf, indem sie die Rolle des Privatdetektivs zum ersten Mal mit einer Frau besetzte. Auftritt Cordelia Gray, die in der altehrwürdigen Universitätsstadt Cambridge einen vermeintlichen Selbstmord untersucht – und dabei in ein mörderisches Wespennest sticht. "Die größte Krimiautorin unserer Zeit …" Sunday Times

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P.D. James

Ein reizender Job für eine Frau

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Wolfdietrich Müller

Für Jane und Peter,

die zwei meiner Figuren freundlicherweise erlaubten, in der Norwich Street 57 zu wohnen.

Vorbemerkung der Verfasserin

Ein Kriminalschriftsteller hat aufgrund seines unerfreulichen Handwerks die Pflicht, in jedem Buch wenigstens eine höchst verwerfliche Person zu schaffen, und es ist vielleicht unvermeidlich, dass ihre blutigen Verbrechen von Zeit zu Zeit in die Behausungen der Gerechten eindringen. Ein Autor, dessen handelnde Personen ihre Tragikomödie in einer alten Universitätsstadt aufzuführen belieben, steht vor einer besonderen Schwierigkeit. Er kann die Stadt natürlich Oxbridge nennen, kann nach unwahrscheinlichen Heiligen benannte Colleges erfinden und seine Personen auf den Camsis schicken, um Boot zu fahren, aber dieser scheue Kompromiss verwirrt nur gleichermaßen Akteure, Leser und den Autor selbst, mit dem Ergebnis, dass keiner mehr weiß, wo er sich befindet, und zwei Gemeinden eine Gelegenheit finden, gekränkt zu sein.

Den größten Teil dieser Geschichte habe ich ohne Bedenken in Cambridge angesiedelt, einer Stadt, in der unstreitig Polizisten, Untersuchungsrichter, Ärzte, Studenten, Collegemitarbeiter, Blumenverkäufer, Universitätslehrer, Naturwissenschaftler und zweifellos sogar pensionierte Majore leben und arbeiten. Keiner von ihnen hat meines Wissens die geringste Ähnlichkeit mit seinem Pendant in diesem Buch. Alle Personen, auch die unerfreulichsten, sind frei erfunden; die Stadt ist es zum Glück für uns alle nicht.

 

P. D. J.

1. Kapitel

Am Morgen von Bernie Prydes Tod – oder vielleicht am Morgen danach, denn Bernie starb aus freien Stücken und hielt es nicht für wichtig, die mutmaßliche Zeit seines Hinscheidens mitzuteilen –, an jenem Morgen wurde Cordelia wegen einer Betriebsstörung der Bakerloo Line vor Lambeth North aufgehalten und kam eine halbe Stunde zu spät ins Büro. Sie kam aus dem U-Bahnhof Oxford Circus herauf in die strahlende Junisonne, eilte an den ersten Passanten vorbei, die bei Dickins & Jones die Auslage prüften, tauchte in den schrillen Lärm der Kingly Street und schlängelte sich zwischen dem überfüllten Bürgersteig und den zahllosen glänzenden Autos und Lieferwagen durch, die die schmale Straße verstopften. Die Eile, das wusste sie, war unsinnig, ein Symptom ihrer zwanghaften Vorstellung von Ordnung und Pünktlichkeit. Es waren keine Termine vorgemerkt, kein Klient wartete auf ein Gespräch, es gab keinen unerledigten Fall, nicht einmal ein Schlussbericht musste geschrieben werden. In der Hoffnung, Kundschaft zu gewinnen, waren sie selbst und Miss Sparshott, die Aushilfsschreibkraft, zurzeit damit beschäftigt, Informationen über das Büro an sämtliche Londoner Anwälte in Umlauf zu bringen; Miss Sparshott saß vermutlich jetzt über dieser Arbeit, ließ ihre Augen immer wieder zu ihrer Armbanduhr schweifen und hämmerte ihren Ärger über jede einzelne Minute, die Cordelia bereits zu spät war, aus sich heraus. Sie war eine reizlose Frau, mit Lippen, die sie stets zusammenpresste, als wolle sie ihre vorstehenden Zähne daran hindern, aus dem Mund zu springen, einem fliehenden Kinn mit einem einzelnen starken Haar, das genauso schnell wieder nachwuchs, wie es ausgezupft wurde, und blondem, in steife, enge Wellen gelegtem Haar. Dieses Kinn und dieser Mund erschienen Cordelia als die leibhaftige Widerlegung des Satzes, dass alle Menschen gleich geboren seien, und sie versuchte von Zeit zu Zeit, Miss Sparshott zu mögen und Mitleid mit ihrem Leben zu empfinden, das sie in einem Wohnschlafzimmer führte und das sich in Fünf-Penny-Stücken, mit denen der Gasofen gefüttert wurde, bemaß; ein Leben, umgrenzt von Kappnähten und Handgesäumtem. Denn Miss Sparshott war eine geschickte Schneiderin und eifrige Besucherin der von der Stadt veranstalteten Abendkurse. Ihre Kleider waren schön gearbeitet, aber so zeitlos, dass sie nie wirklich in Mode waren; Röcke in Grau und Schwarz, die so schlicht waren, dass sie wie Übungen zum Faltennähen oder Reißverschlusseinsetzen erschienen; Blusen mit Männerkragen und Umschlagmanschetten in faden Pastelltönen, auf denen sie ohne jeden Geschmack ihren Modeschmuck verteilte; knifflig geschnittene Kleider, die genau in der richtigen Länge umgenäht waren, um ihre unschönen Beine und plumpen Fesseln zu unterstreichen.

Cordelia hatte keine schlimme Vorahnung, als sie die Haustür aufstieß, die zur Bequemlichkeit der verschwiegenen und geheimnisvollen Mieter und ihrer ebenso geheimnisvollen Besucher immer nur eingeklinkt war. Die neue Bronzetafel links der Tür glänzte hell in der Sonne und hob sich ungehörig von dem verblassten, schmutzverschmierten Anstrich ab. Cordelia warf einen kurzen, stolzen Blick darauf.

 

Prydes Detektivbüro

Inh.: Bernard G. Pryde – Cordelia Gray

 

Cordelia hatte ein paar Wochen lang ihre ganze Überredungskunst aufbringen müssen, bis sie Bernie geduldig und taktvoll davon überzeugt hatte, dass es unpassend wäre, seinem Namen den Titel »Kriminalbeamter a. D.« anzufügen oder ihrem ein »Miss« voranzustellen. Sonst hatte es wegen der Tafel keine Konflikte gegeben, da Cordelia keine besonderen Qualifikationen oder einschlägigen Erfahrungen in die Beteiligung eingebracht hatte und in der Tat auch kein anderes Kapital als ihre Jugend, eine beachtliche Intelligenz, die Bernie, wie sie glaubte, gelegentlich eher verwirrend als bewundernswert fand, und eine ebenso kritische wie mitleidige Zuneigung zu Bernie selbst.

Es war Cordelia sehr früh klar geworden, dass sich das Leben irgendwie undramatisch, aber auch unumkehrbar gegen ihn gewandt hatte. Sie erkannte die Zeichen. Bernie erwischte nie den begehrten Platz links vorne im Bus; er konnte nie die Aussicht von einem Zugfenster aus genießen, ohne dass sie prompt von einem anderen Zug verdeckt wurde; das Brot, das er fallen ließ, landete stets mit der bestrichenen Seite auf dem Boden; der Mini, der bei ihr ziemlich zuverlässig fuhr, blieb bei Bernie auf den belebtesten und ungünstigsten Kreuzungen stehen. Manchmal fragte sie sich, ob sie sein ganzes Pech nicht zu bereitwillig akzeptiert hatte, als sie in einem Anfall von Depression oder perversem Masochismus auf sein Angebot eingegangen war. Gewiss hielt sie sich niemals für stark genug, ihm etwas entgegenzusetzen.

