Ein unverhofftes Geständnis - P. D. James - E-Book

Ein unverhofftes Geständnis E-Book

P. D. James

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Beschreibung

P. D. James, Königin des Kriminalromans und eine der wichtigsten Chronistinnen der englischen Gesellschaft, in einer eleganten Neuausgabe. Superintendent Adam Dalgliesh hatte sich auf ruhige Ferien im Cottage seiner Tante an der einsamen Küste von Suffolk gefreut. Lange, windumtoste Spaziergänge, Tee vor knisterndem Kaminfeuer, heißer Buttertoast - das war seine Vorstellung von einer wohlverdienten Pause. Doch alle Hoffnung auf Ruhe wird schnell durch einen Mord erschüttert. Die verstümmelte Leiche eines ortsansässigen Krimi-Autors wird in einem kleinen Boot an der Küste angetrieben - und schon ist Adam Dalgliesh in eine weitere, besonders makabre Ermittlung verwickelt ... Band 3 der Reihe um Commander Adam Dalgliesh. »Die Fähigkeit, nachhaltig in den Köpfen zu spuken, hat P. D. James den Titel »Queen of Crime« eingetragen - lang möge sie regieren!« Chicago Sun-Times Ebenfalls als Neuausgabe lieferbar: »Ein Spiel zuviel« (Bd. 1) und »Eine Seele von Mörder« (Bd. 2)

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P. D. James

EIN UNVERHOFFTES GESTÄNDNIS

KRIMINALROMANAdam Dalgliesh ermittelt

Aus dem Englischen von Sibylle Hunzinger

Knaur e-books

Über dieses Buch

Superintendent Adam Dalgliesh hatte sich auf ruhige Ferien im Cottage seiner Tante an der einsamen Küste von Suffolk gefreut. Lange, windumtoste Spaziergänge, Tee vor knisterndem Kaminfeuer, heißer Buttertoast – das war seine Vorstellung von einer wohlverdienten Pause. Doch alle Hoffnung auf Ruhe wird schnell durch einen Mord erschüttert. Die verstümmelte Leiche eines ortsansässigen Krimiautors wird in einem kleinen Boot an der Küste angetrieben – und schon ist Adam Dalgliesh in eine weitere, besonders makabre Ermittlung verwickelt …

Inhaltsübersicht

Erstes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelZweites Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelDrittes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel
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Erstes Buch

Suffolk

1

Die Leiche ohne Hände lag auf dem Boden eines kleinen Dinghis, das gerade noch in Sichtweite der Küste von Suffolk dahintrieb. Es war der Körper eines Mannes in mittleren Jahren, ein schmucker kleiner Leichnam in einem dunklen Nadelstreifenanzug als Leichenhemd, der im Tod genauso elegant an dem schmalen Körper saß wie im Leben. Die handgearbeiteten Schuhe waren noch blank, abgesehen von ein paar Kratzern auf den Kappen, die seidene Krawatte saß straff unter dem vorstehenden Adamsapfel. Der unglückliche Reisende hatte sich mit sorgfältiger Konventionalität für die Stadt gekleidet, nicht für dieses einsame Meer und auch nicht für diesen Tod.

Es war ein früher Nachmittag Mitte Oktober, und die glasigen Augen starrten nach oben in einen ungewöhnlich blauen Himmel, über den der leichte Südwestwind ein paar vereinzelte Wolkenfetzen trieb. Die hölzerne Schale ohne Mast und Dollen hüpfte sanft auf den Wellen der Nordsee, sodass der Kopf wie in unruhigem Schlaf hin und her rollte. Das Gesicht war schon zu Lebzeiten unscheinbar gewesen, und der Tod hatte ihm lediglich eine mitleiderregende Ausdruckslosigkeit verliehen. Spärliches blondes Haar oberhalb der hohen, unebenen Stirn, die Nase so schmal, dass es aussah, als bohre sich der weiße Knochen durch die Haut. Der schmale, dünnlippige Mund hatte sich geöffnet und legte zwei vorstehende Schneidezähne bloß, die dem Gesicht das hochmütige Aussehen eines toten Hasen gaben.

Die Beine, noch in der Todesstarre, waren links und rechts vom Kielkasten eingezwängt, und die Unterarme waren so platziert, dass sie auf der Ruderbank ruhten. Beide Hände waren an den Gelenken abgetrennt worden. Es war nicht viel Blut dabei geflossen. Auf jedem Unterarm hatte ein dünnes Rinnsal ein schwarzes Netz zwischen den steifen blonden Haaren gewoben, und auf der Ruderbank waren ein paar Flecken, als hätte man sie als Hackblock benutzt. Aber das war auch alles; sonst war kein Blut am Körper oder an den Wänden des Dinghis.

Die rechte Hand war sauber abgetrennt, und das runde Ende der Speiche schimmerte weißlich; bei der linken Hand aber hatte man gepfuscht, aus dem Fleisch traten nadelscharfe, gezackte Knochensplitter hervor. Die Jackenärmel und die Manschetten des Oberhemds waren hochgezogen worden für das Gemetzel, und zwei goldene Manschettenknöpfe mit Monogramm baumelten in der Luft und funkelten, während sie sich langsam in den Strahlen der Herbstsonne drehten.

Das Dinghi, dessen Anstrich verblasst war und abblätterte, trieb wie ein verlassenes Spielzeug auf dem fast leeren Meer. Am Horizont bewegte sich die vielgliedrige Silhouette eines Küstenschiffs den Seeweg von Yarmouth hinunter; sonst war nichts zu sehen. Gegen zwei Uhr stürzte ein schwarzer Punkt, der einen gefiederten Schweif hinter sich herzog, vom Himmel herab, und die Luft wurde von Düsenlärm erschüttert. Dann verebbte das Geräusch, und wieder war nichts zu hören als das Schwappen des Wassers an der Bootswand und hin und wieder der Schrei einer Möwe.

Plötzlich begann das Dinghi, heftig zu schaukeln, wurde dann wieder ruhiger und drehte sich langsam um sich selbst. Als spürte es den starken Sog der landwärts ziehenden Strömung, begann es nun, sich zielgerichteter zu bewegen. Eine Möwe, die auf den Bug herabgeglitten war und dort unbeweglich wie eine Galionsfigur gesessen hatte, erhob sich mit wilden Schreien in die Luft und kreiste über dem Leichnam. Und während das Wasser den Bug umspielte, trug das kleine Boot seine grausige Fracht langsam und unaufhaltsam zur Küste.

2

Kurz vor zwei Uhr am Nachmittag desselben Tages parkte Superintendent Adam Dalgliesh seinen Cooper Bristol am Rasenstreifen vor der Kirche von Blythburgh und trat durch die Tür der nördlichen Seitenkapelle in die kühle Silberhelle eines der schönsten Kircheninnenräume von Suffolk. Er war auf dem Weg nach Monksmere Head, unmittelbar südlich von Dunwich, um bei einer unverheirateten Tante, seiner einzigen noch lebenden Verwandten, einen zehntägigen Herbsturlaub zu verbringen, und dies war die letzte Unterbrechung auf seiner Reise. Er war, noch ehe London erwachte, aus seiner Wohnung in der Stadt aufgebrochen, hatte sich, statt den direkten Weg über Ipswich nach Monksmere zu nehmen, in Chelmsford nördlich gehalten und in Sudbury die Grenze nach Suffolk überquert. Er hatte in Long Melford gefrühstückt, hatte dann westlich den Weg durch Lavenham genommen und war langsam, und wie es ihm gerade in den Sinn kam, durch das Grün und Gold dieser noch ganz unverschandelten und unverschönerten Grafschaft gefahren. Seine Stimmung hätte dem Tag vollkommen entsprochen, wäre da nicht dieses ihn ständig quälende Problem gewesen. Er hatte bewusst eine persönliche Entscheidung bis zu diesem Urlaub hinausgeschoben. Bevor er nach London zurückfuhr, musste er endlich Klarheit darüber haben, ob er Deborah Riscoe bitten sollte, ihn zu heiraten.

