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Lord Renfrew ist zwar vornehm und in der Gesellschaft sehr angesehen, aber vor allem als Investor tätig, was seine Stiefmutter als Tochter eines bankrotten Earls natürlich als unangenehm bürgerlich tadeln muss – unterstützt von ihrer noch konservativeren Tante, der allseits unbeliebten uralten Lady Euphemia. Die verwitwete Lady Renfrew glaubt auch, ihr Stiefsohn werde mit immerhin sechsunddreißig gewiss nicht mehr heiraten und seinen jungen Stiefbruder Benton zum Erben machen. Dieser Gedanke missfällt diesem und seinen Halbgeschwistern Hannah, Sarah und Benton immer mehr und sie beschließen, Gareth Renfrew unter die Haube zu bringen. Dass Gareths Freund Sir Benjamin Huddock sich im Hyde Park schlagartig in Miss Persephone Stanton, die Gesellschafterin von Miss Anthea Willows aus dem Haus neben Renfrew House, verliebt, bringt Gareth endgültig auf die Idee, er sollte sich doch einmal nach einer passenden Gemahlin umsehen. Zunehmend gefällt ihm Anthea, die Freundin seiner Halbschwestern besser als alle anderen Optionen, aber dann fällt etwas Aufregendes vor und lässt Anthea davor zurückschrecken, Gareths Antrag anzunehmen…
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Seitenzahl: 346
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Imprint
Eine Gemahlin für Lord Renfrew. Historischer Roman
Catherine St.John
Die verwitwete Lady Renfrew sah aus dem Fenster ihres Salons auf die Straße und fand sie langweilig, obwohl ihr selbst klar war, dass man nicht in der Bond Street zwischen all diesen Clubs und Schneider-Ateliers wohnen konnte. Aber in Mayfair war schon recht wenig los…
Ihr Blick fiel auf das Nachbarhaus, ein ebenso imposantes und gepflegtes Stadthaus wie Renfrew House, nur leider, leider… sie seufzte.
„Mama, was stört dich denn?“
Sie fuhr herum. „Ach Hannah, du bist es! Diese Nachbarschaft…“
„Das verstehe ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Links und rechts von uns stehen eindrucksvolle Häuser, beide sind in sehr gutem Zustand, die Bewohner sind freundlich, wohlerzogen und gebildet, die Sonne scheint und wir alle sind gesund. Was genau ficht dich an?“
„Mayfair war immer eine vornehme Wohngegend!“
„Gewiss doch“, antwortete Hannah immer noch verständnislos, „das ist es ja immer noch. Man muss sich doch nur die eleganten Häuser ansehen!“ Sie unterdrückte ein Lächeln, weil sie sich eigentlich denken konnte, worauf ihre Mutter hinauswollte.
„Die Häuser! Und was ist mit den Bewohnern? Alleine schon hier neben uns, dieser – Händler! Wahrscheinlich zieht auf der anderen Seite als nächstes ein Schuster aus dem East End ein!“
„Was ist am East End eigentlich so schlimm?“
„Dort wohnt nur Abschaum. Und wehe, du begibst dich einmal dorthin, dir könnte alles Mögliche zustoßen!“
„Du meinst, man könnte mich berauben? Die Leute dort sind wohl sehr arm?“
„Eben, Abschaum! Und dir könnte noch viel Schlimmeres geschehen – du könntest entehrt sein!“
Hannah riss die Augen auf. „Entehrt? Nur weil mich vielleicht jemand dort sehen könnte? Dann könnte ich auch fragen, was er – oder sie – dort wollte!“
„Ach, du verstehst mich nicht!“
„Warum? Entehrt sein, heißt keine Ehre mehr zu haben, oder? Wie kann das geschehen, nur weil man in einem armseligen Stadtviertel gesehen wurde? Und wenn man beraubt wurde, ist man doch bedauernswert, aber nicht ehrlos?“
Lady Renfrew ballte die Fäuste und stampfte wenig ladylike auf, bevor sie den Salon verließ.
Hannah tat es ihr gleich, aber sie eilte in die Bibliothek, wo ihr Halbbruder Gareth, der aktuelle Baron Renfrew, mit der Zeitung saß und ihr einen guten Morgen wünschte.
