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Phoebe Penhurst verbringt die Saison bei Lady Needham, ihrer Tante Anne, in London. Beide Damen genießen den Trubel, sind sich aber auch darin einig, dass der größte Teil der jungen Gentlemen recht beschränkt ist, und sehen den Heiratsmarkt eher kritisch. Dass der Earl of Granville, nach der Beendigung seiner diplomatischen Karriere im Ausland, nun wieder in London weilt, stört dieses amüsante Zusammenleben etwas. Der Earl pflegt zwar sehr den Kontakt mit seiner alten Freundin Anne, scheint aber Phoebe kritisch bis streng zu mustern, er schmunzelt in den falschen Momenten, gibt missbilligende Geräusche von sich und schüttelt gelegentlich den Kopf. Ganz klar, er hält sie – so glaubt Phoebe – für dumm, für ein dummes, unreifes Kind, was ihr die ansonsten lustige bis aufregende Saison etwas verdirbt. Manchmal allerdings kann sie mit ihm großartige Wortgefechte führen… Der Earl selbst versteht gar nicht, warum Phoebe ihm gegenüber so launisch ist, denn er findet sie reizend und ist in Bezug auf merkwürdige Ballbesucher eigentlich immer ihrer Meinung. Als sie schließlich zusammen mit einer Freundin von einem sehr dubiosen "Gentleman" überfallen wird, kommt er ihr im rechten Moment zu Hilfe, aber hat er das vielleicht doch nur getan, weil er sie für ein Dummchen hält, das man überwachen muss? Lady Needham verzweifelt schier an den beiden – wie kann man nur so bockig sein? Sie würden so gut zusammenpassen…
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Seitenzahl: 309
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Imprint
Ein väterlicher Freund. Historischer Roman
Catherine St. John
Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2023 C. St. John/R. John 85540 Haar
Cover: Reflection, by Charles Joshua Chaplin
„Was ist denn mit Lord Renfrew?“, fragte Lily, als sie, von Phoebes Tante begleitet, zur modischen Zeit durch den Park schlenderten.
„Was soll mit ihm sein?“
„Wäre er nichts für dich?“
Phoebe lachte auf. „Lily, bitte! Erstens wird er bald Anthea heiraten, so, wie er sie immer anschaut – sie ist ja auch eine Heldin, wenn man an Klein-Heather denkt. Und zweitens bin ich gerade erst neunzehn geworden, da habe ich ja wohl auch noch ein wenig Zeit, oder?“
„Wenn deine Stiefmutter dich nicht drängt?“
„Ja, gut, das ist ein Argument – aber Papa steht noch auf meiner Seite und so lange schaue ich mich in aller Ruhe um. Es gibt einfach zu viele Narren in der guten Gesellschaft.“
„Und uralte, sabbernde Witwer“, ergänzte Lily finster, die auf dem letzten Ball erst mit zwei solchen Exemplaren hatte tanzen müssen.
„Eben! Dann sollte ich doch wohl etwas überlegter an die Sache herangehen, oder? Und du übrigens auch. Was wäre denn mit Belmont?“
„Er ist ein netter Mensch, aber noch sehr – nun, sagen wir – jung?“
„Um nicht zu sagen, etwas unreif?“
Sie kicherten beide und Tante Anne hinter ihnen räusperte sich ohne große Überzeugungskraft, was das Kichern nur noch verstärkte.
„Aber wenn Belmont sonst keine Fehler hat?“, überlegte Phoebe weiter, „Dieses Problem dürfte sich doch mit der Zeit von selbst erledigen?“
„Das kann schon sein“, antwortete Lily ohne große Begeisterung, „warum nimmst du ihn dann nicht? Zu dir ist er deutlich charmanter als zu mir.“
„Ich will mich doch noch umschauen! Vor mindestens zwanzig heirate ich auf gar keinen Fall! Da bin ich sicher, ziemlich sicher wenigstens.“
Auf dem Reitweg, der parallel zu ihrem Fußweg in geringem Abstand verlief, trabten vor allem die Herren entlang, obwohl er für die Ladys nicht verboten war. Lily und Phoebe winkten den Reitern, die sie gut kannten, freundlich zu, sofern diese zuvor den Hut gezogen hatten.
„Wollen wir noch zur Serpentine gehen?“, fragte Phoebe.
Tante Anne seufzte. „Wenn es sein muss?“
„Nein, es muss nicht sein“, zog sich Phoebe wieder zurück, denn Tante Anne war herzensgut – aber doch eher stattlich gebaut; ihr Gesicht hatte sich ja jetzt schon sehr gerötet!
Dass die Tante sich erboten hatte, sie durch ihre Saison zu begleiten, war wirklich nett von ihr, gab Phoebe im Stillen sofort zu – und sie bedankte sich auch durchaus häufig dafür!
Ihre Stiefmutter mit drei kleinen Kindern hatte sich naturgemäß geweigert, obwohl sie andererseits sehr daran interessiert war, Phoebe rasch zu verheiraten, um wenigsten eine Stieftochter aus dem Haus zu bekommen. Phoebe jedenfalls kam es nicht nur manchmal so vor. Ein bisschen wie im Märchen, fand sie insgeheim. Davon abgesehen war Mary Louisa aber eigentlich recht freundlich zu ihr – und die Kinder waren nett, sie spielte gerne mit ihnen. Also würde sie sich nicht voreilig in eine Ehe drängen lassen!
„Weißt du eigentlich, welche Mitgift du zu erwarten hast?“, fragte Lily. „Wie schön der See im Sonnenschein aussieht, auch auf diese Entfernung!“
„Ich glaube, zehntausend – oder weniger, Papa muss ja mit weiteren Töchtern rechnen, nicht wahr? Außer mir und Diana gibt es schon die kleine Eva – und sollte Mary Louisa tatsächlich wieder in der Hoffnung sein, ist da vielleicht eine weitere kleine Schwester im Anmarsch.“
„Woher weißt du denn, dass sie in der Hoffnung ist?“
„Zurzeit ist ihr des Morgens fast täglich übel – und bei den Zwillingen war das genauso. Ich glaube, bei Henry auch schon.“
„Ich dachte, man erkennt es daran, dass die Frau dicker wird?“ Lily sah verwirrt drein.