Das Treppenhaus roch wie immer nach abgestandenem Schweiß, nach Möbelpolitur und Desinfektionsmitteln. Die Wände waren dunkelgrün gestrichen und immer feucht, ganz gleich zu welcher Jahreszeit, als schieden sie einen Gifthauch verzweifelter Ehrbarkeit und Resignation aus. Die Treppe mit ihrem reich verzierten schmiedeeisernen Geländer war mit rissigem und fleckigem Linoleum belegt, das von dem Hausbesitzer nur dann, wenn sich ein Mieter beklagte, in den verschiedensten unpassenden Farben geflickt wurde. Das Büro befand sich im dritten Stock. Cordelia hörte kein Schreibmaschinengeklapper, als sie eintrat, und sah, dass Miss Sparshott gerade ihre Maschine reinigte, eine altertümliche Imperial, die ein ständiger Anlass zu berechtigter Klage war. Als Miss Sparshott aufsah, war ihr Gesicht vor Groll rot gefleckt, ihr Rücken steif wie die Leertaste.

»Ich war schon gespannt, wann Sie wohl aufkreuzen, Miss Gray. Ich mache mir Gedanken wegen Mr. Pryde. Ich meine, er muss im hinteren Büro sein, aber man hört nichts von ihm, überhaupt nichts, und die Tür ist abgeschlossen.«

Cordelia überkam ein Kältegefühl, als sie am Türgriff rüttelte.

»Warum haben Sie nichts unternommen?«

»Was hätte ich unternehmen sollen, Miss Gray? Ich habe an die Tür geklopft und laut gerufen. Ich bin hier nur die Aushilfsschreibkraft, ich habe keinerlei Vollmachten. Ich wäre in eine sehr peinliche Lage geraten, wenn er geantwortet hätte. Schließlich hat er das Recht, sich in seinem Büro aufzuhalten. Außerdem bin ich nicht einmal sicher, ob er da ist.«

»Er muss da sein. Die Tür ist abgeschlossen, und sein Hut ist hier.«

Bernies Schlapphut mit seinem ringsum aufgeschlagenen fleckigen Rand hing an dem gewundenen Hutständer, ein Symbol hoffnungsloser Hinfälligkeit. Cordelia suchte in ihrer Umhängetasche nach ihrem eigenen Schlüssel. Wie üblich war das, was sie am dringendsten brauchte, auf den Grund der Tasche gerutscht. Miss Sparshott begann auf die Tasten einzuhauen, als wollte sie sich vor einem bevorstehenden Schock schützen. Durch den Lärm hindurch sagte sie, wie zu ihrer Verteidigung: »Auf Ihrem Tisch liegt ein Brief.«

Cordelia riss ihn auf. Er war kurz und eindeutig. Bernie hatte sich immer knapp ausdrücken können, wenn er etwas zu sagen hatte:

 

Es tut mir leid, Partner, aber man hat mir Krebs diagnostiziert, und ich mache mich auf dem bequemeren Weg davon. Ich habe gesehen, was die Behandlung den Menschen antut, ich werde mich keiner unterziehen. Mein Testament liegt bei meinem Anwalt. Du findest seinen Namen in der Schreibtischschublade. Ich habe Dir das Geschäft vermacht. Alles, einschließlich des ganzen Inventars. Viel Glück und danke.

 

Darunter hatte er mit der Unbesonnenheit des Verurteilten eine letzte rücksichtslose Bitte gekritzelt:

 

Wenn Du mich lebend findest, rufe um Himmels willen nicht gleich um Hilfe. Ich verlasse mich auf Dich, Partner. Bernie.

 

Sie schloss die Tür zum hinteren Büro auf, ging hinein und zog sie sorgfältig hinter sich zu. Mit Erleichterung sah sie, dass es nicht notwendig war zu warten. Bernie war tot. Er lag auf dem Schreibtisch, als sei er in äußerster Erschöpfung zusammengebrochen. Seine geballte rechte Hand hatte sich halb geöffnet, und ein aufgeklapptes scharfes Rasiermesser war über die Schreibtischplatte gerutscht, hatte einen dünnen Blutfaden hinterlassen, wie eine Schneckenspur, und war in unsicherem Gleichgewicht am äußeren Rand des Tisches liegen geblieben. Sein linkes Handgelenk lag, von zwei parallelen Schnitten geritzt, mit der Innenseite nach oben in der Emailschüssel, die Cordelia zum Geschirrabwaschen benutzte. Bernie hatte sie mit Wasser gefüllt, aber jetzt war sie bis an den Rand voll von einer blassen rötlichen Flüssigkeit, die widerlich süß roch und durch die seine Finger, die wie zum Gebet gebogen und weiß und zart wie die eines Kindes waren, wächsern schimmerten. Blut und Wasser waren auf Schreibtisch und Boden übergeschwappt und hatten den prunkvollen Teppich durchnässt, den Bernie vor Kurzem gekauft hatte in der Hoffnung, Klienten zu beeindrucken, der aber, wie Cordelia insgeheim meinte, nur auf die Armseligkeit aller anderen Dinge im Büro aufmerksam machte. Einer der Schnitte war zaghaft und oberflächlich, aber der andere war bis auf den Knochen gegangen, und die gespaltenen Ränder der Wunde, aus der alles Blut ausgetreten war, klafften säuberlich auseinander wie auf einer Illustration in einem anatomischen Lehrbuch. Cordelia erinnerte sich, wie ihr Bernie einmal die Entdeckung eines Selbstmordversuchs, als er zum ersten Mal als junger Polizist auf Streife ging, beschrieben hatte. Es war ein alter Mann gewesen, der im Eingang eines Warenhauses kauerte und sich das Handgelenk mit einer zerbrochenen Flasche zerfetzt hatte, später aber in ein unentschiedenes Halbleben zurückgeholt worden war, weil ein großer Blutpfropfen die durchschnittenen Venen blockiert hatte. Bernie hatte offenbar Vorsorge getroffen, um sicherzustellen, dass sein Blut nicht gerinnen würde. Und er hatte, wie Cordelia bemerkte, noch eine andere Vorsichtsmaßnahme ergriffen: Rechts auf dem Schreibtisch stand eine leere Teetasse, jene, in der sie ihm seinen Nachmittagstee brachte, und an ihrem Rand und an der Seite klebten Körnchen eines Pulvers, Aspirin vielleicht oder ein Beruhigungsmittel. Ein getrockneter Schleimtropfen von gleicher Farbe hing an Bernies Mundwinkel. Sein Mund war gespitzt und stand etwas offen wie bei einem schlafenden Kind, launisch und verletzlich. Sie streckte ihren Kopf durch die Bürotür und sagte ruhig:

»Mr. Pryde ist tot; kommen Sie nicht herein. Ich rufe die Polizei von hier aus an.«

Ihre telefonische Nachricht wurde gelassen entgegengenommen; jemand würde vorbeikommen. Als sie neben dem Toten saß und wartete, fühlte Cordelia, dass sie irgendeine Geste des Bedauerns oder des Trostes machen musste, und legte ihre Hand auf Bernies Kopf. Der Tod hatte bis jetzt noch keine Macht, diese kalten und nervenlosen Zellen zu verändern, und das Haar fasste sich rau und unangenehm lebendig an wie das eines Tieres. Schnell zog sie ihre Hand wieder weg und berührte prüfend seine Schläfe. Die Haut war klebrig und sehr kalt. Das war der Tod; so hatte sich auch ihr Vater angefühlt. Wie schon bei ihm war die Geste des Bedauerns auch hier sinnlos und unwichtig. Es gab im Tod keine stärkere Verbindung als im Leben.