Sie erwiderte den Gruß etwas zerstreut und setzte sich ihm gegenüber. „Gareth?“
„Ja?“
„Wohnen im East End nur Menschen, die Abschaum sind?“
„Wer behauptet das denn?“
„Mama natürlich!“
Er seufzte. „Nein, so kann man das nicht sagen. Im East End herrscht große Armut, aber es gibt dort Menschen, die sich sehr bemühen, ein ordentliches Leben zu führen – und natürlich auch viele, die den einfacheren Weg vorziehen und stehlen, betrügen oder sogar morden. Du solltest dich nicht dorthin begeben, wenn du nicht überfallen werden willst. Aber ich kenne viele vernünftige Männer aus unseren Kreisen, die sich für Verbesserungen im East End einsetzen, zum Beispiel für die Erziehung von Waisenkindern.“
„Das klingt sehr wohltätig“, fand Hannah. „Und hier in Mayfair wissen wir gar nichts davon!“
„Das ist der Wunsch der Gentlemen, die Ladies vor unangenehmen Wahrheiten zu bewahren, fürchte ich.“
„Albern. Tust du auch etwas, um die Verhältnisse dort zu verbessern?“
„Gewiss“, antwortete er leicht verlegen. „Du weißt doch, dass ich neben dem Grundbesitz auf dem Land auch einiges in der Stadt besitze?“
„Ja, aber nicht genau, was du da machst. Mama sagt, so etwas geht mich nichts an, das ist nur etwas für Gentlemen und außerdem nicht ganz passend. Ist es etwas Schlimmes?“
„Hannah, ich sage es nicht gerne, aber deine Mama ist manchmal nicht so ganz auf der Höhe der Zeit. Dass Frauen im Geschäftsleben kaum vorkommen, mag ja stimmen, aber anrüchig – also, unpassend – sind Geschäfte nicht. Ich investiere vor allem: Weißt du, was das bedeutet?“
Sie sah ihn an, die dunkelblauen Augen weit aufgerissen, und er überlegte wieder einmal, wie hübsch sie doch war: Warum hatte sie immer noch keinen Ehemann gefunden? Mit immerhin zweiundzwanzig? Von seinen beiden Halbschwestern war sie die Hübschere, eindeutig, aber Sarah hatte einen Verehrer, diesen Mr. Kendrick. Ordentlicher Junge, fand Gareth.
„Gareth?“
„Oh – ja. Wenn, sagen wir, ein Mr. Miller ein kleines Unternehmen plant, sagen wir, er ist Konditor und möchte feine Pralinés herstellen und verkaufen.“
„So wie Gunter’s oder das Vienna Café?“
„Richtig. Das könnte doch Erfolg haben, meinst du nicht?“
„Bestimmt! Oh, wenn ich an Ananas-Eiscreme denke oder an die Veilchenpralinen…“ Sie seufzte ekstatisch.
„Ich werde es mir merken“, versprach er lächelnd. „Also, Mr. Miller stellt mir seine Idee vor und kann mich überzeugen. Er braucht, sagen wir, dreihundert Pfund, um einen kleinen Laden in günstiger Lage anzumieten und alles andere zu beschaffen. Er hat aber nur zweihundert. Wieviel Prozent fehlen ihm also?“
„Dreiunddreißig“, antwortete Hannah ganz automatisch.
Er lachte. „Das ist meine Schwester, das Rechengenie!“
„Dafür versteht Sarah viel mehr von heilenden Kräutern! Sie könnte eine Apotheke eröffnen und du könntest ihr mit dem Kapital dafür helfen!“
„Diese Idee sollten wir im Auge behalten – falls Mr. Kendrick keine Einwände erhebt. Lass mich weiter erklären, Schwesterchen! Also, ich gebe ihm die hundert Pfund und er verspricht mir dafür fünf Prozent vom Gewinn. Im ersten Jahr beträgt der Gewinn nach Abzug aller Kosten, der Reingewinn also, 50 Pfund. Wieviel bekomme ich also?“
Hannah sah rechnend an die Decke. „Zwei Pfund, 10 Schilling? Viel scheint mir das nicht zu sein, Gareth!“
„Im zweiten Jahr sind es hundert Pfund, also bekomme ich fünf Pfund. Du hast natürlich recht, das ist noch eher wenig, es war aber auch nur ein Beispiel. Stell dir vor, jemand will einen Kanal bauen, von – sagen wir – Birmingham nach Liverpool.“
„Um Waren schneller verschiffen zu können?“
„Ganz genau. Dazu braucht er – hm – zehntausend Pfund, hat aber nur sechstausend selbst. Für die übrigen viertausend gibt er Anteilscheine aus, vierzig Stück zu je hundert Pfund. Das nennt man Aktien. Ich kaufe zehn Stück, weil mir das Vorhaben gut durchdacht und Gewinne versprechend erscheint.“
„Du hast also tausend Pfund in das Unternehmen gesteckt und dir gehören damit zehn Prozent?“
„Ich glaube, ich sollte dir eine Stelle in meiner Firma anbieten.“
„Mama träfe der Schlag!“
„Ja, das können wir nicht riskieren…“ Er grinste.