„Meine Lieben, das solltet ihr wenigstens nicht in der Öffentlichkeit diskutieren. Eine Frau, die dicker wird, könnte auch einfach das Essen zu sehr genießen, nicht wahr?“ Tante Anne klopfte sich zur Illustration auf den Bauch, den ihr Korsett nur mit Mühe zähmte. Dann musste sie selbst kichern. „Und jetzt wechseln wir das Thema!“
„Ich finde den See auch wunderhübsch“, zog sich Phoebe etwas abrupt ins Harmlose zurück, „gerade mit den Bäumen dahinter und Rotten Row…“
Einer der Reiter, aus der Perspektive der Mädchen etwa daumengroß, zügelte seinen Rappen und blieb stehen, um, wie es zumindest schien, zu ihnen zu schauen. Ob er das wirklich tat, war allerdings schwer zu entscheiden, stellte Lily nicht ohne Bedauern fest.
„Die Bäume hinter uns und darüber der tiefblaue Himmel sind bestimmt genauso sehenswert. Und wie sollte er uns auf die Entfernung überhaupt erkennen?“, argumentierte Phoebe.
Lily gab ihr friedfertig recht. „Wir wissen doch ohnehin nicht, wer das ist! Ich finde, allmählich werden die Schatten länger… gehen Sie morgen zu dem Konzert bei Lady Lareton, Lady Needham? Es soll sogar eine richtige Sängerin auftreten!“
Tante Anne lächelte. „Ja, wir werden auch erscheinen und wir freuen uns schon sehr darauf. Und am nächsten Freitag ist dann der Tanzabend bei den Prestons, nicht wahr? Da könnt ihr Mädchen wieder tanzen, bis eure Schuhe zerfallen.“
„Und du, Tante Anne?“ Phoebe schmunzelte. Lady Needham erwiderte das breite Lächeln. „Sehe ich aus, als verzehrte ich mich nach Tänzen?“
„Ich glaube, Klatsch und Tratsch liegen dir dann doch mehr, liebste Tante“, vermutete Phoebe und umarmte sie rasch.
„Kindchen – in der Öffentlichkeit?“
„Alle dürfen wissen, dass du meine Lieblingstante bist!“
Lady Needham lachte. „Du hast ja auch eine ungeheure Auswahl an Tanten, nicht wahr?“
„Wieviele Tanten hast du denn?“, tuschelte Lily.
„Nur diese eine neben mir“, tuschelte Phoebe vernehmlich zurück.
„Warum – ach so! Das war ein Witz?“ Phoebe klopfte ihrer Freundin lobend auf die Schulter. „Gut erkannt! Komm, wir gehen langsam zurück. Der Park leert sich auch allmählich.“
Als sie gemütlich Richtung Ausgang schlenderten, fiel Phoebes Blick noch einmal auf den Himmel über der Serpentine und den berühmten Reitweg hinter dem See: Der Rappe stand dort immer noch! War der Reiter etwa eingeschlafen? Oder fühlte er sich nicht wohl? Sollte man einmal nachsehen? Vielleicht war er ja schon älter? Nein, jetzt richtete er sich gerade auf, nahm die Zügel fester – soweit man das auf diese Distanz überhaupt erkennen konnte – und trieb den Rappen an. Als er davontrabte, wandte sie sich erleichtert ab.
„Phoebe, kommst du?“
Sie eilte Tante und Freundin hinterher.
*
„Nate, du bist heute gar nicht bei der Sache“, tadelte sein Freund Thomas und studierte, welche Karten Nathan ausgespielt hatte. „Ist das wirklich dein Ernst? Dann können wir die Partie auch gleich beenden!“
„Das wäre mir, wenn du nichts dagegen hast, auch wirklich lieber“, seufzte der Earl of Granville. „Ich bin doch erst vor Kurzem in Southampton angekommen – und die Reise aus Wien war wirklich anstrengend. Der Aufenthalt auch, übrigens.“
„Wien ist doch zauberhaft?“, antwortete Lord Debenham, während er die Karten wieder zusammenschob und sie dann in der Lederbox verwahrte.
„Während des Kongresses vielleicht, aber da hast du ja wirklich vor allem getanzt und dich nicht um all diese Intrigen gekümmert, die hinter den Kulissen gesponnen wurden. Ein paar andere und ich hatten dann alle Hände voll zu tun, den ganzen Wirrwarr wieder aufzuräumen. Vor allem diese Österreicher! Und die Russen! Dagegen waren die Preußen direkt harmlos – die Franzosen auch, das wollte man nach all dem, was sie zuvor angerichtet hatten, gar nicht glauben. Nun, jetzt ist es ja vorbei…“
„Was soll das heißen? Ist etwa der immerwährende Frieden in Europa ausgebrochen? Davon habe ich bis jetzt eigentlich nichts gehört…“
„Aber nicht doch! Ich bin aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden. Auf die Dauer ist das wirklich zu ärgerlich. Du hörst dir beide Seiten an, beredest jede Seite einzeln, ein wenig von den Forderungen und nationalen Interessen nachzulassen, findest einen Kompromiss und stellst fest, dass dich nun beide Seiten hassen. So etwas kann man nicht sein Leben lang machen.“
„Und was hast du nun vor?“
Granville warf ihm einen nachsichtigen Blick zu: „Du erinnerst dich an Mercer Court?“
„Also willst du dich niederlassen, heiraten, Erben zeugen – und für die Pächter sorgen?“
„Ganz recht. Besser als durch die Kneipen Londons zu ziehen, zu trinken, zu spielen, alberne Wetten abzuschließen oder halsbrecherische Rennen zu fahren – du erinnerst dich an Richard Anson?“
Thomas nickte pietätvoll. Anson hatte es fertiggebracht, in einer einzigen Nacht so ungefähr jeden Blödsinn anzustellen, der für einen Mann in den frühen Zwanzigern typisch schien: Erst verlor er einige hundert Guinees beim Würfeln, was er sich schon kaum leisten konnte, dann wollte er alles durch eine Wette wieder ausgleichen; er wettete, dass er einmal um die ganze Wirtsstube laufen könne – auf den Händen.