Absurderweise wäre ihm die Entscheidung leichter gefallen, hätte er nicht so genau gewusst, wie ihre Antwort ausfallen würde. Das bürdete ihm die ganze Verantwortung für die Entscheidung auf, ob man den gegenwärtigen annehmlichen Status quo aufgeben sollte (annehmlich auf jeden Fall für ihn, und man konnte doch wohl behaupten, dass Deborah jetzt glücklicher war als vor einem Jahr) zugunsten einer Bindung, die sie beide, wie er vermutete, für unauflöslich halten würden, ganz gleich, was dabei herauskam. Wenige Ehepaare sind so unglücklich wie diejenigen, die zu stolz sind, sich ihr Unglück einzugestehen.

Er kannte einige der Gefahrenpunkte. Er wusste, dass sie seinem Beruf mit Vorbehalt und Ablehnung gegenüberstand. Das war nicht überraschend und an und für sich belanglos. Er hatte diesen Beruf gewählt, ohne dass er die Zustimmung oder die Ermunterung anderer dafür gebraucht hätte. Aber es war eine wenig ermutigende Aussicht, sich für jede Überstunde, für jeden unvorhergesehenen Notfall mit einem Anruf entschuldigen zu müssen. Während er unter der herrlichen gewölbten Kassettendecke auf und ab ging und den typisch anglikanischen Geruch von Bohnerwachs, Blumen und feuchten alten Gesangbüchern roch, streifte ihn der Gedanke, dass er fast im gleichen Moment am Ziel seiner Wünsche angekommen war, da er zu ahnen begann, dass er auf ihre Erfüllung schon verzichtet hatte. Das ist eine zu weit verbreitete Erfahrung, um in einem intelligenten Menschen länger anhaltende Enttäuschung hervorzurufen, aber immerhin vermag sie zu irritieren. Es war nicht der Verlust seiner Freiheit, was ihn schreckte; die Menschen, die darüber am meisten lamentieren, sind für gewöhnlich am unfreiesten. Sehr viel schwerer erträglich war der Gedanke, seine Privatsphäre aufgeben zu müssen.

Und auch mit dem Verlust der körperlichen Privatsphäre konnte er sich nur schwer abfinden. Während er mit den Fingern die Schnitzerei des Chorpults aus dem 15. Jahrhundert betastete, versuchte er, sich auszumalen, wie das Leben in der Wohnung in Queenhithe aussehen würde, wenn Deborah immer da wäre – nicht mehr die ungeduldig erwartete Besucherin, sondern Teil seines Lebens, seine amtlich verbriefte nächste gesetzliche Verwandte.

Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt gewesen, mit persönlichen Problemen belastet zu sein. Man hatte bei Scotland Yard vor Kurzem eine größere Umstrukturierung vorgenommen, die zu den unvermeidlichen Störungen sowohl in den persönlichen Loyalitäten als auch im Arbeitsablauf führte und, wie zu erwarten, zu einem gehörigen Quantum an Gerüchten und Missmut. Und von einer Arbeitsentlastung konnte keine Rede sein. Die meisten ranghöheren Beamten arbeiteten bereits vierzehn Stunden am Tag. Sein letzter Fall war, obwohl er ihn erfolgreich abgeschlossen hatte, besonders mühselig gewesen. Ein Kind war ermordet worden, und die Ermittlungen waren auf eine Menschenjagd der Art hinausgelaufen, die ihm besonders zuwider war und seinem Wesen am wenigsten entsprach – eine stumpfsinnige, zähe Suche nach Indizien, ausgeführt im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit und behindert durch die Angst und Hysterie aller Betroffenen. Die Eltern des Kindes hatten sich, nach jedem Trost und jedem Hoffnungsschimmer schnappend, an ihn geklammert wie Ertrinkende, und er konnte die Last ihres Leids und ihres Schuldbewusstseins noch immer fast körperlich spüren. Das war nichts Neues für ihn. Man hatte von ihm erwartet, dass er zugleich Tröster und Beichtvater, Richter und Rächer war. Er hatte an ihrem Schmerz keinen persönlichen Anteil genommen und hatte aus dieser Distanziertheit wie immer seine Kraft geschöpft, so, wie manche seiner Kollegen im gleichen Fall die ihre aus der Wut und Verbissenheit ihres Engagements bezogen hätten. Aber die Anstrengungen des Falls steckten ihm noch immer in den Knochen, und mehr als die Herbstwinde von Suffolk würden nötig sein, um bestimmte Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben.

Keine vernünftige Frau hätte erwartet, dass er ihr mitten in den Ermittlungen einen Heiratsantrag machte, und auch Deborah hatte das nicht getan. Dass er Zeit und Kraft gefunden hatte, wenige Tage vor der Festnahme seinen zweiten Gedichtband fertigzustellen, war eine Sache, die keiner von beiden erwähnt hatte. Er war entsetzt, als er sich eingestehen musste, dass sogar die Ausübung eines minderen Talents zum Alibi für Selbstsucht und Trägheit gemacht werden konnte. Er war in letzter Zeit unzufrieden mit sich, und vielleicht war es zu optimistisch zu hoffen, dass dieser Urlaub etwas daran ändern könnte.

Eine halbe Stunde später schloss er leise die Kirchentür hinter sich und machte sich auf, die letzten paar Kilometer nach Monksmere zurückzulegen. Er hatte seiner Tante geschrieben, dass er voraussichtlich um halb drei bei ihr ankommen würde, und mit ein wenig Glück würde er fast pünktlich sein. Wenn seine Tante, wie gewohnt, um halb drei aus dem Haus trat, würde sie seinen Cooper Bristol gerade in die Landspitze einfahren sehen. Er dachte mit Zuneigung an ihre hochgewachsene, eckige Gestalt, die auf ihn warten würde.

Es gab nicht viel Außergewöhnliches in ihrer Lebensgeschichte, und das meiste davon hatte er sich entweder zusammengereimt oder als kleiner Junge aus unbedachten Äußerungen seiner Mutter aufgeschnappt, oder es hatte ganz einfach zu den selbstverständlichen Tatsachen seiner Kindheit gehört. Ihr Verlobter war 1918, genau ein halbes Jahr vor dem Waffenstillstand, gefallen, als sie noch ein junges Mädchen war. Ihre Mutter war eine zarte, verwöhnte Schönheit, die denkbar ungeeignetste Frau für einen gelehrten Landgeistlichen, wie sie selbst häufig einräumte, vermutlich um mit diesem freimütigen Eingeständnis den nächsten Ausbruch von Selbstsucht und Überspanntheit schon im Voraus zu rechtfertigen und zu entschuldigen. Es missfiel ihr, andere Menschen leiden zu sehen, weil sie dadurch vorübergehend interessanter waren als sie selbst, und sie beschloss, den Tod des jungen Captain Maskell sehr schwerzunehmen. Wie sehr ihre sensible, verschlossene und ziemlich schwierige Tochter auch litt, es musste deutlich zu sehen sein, dass die Mutter noch mehr litt; drei Wochen, nachdem sie das Telegramm bekommen hatten, starb sie an einer Grippe.