„In zwei, drei Jahren vielleicht, wenn ich endgültig eine alte Jungfer bin? Dann dürfte es ihr egal sein, ob ich dir dabei helfe, dein Vermögen zu verwalten und deshalb keinen Ballsaal mehr betreten darf. Und ich wäre froh darüber!“
„Das kann ich dir nachfühlen. Also, mir gehören zehn Prozent der Kanalbaugesellschaft. Der Kanal wird gebaut und macht hübsche Gewinne. Ich bekomme, sagen wir, hundert Pfund im Jahr und außerdem steigt der Wert der Aktien von hundert auf hundertfünfzig Pfund, weil diese Aktien nun sehr begehrt sind. Wenn ich jetzt verkaufen würde – was ich natürlich nicht täte – wieviel hätte ich verdient?“
„Hundert plus fünfzig mal zehn – sechshundert Pfund.“
„Eben. Nun stell dir vor, ich hätte in zwanzig solcher Unternehmungen investiert, dann wären das zwölftausend Pfund. Nicht übel, oder?“
„Wenn sie alle so viel Gewinn abwerfen, gewiss.“
„Ja, das ist natürlich der Pferdefuß dabei, man muss die Unternehmungen sorgfältig auswählen.“
„Und das soll Benton bei dir lernen?“
„Ganz genau.“
„Mama denkt ja, er sei dein natürlicher Erbe, denn zum Heiraten seiest du zu alt.“
„Wenn Sie sich da mal nicht täuscht…!“
„Ach? Gareth, hast du eine Frau ins Auge gefasst? Das finde ich ja sehr schön! Wer ist sie? Kenne ich sie? Erzähl doch!“
„Ich habe niemanden ins Auge gefasst, ich wollte nur sagen, deine Mutter sollte sich nicht zu früh Hoffnungen machen. Auch weil Benton sich gar nicht als mein Erbe sieht, sondern sich viel mehr für Investitionen interessiert. Bitte sprich aber nicht darüber! Wenn deine Mutter davon erfährt, wird sie jede Frau wegbeißen, von der sie glaubt, sie habe Interesse an mir. Und sie wird Benton täglich Vorträge darüber halten, wie sehr doch einzig die Landwirtschaft eines Gentlemans würdig ist, weil schließlich ihr Vater, der Earl… nun, du weißt ja.“
Hannah kicherte. „Oh ja, ich weiß. Keine Sorge, ich kann schweigen. Und Großvater Earl Fen-äh-ham kommt auch täglich aufs Tapet, wenn ich irgendetwas tue, was sie für bürgerlich hält.“
„Earl of Fentonham, wenn schon.”
Hannah winkte ab. „Auch recht. Unser Onkel, der aktuelle Earl, wohnt in einer Ruine, wo es durchs Dach regnet. Ich finde, da muss man sich nicht an diesem albernen Titel festhalten!“
Ihr Bruder grinste: „Woran denn sonst, bitte?“
Hannah prustete und ließ Gareth mit seiner Zeitung alleine.
„Anthea, wollen wir heute Nachmittag die Ausstellung in der National Gallery ansehen?“, fragte Miss Stanton, ihre Gesellschafterin.