„Vergiss es“, war die einhellige Meinung, aber er beharrte darauf. Nun denn also… jeder setzte zehn Guinees und Anson sollte die insgesamt 60 Guinees bekommen, falls ihm das Kunststück gelänge. Falls nicht, dürften die Freunde ihn verspotten, aber zahlen müsste er nichts – er hatte ja auch nichts mehr… So kam es dann auch – er schaffte nicht einmal die Hälfte der Strecke.
„Warum hat er damals eigentlich noch auf dieser Wettfahrt bestanden? Es war doch ohnehin so gar nicht sein Glückstag?“, überlegte Thomas.
„Er wollte sein Glück eben zwingen. Und die Strecke durch die Heide war gar nicht einmal so schlecht gewählt, fand ich damals“, antwortete Nathan nachdenklich. „Heute würde ich den Teufel tun und mich auf eine solche Idiotie einlassen, das ist ja immerhin mehr als zehn Jahre her.“
„Gut gewählt hin oder her, er hat sich dabei den Hals gebrochen – und er war der einzige Sohn“, erinnerte sich Thomas.
„Eine Tragödie für die Familie. Und das Vermögen war auch praktisch aufgebraucht, wozu Richard nicht gerade wenig beigetragen hatte. Die Eltern sind kurz danach auch gestorben. Bitter. Nun, wie gesagt, so dumm wären wir heute wohl nicht mehr!“
„Ja, ja, wir sind alt und gesetzt geworden“, spottete Thomas.
„Sagen wir lieber: vernünftig“, korrigierte sein Freund. „Und dazu passt es doch sehr gut, zu heiraten, die Familie fortzusetzen, den Besitz zu verwalten und sich ein wenig um den allgemeinen Fortschritt zu kümmern?“
„Sicher“, seufzte Thomas.
„Begeistert klingt das nicht unbedingt“, spottete Nathan. „Ich bin dir wohl zu unromantisch?“
„Nun ja – damals warst du wirklich romantischer! Erinnerst du dich noch an Lady Belville?“
Nathan grinste. „Die junge Frau von Sir Lionel Belville? Der um die Neunzig war, als er geheiratet hat? Lebt er eigentlich noch?“
„Aber nein! Immerhin hat sie zwei Söhne, acht und sechs Jahre alt, und verwaltet für den Älteren den Besitz.“
„Sechs und acht…“ Nathan überlegte. „Nein.“
„Was, nein? Sie könnten nicht deine Söhne sein?“
„Unmöglich! Meine Affäre mit Selina Belville liegt gute elf Jahre zurück und ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen. Damals war sie achtzehn… jetzt neunundzwanzig – verkehrt sie in der Londoner Gesellschaft?“
„Selten, sie muss ja den Landbesitz verwalten. Aber ab und zu wirft sie auch einen Kontrollblick auf Belville House.“ Thomas feixte, eindeutig.
„Jedenfalls muss ich sie nicht unbedingt treffen, aber sollten wir uns in einem Ballsaal oder im Park zufällig über den Weg laufen, wäre das wohl auch keine Katastrophe. Ich weiß nicht, wer ihr zu den beiden Söhnen verholfen hat – vielleicht sogar tatsächlich der uralte Belville – aber ich war es nicht und sie hat mich bestimmt längst vergessen.“
„Frauen vergessen Männer weniger leicht als umgekehrt“, dozierte Thomas vergnügt. „Und du wirst dich jetzt nach einer passenden Gemahlin umsehen?“
„Ganz recht!“ Nathan warf ihm einen scharfen Blick zu. „Und jetzt wechseln wir bitte einmal das Thema!“
Lady Lareton hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, musste Phoebe am nächsten Abend zugeben, wie sie Lily flüsternd mitteilte – ein so originell geschmückter Konzertsaal!
„Ist das sonst nicht ihr Ballsaal?“, tuschelte Lily zurück.
„Natürlich! Niemand hat doch neben dem Ballsaal noch einen extra Saal nur für Konzerte?“, zischelte Phoebe.
„Der König bestimmt!“
„Meinetwegen. Und der Prinzregent, der kann ja auch unbegrenzt Schulden machen, glaube ich.“
Sie winkten einigen Bekannten zu, witzelten ein wenig mit Lord Belmont, der sich vor dem Musikgenuss etwas zu fürchten schien, und bewunderten die Roben der anderen Damen – oder kicherten darüber. Miss Lareton und Miss Celia Lareton freilich waren untadelig gekleidet, beide in einen zarten Fliederton mit schmalen Amethystcolliers um den Hals, Celia mit Rüschchen um den absolut passenden Ausschnitt; ihre ältere Schwester Amelia hatte silberne Borten um ihr Decolleté und um den Saum des Kleides aufzuweisen. Immerhin trugen sie aber nicht identische Kleider, als seien sie Zwillinge.
„Sie sehen sich aber so ähnlich wie Zwillinge“, behauptete Lily.
„Amelia hat braune Augen und Celia hellblaue“, widersprach Phoebe etwas abgelenkt, weil ihre Tante winkte. „Setzt euch schon mal, Mädchen. Ein Diener ist schon unterwegs, um uns Limonade zu bringen.“
Phoebe legte den Kopf schief. „Für dich etwa auch?“
Tante Anne lachte ertappt. „Ich ziehe Champagner vor.“
Lily schauderte: „Der kribbelt so komisch, dass man so etwas mögen kann?“
„Für euch beide ist er auch noch nichts. Man wird sehr albern davon, wenn man zu viel getrunken hat.“
„Und wir sind wohl auch ohne Champagner schon albern genug?“ Phoebe zwinkerte, aber angesichts des Gentlemans, der mit unbewegter Miene an ihnen vorbeischritt und eher knapp nickte, setzte sie sofort ebenfalls eine strenge Miene auf und knickste – ebenfalls kaum wahrnehmbar. Lily tat es ihr etwas verständnislos gleich.