Es ist fraglich, ob es tatsächlich in ihrer Absicht gelegen hatte, so weit zu gehen, aber sie wäre mit dem Ergebnis bestimmt zufrieden gewesen. Ihr verstörter Mann vergaß über Nacht den ganzen Ärger und Kummer seiner Ehe und erinnerte sich nur an die Fröhlichkeit und die Schönheit seiner Frau. Es war natürlich undenkbar, dass er wieder heiratete, und er tat es auch nicht. Jane Dalgliesh, an deren eigenen Verlust zu denken jetzt niemand die Zeit hatte, nahm den Platz ihrer Mutter als Hausfrau im Pfarrhaus ein und blieb bei ihrem Vater bis zu seiner Pensionierung 1945 und seinem Tod zehn Jahre später. Sie war eine überaus intelligente Frau, und wenn sie den jährlichen Kreislauf der Hauswirtschaft und der Arbeit in der Pfarrgemeinde – voraussehbar und unausweichlich wie das liturgische Jahr – unbefriedigend fand, so verlor sie jedenfalls keinen Ton darüber. Ihr Vater war von der äußersten Wichtigkeit seines Berufs so überzeugt, dass ihm gar nicht in den Sinn kam, irgendjemandes Talente könnten in seinen Diensten vergeudet sein. Jane Dalgliesh, von den Gemeindemitgliedern geachtet, aber nie geliebt, tat, was zu tun war, und tröstete sich mit dem Studium von Vögeln. Nach dem Tod ihres Vaters brachten ihr die Arbeiten, die sie veröffentlichte, einige Anerkennung; und mit der Zeit wurde sie mit ihrem »kleinen Hobby«, wie die Gemeinde es herablassend bezeichnete, zu einer der meistbeachteten Amateurornithologinnen. Vor etwas mehr als fünf Jahren hatte sie ihr Haus in Lincolnshire verkauft und Pentlands, ein massives Landhaus am Rand von Monksmere Head, erworben. Hier besuchte Dalgliesh sie mindestens zweimal im Jahr.

Es waren keine reinen Pflichtbesuche, obwohl er sich bis zu einem gewissen Grad für seine Tante verantwortlich gefühlt hätte, wenn ihre Selbstgenügsamkeit nicht so offenkundig gewesen wäre, dass es manchmal fast wie eine Zudringlichkeit erschien, Zuneigung zu äußern. Aber diese Zuneigung bestand, und das wussten sie beide. Er freute sich darauf, sie zu sehen, auf das ungetrübte Vergnügen eines Urlaubs in Monksmere.

Im großen Kamin würde ein Feuer aus Treibholzscheiten brennen und mit seinem Duft das ganze Haus erfüllen; davor der Sessel mit der hohen Rückenlehne, der früher in dem Pfarrhaus, wo er geboren war, im Arbeitszimmer seines Vaters gestanden hatte und dessen Leder nach Kindheit roch. Ein sparsam möbliertes Zimmer mit Blick auf Meer und Himmel erwartete ihn, darin ein schmales, aber bequemes Bett, dessen Laken der schwache Geruch von Holzrauch und Lavendel anhaftete, sowie reichlich heißes Wasser und eine Badewanne, die lang genug war, dass ein Mann von einem Meter fünfundachtzig sich bequem darin ausstrecken konnte. Seine Tante war selbst einen Meter achtzig groß und wusste die unverzichtbaren Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen.

Aber zuerst würde es Tee am Kamin geben, gebutterten Toast und selbst eingelegtes Fleisch. Und das Beste: Es gab keine Leichen und keine Gespräche darüber. Er vermutete, dass Jane Dalgliesh es seltsam fand, dass ein intelligenter Mensch sich dafür entschied, seinen Lebensunterhalt mit der Ergreifung von Mördern zu verdienen, und sie war nicht die Frau, die Interesse heuchelte, wo sie keines empfand. Sie stellte keinerlei Forderungen, nicht einmal die nach Zuneigung, und war deshalb die einzige Frau auf der Welt, mit der er sich in einem Zustand absoluter Harmonie befand.

Er wusste genau, was ihm dieser Urlaub bieten würde. Sie würden schweigend den festen, feuchten Sandstreifen zwischen dem Meer und den kiesbedeckten Erhebungen des Strands entlangwandern. Er würde ihre Zeichenutensilien tragen, sie würde mit großen Schritten, die Hände in den Jackentaschen vergraben, ein wenig vorausgehen, um Ausschau zu halten, wo sich Steinschmätzer, vom Kies kaum zu unterscheiden, niedergelassen hatten, oder um den Flug von Seeschwalben oder Regenpfeifern zu verfolgen. Er würde eine ruhige, friedliche und unbeschwerte Zeit verleben und nach Ablauf von zehn Tagen erholt nach London zurückkehren.

Er fuhr jetzt durch den Wald von Dunwich, wo die Straße zu beiden Seiten von Schwarztannenschonungen gesäumt wurde. Er meinte, das Meer riechen zu können, und der salzige Geruch, den der Wind ihm zutrug, war durchdringender als der bittere Duft der Bäume. Sein Herz hüpfte vor Freude. Er fühlte sich wie ein Kind, das nach Hause kommt. Der Wald endete, ein Drahtzaun zog eine scharfe Trennungslinie zwischen dem düsteren Dunkelgrün der Tannen und den Aquarellfarben der Felder und Hecken. Dann blieben auch die hinter ihm zurück, und er fuhr durch eine Heidelandschaft voll Stechginster und Erika auf Dunwich zu.

Als er das Dorf erreichte und nach rechts den Hügel hinauffuhr, der an die Umfassungsmauer eines verfallenen Franziskanerklosters grenzte, heulte eine Hupe auf, und ein Jaguar schoss mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Er hatte kaum Zeit, einen dunklen Kopf und eine grüßend erhobene Hand wahrzunehmen, da war der Wagen, mit einem weiteren Hupen zum Abschied, auch schon wieder verschwunden. Aha, der Theaterkritiker Oliver Latham war übers Wochenende in seinem Landhaus. Das konnte Dalgliesh kaum stören, denn Latham kam nicht nach Suffolk, um Gesellschaft zu suchen. Wie sein nächster Nachbar Justin Bryce benutzte er sein Landhaus, um sich von London und wohl auch von den Menschen zurückzuziehen, obwohl er nicht so oft in Monksmere war wie Bryce. Dalgliesh hatte ihn ein- oder zweimal gesehen; dabei war ihm eine Unruhe und Gespanntheit an ihm aufgefallen, die er von sich selbst kannte. Latham hatte eine Vorliebe für rasante Wagen und eine rasante Fahrweise, und Dalgliesh vermutete, dass es die Fahrten zwischen London und Monksmere waren, bei denen er sich entspannte. Andere Gründe für seine Besuche waren kaum vorstellbar. Er kam nur selten, brachte keine Frauenbekanntschaften mit, hatte kein Interesse an der Einrichtung des Hauses und benutzte es hauptsächlich als Ausgangspunkt für seine wilden Fahrten, die so halsbrecherisch und unkontrolliert waren, dass sie wirkten, als wolle er damit vor allem Dampf ablassen.

Als das Rosemary Cottage an der Kurve vor ihm auftauchte, fuhr Dalgliesh schneller. Er hatte wenig Hoffnung, unbemerkt vorbeizukommen, aber zumindest konnte er ein solches Tempo vorlegen, dass kein Mensch von ihm erwartete, dass er anhielt. Im Vorbeipreschen hatte er gerade noch Zeit, aus den Augenwinkeln ein Gesicht an einem der Fenster im oberen Stock wahrzunehmen. Na ja, das war zu erwarten gewesen. Celia Calthrop betrachtete sich als Wortführerin der kleinen Gemeinschaft von Monksmere und hatte gewisse Pflichten und Privilegien für sich reklamiert. Wenn ihre Nachbarn so schlecht beraten waren, sie über ihr Kommen und Gehen und das ihrer Besucher nicht zu informieren, dann war sie gern bereit, einige Umstände in Kauf zu nehmen, um sich selbst auf dem Laufenden zu halten. Sie hatte ein feines Ohr für näher kommende Autos, und die Lage ihres Hauses, genau an der Stelle, wo die Straße nach Dunwich auf den holprigen Weg zur Landspitze stieß, gab ihr reichlich Gelegenheit, die Dinge im Auge zu behalten.