„Sind das die Gemälde von nahezu allen bisherigen Königen und Königinnen?“, erkundigte sich ihre Schutzbefohlene mit mäßigem Interesse. „Gut, wenn du das gerne möchtest, Persy?“
„Ich hielte es für sinnvoll“, war die entschiedene Antwort. „Es gäbe ein neues Gesprächsthema. Man kann doch nicht immerzu über London versus das Landleben, das Wetter und die neueste Mode sprechen, wenn man auf Bekannte trifft.“
Anthea Willows nickte. „Vor allem, da Papa sich für Julius´ Landsitz gar nicht interessiert und niemand von uns jemals das Landleben sonderlich vermisst hat. Schließlich könnte man, wenn es unbedingt nötig ist, London zu verlassen, auch nach Brighton fahren, nicht wahr?“
Miss Stanton schauderte. „Da müsste man sich aber dieser Geschmacklosigkeit aussetzen – ob das der Erholung wohl zuträglich ist?“
„Dann bleiben wir eben hier und gehen in den Parks spazieren. Oder reiten aus!“
„Das klingt schon verlockender. Queenie und Silver Princess brauchen ja ohnehin viel Bewegung.“
Anthea schlug prompt vor, am späten Nachmittag noch ein wenig durch den Hydepark zu traben, damit die beiden jungen Stuten nicht allzu übermütig wurden.
„Wir nehmen Tom mit“, fügte sie noch hinzu. „Und da wir gar nicht so viele Leute in der feinen Gesellschaft kennen, müssen wir auch nicht so oft stehen bleiben und albernen Klatsch austauschen.“
Miss Stanton nickte nachdenklich. „Ein vorübergehender Vorteil, meine Liebe! Auf längere Sicht wäre mehr Kontakt zu den vornehmen Kreisen doch wünschenswert. Dein Vater würde sich doch sehr freuen, wenn du eine angemessene Partie machen würdest.“
„Was wäre denn angemessen? Die Tochter eines erst kürzlich geadelten Baronets kann ihre Augen wohl nicht allzu hoch erheben – und sie will es auch nicht! Ich wäre die ungeliebte Zutat zu einer ansehnlichen Mitgift und so stelle ich mir eine schöne Zukunft nicht vor!“
„Da hast du natürlich recht, Anthea – aber was willst du dann machen? Doch sicher nicht Gesellschafterin einer jungen Lady werden, so wie ich?“
„Ist das so unangenehm, liebe Persy?“ Anthea zwinkerte freundlich.
„Nein! Du lieber Himmel, so habe ich das nicht gemeint! Aber nicht jeder Haushalt ist so - sagen wir – vorurteilsfrei wie dieser hier. Anderswo essen die Gesellschafterinnen mit dem Personal und müssen nebenbei noch Zofen- oder Hausmädchendienste verrichten. Von aufdringlichen Familienmitgliedern ganz zu schweigen“, fügte sie halblaut hinzu.
„Das hatte ich nicht bedacht, Persy. Nun, ich könnte ja auch auf meine Herkunft stolz sein und einen fleißigen bürgerlichen Geschäftsmann heiraten. Einen Mann, der den Wohlstand Englands fördert, anstatt ein Vermögen für lauter Unsinn aus dem Fenster zu werfen.“
„Das halte ich durchaus für eine kluge Entscheidung, aber möglicherweise sieht
Sir Peregrine das etwas anders“, gab Miss Stanton zu bedenken.
„Du hast recht, Papa könnte ein Problem sein. Er scheint davon zu träumen, eine Lady zur Tochter zu haben.“
„Nun, das könnte er ja auch“, schmunzelte Miss Stanton, „Du müsstest doch nur einen Mann finden, der ähnlich wie Sir Peregrine gerade erst geadelt worden ist. Einen Sir Jeremiah Huggins, zum Beispiel – und du wärst dann Lady Huggins. Wer nicht nachfragt, kann doch nicht erkennen, ob dein Gemahl ein Baronet, ein Baron oder -“
„Oder ein Herzog ist“, vervollständigte Anthea den Gedanken. „Wir wollen es nicht übertreiben, Persy!“
Persephone Stanton grinste wenig ladylike. „Aber würde das deinen Vater nicht in Hochstimmung versetzen?“
„Vielleicht träumt er tatsächlich von einem solchen Aufstieg – aber Papa ist andererseits durchaus Realist. Und ich hätte gerne einen vernünftigen und freundlichen Mann, ob mit oder ohne Titel.“
„Willst du nicht aus Liebe heiraten, Anthea?“
„So wie in den Romanen? Das wäre natürlich nett, aber es kommt wohl gar nicht so häufig vor, wie man glaubt. Ich denke, eine gewisse gegenseitige Sympathie wäre schon erfreulich, mehr kann man wohl kaum erwarten. Wie sieht es denn bei dir aus, Persy?“
Miss Stanton lachte etwas verlegen auf. „Bin ich aus diesem Alter nicht schon lange heraus? Immerhin werde ich an meinem nächsten Geburtstag siebenundzwanzig!“