Sie fragte sich, wann Bernie genau gestorben war. Niemand würde es je erfahren. Vermutlich hatte auch Bernie es selbst nicht mehr wahrgenommen. Doch es musste, dachte sie, eine messbare Sekunde in der Zeit gegeben haben, in der er aufgehört hatte, Bernie zu sein, und diese unwesentliche, aber peinlich unhandliche Masse aus Fleisch und Knochen geworden war. Wie seltsam, dass ein Stückchen Zeit, das so wichtig für ihn war, ohne sein Wissen vorübergegangen war. Ihre zweite Pflegemutter, Mrs. Wilkes, hätte wohl gesagt, Bernie habe gewiss erfahren, dass es einen Augenblick unbeschreiblicher Herrlichkeit, leuchtender Türme, grenzenlosen Klingens, triumphierender Himmel gab. Arme Mrs. Wilkes! Als Witwe – ihr einziger Sohn war im Krieg gefallen, und ihr kleines Haus war ständig erfüllt vom Lärm der Pflegekinder, die ihr Lebensunterhalt waren – hatte sie ihre Träume gebraucht. Sie hatte ihr Leben nach tröstlichen Maximen gelebt, die sie hortete wie Kohlebrocken für den Winter. Cordelia dachte zum ersten Mal seit Jahren an sie und hörte wieder die müde, entschlossen heitere Stimme: »Wenn der Herr bei seinem Weggang nicht hereinschaut, wird Er auf seinem Rückweg hereinschauen.« Nun, bei Bernie hatte er weder beim Gehen noch beim Kommen einen Besuch gemacht.

Es war seltsam, aber irgendwie typisch für Bernie, dass er seinen hartnäckigen Optimismus bewahrt hatte, was das Geschäft anging, selbst wenn nichts in der Kasse war als ein paar Münzen für den Gaszähler, und doch die Hoffnung aufs Leben aufgegeben hatte, ohne sich auch nur zu wehren. Hatte er vielleicht im Unterbewusstsein erkannt, dass weder er noch das Büro eine wirkliche Zukunft hatten, und deshalb beschlossen, auf diese Art könne er Leben und Lebensunterhalt einigermaßen ehrenvoll aufgeben? Er hatte es wirksam, aber schmutzig getan, was bei einem ehemaligen Polizisten, der sich mit den Todesarten auskannte, umso mehr überraschte. Er hatte wirklich nicht den leichtesten Ausweg gewählt. Doch dann begriff sie, warum er das Rasiermesser und Tabletten gewählt hatte. Die Waffe. Er hätte die Waffe benutzen können, aber er hatte gewollt, dass Cordelia sie bekäme; er hatte sie ihr hinterlassen, zusammen mit den wackligen Aktenschränken, der antiquierten Schreibmaschine, dem kriminalistischen Handwerkszeug, dem Mini, seiner stoßfesten und wasserdichten Armbanduhr, dem blutgetränkten Teppich, dem peinlich großen Vorrat an Schreibpapier mit dem schmuckvollen Kopf Prydes Detektivbüro – Wir bürgen für Qualität. Das ganze Inventar; er hatte es unterstrichen. Bestimmt hatte er sie dadurch an die Waffe erinnern wollen.

Sie schloss die kleine Schublade unter der Schreibtischplatte auf, zu der nur sie und er einen Schlüssel hatten, und zog die Pistole heraus. Sie steckte immer noch in dem Beutel aus Wildleder mit dem Zugband, den sie dafür genäht hatte, mit drei extra verpackten Schuss Munition. Es war eine halbautomatische .38er; sie hatte nie erfahren, wie Bernie dazu gekommen war, aber sie war sicher, dass er keinen Waffenschein besaß. Sie hatte sie nie als tödliche Waffe angesehen, vielleicht weil Bernies jungenhafte naive Vernarrtheit in die Pistole sie zu einem wirkungslosen Kinderspielzeug degradiert hatte. Er hatte sie gelehrt, ein – wenigstens theoretisch – achtbarer Schütze zu werden. Sie waren zum Üben tief in den Epping Forest gefahren, und ihre Erinnerung an die Waffe verband sich mit gesprenkelten Schatten und dem schweren Geruch modernden Laubes. Sie hatte immer noch die aufgeregten, abgehackten Befehle im Ohr. »Beuge deine Knie ein wenig. Füße auseinander. Arm ausstrecken. Leg jetzt die linke Hand an die Trommel, so, dass du sie umschließt. Richte deine Augen aufs Ziel. Arm gerade, Partner, Arm gerade! Gut! Nicht schlecht, nicht schlecht, durchaus nicht schlecht.« – »Aber Bernie«, hatte sie gesagt, »wir können sie nie abfeuern! Wir haben keinen Waffenschein.« Er hatte gelächelt, das listige, selbstzufriedene Lächeln dessen, der es besser weiß. »Falls wir jemals schießen, dann nur, um unser Leben zu retten. In einem solchen Eventualfall ist die Frage des Scheines irrelevant.« Er war mit diesem hochtrabenden Satz zufrieden gewesen und hatte ihn wiederholt und dabei sein schweres Gesicht wie ein Hund zur Sonne erhoben. Sie hätte gern gewusst, was er in seiner Fantasie gesehen hatte. Sie beide, wie sie in einem einsamen Moor hinter einem Findling kauerten, während die Kugeln den Granit peitschten und die rauchende Waffe von Hand zu Hand ging?

Er hatte gesagt: »Wir müssen sorgfältig mit der Munition umgehen. Nicht dass ich keine bekommen kann …« Das Lächeln war finster geworden bei der Erinnerung an jene geheimnisvollen Verbindungen, an jene allgegenwärtigen Bekannten, die er nur aus ihrer Schattenwelt herbeirufen musste.

Er hatte ihr also die Waffe hinterlassen. Sie war sein wertvollster Besitz gewesen. Cordelia ließ sie, immer noch in der Hülle, in die Tiefen ihrer Umhängetasche gleiten. Es war gewiss unwahrscheinlich, dass die Polizei bei einem eindeutigen Selbstmordfall die Schreibtischschubladen durchsuchte, aber es konnte nicht schaden, das Risiko zu vermeiden. Bernie hatte die Waffe für sie bestimmt, und sie würde sie nicht so einfach preisgeben. Mit der Tasche vor ihren Füßen setzte sie sich wieder neben die Leiche. Sie sprach ein kurzes, in der Klosterschule gelerntes Gebet an den Gott, von dem sie nicht wusste, ob er existierte, für die Seele, an die Bernie nie geglaubt hatte, und wartete ruhig auf die Polizei.

Der erste Polizist, der ankam, war tüchtig, aber jung, noch nicht erfahren genug, um seinen Schock und Ekel angesichts dieses gewaltsamen Todes und sein Missfallen über Cordelias Ruhe zu verbergen. Er blieb nicht lange im hinteren Büro. Als er herauskam, grübelte er über Bernies Nachricht, als könne eine sorgfältige Prüfung ihr einen verborgenen Sinn entlocken. Dann steckte er sie weg.