Ms Calthrop hatte Brodies Bauernhaus vor zwölf Jahren gekauft und in Rosemary Cottage umbenannt. Sie hatte das Haus billig bekommen, und mittels sanftem, doch beharrlichem Druck auf die Handwerker des Ortes war es ihr gelungen, das nette, wenn auch heruntergekommene Steinhaus ebenso billig zu dem romantischen Wunschbild umzubauen, von dem ihre Leserinnen träumten. Frauenzeitschriften präsentierten es als »Celia Calthrops reizenden Landsitz in Suffolk, wo sie inmitten des ländlichen Friedens die entzückenden Liebesromane schreibt, die unsere Leserinnen so begeistern«. Innen war Rosemary Cottage auf seine kitschige und überkandidelte Weise sehr gemütlich; außen hatte es alles, wovon seine Besitzerin meinte, dass es zu einem echten Landhaus gehörte – ein Reetdach (leider ziemlich kostspielig, was Versicherung und Instandhaltung betraf), ein Kräutergärtchen (das allerdings in einem schlimmen Zustand war, Ms Calthrop hatte keine glückliche Hand mit Kräutern), einen kleinen künstlich angelegten Teich (der im Sommer einen üblen Geruch verbreitete) und einen Taubenschlag (wobei die Tauben sich hartnäckig weigerten, ihn zu benutzen). Es gab auch einen gepflegten Rasen, auf den der »kleine Schriftstellerkreis« – ein Ausdruck, den Celia geprägt hatte – im Sommer zum Tee geladen wurde.

Anfangs war Jane Dalgliesh von diesen Einladungen ausgeschlossen gewesen, nicht weil sie keinen Anspruch erhob, als Schriftstellerin zu gelten, sondern weil sie eine alleinstehende alte Jungfer war und darum auf Ms Calthrops Werteskala in gesellschaftlicher und sexueller Hinsicht versagt hatte und nur herablassende Freundlichkeit verdiente. Dann entdeckte Ms Calthrop, dass ihre Nachbarin für eine bemerkenswerte Frau gehalten wurde, und zwar von Leuten, die sehr wohl imstande waren, das zu beurteilen, und dass die Männer, die gegen jede Anstandsregel in Pentlands zu Gast waren und die man dabei antreffen konnte, wie sie ungezwungen mit ihrer Gastgeberin am Strand entlangstapften, oft selbst bemerkenswert waren.

Eine weitere Entdeckung war noch überraschender. Jane Dalgliesh speiste mit R. B. Sinclair im Priory House. Nicht alle, die Sinclairs drei große Romane bewunderten, von denen der letzte vor über dreißig Jahren entstanden war, wussten, dass er noch lebte. Und nur selten wurde jemand bei ihm zum Essen eingeladen. Ms Calthrop war keine Frau, die stur an einem Irrtum festhielt, und so wurde Ms Dalgliesh über Nacht zur »lieben Jane«. Diese fuhr ihrerseits fort, ihre Nachbarin »Ms Calthrop« zu nennen, und die neu erwachte Freundschaft fiel ihr ebenso wenig auf wie zuvor die Geringschätzigkeit. Dalgliesh wusste nicht, was seine Tante wirklich von Celia hielt. Sie sprach kaum über ihre Nachbarn, und er erlebte die Frauen zu selten zusammen, als dass er es hätte beurteilen können.

Der Schotterweg, der über Monksmere Head nach Pentlands führte, war kaum fünfzig Meter von Rosemary Cottage entfernt. Er war gewöhnlich durch ein schweres Holzgatter versperrt, das aber heute offen stand und tief in die hohe Brombeer- und Holunderhecke drückte. Der Wagen holperte langsam über die Schlaglöcher zwischen den gemähten Wiesen dahin, die bald in Grasland und schließlich in Farnkraut übergingen. Er fuhr an dem massiven Doppelhaus vorbei, das Latham und Justin Bryce gehörte, aber von beiden war nichts zu sehen, obwohl Lathams Jaguar vor der Haustür stand und ein dünnes Rauchwölkchen aus Bryce’ Schornstein stieg. Jetzt führte der Weg in Windungen bergan, und plötzlich lag die ganze Landspitze offen vor ihm, erstreckte sich purpurn und golden bis hin zur Steilküste und zum schimmernden Meer. Oben angekommen, hielt Dalgliesh an, um sich umzusehen und zu lauschen. Der Herbst war ihm nie die liebste Jahreszeit gewesen, aber in diesem Augenblick, als der Motor schwieg, hätte er den sanften Frieden nicht eintauschen mögen gegen die kräftigeren Eindrücke des Frühlings. Die Heide begann allmählich zu verblassen, aber der Ginster war in der zweiten Blüte genauso üppig und golden wie zur ersten im Mai. Dahinter lag das Meer von violetten, azurblauen und braunen Streifen durchzogen, und nach Süden hin fügte das dunstüberhangene Sumpfland des Vogelschutzgebiets seine sanfteren Grün- und Blautöne dem Bild hinzu. Die Luft roch nach Heidekraut und Holzfeuer, den unvermeidlichen, erinnerungsträchtigen Gerüchen des Herbstes.

Es war kaum zu glauben, dachte Dalgliesh, dass man auf ein Schlachtfeld blickte, wo das Land seit nahezu neunhundert Jahren seinen aussichtslosen Kampf gegen das Meer führte; kaum vorzustellen, dass unter der trügerischen Ruhe des leicht gekräuselten Wassers die neun versunkenen Kirchen des alten Dunwich lagen. Jetzt standen nur noch ein paar Gebäude auf der Landspitze, und nicht alle davon waren alt. Im Norden konnte Dalgliesh gerade noch die niedrigen Mauern von Seton House erkennen, kaum mehr als ein Auswuchs am Rande der Steilkante, das der Kriminalschriftsteller Maurice Seton passend zu seinem eigenbrötlerischen Leben gebaut hatte. Einen guten halben Kilometer nach Süden hin erhoben sich die hohen viereckigen Mauern von Priory House wie eine letzte Bastion gegen das Meer, und ganz am Ende des Vogelschutzgebiets schien Pentlands Cottage am Abgrund des Nichts zu hängen. Während er den Blick über die Landspitze schweifen ließ, kam auf dem Weg im äußersten Norden ein Einspänner in Sicht und zockelte fröhlich über den Ginster auf Priory House zu. Dalgliesh sah eine gedrungene kleine Gestalt, die zusammengekauert auf dem Kutschbock saß, die Peitsche, zierlich wie eine Gerte, aufrecht an der Seite. Das musste R. B. Sinclairs Haushälterin sein, die ihre Einkäufe nach Hause brachte. Etwas zauberhaft Heimeliges lag in der Erscheinung dieses lustigen kleinen Gefährts, und Dalgliesh beobachtete es mit Vergnügen, bis es im Schutz der Bäume verschwand, hinter denen Priory House halb verborgen lag. In diesem Augenblick erschien seine Tante vor ihrem Haus und blickte über die Landspitze. Dalgliesh sah auf die Armbanduhr. Es war drei Minuten nach halb drei. Er trat die Kupplung durch, und der Cooper Bristol holperte langsam den Weg entlang auf sie zu.

3

Oliver Latham trat unwillkürlich ins Dunkel des Zimmers im oberen Stock zurück, beobachtete den Wagen, der gemächlich die Landspitze hinaufschaukelte, und brach in lautes Lachen aus. Genauso plötzlich verstummte er, durch das explosionsartige Geräusch zum Schweigen gebracht, das sein Lachen in der Stille des Hauses verursacht hatte. Das war wirklich zu viel des Guten! Scotland Yards Wunderknabe, dem noch der Geruch seines jüngsten blutigen Zeitvertreibs anhaftete, war auf sein Stichwort hin prompt gekommen.