„Das muss gar nichts heißen, meine Liebe! Vielleicht hält das Schicksal ja gerade für dich eine Liebesheirat bereit? Verdient hättest du es, so reizend, wie du bist, gerade zu mir!“
Miss Stanton blinzelte gerührt und ließ sich von ihrer Herrin, wenn man das so nennen konnte, umarmen. „Eine bessere Stelle als diese hier hätte ich aber auch nicht finden können…“
Immerhin hatten sie sich bis zum Lunch wieder soweit beruhigt, dass sie diesen ohne Rührungstränen einnehmen und zugleich mit Sir Peregrine plaudern konnten. Er erkundigte sich auch gleich nach den Plänen der Damen für den Nachmittag, woraufhin es Miss Stanton übernahm, ausführlich über die National Gallery und den Bildungswert der königlichen Porträts zu referieren, bis Sir Peregrine ausgesprochen billigend nickte. „Jaja, Bildung kann man nie genug haben, nicht wahr, Anthea, mein Schatz. Wie geht es deiner Mutter?“
„Sie ruht. Mary kümmert sich um sie und wird ihr später etwas vorlesen, damit Mama ihre Augen nicht überanstrengt.“
„Sie sollte aber auch etwas essen, meinst du nicht?“
„Mary hat ihr ein Tablett nach oben geholt, keine Sorge, Papa.“
Lady Willows litt seit einigen Jahren an verschiedenen Beschwerden, Kopfschmerzen, schwachem Kreislauf, mangelndem Appetit und anderem und blieb am liebsten in ihren Räumen, um zu ruhen und von ihrer ergebenen Zofe Mary umsorgt zu werden. Wenn ihre lebhafte Tochter sie besuchte, wurde ihr das sehr schnell zu viel und sie sank erblasst in ihre Kissen zurück.
Anthea wusste nicht mehr, seit wann genau ihre Mutter so leidend war; ihr Vater erzählte auch nichts darüber… nun, vielleicht eine Krankheit, die an ihr zehrte?
Deshalb hatte sie ja, seitdem sie ihrer Gouvernante entwachsen war, in Miss Persephone Stanton eine Gesellschafterin; bei ihrem Debüt hatte Lady Summerham, deren Gemahl Papa noch einige Gefallen schuldete, ihre Präsentation übernommen, inklusive der Organisation eines Balls im eleganten Stadthaus der Willows. Dieser Ball war gar nicht einmal so schlecht besucht gewesen, wenn man bedachte, dass der Gastgeber nur ein eben erst geadelter reicher Kaufmann war.
Vermutlich kamen viele der jungen Gentlemen wegen des reichlich fließenden Champagners, überlegte Anthea nun nicht ohne Zynismus. Aber das störte sie nicht weiter, der Ball war ordentlich, sozusagen angemessen verlaufen und das hatte durchaus dazu beigetragen, dass viele Angehörige der besseren Kreise die Willows zumindest ohne Verachtung zur Kenntnis nahmen – was wollte man mehr? Wie sie Persy ja erst heute Vormittag auseinandergesetzt hatte, wollte sie schließlich keinen Herzog heiraten!
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„Wollen wir zur Gallery spazieren oder lieber fahren?“, fragte Miss Stanton, als sie schon in Hut und Umhang in der Halle standen.
„Wenn wir zu Fuß gehen, wäre das gesund, aber doch recht weit - ich denke, wir fahren lieber.“ Anthea sagte dem Butler Bescheid, der sofort einen Wagen bereitstellen ließ.
Die Ausstellung war mäßig besucht, aber Anthea und Persy genossen die Gemälde durchaus und debattierten über die Darstellung der diversen gekrönten Häupter, vor allem angesichts der Porträts des alternden Heinrichs VIII. „Warum ist er bloß so derartig – äh - fett geworden?“, überlegte Anthea. „Oder haben die Maler – ist das Holbein? – ihn absichtlich hässlich dargestellt? Das wäre dann ja wohl Majestätsbeleidigung, oder?“
Persy stimmte zu. „Kein Maler hätte das gewagt, da hast du völlig recht. Alleine wenn man sich das Schicksal seiner Frauen ansieht, kann man sich als Maler ja wohl denken, wie schnell man seinen Kopf hätte verlieren können. Nein, der König muss im wahren Leben mindestens so schrecklich ausgesehen haben. Aber eigentlich auch – imposant, meinstdu nicht?“
Anthea nickte nachdenklich. „Und dann muss man sich ja auch fragen, ob man damals das gleiche Schönheitsempfinden hatte wie heute… ich habe einmal Gemälde von Rubens gesehen: sehr üppig! Das fände man heute wohl etwas zu üppig, vor allem, wenn die Frauen sich eigentlich nicht schnüren müssen und die Kleider doch relativ leicht sind und eine gewisse Fülle nicht wirklich im Zaum halten können. So wie bei der Dame in Rot dort drüben“, fügte sie leise hinzu.