»Ich muss diese Nachricht vorerst behalten, Miss. Was hat er hier getrieben?«

»Er hat hier nichts getrieben. Das war sein Büro. Er war Privatdetektiv.«

»Und Sie haben für diesen Mr. Pryde gearbeitet? Sie waren seine Sekretärin?«

»Ich war seine Partnerin. So steht es auch in der Nachricht. Ich bin zweiundzwanzig. Er war der Seniorchef; er hat die Firma gegründet. Vorher hat er bei der Londoner Kriminalpolizei unter Superintendent Dalgliesh gedient.«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, bedauerte sie es. Sie waren eine zu versöhnliche, zu naive Verteidigung des armen Bernie. Und der Name Dalgliesh sagte dem Beamten nichts, wie sie sah. Warum auch? Er war ein ganz gewöhnlicher uniformierter Streifenpolizist dieses Stadtbezirks. Man konnte nicht erwarten, dass er wusste, wie oft sie mit höflich verheimlichter Ungeduld Bernies wehmütigen Erinnerungen an seine Zeit bei der Kriminalpolizei, bis er als dienstuntauglich entlassen wurde, oder seinen Lobeshymnen auf Adam Dalglieshs Tugenden und Weisheit zugehört hatte. »Der Chef – das heißt, damals war er einfacher Kommissar – sagte uns immer … Der Chef beschrieb einmal einen Fall … Wenn es eines gab, was der Chef überhaupt nicht vertragen konnte …« Manchmal hatte sie sich gefragt, ob dieses Vorbild tatsächlich existierte oder ob es, unfehlbar und allmächtig, Bernies Hirn entsprungen war, ein notwendiger Held und Mentor. Es hatte sie wie ein Schock getroffen, als sie irgendwann ein Zeitungsbild von Superintendent Dalgliesh gesehen hatte, ein düsteres, zynisches Gesicht, das sich bei einem näheren, prüfenden Blick in die Vieldeutigkeit eines Musters aus winzigen Punkten aufgelöst und nichts preisgegeben hatte. Nicht alle Weisheit, an die sich Bernie so zungenfertig erinnerte, entstammte dem empfangenen Evangelium. Cordelia vermutete, dass vieles seiner eigenen Philosophie entsprungen war. Sie dagegen hatte sich eine persönliche Litanei der Verachtung ausgedacht: hochnäsig, überheblich, sarkastisch; was für eine Weisheit, überlegte sie, hätte Superintendent Dalgliesh parat, um Bernie jetzt zu trösten?

Der Polizist hatte diskret ein paar Telefongespräche geführt. Jetzt durchstöberte er das vordere Büro und bemühte sich kaum, ein erstauntes Naserümpfen über die schäbigen, gebraucht gekauften Möbel zu verbergen, über den ramponierten Aktenschrank, in dessen einem halb offenen Fach eine alte Teekanne und ein paar ungleiche Becher zu sehen waren, über das abgenutzte Linoleum. Miss Sparshott saß starr an der altmodischen Schreibmaschine und sah ihm mit fasziniertem Ekel zu. Schließlich sagte er: »Wie wärs, wenn Sie sich eine schöne Tasse Tee machen, während ich auf den Polizeiarzt warte? Man kann hier doch irgendwo Tee kochen, oder nicht?«

»Im Flur hinten ist eine kleine Teeküche, die wir uns mit den anderen Mietern auf dieser Etage teilen. Aber Sie brauchen doch gewiss keinen Arzt? Bernie ist tot!«

»Er ist amtlich nicht tot, bis ein approbierter praktischer Arzt es bestätigt.« Er machte eine Pause. »Es ist einfach eine Vorsichtsmaßnahme.«

Wogegen?, fragte sich Cordelia. Göttliches Gericht, Verdammnis, Verfall?

Der Polizist ging wieder in das hintere Büro. Sie folgte ihm und fragte leise: »Können Sie nicht Miss Sparshott gehen lassen? Sie kommt von einer Sekretärinnenvermittlung, und wir müssen sie stundenweise bezahlen. Sie hat noch nichts gearbeitet, seit ich hier bin, und ich glaube nicht, dass sie jetzt noch etwas tun wird.«

Ihre offensichtliche Gefühllosigkeit, an so eine Nebensache wie die Bezahlung der Sekretärin zu denken, während sie auf Armeslänge neben Bernies Leiche stand, schockierte ihn ein wenig, wie sie sah, aber er sagte ziemlich bereitwillig: »Ich will nur kurz mit ihr reden, dann kann sie gehen. Das ist kein angenehmer Ort für eine Frau.« Sein Ton deutete an, dass es das auch nie gewesen war.

Danach beantwortete Cordelia im vorderen Büro die unvermeidlichen Fragen.

»Nein, ich weiß nicht, ob er verheiratet war. Ich glaube, dass er geschieden war, aber er sprach nie von einer Frau. Er wohnte in der Cremona Road 15. Er hat mir dort ein Wohnschlafzimmer überlassen, aber wir haben nicht viel voneinander gesehen.«

»Ich kenne die Cremona Road; meine Tante hat dort gewohnt, als ich klein war. In der Nähe des Imperial War Museum, nicht wahr?«

Die Tatsache, dass er die Straße kannte, schien ihn zu beruhigen und menschlicher zu machen. Er sann glücklich einen Augenblick darüber nach. »Wann haben Sie Mr. Pryde zum letzten Mal lebend gesehen?«, fragte er dann.

»Gestern ungefähr um fünf Uhr, nachdem ich zeitig mit der Arbeit aufgehört hatte, um ein paar Einkäufe zu machen.«

»Ist er letzte Nacht nicht nach Hause gekommen?«

»Doch. Ich habe ihn gehört, aber gesehen habe ich ihn nicht. Ich habe einen Gaskocher in meinem Zimmer, und ich koche gewöhnlich da, es sei denn, ich weiß, dass er weg ist. Heute Morgen habe ich ihn nicht gehört, was ungewöhnlich ist, aber ich dachte, er läge vielleicht noch im Bett. Das kommt manchmal vor, wenn es sein Krankenhausmorgen ist.«

»War heute sein Krankenhausmorgen?«

»Nein, er hatte letzten Mittwoch einen Termin, aber ich dachte, sie hätten ihn vielleicht gebeten, noch einmal hinzukommen. Er muss das Haus sehr spät gestern Abend oder heute ganz früh, bevor ich aufwachte, verlassen haben. Ich habe ihn nicht gehört.«

Es war unmöglich, das fast zur fixen Idee gewordene Feingefühl zu beschreiben, mit dem sie sich zu Hause aus dem Weg gingen, versuchten, sich nicht aufzudrängen, das Eigenleben des anderen achteten, auf das Geräusch des Spülkastens lauschten, auf Zehenspitzen gingen, um festzustellen, ob die Küche oder das Bad nicht besetzt war. Sie hatten sich eine unendliche Mühe gegeben, sich nicht gegenseitig lästig zu fallen. Obgleich sie im selben kleinen Reihenhaus wohnten, hatten sie sich kaum außerhalb des Büros gesehen. Sie fragte sich, ob Bernie beschlossen hatte, sich in seinem Büro umzubringen, damit das kleine Haus unbefleckt und ungestört bliebe.

 

Endlich war das Büro leer, und sie war allein. Der Polizeiarzt hatte seine Tasche geschlossen und war gegangen; Bernies Leiche war, von vielen Augen aus den halb geöffneten Türen anderer Büros beobachtet, die enge Treppe hinuntergeschafft worden; der letzte Polizist war fort. Miss Sparshott war für immer gegangen, da ein gewaltsamer Tod eine noch schlimmere Beleidigung war als eine Schreibmaschine, die für eine geschulte Stenotypistin eine Zumutung darstellte, oder eine Waschgelegenheit, die ganz und gar nicht dem entsprach, was sie gewohnt war. Allein in der Leere und Stille, spürte Cordelia das Bedürfnis nach körperlicher Betätigung. Sie begann energisch das hintere Büro zu säubern, scheuerte die Blutflecken von Schreibtisch und Stuhl und rieb den feuchten Teppich trocken.