Der Wagen blieb jetzt auf dem Kamm der Landspitze stehen. Es wäre schön gewesen, wenn der verfluchte Cooper Bristol endlich seinen Geist aufgegeben hätte. Aber nein, es sah so aus, als hätte Dalgliesh nur gehalten, um die Aussicht zu bewundern. Der arme Narr freute sich wahrscheinlich auf das Vergnügen, sich vierzehn Tage in Pentlands verwöhnen zu lassen. Na, auf den wartete eine Überraschung. Es stellte sich nur die Frage, ob es ein kluger Schachzug war, wenn Latham dablieb und sich den Spaß ansah. Warum nicht? Er musste erst am Donnerstag in einer Woche zur Premiere im Court Theatre wieder in der Stadt sein, und womöglich würde es komisch aussehen, wenn er so kurz nach seiner Ankunft schon wieder zurückfuhr. Außerdem war er neugierig. Er war am Mittwoch nach Monksmere gefahren, in der Erwartung, sich zu langweilen. Aber jetzt versprach es mit ein bisschen Glück, ein recht spannender Urlaub zu werden.

4

Alice Kerrison lenkte den Einspänner hinter die Baumreihe, die Priory House gegen den nördlichen Teil der Landspitze abschirmte, sprang vom Sitz und führte die Stute durch den breiten verfallenen Torweg zu den Stallungen aus dem 16. Jahrhundert. Während sie das Pferd ausspannte, wobei sie vor Anstrengung ein wenig stöhnte, ließ sie die morgendliche Arbeit noch einmal mit Befriedigung an sich vorüberziehen und freute sich auf die kleinen häuslichen Annehmlichkeiten, die sie vor sich hatte. Zuerst würden sie zusammen Tee trinken, stark und sehr süß, wie Mr Sinclair ihn liebte, und dabei vor dem großen Feuer im Salon sitzen. Selbst an einem warmen Herbsttag liebte Mr Sinclair sein Feuer. Und dann, bevor die Dämmerung hereinbrach und der Nebel aufzog, würden sie zusammen ihren täglichen Gang über die Landspitze machen. Es wäre kein zielloser Spaziergang. Es gab noch etwas zu begraben. Es war doch immer angenehm, wenn man eine konkrete Aufgabe hatte, und Mr Sinclair mochte so klug daherreden, wie er wollte, menschliche Überreste, wie unvollständig sie auch sein mochten, blieben doch immer menschliche Überreste und hatten Anspruch auf Respekt. Außerdem wurde es höchste Zeit, dass sie aus dem Haus kamen.

5

Es war fast halb neun, und Dalgliesh saß mit seiner Tante in einträchtigem Schweigen im Wohnzimmer vorm Feuer. Der Raum, der fast das ganze Erdgeschoss von Pentlands einnahm, hatte Steinmauern, eine niedrige, von enormen Eichenbalken gestützte Decke und einen Fußboden aus quadratischen roten Ziegelsteinen. Vor dem offenen Kamin, in dem ein Holzfeuer knackte und fauchte, lag ein ordentlich aufgeschichteter Stapel Treibholz zum Trocknen. Der Geruch des Feuers zog wie Räucherwerk durchs Haus, und das endlose Branden des Meeres ließ die Luft erbeben. Es fiel Dalgliesh schwer, in diesem gleichförmigen, einschläfernden Frieden wach zu bleiben. Ihm hatten schon immer Kontraste gefallen, sowohl in der Kunst wie in der Natur, und in Pentlands stellte sich, wenn es erst einmal Nacht geworden war, der lustvolle Kontrast mühelos von selbst ein. Im Haus war es hell und warm, da war die ganze Behaglichkeit häuslicher Zivilisation; draußen, unter den tief hängenden Wolken, war es dunkel, einsam, geheimnisvoll. Er stellte sich die Küste, etwa dreißig Meter unter ihnen, vor, wo das Meer seinen Spitzensaum über den kühlen festen Strand breitete; und im Süden das Vogelschutzgebiet von Monksmere, lautlos unter dem nächtlichen Himmel, wo sich im reglosen Wasser kaum das Schilf bewegte.

Während er die Beine zum Feuer streckte und den Kopf an der hohen Sessellehne in eine bequemere Lage rückte, sah er zu seiner Tante hinüber. Sie saß wie immer sehr aufrecht da, und trotzdem wirkte diese Haltung ganz entspannt. Sie strickte an einem Paar hellroter Wollsocken, von denen Dalgliesh nicht hoffte, dass sie für ihn bestimmt waren. Er hielt es für unwahrscheinlich. Seine Tante neigte nicht zu derartig vertraulichen Liebesbeweisen. Das Feuer warf einen roten Schein auf ihr Gesicht, das lang, braun und scharf geschnitten war wie das einer Aztekin; die Augen waren von den Lidern verdeckt, die Nase war lang und gerade über einem ausdrucksstarken Mund. Ihr Haar war mittlerweile eisengrau und im Nacken zu einem großen Knoten geschlungen. Es war ein Gesicht, das er von Kindheit an kannte. Nie war ihm an ihr eine Veränderung aufgefallen.

Oben in ihrem Zimmer gab es, achtlos in eine Ecke des Spiegels gesteckt, eine verblasste Fotografie von ihr und ihrem toten Verlobten aus dem Jahr 1916. Dalgliesh musste jetzt daran denken: an den jungen Mann mit der Kniebundhose und der verbeulten Schirmmütze, der ihm früher immer ein bisschen lächerlich vorgekommen war, der aber heute für ihn das Glück und Leid einer längst vergangenen Zeit verkörperte; an das Mädchen, das einen Fingerbreit größer war als er und sich ihm mit jugendlich unbeholfener Anmut zuneigte, das Haar locker von einem Band zusammengehalten, die Füße in spitzen Schuhen, die unter dem schmalen langen Rock hervorlugten. Jane Dalgliesh hatte ihm nie von ihrer Jugend erzählt, und er hatte sie nie danach gefragt. Er kannte niemanden, der so genügsam und unsentimental war wie sie.

Dalgliesh fragte sich, wie Deborah wohl mit ihr auskommen würde, was die beiden Frauen voneinander halten würden. Es war schwierig, sich Deborah in einer anderen Umgebung als London vorzustellen. Seit dem Tod ihrer Mutter fuhr sie kaum noch nach Hause, und aus Gründen, die sie beide nur zu gut verstanden, war er nie mehr mit ihr nach Martingale gefahren. Er konnte sie sich heute nur noch vor dem Hintergrund seiner Stadtwohnung, irgendwelcher Restaurants, Theaterfoyers und ihrer Lieblingskneipen vorstellen. Er hatte sich daran gewöhnt, sein Leben auf verschiedenen Ebenen zu führen. Deborah hatte keinen Anteil an seinem Beruf und gehörte bis jetzt auch noch nicht zu Pentlands. Wenn er sie aber heiratete, hätte sie unvermeidlich an beidem bis zu einem gewissen Grad teil. Ihm war klar, dass er sich in diesem kurzen Urlaub entscheiden musste, ob er das wirklich wollte.

Jane Dalgliesh sagte: »Wollen wir ein bisschen Musik hören? Ich habe eine neue Platte von Mahler.«

Dalgliesh war nicht musikalisch, aber er wusste, dass seine Tante eine große Musikliebhaberin war, und es gehörte zu einem Aufenthalt in Pentlands mit dazu, dass sie sich gemeinsam ihre Schallplatten anhörten. Ihr Wissen und ihre Begeisterung waren ansteckend; er begann allmählich, Entdeckungen zu machen. Und in seiner augenblicklichen Stimmung war er sogar bereit, es mit Mahler zu versuchen.