„Wer war das?“, tuschelte sie dann aufgeregt.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, murmelte Phoebe, denn der Gentleman entfernte sich allmählich aus ihrer Hörweite, „aber er hat mich so vorwurfsvoll gemustert, da wollte ich mindestens genauso kalt reagieren.“
Sie sahen zu Tante Anne auf, die neben ihren Stühlen stand und nun eine Geste der Hilflosigkeit vollführte. „Mädchen, ich bin wirklich nicht sicher, auch wenn ich glaube, ihn von früher zu kennen. Aber ich habe ihn in den letzten Jahren auf keinen Fall in einem Ballsaal oder auf einer anderen Veranstaltung der obersten Kreise gesehen. Und jetzt eben war er schon fast an uns vorbei, bevor ich überhaupt aufmerksam wurde.“
„Er sah mir auch nicht aus, als sei er gerne hier“, überlegte Phoebe im Niedersetzen. „Warum bleibt er dann nicht einfach zu Hause und liest ein gutes Buch?“
„Vermutlich braucht er eine Ehefrau“, erklärte Tante Anne und setzte sich ebenfalls rasch hin, denn der Lakai kam mit den Getränken. Kurz darauf trat Lady Lareton vor das Podium der Musiker und verkündete das genaue Programm, inklusive des Auftritts einer jungen und sehr talentierten Sängerin. Direkt nach diesem Auftritt sollte es eine Pause geben, was im Publikum zu beifälligem Gemurmel führte.
Phoebe sah sich so unauffällig wie möglich um – der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, gab es denn heute gar keine andere Veranstaltung? Oder waren alle diese Leute ernsthaft an Musik interessiert? Die Herren etwa auch? Die wurden doch nicht mit Piano-Unterricht gequält?
Das Orchester stimmte die Instrumente und begann mit einem Stück, das Phoebe aus ihrem eigenen Musikunterricht kannte – ja, da merkte man den Unterschied zwischen unlustigen höheren Töchtern und wirklichen Musikern! So schön hatte sie das noch nie gehört! Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Töne; prompt puffte Tante Anne sie diskret in die Seite: „Nicht schlafen!“
„Ich genieße die Musik!“
Also schaute sie artig nach vorne und versuchte sich so zu konzentrieren. Bei einem Seitenblick merkte sie aber, dass Lily vor sich hinlächelte. Lily war albern. Na gut, sie auch manchmal, warum auch nicht? So hatte man doch wenigstens viel Spaß, und Spaß brauchte man schon, denn so eine Saison war wirklich anstrengend.
Und bis jetzt hatte sie wirklich noch keinen einzigen Mann kennengelernt, den sie hätte heiraten mögen. Es hatte auch keiner ihrer Tanzpartner oder der Gentlemen, die sie bei Picknicks, im Park oder im Museum kennengelernt hatte, ein diesbezügliches Interesse gezeigt, wenn sie es recht bedachte.
Sie hatte es ja auch nicht eilig!
Aber dieser Mann vorhin, der sie so kühl und betont obenhin gegrüßt hatte? Den sie noch nie gesehen hatte? Was hatte sie dem eigentlich getan? Gekichert hatten sie doch erst nach dieser kurzen Szene?
Das nächste Stück stammte aus Händels Feuerwerksmusik; Phoebe kannte es recht gut, aber leider fiel ihr beim Zuhören ein, dass Tante Anne doch einmal angedeutet hatte, man könne auch Vauxhall Gardens besuchen und ein Feuerwerk bewundern. Natürlich unbedingt in zuverlässiger männlicher Begleitung, denn Vauxhall Gardens seien wirklich nicht ungefährlich!
Aber diese Musik und dazu die zerplatzenden Raketen am Himmel – das musste sehr eindrucksvoll sein!
Sie warf einen vorsichtigen Blick nach rechts – Lily döste. Ja, oder konzentrierte sich auf die Musik.
Als das Händelstück zu Ende war, trat Lady Lareton wieder nach vorne und kündigte Miss Seraphina Wonder, die Sängerin, an. Phoebe freute sich noch über diesen Namen, als die Dame vor ihr Publikum trat. Jemand stellte neben dem Piano einen weiteren Notenständer auf; Miss Wonder breitete umständlich ihre Noten darauf aus und winkte ein schüchternes Mädchen zu sich, dem sie dann leise erklärte, wie und wann die Noten umzublättern waren. Ein rechtes Gewese, fand Phoebe und tauschte einen verständnisinnigen Blick mit Tante Anne.
Als Lady Lareton noch einmal mit großer Geste verkündete: „Ladys und Gentlemen, Miss Wonder!“, brandete Applaus auf und Phoebe schaffte es, beim Klatschen Lily leicht anzustupsen, so dass diese mit einem verdutzten Laut hochfuhr und sofort hastig mitapplaudierte.
Der Pianospieler präludierte kurz und Miss Wonder setzte ein. Eine wundervolle Stimme mit einem gewaltigen Umfang, musste Phoebe zugeben; Miss Wonders Name passte sehr gut. Und sehr hübsch war sie auch mit ihren dramatischen dunklen Locken, den funkelnden Augen – waren sie tatsächlich grün? So grün?
Die Figur wirkte recht üppig, aber das fand Phoebe für eine Sängerin durchaus vorteilhaft – sagte man nicht, das gebe der Stimme erst die nötige Kraft, sozusagen Volumen? Und da die Dame auch sehr gut gekleidet war, in ein dunkelgrünes Samtkleid, das die Figur Miss Wonders sehr attraktiv im Zaum hielt, war gegen eine etwas – äh – rundlichere Figur schließlich nichts einzuwenden, nicht wahr?
Das fand Phoebe, die selbst nicht wirklich ätherisch wirkte, eigentlich recht tröstlich. Papa bezeichnete ihre Rundungen als Babyspeck, was sie auch wieder ärgerte, sie war schließlich erwachsen, nicht wahr?
Sie lauschte Miss Wonder und strich dabei über den Stoff ihrer Robe aus feinem elfenbeinfarbenen Seidenmusselin – die blassblauen Kanten machten sich wirklich sehr gut, das musste man Mary Louisa lassen: Sie hatte ihre Stieftochter sehr hübsch ausgestattet, wenn auch aus eigennützigen Motiven. Zartes Blau war genau ihre Farbe!