Um ein Uhr ging sie rasch in ihr Stammlokal. Auf dem Weg fiel ihr ein, dass es eigentlich keinen Grund mehr gab, im Goldfasan Stammgast zu bleiben, aber sie ging weiter, da sie es nicht fertigbrachte, jetzt schon Untreue zu zeigen. Sie hatte das Lokal und die Wirtin nie gemocht und sich oft gewünscht, Bernie würde ein anderes Lokal in der Nähe finden, vorzugsweise eines mit einer großen vollbusigen Kellnerin mit einem Herzen aus Gold. Das war jedoch vermutlich ein Typ Frau, der sich eher in Romanen als im wirklichen Leben bewegte.

Die um die Mittagszeit übliche Gesellschaft drängte sich an der Theke, und wie gewohnt führte Mavis mit ihrem leicht bedrohlichen Lächeln, ihrer Miene äußerster Autorität dahinter die Aufsicht. Mavis zog sich dreimal am Tag um und änderte einmal im Jahr die Frisur, aber ihr Lächeln blieb immer gleich. Die beiden Frauen hatten sich nie leiden können, obwohl Bernie wie ein liebevoller alter Hund zwischen ihnen hin- und hergetrottet war und es bequem gefunden hatte, sie für dicke Freundinnen zu halten und das fast hörbare Knistern der Feindschaft nicht zu bemerken oder bewusst zu übergehen. Mavis erinnerte Cordelia an eine ihr aus Kindertagen bekannte Bibliothekarin, die die neuen Bücher aus Angst, sie könnten entliehen und beschmutzt werden, unter dem Schalter versteckt hatte. Vielleicht rührte Mavis’ kaum unterdrückter Verdruss daher, dass sie gezwungen war, ihre Waren so auffällig auszustellen, dass sie ihre Gaben vor wachsamen Augen abmessen musste. Sie schob auf Cordelias Bestellung hin ein kleines Radler und Schottische Eier über die Theke und sagte: »Ich habe gehört, dass Sie die Polizei zu Besuch hatten.«

Cordelia betrachtete die neugierigen Gesichter und dachte: Dann wollt ihr also die schmutzigen Einzelheiten hören. Bitte schön.

Sie sagte: »Bernie hat sich zweimal ins Handgelenk geschnitten. Beim ersten Mal hat er die Pulsader nicht getroffen; beim zweiten Mal hat er es geschafft. Er hat seinen Arm in Wasser gelegt, damit es besser blutet. Er hatte erfahren, dass er Krebs hat, und konnte der Behandlung nicht ins Auge sehen.«

Der letzte Satz schien am meisten Eindruck zu machen. Die Männer am Tresen schauten einander an, dann wandten sie rasch die Augen ab. Gläser wurden auf dem Weg zum Mund plötzlich angehalten. Sich die Pulsader aufschneiden war etwas, was andere Leute eben taten, aber der drohende kleine Krebs mit seinen Scheren der Angst war in allen ihren Köpfen. Selbst Mavis blickte drein, als sähe sie ihn zwischen ihren Gläsern lauern. Sie sagte: »Sie werden sich wohl nach einer neuen Arbeit umsehen? Schließlich können Sie das Büro kaum auf eigene Faust weiterführen. Das ist doch kein Beruf für eine Frau.«

»Nicht anders, als hinter einer Theke zu arbeiten; man trifft alle möglichen Leute.«

Die zwei Frauen sahen sich an, und das Bruchstück eines lautlosen Zwiegesprächs fand zwischen ihnen statt, von beiden deutlich gehört und verstanden.

»Denken Sie bloß nicht, dass die Leute jetzt, wo er tot ist, weiter Nachrichten für das Büro hier abgeben können.«

»Ich hatte nicht die Absicht, darum zu bitten.«

Mavis begann energisch ein Glas zu polieren, ohne dabei ihre Augen von Cordelias Gesicht abzuwenden.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Mutter es für gut hält, wenn Sie allein hier bleiben.«

»Ich hatte nur in der ersten Stunde meines Lebens eine Mutter, also brauche ich mir deswegen keine Sorgen zu machen.«

Cordelia sah sofort, dass die Bemerkung alle zutiefst bestürzte, und wunderte sich wieder einmal über die Fähigkeit älterer Menschen, von schlichten Tatsachen schockiert zu sein, wo sie doch fähig zu sein schienen, jede Menge boshafter oder anstößiger Ansichten hinzunehmen. Aber ihr Schweigen, so missbilligend es sein mochte, ließ sie wenigstens in Ruhe. Sie trug Teller und Glas zu einem Platz an der Wand und dachte ohne Rührseligkeit an ihre Mutter. Aus einer Kindheit voll Entbehrungen hatte sie nach und nach eine Philosophie der Kompensation entwickelt. In ihrer Vorstellung hatte sie die Liebe für ein ganzes Leben in einer Stunde ohne Enttäuschungen und ohne Bedauern genossen. Ihr Vater hatte nie vom Tod ihrer Mutter gesprochen, und Cordelia hatte vermieden, ihm Fragen zu stellen, weil sie fürchtete zu hören, ihre Mutter habe sie nie in den Armen gehalten, nie das Bewusstsein wiedererlangt, vielleicht sogar nicht einmal erfahren, dass sie eine Tochter hatte. Dieser Glaube an die Liebe ihrer Mutter war eine Fantasie, die zu verlieren sie immer noch nicht riskieren konnte, obgleich der daraus gewonnene Trost mit jedem Jahr weniger notwendig geworden war. Jetzt fragte sie im Geist ihre Mutter um Rat. Es war genau so, wie sie erwartet hatte: Ihre Mutter fand den Beruf durchaus geeignet für eine Frau.

Die kleine Gruppe an der Theke hatte sich wieder den Getränken zugewandt. Zwischen ihren Schultern konnte Cordelia sich selbst in dem Spiegel über der Theke sehen. Das Gesicht von heute sah nicht anders aus als das Gesicht von gestern: Dichtes hellbraunes Haar umrahmte Züge, die aussahen, als habe ein Riese die eine Hand auf ihren Kopf und die andere unter ihr Kinn gelegt und das Gesicht ein wenig zusammengedrückt; große Augen, bräunlich grün, unter einem dichten Pony; breite Wangenknochen; ein weicher, kindlicher Mund. Ein Katzengesicht, dachte sie, aber auf eine leise Art hübsch zwischen den Spiegelbildern der bunten Flaschen und dem ganzen grellen Geglitzer von Mavis’ Bar. Trotz seines jungen Aussehens konnte es ein geheimnisvolles, verschwiegenes Gesicht sein. Cordelia hatte frühzeitig Gelassenheit gelernt. Ihre diversen Pflegeeltern, alle freundlich und wohlmeinend auf unterschiedliche Art, hatten eines von ihr verlangt: Sie sollte glücklich sein. Sie hatte rasch gelernt, dass sie riskierte, ihre Liebe zu verlieren, wenn sie sich unglücklich zeigte. Verglichen mit dieser frühen Übung im Versteckspielen waren alle späteren Täuschungen leicht gewesen.

Der Schnüffler schob sich zu ihr durch. Er setzte sich auf die Bank, und sein fettes Hinterteil in dem scheußlichen Tweed drückte sich an sie. Sie konnte ihn nicht ausstehen, obwohl er Bernies einziger Freund gewesen war. Bernie hatte ihr erklärt, dass der Schnüffler ein Polizeispitzel war und als solcher ein recht gutes Auskommen hatte. Er hatte auch andere Einnahmequellen. Manchmal stahlen Freunde von ihm berühmte Bilder oder wertvollen Schmuck. Dann gab der Schnüffler, der entsprechend instruiert war, der Polizei einen Wink, wo die Beute zu finden war. Es gab eine Belohnung für den Schnüffler, die er natürlich später mit den Dieben teilen musste, und eine Zahlung an den Detektiv, der schließlich den größten Teil der Arbeit getan hatte. Wie Bernie erklärte, kam die Versicherungsgesellschaft glimpflich davon, die Eigentümer bekamen ihren Besitz unbeschädigt zurück, die Diebe hatten nichts von der Polizei zu befürchten, und der Schnüffler und der Detektiv bekamen ihren Lohn. Das war das System. Cordelia war bestürzt gewesen, hatte sich aber nicht zu stark empören wollen. Sie ahnte, dass auch Bernie früher einige Spitzeldienste geleistet hatte, wenn auch nie mit so viel Geschick oder so lukrativen Ergebnissen.