In dem Augenblick hörten sie den Wagen.

»O Gott«, sagte er. »Wer ist das? Hoffentlich nicht Celia Calthrop.«

Ms Calthrop hatte die hartnäckige Angewohnheit, ungebeten bei anderen Leuten hereinzuschneien, wenn sie nicht energisch daran gehindert wurde; ständig widmete sie sich der Aufgabe, dem Einzelgängertum von Monksmere die anheimelnden Gepflogenheiten kleinstädtischer Geselligkeit aufzunötigen. Besonders gern stellte sie sich immer dann ein, wenn Dalgliesh zu Besuch war. Ein gut aussehender, unverheirateter Mann war Freiwild in ihren Augen. Und wenn sie ihn nicht für sich selber haben wollte, irgendjemand würde ihn schon wollen – die Vorstellung, dass etwas ungenutzt verkam, war schrecklich für sie. Bei einem seiner Besuche hatte sie tatsächlich eine Cocktailparty für ihn gegeben. Damals hatte es ihm sogar gefallen, er war fasziniert gewesen von der Absurdität dieser Veranstaltung. Die kleine Schar aus Monksmere hatte in Celias rosa-weißem Salon belegte Brote vertilgt, billigen Sherry getrunken und Konversation gemacht, als träfe man sich zum ersten Mal, während draußen ein Sturm über die Landspitze heulte und in der Diele Südwester und Sturmlaternen bereitgestellt wurden. Da hatte es wirklich Kontraste gegeben. Aber man sollte daraus keine Gewohnheit machen.

Jane Dalgliesh sagte: »Das hört sich an wie Ms Calthrops Morris. Vielleicht kommt sie mit ihrer Nichte vorbei. Elizabeth ist aus Cambridge gekommen, um sich von einem Drüsenfieber zu erholen. Ich glaube, sie ist seit gestern da.«

»Dann gehört sie aber ins Bett. Es klingt, als wären es mehr als zwei. Ist das nicht die quäkende Stimme von Justin Bryce?«

Tatsächlich. Als Ms Dalgliesh die Tür aufmachte, sahen sie durch die Fenster der Veranda die beiden Scheinwerfer des Autos und ein Durcheinander schwarzer Silhouetten, die sich allmählich wieder in bekannte Gestalten verwandelten. Es sah fast so aus, als wollte ganz Monksmere seine Tante besuchen. Sogar Sylvia Kedge, Maurice Setons gehbehinderte Sekretärin, war dabei und bewegte sich auf ihren Krücken langsam auf den Lichtschein zu, der durch die offene Tür nach draußen fiel. Ms Calthrop ging langsam neben ihr her, wie um sie zu stützen. Hinter ihnen Justin Bryce, der noch immer irgendetwas Unzusammenhängendes in die Nacht hinausquäkte. Neben ihm tauchte die große Gestalt von Oliver Latham auf. Zuletzt kam, widerwillig und verdrossen, Elizabeth Marley, die Schultern gekrümmt, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Sie schlenderte den Weg entlang und blickte dabei nach rechts und links in die Dunkelheit, als wolle sie sich von der restlichen Gesellschaft distanzieren.

Bryce rief aus: »Guten Abend, Ms Dalgliesh. Guten Abend, Adam. Bitte machen Sie mich nicht verantwortlich für diese Invasion. Das war einzig und allein Celias Idee. Wir sind gekommen, meine Lieben, um uns einen fachmännischen Rat zu holen. Wir alle, außer Oliver. Den haben wir unterwegs getroffen, und er ist nur gekommen, um sich ein bisschen Kaffee zu leihen. Jedenfalls sagt er das.«

Latham sagte ruhig: »Ich habe vergessen, Kaffee zu kaufen, als ich gestern aus der Stadt hergekommen bin. Deshalb habe ich beschlossen, zur einzigen Nachbarin zu gehen, von der ich annehmen kann, dass sie einen anständigen Kaffee im Haus hat und nicht sofort mit einer Standpauke über meine schludrige Haushaltsführung aufwartet. Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass hier eine Party im Gange ist, hätte ich bis morgen gewartet.«

Aber er zeigte keinerlei Neigung zu gehen.

Sie kamen herein, blinzelten im Licht und brachten einen Schwall kalter Luft mit, die den weißen Holzrauch in Schwaden durchs Zimmer trieb. Celia Calthrop ging schnurstracks zu Dalglieshs Sessel und setzte sich dort in Positur, als wolle sie eine abendliche Huldigung entgegennehmen. Ihre eleganten Beine und Füße, sorgfältig ins rechte Licht gerückt, standen in krassem Gegensatz zu dem plumpen, eng geschnürten Körper mit dem hohen Busen und den schwabbligen, fleckigen Armen. Dalgliesh schätzte, dass sie Ende vierzig war, aber sie sah älter aus. Sie war wie immer stark, aber sehr gekonnt geschminkt. Der kleine Fuchsmund war dunkelrot, über den tief liegenden, schräg stehenden Augen, die dem Gesicht einen Ausdruck falscher Intellektualität verliehen, der auf Pressefotos gern hervorgehoben wurde, lag blauer Lidschatten, und die Wimpern waren dick getuscht. Sie nahm den Chiffonschal vom Kopf und enthüllte die neueste Leistung ihres Friseurs, wobei durch das Haar, das so fein war wie Babyflaum, auf fast obszöne Weise die glatte rosige Kopfhaut hindurchschimmerte.

Dalgliesh hatte ihre Nichte bis dahin erst zweimal gesehen, und als er ihr jetzt die Hand gab, dachte er, dass Cambridge sie nicht verändert hatte. Sie war noch immer das derbe, verdrossene Mädchen, an das er sich erinnerte. Das Gesicht wirkte durchaus intelligent und hätte sogar ganz anziehend sein können, wenn es nur einen Funken Temperament verraten hätte.

Mit dem Frieden im Zimmer war es nun vorbei. Dalgliesh dachte, dass es erstaunlich war, wie viel Lärm sieben Leute machen konnten. Es gab die übliche Prozedur, mit der Sylvia Kedge auf ihrem Stuhl zurechtgerückt wurde – unter der strengen Aufsicht von Ms Calthrop, die selbst nicht mit Hand anlegte. Man hätte das Mädchen ungewöhnlich, vielleicht sogar schön nennen können, wenn da nicht die verkrümmten, in Schienen steckenden Beine, die muskulösen Schultern und die von den Krücken deformierten, männlich wirkenden Hände gewesen wären. Das Gesicht war lang und bräunlich und von glatten schwarzen Haaren umrahmt, die von einem Mittelscheitel aus auf die Schultern herabfielen. Es war ein Gesicht, in dem sich durchaus Festigkeit und Charakter hätten widerspiegeln können, wenn sie ihm nicht den Ausdruck Mitleid heischender Unterwürfigkeit gegeben hätte, eine stille, klaglose Leidensmiene, die nicht recht zu ihrer hohen Stirn passen wollte. Die großen schwarzen Augen hatten Übung darin, Mitleid zu erregen. Sie verstärkte jetzt die allgemeine Unruhe, indem sie versicherte, sie sitze bequem, obwohl das offensichtlich nicht der Fall war, während sie zugleich mit flehentlicher Sanftheit, die einem Befehl gleichkam, darum bat, dass ihre Krücken in Reichweite gestellt würden, auch wenn das bedeutete, dass sie unsicher gegen ihre Knie gelehnt werden mussten. Auf diese Weise rief sie den Anwesenden die unbehagliche Tatsache ins Bewusstsein, dass sie sich unverdienter Gesundheit erfreuten.