Miss Wonders Stimme schraubte sich zu einem letzten Höhepunkt empor, so schön… Dann gab es jetzt die Pause? Phoebe begann sich schon bereit zu machen aufzustehen, als die Sängerin ein weiteres Lied anstimmte, ein ganz weiches, zärtliches in einer fremden Sprache – nein, das war Italienisch, das hatte Phoebe neben Französisch von ihrer Gouvernante gelernt. Sie begann, während sie verträumt lauschte, zu überlegen, ob sie heute wohl noch mit jemandem in einer dieser Sprachen plaudern konnte; vermutlich hatte sie das meiste schon wieder vergessen.
Nun, wann kamen schon vornehme Leute auf diese Veranstaltungen, die des Englischen nicht mächtig waren? Franzosen waren ja immer noch ein wenig verfemt, Bonaparte war, sagte Papa, in den vergangenen Jahrzehnten lästig genug gewesen – und Italiener? Gab es die überhaupt? Vielleicht ganz im Süden? Gehörte der Norden nicht Österreich und die Mitte der katholischen Kirche? Seltsam, die englische Kirche besaß keinen ganzen Staat…
Miss Tolliver hätte ihr mehr über Geschichte beibringen können, aber das hatte sie für unwichtig erklärt, eine junge Lady müsse so etwas nicht wissen. Sehr schade, so etwas war doch viel interessanter als Zeichnen und Klavierspielen, vor allem, wenn man dafür nicht besonders begabt war. Immerhin hörte sie gerne gute Musik, so wie eben jetzt!
Miss Wonder begann mit der vierten – und wahrscheinlich letzten Strophe. Sehr schöne Melodie… und wirklich eine wunderbare Stimme, Miss Wonder konnte durchaus eine Bühnenkarriere machen. Wenn sie sich vor ihren Verehrern in Acht nahm, hieß das: Phoebe hatte da skandalöse Andeutungen gehört, die natürlich nicht für ihre Ohren bestimmt waren.
Der frenetische Beifall nach diesem Lied entlockte Miss Wonder ein geschmeicheltes Lächeln und die Ankündigung, sie werde zum Dank noch ein altes englisches Volkslied singen. Damit wandte sie sich dem Pianisten zu. Phoebe wettete mit sich selbst, dass es Greensleeves sein würde.
Als die Klänge des Pianos begannen, lächelte sie zufrieden: Recht gehabt! Und Miss Wonder trug das Lied so zart und empfindsam vor, wirklich ein Genuss!
Danach kam nun endlich die Pause und darüber waren Phoebe und Lily wirklich froh, sie wollten so gerne etwas herumspazieren, obwohl wenige Bekannte anwesend waren, soweit Phoebe bisher gesehen hatte.
Immerhin trafen sie Lord Belmont wieder, der sie vergnügt begrüßte und ihnen sofort etwas Limonade besorgte. Lily lachte, als sie ihr Glas bekam: „Lord Belmont, dass man ausgerechnet Sie bei einem Musikabend antrifft? Ich kann es noch immer nicht glauben!“
Er legte in gespieltem Schmerz die Hand aufs Herz. „Miss Hutchins! Dass Sie mich für so kulturlos halten, trifft mich wirklich! Mitten ins Herz!“
Phoebe lachte auch. „Bisher haben wir Sie im Park und im Ballsaal angetroffen - nirgendwo musste man so lange stillsitzen! Aber Miss Wonder ist wirklich hervorragend, finden Sie nicht?“
Lord Belmont nickte begeistert. „Ganz wunderbar – diese Stimme!“
„Und sehr hübsch, nicht wahr?“ Phoebe zwinkerte ihm zu und er musste auch lachen.
„Belmont!“
Er drehte sich um. „Debenham, guten Abend! Wunderbarer Gesang, nicht wahr?“
„Unbedingt! Fast schon wie in Wien, nicht wahr, Nate?“ Der hochgewachsene Mann neben ihm nickte ernst und Phoebe erkannte den Mann, der sie zu Beginn des Abends so – so verkniffen gegrüßt hatte. Sie knickste etwas verlegen. „Sir…“
„Oh!“ Lord Belmont stellte vor und dieser Lord Granville nickte ihr zu. „Miss Penhurst…“
Sie knickste erneut. „Mylord…“ Dann ärgerte sie sich sofort über sich selbst, weil sie so doch einen recht beschränkten Eindruck erwecken musste. Aber was sollte sie denn jetzt sagen, um intelligenter zu wirken?
„Sie waren in Wien, Mylord?“
Er nickte. „Im diplomatischen Dienst. Eine wunderbare Stadt, allerdings weniger modern als London.“
Immerhin, schon fast so etwas wie ein Gespräch…
„Dort wurde der Walzer erfunden, nicht wahr?“
„Ganz recht, Miss Penhurst.“ Er verbeugte sich erneut und schlenderte mit Lord Debenham weiter.
Phoebe sah Lily ratlos an. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Aber ich wüsste jetzt nicht…“
„Ich ehrlich gesagt auch nicht. Vom Walzer hätte er doch auf Musik und damit auf den Musikgenuss hier kommen können? Vielleicht wollten Debenham und er auch nur noch zu jemand anderem…“
Phoebe reckte sich und hielt nach den beiden Ausschau, die am anderen Ende des Konzertsaals dahin schlenderten. „So sieht es eigentlich nicht aus… sie unterhalten sich, so scheint es, nur miteinander. Vielleicht waren wir – war ich - einfach nur zu langweilig? Dieser Earl ist vielleicht geistsprühendere Gesprächspartner gewöhnt…“
„Ärgert dich das?“, fragte Tante Anne, die gerade zu ihnen getreten war, besorgt und Phoebe winkte lässig ab. „Was jemand von mir denkt, den ich überhaupt nicht kenne, kann mir doch nun wirklich gleichgültig sein, oder?“
„Er ist ein Earl und er war lange in Wien“, überlegte Lily. „Viel wissen wir wirklich nicht. Vielleicht verhält man sich aber in Wien so?“
„Mag sein. Ich glaube, da gibt es sogar einen Kaiser, vielleicht herrschen dort strengere Sitten als bei uns – oh! Vielleicht hätte ich Seine Hochwohlgeboren gar nicht ansprechen dürfen? Beim nächsten Mal versinke ich stumm in einen Hofknicks, wie bei meinem Debüt!“
Lily schüttelte den Kopf. „Dann glaubt er höchstens, dass du dich über ihn lustig machen willst!“
Phoebe lachte auf. „Das wäre doch auch nicht schlecht?“
„Ich weiß nicht recht – ist das nicht allzu frech? Wenn sich das herumspricht, schadet es bestimmt deinem Ruf. Willst du deine Saison so dumm ruinieren? Absichtlich?“ Phoebe ließ den Kopf hängen. „Nein, natürlich nicht! Aber schade ist es doch…“
Als sie sich wieder gesetzt hatten, kicherte Lily: „Wir denken uns die Szene eben nur und veralbern jemand anderen!“
„Nur jemanden, der sich wirklich daneben benommen hat!“ Tante Anne hatte sich herübergebeugt und musterte beide Mädchen streng.