Die Augen des Schnüfflers waren feucht, seine Hand um das Whiskyglas zitterte.

»Der arme alte Bernie, ich habe es kommen sehen. Er hat im letzten Jahr abgenommen, und er hat so grau ausgesehen, die Krebsfarbe, hat mein Vater immer dazu gesagt.«

Der Schnüffler hatte es also bemerkt; sie nicht. Bernie war ihr schon immer grau und krank aussehend vorgekommen.

Ein feister, warmer Schenkel schob sich näher heran.

»Hat nie Glück gehabt, das arme Schwein. Bei der Kripo haben sie ihn gefeuert. Hat er Ihnen das gesagt? Superintendent Dalgliesh war es, damals noch Kommissar. Menschenskind, der konnte ein ganz schöner Schweinehund sein; keine Chance mehr für ihn, kann ich Ihnen sagen.«

»Ja, Bernie hat es mir erzählt«, log Cordelia und fügte hinzu: »Anscheinend war er nicht besonders verbittert darüber.«

»Hat ja wohl auch keinen Sinn, verbittert zu sein. Man muss das Leben nehmen, wie es kommt. Ich schätze, Sie sehen sich nach einer anderen Stelle um?«

Er sagte es sehnsüchtig, als würde ihr Auszug ihm Bernies Büro zur Ausbeutung sichern.

»Noch nicht sofort«, sagte Cordelia. »Ich will mir nicht gleich eine neue Stelle suchen.«

Sie hatte zwei Beschlüsse gefasst: Sie würde Bernies Geschäft weiterführen, bis nichts mehr da wäre, um die Miete zu bezahlen, und sie würde nie mehr, solange sie lebte, in den Goldfasan kommen.

 

Dieser Beschluss, das Geschäft weiterzuführen, überlebte die nächsten vier Tage. Er überlebte die Entdeckung des Mietvertrags, aus dem hervorging, dass das kleine Haus in der Cremona Road gar nicht Bernie gehört hatte und dass die Untervermietung ihres Wohnschlafzimmers gesetzwidrig war, überlebte die Mitteilung des Bankleiters, dass Bernies Kontostand kaum für die Bezahlung des Begräbnisses ausreichen würde, und die der Werkstatt, dass der Mini demnächst für eine Generalüberholung fällig war; überlebte das Aufräumen des Hauses in der Cremona Road. Überall stieß Cordelia auf die traurigen Überbleibsel eines einsiedlerischen und schlecht organisierten Lebens.

Dosen mit Eintopf und Bohnen – hatte er nie etwas anderes gegessen? – zu einer Pyramide übereinandergestapelt; große Dosen von Metall- und Bodenpolitur, angebrochen und mit eingetrocknetem Inhalt; eine Schublade mit alten Lumpen, als Staubtücher gebraucht, aber steif durch die Mischung von Politur und Schmutz; ein voller Wäschekorb; dicke, wollene Hemdhosen, von der Maschinenwäsche verfilzt und am Zwickel braunfleckig – wie hatte er es ertragen können, sie der Entdeckung zu überlassen?

Sie ging täglich ins Büro, räumte auf, sortierte Akten und putzte. Es kamen keine Anrufe und keine Kunden, und doch war sie immer beschäftigt. Die gerichtliche Voruntersuchung stand an, bedrückend in ihrer unparteiischen, fast langweiligen Förmlichkeit, in ihrem unvermeidlichen Urteil. Dann musste sie Bernies Anwalt aufsuchen. Er war ein mutloser älterer Mann mit einem ungünstig gelegenen Büro nahe dem Bahnhof Mile End, der die Nachricht vom Tod seines Klienten mit so kummervoller Resignation aufnahm, als handle es sich um eine persönliche Beleidigung. Nach kurzem Suchen fand er Bernies Testament und starrte es verwirrt und misstrauisch an, als sei es nicht das Schriftstück, das er vor Kurzem aufgesetzt hatte. Er brachte es fertig, Cordelia den Eindruck zu vermitteln, dass er sie für Bernies Geliebte halte – warum sonst sollte er ihr das Geschäft hinterlassen haben? –, dass er aber ein Mann von Welt sei und sie trotz der Kenntnis dieses Umstands nicht tadle. Er beteiligte sich nicht an der Vorbereitung des Begräbnisses, sondern nannte Cordelia nur den Namen eines Bestattungsunternehmens; sie hatte den Verdacht, dass es ihm eine Provision zukommen ließ. Nach einer Woche in bedrückend gedämpfter Stimmung stellte sie allerdings erleichtert fest, dass der Bestattungsunternehmer nicht nur freundlich, sondern auch sachkundig war. Als er erst einmal entdeckt hatte, dass Cordelia nicht in Tränen aufgelöst zusammenbrechen oder in den theatralischeren Darbietungen trauernder Hinterbliebener schwelgen würde, freute er sich, ihr die relativen Kosten und Vorzüge von Beerdigung und Einäscherung unverstellt darzulegen.

»Ich empfehle unbedingt die Einäscherung. Es existiert keine private Versicherung, sagen Sie? Dann sollten Sie es so schnell, einfach und kostengünstig wie möglich hinter sich bringen. Glauben Sie mir, das wäre neun von zehn Verstorbenen am liebsten. Ein Grab ist heutzutage ein teurer Luxus – ohne Nutzen für ihn, ohne Nutzen für Sie. Staub zu Staub, Asche zu Asche, aber wie steht es mit der Prozedur dazwischen? Nicht schön, daran zu denken, nicht wahr? Warum soll man es also nicht mit den zuverlässigsten modernen Methoden möglichst schnell über die Bühne bringen? Sehen Sie, Miss, ich berate Sie gegen meine eigenen Interessen.«

Cordelia sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Meinen Sie, wir sollten einen Kranz besorgen?«

»Warum nicht, das gibt dem Ganzen ein bisschen Stil. Überlassen Sie das nur mir.«

Also hatte es eine Einäscherung und einen einzigen Kranz gegeben. Der Kranz war ein sehr gewöhnliches, nichtssagendes Gebinde aus Lilien und Nelken mit bereits welkenden und nach Verfall riechenden Blüten gewesen. Die Einäscherungsliturgie war vom Pfarrer mit sorgfältig gesteuerter Geschwindigkeit gesprochen worden, und in seinem Ton war eine Entschuldigung angeklungen, als wolle er seine Zuhörer versichern, dass er, obwohl er selbst sich einer besonderen göttlichen Fügung erfreute, von ihnen nicht erwartete, das Unglaubhafte zu glauben. Bernie war unter den Klängen von Tonbandmusik zur Verbrennung gebracht worden, gerade noch rechtzeitig, wie aus dem ungeduldigen Geraschel der nächsten Trauergäste zu schließen war, die draußen bereits darauf warteten, die Kapelle zu betreten.