Dalgliesh hatte sich dieses Schauspiel schon bei früheren Gelegenheiten angesehen, aber heute Abend hatte er das Gefühl, dass sie nicht mit ganzem Herzen dabei war, dass es fast mechanisch ablief. Zum ersten Mal sah das Mädchen wirklich krank und gequält aus. Ihre Augen waren leblos wie Steine, und von den Nasenflügeln zogen sich tiefe Falten zu den Mundwinkeln. Sie sah aus, als brauchte sie dringend Schlaf, und als er ihr ein Glas Sherry reichte, sah er, dass ihre Hand zitterte. In einem Anflug aufrichtigen Mitgefühls legte er seine Finger um ihre und hielt das Glas fest, bis es aufhörte zu schwanken und sie trinken konnte.

Er lächelte sie an und fragte freundlich: »Was ist denn passiert? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Aber Celia Calthrop betrachtete sich als Wortführerin.

»Es ist sehr unhöflich, dass wir Sie und Jane an Ihrem ersten gemeinsamen Abend überfallen. Ich weiß das. Aber wir machen uns große Sorgen. Zumindest Sylvia und ich. Wir sind zutiefst beunruhigt.«

»Wohingegen ich für meinen Teil«, sagte Justin Bryce, »weniger beunruhigt bin als gespannt, um nicht zu sagen, hoffnungsvoll. Maurice Seton ist verschwunden. Ich fürchte ja, dass es nur ein Publicity-Gag für sein neues Buch ist und dass wir ihn nur zu bald wieder hier unter uns sehen werden. Aber beschäftigen wir uns nicht mit dieser traurigen Aussicht.«

Er sah tatsächlich alles andere als traurig aus, wie er da, einer bösartigen Schildkröte gleich, auf seinem Hocker vor dem Kamin saß und den langen Hals dem Feuer entgegenreckte. Er hatte in seiner Jugend einen eindrucksvollen Kopf gehabt mit hohen Wangenknochen, einem großen ausdrucksvollen Mund und riesigen, leuchtenden grauen Augen unter den schweren Lidern. Aber inzwischen war er fünfzig und auf dem besten Weg, eine Witzfigur zu werden. Obwohl seine Augen sogar noch größer wirkten, waren sie weniger strahlend und tränten ständig, als kämpfte er unaufhörlich gegen einen starken Wind. Das dünne Haar war fahl und strohig geworden. Die Knochen traten unter der Haut hervor und ließen den Kopf wie einen Totenschädel erscheinen. Nur die Hände waren unverändert. Er streckte sie jetzt zum Feuer – glatt, zart und weiß wie Mädchenhände.

Er lächelte Dalgliesh an. »Vermisst, aber wahrscheinlich am Leben und außer Gefahr. Ein Kriminalschriftsteller mittleren Alters. Nervös veranlagt. Schmächtig. Schmale Nase. Vorstehende Zähne. Schütteres Haar. Hervortretender Adamsapfel. Der ehrliche Finder darf ihn behalten … Wir sind gekommen, um uns von Ihnen einen Rat zu holen, mein lieber Junge. Wo Sie sich doch gerade wieder einen neuen Triumph an Ihre Fahne heften können, wie ich höre. Sollen wir warten, bis Maurice wieder auftaucht, und so tun, als hätten wir gar nicht bemerkt, dass er verloren gegangen war? Oder sollen wir sein Spielchen mitspielen und die Polizei bitten, uns bei der Suche zu helfen? Es wäre eine freundliche Geste zu kooperieren, wenn es ein Werbegag ist. Der arme Maurice kann in dieser Hinsicht jede Unterstützung brauchen, die er kriegen kann.«

»Das ist nicht witzig, Justin.« Ms Calthrop war sehr ernst. »Ich halte es für ausgeschlossen, dass es ein Werbegag ist. Sonst wäre ich nicht hierhergekommen und hätte Adam zu einer Zeit gestört, wo er einen ruhigen, friedlichen Urlaub dringend nötig hat, um sich von diesem aufreibenden Fall zu erholen. Unheimlich tüchtig von Ihnen, Adam, dass Sie ihn geschnappt haben, bevor er es noch mal tun konnte. Der ganze Fall macht mich krank, physisch krank! Und was wird nun mit ihm? Man steckt ihn ein paar Jahre auf Staatskosten ins Gefängnis und lässt ihn dann wieder raus, damit er ein anderes Kind umbringen kann. Sind wir denn alle verrückt in diesem Land? Ich verstehe nicht, warum man ihn nicht gnädig aufhängt und damit die ganze Sache zum Abschluss bringt.«

Dalgliesh war froh, dass sein Gesicht im Halbdunkel war. Er rief sich den Augenblick der Verhaftung wieder ins Gedächtnis. Pooley war so klein gewesen – klein, hässlich und Angst ausdünstend. Seine Frau hatte ihn ein Jahr zuvor verlassen, und der ungeschickte Flicken, der auf dem Ellbogen des billigen Jacketts Falten warf, war offensichtlich sein eigenes Werk. Dalgliesh hatte sich dabei ertappt, wie er diesen Flicken fixierte, als sei er ein Beweis, dass Pooley trotz allem ein menschliches Wesen war. Nun, die Bestie war jetzt hinter Gittern, und Presse und Öffentlichkeit hatten spontan die Arbeit der Polizei im Allgemeinen sowie die von Superintendent Dalgliesh im Besonderen in höchsten Tönen gelobt. Ein Psychotherapeut könnte ihm sicher erklären, warum er Schuldgefühle hatte. Das war für ihn nichts Neues, und er würde auf seine Weise damit fertigwerden. Im Übrigen, dachte er abschließend, hatte ihm das selten über längere Zeit Unbehagen bereitet und auch noch nie den Wunsch in ihm geweckt, den Beruf zu wechseln. Ganz gewiss aber würde er nicht mit Celia Calthrop über Pooley sprechen.

Vom anderen Ende des Raumes blickte seine Tante ihn an. Sie sagte ruhig: »Und was genau soll mein Neffe Ihrer Meinung nach tun, Ms Calthrop? Sollte man nicht die hiesige Polizei verständigen, wenn Maurice Seton verschwunden ist?«

»Ja, eben, soll man das tun? Genau das ist es ja, worüber wir uns den Kopf zerbrechen!« Ms Calthrop stürzte ihren Amontillado hinunter, als ob es Kochsherry wäre, und hielt automatisch ihr Glas hin, um sich nachschenken zu lassen.

»Möglicherweise ist Maurice mit einer ganz bestimmten Absicht untergetaucht, vielleicht will er Material für sein nächstes Buch sammeln. Er hat so eine Andeutung gemacht, dass es diesmal etwas ganz anderes werden soll – ein Bruch mit seinen üblichen klassischen Detektivromanen. Er hat ein so ausgeprägtes handwerkliches Gewissen, dass er über nichts schreibt, was er nicht aus eigener Erfahrung kennt. Das wissen wir ja alle. Erinnern Sie sich nur daran, wie er drei Monate beim Wanderzirkus verbrachte, ehe er ›Der Mord auf dem Drahtseil‹ schrieb. Das lässt natürlich auf eine etwas schwache Fantasie schließen. Meine Romane beschränken sich nie auf meine eigenen Erlebnisse.«

Justin Bryce sagte: »Ich bin erleichtert, das zu hören, meine liebe Celia, wenn ich daran denke, was Ihre letzte Heldin alles durchgemacht hat.«

Dalgliesh fragte, wann Seton das letzte Mal gesehen worden war. Ehe Ms Calthrop antworten konnte, ergriff Sylvia Kedge das Wort. Der Sherry und das Kaminfeuer hatten ihre Wangen leicht gerötet, und sie hatte sich jetzt ganz in der Gewalt. Sie richtete ihre Rede, ohne ein einziges Mal abzusetzen, direkt an Dalgliesh.