Beim nächsten Spaziergang im Park schlenderten Lily und Phoebe mit Lady Kepling und ihren Zwillingen Diana und Deborah über die sonnenbeschienenen Wege; die vier Mädchen kicherten und alberten herum, Lady Kepling mahnte gelegentlich mehr oder weniger vergeblich zu etwas gesitteterem Benehmen.
Als ihnen Lord Belmont auf seiner bekannt verfressenen Stute Black Princess entgegenkam, saß er artig ab, um die jungen Ladys zu begrüßen, und war sofort von den vier jungen Damen umzingelt, die allesamt ganz zufällig einen Apfel oder eine schöne große Rübe in ihren Retiküls bereit hielten.
Die schwarze Stute schnaubte schon aufgeregt, aber zu ihrem Leidwesen musste erst noch geklärt werden, wer die Prinzessin zuerst bedienen durfte. Deborah gewann und präsentierte Black Princess einen schönen roten Apfel, der auch umgehend prustend verspeist wurde.
Sofort danach beschnupperte die Stute die übrigen Retiküls und fand auch heraus, wo der zweite Apfel steckte. Lily hielt ihn ihr kichernd hin und besah sich dann achselzuckend ihr besabbertes Täschchen: „Das kann man waschen, Mylord, keine Sorge!“
Phoebe und Diana packten ihre Rüben sicherheitshalber gleich aus; die Stute war absolut reizend, aber, wie Belmont als erster zugegeben hätte, ein echtes Ferkel beim Fressen.
Nach den Rüben schien der Hunger vorläufig gestillt und Black Princess ließ sich artig am Zügel führen, ohne jemanden durch Anstupsen anzubetteln.
Die Mädchen plauderten brav über ihre eigenen Pferde, über den Musikgenuss bei den Laretons und über die immer wieder beliebte Frage, ob man lieber auf dem Land oder in London lebte: über sattgrüne Wiesen galoppieren oder Bibliotheken und Theater besuchen?
Lady Kepling war mit diesem gesitteten Benehmen sehr zufrieden und ermahnte die jungen Damen erst auf dem Heimweg, dass schrilles Gekicher die Gentlemen eher abschreckte, weil es doch reichlich kindisch wirkte: „Lacht, wenn es etwas zu lachen gibt – aber kichert nicht wie die kleinen Mädchen!“
Ein Besuch in der Buchhandlung – Hatchards am Piccadilly, natürlich – versorgte Phoebe und ihre Tante, die sich zu ihnen gesellt hatte, mit reichlich Lesestoff; Phoebe wählte zwei Romane und eine kurzgefasste Geschichte Englands, weil sie das Gefühl hatte, auf diesem Gebiet noch betrübliche Wissenslücken aufzuweisen; Tante Anne entschied sich für einen Briefroman der frömmeren Sorte und einen Führer durch die wichtigsten englischen Bäder: „Vielleicht möchte ich ja doch einmal nach Bath, dann sollte ich doch wissen, was dort geboten ist – und ob Harrogate vielleicht mehr vorzuweisen hat, nicht wahr?“
„Tunbridge Wells und Brighton wären auch noch eine Möglichkeit“, schlug Phoebe vor, „aber müsste man nicht auch danach unterscheiden, wogegen der jeweilige Brunnen helfen soll?“
Lady Needham winkte lächelnd ab. „Ich möchte, wenn ich ein Bad besuche, unterhalten werden. Der Brunnen sollte nicht allzu abscheulich schmecken; dass er hilft, glaube ich ohnehin nicht. Schaden sollte er freilich auch nicht.“
„Also eher Vergnügen, nicht Gesundheit? Aber sind in diesen Orten nicht hauptsächlich recht alte Damen anzutreffen? Ist das dann so amüsant, Tante Anne?“
„Das kommt auf die alten Damen an – die lebhaften mit bösen Zungen können sehr unterhaltsam sein, die leidenden, die nur über ihre Krankheiten zu sprechen wissen, natürlich nicht. Nun, ich will ja nicht sofort in ein Bad reisen! Außerdem gibt es auch durchaus respektable und sogar vornehme Menschen, die immer zum Beispiel in Bath leben.“
Sie schlenderten zum Tisch des Verkäufers, der umständlich eine Rechnung auszustellen begann. Phoebe sah sich müßig um, während die einzelnen Titel leise murmelnd niedergeschrieben wurden, und wurde mit einem eher steifen Nicken belohnt: Lord Granville kam auf sie zu. Phoebe lächelte sparsam und knickste brav – ohne Hofknicks freilich, eingedenk der Mahnung ihrer Freundin.
„Miss Penhurst? Und…?“
Phoebe zupfte ihre Tante, die gerade die Rechnung kontrollierte, am Ärmel. „Tante Anne? Lord Granville möchte dich begrüßen!“
„Ach? Lord Granville - Nathan! Sie waren ja schon lange nicht mehr in London anzutreffen! Das ist ja eine Freude! Ich habe Sie flüchtig beim Konzert gesehen und schon gegrübelt, warum Sie mir so bekannt vorkamen – aber Sie haben sich ja doch in den letzten Jahren ein wenig verändert?“
Er zwinkerte: „Gealtert?“
„Gereift!“, konterte Tante Anne.