Danach stand Cordelia allein in der strahlenden Sonne und spürte die Wärme der Kieselsteine durch ihre Schuhsohlen. Die Luft war satt und schwer vom Duft der Blumen. Plötzlich von Traurigkeit und einem ohnmächtigen Zorn auf Bernie gepackt, suchte sie einen Sündenbock und fand ihn in einem gewissen Superintendenten vom Yard. Er hatte Bernie aus dem einzigen Beruf hinausgeworfen, an dem er jemals Freude gehabt hatte; er hatte sich nicht die Mühe gemacht herauszufinden, was später aus ihm geworden war; und – der unsinnigste Anklagepunkt von allen – er war nicht einmal zum Begräbnis gekommen. Detektiv zu sein war für Bernie eine Notwendigkeit gewesen, wie für andere Männer Malen, Schreiben, Trinken oder Huren. Das Team der Kriminalpolizei war doch gewiss groß genug, um die Schwärmerei und die Unzulänglichkeit eines einzigen Mannes auszugleichen? Zum ersten Mal weinte Cordelia um Bernie; heiße Tränen verwischten und vervielfältigten die langen Reihen wartender Leichenwagen mit ihren strahlenden Krönchen, sodass sie sich in eine Unendlichkeit aus schimmerndem Chrom und zitternden Blumen auszudehnen schienen. Cordelia zog den schwarzen Chiffonschal, ihr einziges Zugeständnis an die Trauer, vom Kopf und machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Station.

Sie war durstig, als sie zum Oxford Circus kam, und beschloss, im Restaurant bei Dickins & Jones einen Tee zu trinken. Das war ungewöhnlich und ausschweifend, aber es war ein ungewöhnlicher und ausschweifender Tag gewesen. Sie blieb lange genug dort sitzen, um den vollen Gegenwert für ihre Rechnung zu bekommen, und Viertel nach vier war vorbei, als sie in das Büro zurückkam.

Sie hatte Besuch. Eine Frau wartete, die Schultern an die Tür gelehnt – eine Frau, die kühl aussah und fehl am Platz vor dem schmutzigen Anstrich und den schmierigen Wänden. Cordelia hielt vor Überraschung den Atem an und unterbrach ihren schnellen Lauf nach oben. Ihre leichten Schuhe hatten auf der Treppe kein Geräusch gemacht, und ein paar Sekunden lang betrachtete sie ihre Besucherin unbemerkt. Sie gewann einen unmittelbaren und lebendigen Eindruck von Kompetenz und Autorität und einschüchternd korrekter Kleidung. Die Frau trug ein graues Kostüm mit einem kleinen Stehkragen, der einen schmalen Streifen von weißem Baumwollstoff am Hals freigab. Ihren schwarzen Lackschuhen sah man den Preis an; eine große schwarze Tasche mit aufgesetzten Seitentaschen hing von ihrer linken Schulter. Sie war groß, und ihr Haar, weißer, als es ihr Alter erwarten ließ, war kurz geschnitten und lag, sorgfältig frisiert, wie eine Mütze um den Kopf. Ihr Gesicht war blass und schmal. Sie las die Times, die sie zusammengefaltet hatte, um sie in der rechten Hand halten zu können. Nach ein paar Sekunden bemerkte sie Cordelia, und ihre Blicke trafen sich. Die Frau sah auf ihre Armbanduhr.

»Wenn Sie Cordelia Gray sind, dann sind Sie achtzehn Minuten zu spät. Auf dem Zettel steht, dass Sie um vier Uhr zurückkommen würden.«

»Ich weiß, entschuldigen Sie.« Cordelia sprang die letzten paar Stufen hinauf und steckte den Sicherheitsschlüssel ins Schloss. Sie öffnete die Tür. »Kommen Sie herein.«

Die Frau trat vor ihr ins Büro und drehte sich zu ihr um, ohne auch nur einen Blick auf das Zimmer zu werfen.

»Ich hoffte, Mr. Pryde anzutreffen. Wird er lange fortbleiben?«

»Es tut mir leid; ich bin gerade von seiner Einäscherung zurückgekommen. Ich meine … Bernie ist tot.«

»Das liegt ja dann auf der Hand. Unseres Wissens war er vor zehn Tagen noch am Leben. Er muss auffallend schnell und diskret gestorben sein.«

»Diskret nicht gerade. Er hat sich das Leben genommen.«

»Wie außerordentlich!« Die Besucherin wirkte von der Außerordentlichkeit betroffen. Sie presste ihre Hände zusammen und ging ein paar Sekunden lang in seltsamer Gebärde des Schmerzes unruhig im Zimmer auf und ab.

»Wie außerordentlich!«, sagte sie noch einmal und lachte kurz auf. Cordelia sprach nicht, aber die beiden Frauen betrachteten einander ernst. Dann sagte die Besucherin: »Ja, dann habe ich anscheinend meine Reise vergebens gemacht.«

Cordelia hauchte ein kaum hörbares »O nein!« und widerstand der absurden Regung, mit ihrem Körper die Tür zu versperren.

»Bitte, gehen Sie nicht, bevor Sie mit mir gesprochen haben. Ich war Mr. Prydes Mitarbeiterin, und das Geschäft gehört jetzt mir. Ich bin sicher, dass ich helfen kann. Möchten Sie sich nicht setzen?«

Die Besucherin nahm keine Notiz von dem angebotenen Stuhl.

»Keiner kann helfen, keiner in der ganzen Welt. Das gehört jedoch nicht zur Sache. Es gibt da etwas, was mein Arbeitgeber wissen will – einige Aufschlüsse, die er braucht –, und er hatte entschieden, dass Mr. Pryde die Person sei, sie ihm zu beschaffen. Ich weiß nicht, ob er Sie für einen gleichwertigen Ersatz halten wird. Kann ich hier ungestört telefonieren?«

»Hier hinein, bitte.«

Die Frau ging in das hintere Büro, wieder ohne ein Anzeichen, dass dessen schäbiges Aussehen irgendeinen Eindruck auf sie machte. Sie wandte sich nach Cordelia um.

»Entschuldigen Sie, ich hätte mich vorstellen sollen. Mein Name ist Elizabeth Leaming, und mein Arbeitgeber ist Sir Ronald Callender.«

»Der Naturschützer?«

»Das würde er nicht gerne hören. Ihm ist es lieber, wenn man ihn als Mikrobiologen bezeichnet, was er tatsächlich ist. Bitte, entschuldigen Sie mich.«

Sie schloss die Tür fest. Cordelia fühlte sich plötzlich schwach und setzte sich vor die Schreibmaschine. Die Tasten, seltsam bekannte Symbole, in schwarze Medaillons eingeschlossen, verschoben ihr Muster vor ihren müden Augen, sprangen dann, als sie blinzelte, wieder in ihre normale Lage zurück. Sie packte die Seiten der Maschine, die sich kalt und klamm anfassten, und versuchte, sich zur Ruhe zu bringen. Ihr Herz klopfte.

Ich muss ruhig sein, muss ihr zeigen, dass ich stark bin. Diese Verdrehtheit kommt nur von der Anspannung bei Bernies Beerdigung und vom langen Stehen in der heißen Sonne.

Aber die Hoffnung brachte sie durcheinander; sie nahm es sich selbst übel, dass sie so aufgeregt war.

Das Telefongespräch war kurz. Die Tür des hinteren Büros wurde geöffnet; Miss Leaming zog ihre Handschuhe an.

»Sir Ronald bittet darum, Sie zu sehen. Können Sie gleich mitkommen?«

Wohin kommen?, dachte Cordelia, aber sie fragte nicht.

»Brauche ich meine Ausrüstung?«

Die Ausrüstung war Bernies sorgfältig angelegte und ausgestattete Polizeitasche mit ihren Pinzetten, Scheren, der Ausrüstung für Fingerabdrücke, den Gläsern zum Sammeln von Proben. Cordelia hatte noch nie Gelegenheit gehabt, sie zu benutzen.