»Mr. Seton ist am Montagmorgen nach London gefahren und wollte im Club übernachten. Das ist der Cadaver Club am Tavistock Square. Er verbringt im Oktober immer ein oder zwei Wochen dort. Er ist im Herbst lieber in London und sammelt in der Clubbibliothek Material für seine Bücher. Er hat einen kleinen Koffer und seine Reiseschreibmaschine mitgenommen. Er ist von Halesworth aus mit dem Zug gefahren. Er hat mir gesagt, dass er ein neues Buch anfangen will, etwas ganz anderes, als er es bisher geschrieben hat, und ich hatte den Eindruck, dass er ziemlich aufgeregt war, auch wenn er nie mit mir darüber sprach. Er meinte, dass alle davon überrascht sein würden. Er richtete es so ein, dass ich während seiner Abwesenheit nur vormittags bei ihm im Haus zu tun hatte, und sagte, dass er mich gegen zehn anrufen würde, wenn er irgendwelche Nachrichten für mich hätte. Das ist die übliche Vereinbarung, wenn er im Club arbeitet. Er tippt das Manuskript in doppeltem Zeilenabstand, schickt es mir ratenweise zu, und ich schreibe es ins Reine. Anschließend überarbeitet er das ganze Buch noch mal, und dann tippe ich das Manuskript für den Verlag. Natürlich sind die einzelnen Teile nicht immer zusammenhängend. Wenn er in London ist, arbeitet er mit Vorliebe an den Szenen, die in der Stadt spielen – ich weiß nie, was ich als Nächstes bekomme. Na ja, er hat mich am Dienstagmorgen angerufen, um mir zu sagen, dass er mir voraussichtlich bis Mittwochabend ein paar Seiten zuschicken würde, und um mich zu bitten, ein paar kleinere Näharbeiten für ihn zu machen. Er klang ganz normal, so als ginge es ihm gut.«

Ms Calthrop konnte nicht länger an sich halten.

»Es ist wirklich nicht anständig von Maurice, Sie für Arbeiten wie Sockenstopfen und Silberputzen zu missbrauchen. Sie sind ausgebildete Stenotypistin, das ist eine schreckliche Vergeudung qualifizierter Arbeitskraft. Ich habe weiß Gott genug Material auf Tonband, das darauf wartet, von Ihnen getippt zu werden. Nun, das ist wieder etwas anderes. Aber meine Ansicht ist ja allgemein bekannt.«

Das war sie allerdings. Und man hätte sich ihr sicherlich bereitwilliger angeschlossen, hätte man nicht geahnt, dass die Entrüstung der guten Celia hauptsächlich eigennützigen Motiven entsprang. Wenn es ans Ausbeuten ging, erwartete sie, dass man ihr den Vortritt ließ.

Das junge Mädchen beachtete den Einwurf nicht. Die dunklen Augen waren noch immer auf Dalgliesh gerichtet.

Er fragte sie freundlich: »Und wann haben Sie wieder von Mr Seton gehört?«

»Gar nicht, Mr Dalgliesh. Am Mittwoch, als ich in Seton House gearbeitet habe, kam kein Anruf, aber darüber habe ich mir natürlich keine Gedanken gemacht. Es kommt vor, dass er tagelang nicht anruft. Heute Vormittag war ich schon früh wieder dort, um ein paar Sachen fertig zu bügeln, da rief Mr Plant an. Er ist Hausmeister im Cadaver Club, und seine Frau ist dort Köchin. Er sagte, sie seien sehr beunruhigt, denn Mr Seton sei am Dienstag vor dem Abendessen ausgegangen und nicht in den Club zurückgekommen. Sein Bett sei unbenutzt, aber die Kleider und die Schreibmaschine seien noch da. Mr Plant wollte zunächst keinen Aufruhr machen. Er dachte, dass Mr Seton vielleicht aus irgendeinem Grund, der mit seiner Arbeit zu tun hatte, weggeblieben sei – als aber noch eine zweite Nacht verging, ohne dass er etwas von ihm hörte, fing er an, sich Sorgen zu machen. Deshalb hielt er es für besser, zu Hause anzurufen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte mich nicht mit Mr Setons Stiefbruder in Verbindung setzen, weil er kürzlich umgezogen ist und wir seine neue Adresse nicht haben. Darüber hinaus hat er keine Angehörigen mehr. Verstehen Sie, ich war mir nicht sicher, ob Mr Seton wollte, dass ich etwas unternehme. Ich schlug Mr Plant vor, noch ein bisschen zu warten, und wir machten aus, dass wir uns sofort gegenseitig anrufen würden, wenn es Neuigkeiten gäbe. Und gegen Mittag bekam ich dann mit der Post das Manuskript.«

»Hier haben wir es«, verkündete Ms Calthrop. »Und den Umschlag.« Sie zog es mit großer Geste aus ihrer geräumigen Handtasche und reichte es Dalgliesh. Der Umschlag war ein gewöhnlicher brauner Geschäftsumschlag im A5-Format, mit Schreibmaschine an Maurice Seton, Esquire, Seton House, Monksmere, Suffolk adressiert. Darin steckten drei in laienhafter Maschinenschrift beschriebene Blätter.

Ms Kedge sagte tonlos: »Er adressiert die Manuskripte immer an sich selbst. Aber das hier ist nicht von ihm. Das hat er nicht geschrieben, und das hat er auch nicht getippt.«

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«

Es war eine ziemlich überflüssige Frage. Nur wenige Dinge sind schwerer zu manipulieren als Schreibmaschinenschrift, und die junge Frau hatte gewiss schon genügend Manuskripte von Maurice Seton abgeschrieben, um seinen Stil zu kennen.

Aber ehe sie Gelegenheit hatte zu antworten, sagte Ms Calthrop: »Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich einfach ein Stück daraus vorlese.«

Die anderen warteten, bis sie eine riesige strassbesetzte Brille aus ihrer Tasche geholt, sie auf ihrer Nase zurechtgerückt und in ihrem Sessel eine bequeme Haltung eingenommen hatte. Gleich würde hier die erste öffentliche Lesung eines Werks von Maurice Seton stattfinden, dachte Dalgliesh. Die gespannte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer und wahrscheinlich auch Ms Calthrops Darbietungsweise hätten ihm sicher gefallen. Celia, mit dem Werk ihres Zunftgenossen konfrontiert und ihrer Zuhörerschaft sicher, war bereit, ihr Bestes zu geben.

»Carruthers schob den Perlenvorhang zur Seite und trat in den Nachtklub. Einen Augenblick blieb seine hochgewachsene und elegante Gestalt, wie immer in einen gut geschnittenen Smoking gekleidet, reglos in der Tür stehen. Mit einem verächtlichen Ausdruck ließ er den kühlen, ironischen Blick über die dicht besetzten Tische, das schmuddelige, pseudospanische Interieur und die schäbige Klientel schweifen. Das also war die Kommandozentrale der wohl gefährlichsten Bande Europas! Hinter dieser Spelunke, die sich in nichts von hundert anderen in Soho unterschied, verbarg sich der Kopf, der einige der mächtigsten Verbrecherbanden der westlichen Welt steuerte. Es schien ihm unglaublich. Aber andererseits war dieses ganze fantastische Abenteuer unglaublich. Er setzte sich an einen Tisch neben der Tür, um sich umzusehen und zu warten. Als der Ober zu ihm kam, bestellte er gebackene Scampi, grünen Salat und eine Flasche Chianti. Der Mann, ein schmieriger kleiner Zypriot, nahm die Bestellung ohne ein Wort entgegen. Wussten sie, dass er da war, fragte sich Carruthers. Und wenn sie es wussten, wie lange würde es dauern, bis sie sich blicken ließen?