Granville beugte sich über ihre Hand. „Lady Needham, es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Sie wiederzusehen – und ich habe Sie sofort erkannt, auch wenn ich Sie auf dem Konzert gar nicht gesehen hatte!“ Danach verbeugte er sich erneut vor Phoebe, der nichts anderes einfiel als noch einmal zu knicksen. Darüber ärgerte sie sich sofort: Was machte sie denn damit für einen beschränkten Eindruck?
Granville schien das aber gar nicht recht registriert zu haben, er begann schon mit Tante Anne zu plaudern; offenbar kannte er sie schon aus seiner Zeit, bevor er nach Wien gereist war.
Schließlich lud die Tante ihn ein, einmal des Nachmittags zum Tee zu kommen, „Half Moon Street, Sie erinnern sich gewiss?“
„Aber natürlich! Ich werde sicherlich sehr bald vorbeischauen!“
Dabei glitt sein Blick flüchtig über Phoebe, die etwas töricht daneben stand – so fühlte sie sich wenigstens -, als wollte er sagen Das dümmliche Kind ist hoffentlich nicht dabei?
Wie konnte man so arrogant sein? Woher kannte Tante Anne nur einen so unangenehmen Menschen?
Das fragte sie – etwas höflicher formuliert - auch, sobald sie in sicherer Entfernung angekommen waren und dieser Lord Granville in seinen Wagen gestiegen und davongerollt war.
„Er war mit deinem Onkel William befreundet.“
„Aber Onkel William war doch bestimmt sehr viel älter als Lord Granville?“ Phoebe war erstaunt.
„Richtig. William war immerhin achtundsechzig, als er vor vier Jahren gestorben ist.“
„Oh, daran wollte ich dich eigentlich gar nicht erinnern! Du hast doch sehr um ihn getrauert, nicht wahr?“
„Das tue ich immer noch“, gestand Tante Anne etwas verlegen, „nur nicht mehr ununterbrochen. Deine Saison lenkt mich da auch sehr schön ab. Jedenfalls war Nathan Mercer, also Granville, mehr für William ein Sohn als unser eigener Sohn Lionel. Und natürlich war der Altersunterschied beträchtlich – Nathan dürfte jetzt vielleicht vierunddreißig sein, ganz genau weiß ich es gar nicht… ich glaube, er war die letzten fünf Jahre in Wien, du weißt ja, der Kongress… aber der ist doch erst etwas über drei Jahre her? Dann war er eben auch vorher schon dort, vielleicht mussten ja auch die Alliierten gegen Bonaparte zusammengebracht werden?“
„Oh – und das hat Lord Granville gemacht? Dann ist er ja fast so wichtig wie – wie heißt dieser Österreicher?“
„Du meinst den Fürsten Metternich? Sehr lobenswert, mein Mädchen, dass du die Zeitung so gründlich liest!“
Phoebe kicherte. „Lass das nur nicht Mary Louisa hören! Sie findet, Zeitungen und junge Ladys passen gar nicht zusammen, sie empfiehlt romantische Romane und alberne Gedichte. Aber wenn ich so etwas lese, werde ich womöglich so dumm, wie Lord Granville mich ohnehin schon einschätzt. Das brauche ich nicht.“
„Glaubst du wirklich, dass er dich für dumm hält?“
„Wenn er das nicht denkt, müsste er vielleicht einmal seinen Gesichtsausdruck ändern. Vorhin hat er geschaut, als wollte er sagen Oh, Lady Needham, wie nett. Kann das Gör bitte weggehen?“
„Ich glaube, da hast du vielleicht seine Miene falsch gedeutet, Nathan sieht generell etwas streng drein. In der Politik mag das recht nützlich sein, aber natürlich wirkt er so nicht gerade – äh – zutraulich. Kein Vergleich mit Lord Belmont, nicht wahr?“
Phoebe lachte. „Der völlige Gegensatz! Aber Belmont ist zwar nett, aber wirklich wie ein Hundewelpe…“
„Und Nathan ist eben erwachsen und hat schon einiges erlebt, das muss man bedenken. Nun, man wird sehen, ob er tatsächlich einmal am Nachmittag vorbeikommt…“
*
Bereits am nächsten Tag erschienen nicht nur Lady Lareton und Lady Kepling mit Miss Kepling und Miss Deborah Kepling, sondern tatsächlich auch der Earl of Granville, der sich angesichts dieser rein weiblichen Versammlung etwas irritiert zeigte, sich dann aber höflich in die Situation fügte.
Phoebe versuchte ihrer Tante zu helfen, versammelte die Kepling-Mädchen um sich und regte ein Gespräch über Literatur an – vom Ungeheuer in der Ruine bis zur Kurzen Geschichte Englands wurde alles diskutiert.
Der Earl schien tatsächlich erleichtert und wandte sich Tante Anne zu; Lady Kepling lauschte diesem Gespräch, während Lady Lareton sich zuerst dem Kuchen widmete und dann die jungen Damen nach ihren musikalischen Interessen fragte; Phoebe äußerte sich darauf sehr enthusiastisch, obwohl sie so gerne nun auch wieder nicht das Piano spielte und überhaupt nicht singen konnte; begeistert über Mozart und Beethoven sprechen konnte sie schließlich trotzdem, um auf keinen Fall in ein Gespräch mit diesem Earl gezogen zu werden!
Ihr Plan ging auch recht gut auf, allerdings wollte Lady Kepling mit ihren Töchtern nach einiger Zeit noch eine andere Bekannte besuchen und Phoebe musste sich folglich alleine mit Lady Lareton unterhalten – da blieben nur die überragenden Fähigkeiten von Miss Wonder als Gesprächsthema.
Als schließlich auch diese freundliche Dame und der etwas verwirrt wirkende Earl sich verabschiedet hatten, unter Dankesworten für den reizenden Nachmittag, atmete Phoebe hörbar auf.