»Das hängt davon ab, was Sie darunter verstehen, aber ich glaube nicht. Sir Ronald möchte Sie sehen, bevor er entscheidet, ob er Ihnen den Auftrag anbietet. Das bedeutet eine Zugfahrt nach Cambridge, aber Sie dürften heute Abend noch zurückkommen. Müssen Sie irgendwem Bescheid sagen?«

»Nein, ich bin allein.«

»Vielleicht sollte ich mich ausweisen.« Sie machte ihre Handtasche auf. »Hier ist ein adressierter Briefumschlag. Ich bin keine Mädchenhändlerin, falls es die gibt und falls Sie Angst haben.«

»Ich habe vor einer ganzen Menge von Dingen Angst, aber nicht vor Mädchenhändlern, und wenn doch, würde mich ein adressierter Briefumschlag kaum beruhigen. Ich würde darauf bestehen, Sir Ronald Callender anzurufen, um Ihre Identität zu überprüfen.«

»Vielleicht möchten Sie das tun?«, schlug Miss Leaming vor, ohne beleidigt zu sein.

»Nein.«

»Dann können wir also gehen?«

Miss Leaming ging zur Tür voran. Als sie in den Flur hinaustraten und Cordelia sich umdrehte, um das Büro hinter sich abzuschließen, deutete ihre Besucherin auf den Notizblock und den Bleistift, die zusammen an einem Nagel an der Wand hingen.

»Möchten Sie die Mitteilung noch ändern?«

Cordelia riss die alte Nachricht ab, dachte einen Augenblick nach und schrieb:

 

Ich bin in einem dringenden Fall abberufen worden. Alle Nachrichten, die unter der Tür durchgeschoben werden, finden bei meiner Rückkehr sofortige und persönliche Beachtung.

 

»Das«, erklärte Miss Leaming, »dürfte Ihre Klienten beruhigen.« Cordelia fragte sich, ob die Bemerkung spöttisch gemeint war, aber es war nicht möglich, das aus dem gleichgültigen Tonfall herauszuhören. Im Grunde hatte sie nicht das Gefühl, dass Miss Leaming sich über sie lustig machte, und sie war überrascht, über die Art, in der ihre Besucherin die Dinge in die Hand genommen hatte, nicht verstimmt zu sein. Bereitwillig folgte sie Miss Leaming die Treppe hinunter auf die Kingly Street.

Sie fuhren mit der Central Line bis Liverpool Street und erreichten den Zug um 17:36 Uhr nach Cambridge ganz bequem. Miss Leaming kaufte Cordelias Fahrkarte, holte eine Reiseschreibmaschine und eine Aktentasche bei der Gepäckaufbewahrung ab und ging zu einem Erster-Klasse-Wagen voran. Sie sagte: »Ich muss im Zug arbeiten. Haben Sie etwas zu lesen dabei?«

»Das ist mir ganz recht. Ich unterhalte mich auf Zugfahrten auch nicht gern. Ich habe Hardys Stabstrompeter dabei – in meiner Handtasche ist immer ein Taschenbuch.«

Hinter Bishop’s Stortford hatten sie das Abteil für sich, aber nur einmal sah Miss Leaming von ihrer Arbeit auf, um Cordelia etwas zu fragen.

»Wie kamen Sie dazu, für Mr. Pryde zu arbeiten?«

»Nachdem ich mit der Schule fertig war, habe ich bei meinem Vater auf dem Kontinent gewohnt. Wir sind ziemlich viel herumgereist. Er starb im Mai letzten Jahres in Rom nach einem Herzanfall, und ich kam zurück. Ich hatte mir ein wenig Stenografie und Schreibmaschine beigebracht, deshalb bewarb ich mich um eine Stelle bei einer Vermittlung für Sekretärinnen. Sie schickten mich zu Bernie, und nach ein paar Wochen ließ er mich bei einem Fall helfen. Er beschloss, mich auszubilden, und ich willigte ein zu bleiben. Vor zwei Monaten hat er mich zur Teilhaberin gemacht.«

Das bedeutete nichts anderes, als dass Cordelia einen regelmäßigen Lohn eintauschte gegen die ungewissen Erfolgsprämien in Form eines gleichen Anteils am Verdienst zusammen mit einem mietfreien Wohnschlafzimmer in Bernies Haus. Er hatte ihr nichts vormachen wollen. Das Angebot der Teilhaberschaft hatte er ihr in dem aufrichtigen Glauben gemacht, dass sie es als das gelten ließe, was es war: keine Auszeichnung für gute Führung, sondern ein Vertrauensbeweis.

»Was machte Ihr Vater?«

»Er war ein marxistischer Wanderpoet und Amateurrevolutionär.«

»Sie müssen eine interessante Kindheit gehabt haben.«

Cordelia dachte an die Reihe von Pflegemüttern, die unerklärten, unverständlichen Umzüge, die Schulwechsel, die besorgten Gesichter von Beamten der örtlichen Wohlfahrtsbehörden und Schullehrern, die sich verzweifelt fragten, was sie in den Ferien mit ihr anfangen sollten, und sie antwortete, wie sie es immer auf diese Behauptung tat, ernst und ohne Ironie.

»Ja, durchaus interessant.«

»Und wie war die Ausbildung, die Sie von Mr. Pryde bekommen haben?«

»Bernie brachte mir ein paar Dinge bei, die er bei der Kriminalpolizei gelernt hatte: wie man einen Tatort ordnungsgemäß untersucht, wie man Beweisstücke sammelt, einige Grundzüge der Selbstverteidigung, wie man Fingerabdrücke entdeckt und aufnimmt – derartige Dinge.«

»Ich fürchte, das sind Fähigkeiten, die Sie in diesem Fall kaum brauchen werden.«

Miss Leaming beugte den Kopf über ihre Papiere und sprach nicht wieder, bis der Zug Cambridge erreichte.

Auf dem Bahnhofsvorplatz sah sich Miss Leaming um und ging dann auf einen kleinen schwarzen Lieferwagen zu. Daneben stand steif wie ein Chauffeur in Uniform ein stämmig gebauter junger Mann in einem weißen Hemd mit offenem Kragen, dunklen Reithosen und hohen Stiefeln, den Miss Leaming beiläufig und ohne weitere Erklärung als Lunn vorstellte. Er nickte Cordelia knapp zu, lächelte aber nicht. Cordelia streckte ihre Hand aus. Sein Händedruck war kurz, aber auffallend kräftig und zerquetschte ihr fast die Finger, sodass sie vor Schmerz beinahe das Gesicht verzogen hätte; dabei sah sie etwas in den großen erdbraunen Augen des Mannes aufflackern, und sie fragte sich, ob er ihr absichtlich wehgetan hatte. Seine Augen waren gewiss merkwürdig und schön, feuchte Kälberaugen unter dichten Wimpern mit einem Blick angstvollen Schmerzes über die Unvorhersehbarkeit der Schrecken der Welt. Aber ihre Schönheit unterstrich eher, wie wenig anziehend seine ganze Erscheinung war, als dass sie es vergessen ließ. Er war, dachte sie, eine finstere Schwarz-Weiß-Studie mit seinem dicken, kurzen Hals und den kräftigen Schultern, die die Nähte seines Hemdes spannten. Er hatte einen Helm aus kräftigem schwarzem Haar, ein schwammiges, etwas pockennarbiges Gesicht und einen launisch wirkenden Mund. Er war ein Mann, der offenbar stark zum Schwitzen neigte; sein Hemd war unter den Armen fleckig, und der Baumwollstoff klebte am Körper und betonte die starke Rückenlinie und die aufdringlich muskulösen Oberarme.

Cordelia sah, dass alle drei zusammengepfercht vorne im Lieferwagen sitzen müssten. Lunn hielt die Tür auf und erklärte als einzige Entschuldigung: »Der Rover ist immer noch in der Werkstatt.«

Miss Leaming wartete, sodass Cordelia gezwungen war, zuerst einzusteigen und sich neben ihn zu setzen. Sie dachte: Sie können sich nicht leiden, und ich bin ihm lästig.