„War es so schlimm?“, erkundigte sich ihre Tante heiter und angelte nach ihrer Stickerei. „Die Ladys sind doch recht nett und eure Unterhaltungen kamen mir durchaus angeregt vor. Ich konnte natürlich nicht genau zuhören, ich habe mich schließlich mit Nathan unterhalten. Also warum musst du so seufzen?“
„Nein, das war es auch gar nicht. Ich hatte nur Angst, dass dieser Earl mich etwas fragt und ich etwas Albernes antworte. Dann sieht er mich wieder an wie ein dummes kleines Kind. Das mag ich nicht.“
„Armes Kind.“ Tante Anne lächelte so breit, dass man es schon Grinsen nennen musste. „Sein Blick ist ab und zu in deine Richtung abgeirrt…“
„Warum denn das?“
„Ich glaube nicht, dass er prüfen wollte, ob du dich als kindisch präsentierst. Übrigens war ich dir durchaus dankbar, dass du dich so nett und gewandt um alle anderen Gäste gekümmert hast, denn ich wollte mich wirklich gerne mit Nathan befassen und einige Erinnerungen auffrischen.“
„Ja, gewiss – er wollte sicher auch gerne über Onkel William sprechen?“
„Das war ein Teil der schönen Erinnerungen, da hast du ganz recht, meine Liebe. Aber wir haben uns auch darüber unterhalten, was er jetzt tun wird, da er wieder in London ist und den diplomatischen Dienst quittiert hat.“
Phoebe lächelte. „Darf ich raten, Tante Anne? Er wird sich niederlassen, sich um seinen Landsitz kümmern, vielleicht den Premierminister in außenpolitischen Fragen beraten und im Übrigen eine Familie gründen, sofern er das nicht schon in Wien erledigt haben sollte?“
„Richtig geraten! Wie schön ich es finde, dass mein Patenkind kein Naivchen ist, das nicht einmal wüsste, dass der Premierminister die Politik bestimmt und nicht etwa der König, der arme kranke Mann! Junge Frauen, die mit der Zeitung etwas anzufangen wissen – über die Hofnachrichten hinaus – sind mir wirklich lieber.“
Phoebe knickste ironisch. „Welches Lob, liebe Tante! Aber das gefällt mir sehr gut – besser einigermaßen klug als bildschön, aber beschränkt.“
„Und an wen denkst du da wohl?“
„Nun… gehässig möchte ich auch nicht sein und sie ist ja durchaus freundlich: Miss Fryerton? Alexandra Fryerton?“
Tante Anne nickte. „Die Älteste des Earl of Landing? Du hast natürlich recht, sehr schlau ist sie nicht und sie schaut auch immer so töricht drein… worüber redet man mit so einem Mädchen?“
„Ich habe es einmal versucht – mit der Überfüllung des Ballsaals. Da musste sie schon etwas nachdenken, obwohl der Saal regelrecht verstopft war. Das Wetter war dann auch nicht so glücklich als Thema gewählt, ihre Blicke irrten zunächst zu den Fenstern, aber nachts ist es draußen ja leider dunkel…“
Tante Anne lachte auf und gab dann zu, dass es etwas gemein war, sich über bescheidene Geistesgaben anderer Leute zu amüsieren. „Da wird sie einen Mann brauchen, der sie sehr beschützt.“
„Und der sich viel Personal leisten kann, sie könnte wohl wenig selbst leisten. Immerhin liebt sie Tiere, sie hat einen kleinen Hund und eine kleine Katze, die sich offenbar gut miteinander vertragen, Lizzie und Tommy.“
„Tommy ist die Katze?“, riet ihre Tante.
„Tommy ist der Hund, Lizzie ist die Katze. Und beide sind hellgrau, denn das ist ihre Lieblingsfarbe, bei Tieren jedenfalls.“
„Kein Pferd?“, fragte Tante Anne und ärgerte sich sofort, dass sie sich von derartigen Trivialitäten tatsächlich fesseln ließ.
„Aber gewiss doch!“, versicherte Phoebe treuherzig. „Natürlich eine gaanz liebe Grauschimmelstute namens Suzie.“
„Warum frage ich auch… also Miss Fryerton wäre wohl keine Kandidatin für die Position der Countess of Granville, damit hätte Nathan gewiss keine Geduld.“
„Tante Anne! Hast du etwa die Aufgabe übernommen, Granville eine Frau zu besorgen? Meinst du nicht, dass sich da sehr viele anbieten werden? Er ist doch sicher eine gute Partie?“
„Oh, glänzend! Aber es werden sich auch sehr ungeeignete Damen in seine Arme fallen lassen, da muss ich dann schon eingreifen. Ich möchte, dass er eine gute Frau bekommt, nicht eine, die ihn nur in eine Falle gelockt hat! Ich habe da schon Fälle erlebt…“
„Wie möchtest du das denn machen? Du müsstest ja auf jeden Ball gehen, den er zu besuchen gedenkt! Wird dir das nicht zu anstrengend?“
„Warum? Ich besuche mit dir doch auch viele Bälle!“
Phoebe lachte auf. „Dann passt du auf ihn und auf mich auf? Das könnte tatsächlich anstrengend werden.“
„Das ist es mir wert. Außerdem wird dich doch hoffentlich niemand zu kompromittieren versuchen.“ Sie bemerkte den beleidigten Blick ihrer Nichte und fügte hastig hinzu: „Dafür bist du doch viel zu klug!“
„Ach – Granville ist also nicht so klug? Das erstaunt mich aber…“
„Also so hatte ich es nicht gemeint – und das weißt du auch ganz genau, mein Kind!“
„Frauen sind ja ohnehin raffinierter als Männer, meinst du es so? Und man kennt ja die ehrgeizigen Mütter der Debütantinnen…“ Phoebe lächelte ihre Tante schlau an und die erwiderte das Lächeln etwas unwillig.
„Da magst du wohl recht haben, Phoebe, aber meinst du nicht, dass du für eine Debütantin schon etwas sehr – nun – abgebrüht bist?“
„Was heißt das?“ Der arglose Blick konnte die welterfahrene Tante nicht täuschen: „Das weißt du ganz genau – du durchschaust die Mechanismen des Heiratsmarkts viel zu genau für deine jungen Jahre!“