Die fragliche Dame trug tatsächlich ein rotes Gewand aus recht dünnem Stoff, das ihre schwellenden Formen eher unvorteilhaft nachzeichnete. Der gewaltige Hut, ebenfalls in Rot, lenkte davon nur unzureichend ab. Als sich die Dame umdrehte, um zum nächsten Gemälde zu schreiten, präsentierte sie ein Decolleté, das sogar bei einer Abendveranstaltung als kühn aufgefallen wäre. An einem Nachmittag in einem Museum, in dem sogar Kinder mit ihren Gouvernanten zugegen sein konnten, schien es Anthea völlig unangebracht. Und war die Dame nicht auch noch – hm – geschminkt? Anthea tauschte mit Persy einen befremdeten Blick und wandte sich dann wieder den Gemälden zu.
„Erscheint es nur mir so oder sahen König Heinrichs sechs Frauen alle gleich aus?“, fragte sie ihre Gesellschafterin.
Persy überlegte. „Vielleicht liegt das an diesem unvorteilhaften Kopfschmuck? Und dann weiß man auch wieder nicht, ob man die Ladys einfach dem aktuellen Schönheitsideal entsprechend dargestellt hat.“
„Das mag sein, aber die erste Frau war doch eine Spanierin, nicht wahr? Ich hätte sie mir etwas – nun – feuriger vorgestellt. Sie hat die gleichen blassen Farben wie eine Engländerin, wie die anderen fünf.“
„Nummer vier war eine Deutsche“, korrigierte Persy sanft.
„Das ist vom Aussehen doch wohl kein großer Unterschied?“
„Das nicht. Außerdem hat sie ihren Kopf nicht verloren.“
„Weil der König sie ignoriert hat, nicht wahr? Oh – die große Elizabeth! Und da sagen Männer immer, Frauen könnten nicht regieren.“
„Das müssen sie ja wohl sagen, um die Oberhand zu behalten, oder?“
„Wirken wir so armselig?“, erkundigte sich eine unbekannte Männerstimme neben ihnen. Sie fuhren beide zu dem Fremden herum und Tom, der Lakai, trat sehr entschlossen einen Schritt vor.
Der Mann, der sie angesprochen hatte, lächelte Tom zu und verneigte sich. „Benjamin Huddock. Sir Benjamin Huddock. Meine Damen…“
„Sir Benjamin…“ Miss Stanton nickte ihm kühl zu und zog Anthea zum nächsten Gemälde, darstellend die gealterte Königin Elizabeth. Als sie sich kurz und wie zufällig umsahen, lächelte dieser Sir Benjamin Huddock immer noch und verbeugte sich leicht.
„Frech“, murmelte Persy.
„Ja, aber hübsch, fandest du nicht?“
„Das ist kein positiver Charakterzug!“, urteilte Miss Stanton streng.
„Ich weiß, aber ein gut aussehender Mann mit einem Titel hat es doch wohl nicht nötig, Ladys zu belästigen? Er kann ja in jeden beliebigen Ballsaal gehen und auf die angemessene Weise Bekanntschaften schließen, nicht wahr?“
Miss Stanton warf ihrer Schutzbefohlenen einen mitleidigen Blick zu – man merkte eben doch, dass Anthea erst zwanzig war! „Wenn er wirklich eine passende Ehe schließen will? Und wenn er nicht ganz ohne Vermögen dasteht?“
„Wenn er etwas anderes als eine Ehefrau sucht, sollte er sich vielleicht an die Dame in Rot wenden“, versuchte Anthea die Welterfahrene zu geben.
„Anthea! Pfui!“ Der Tadel wurde allerdings dadurch beeinträchtigt, dass Persy selbst kichern musste.
Sarah Renfrew saß im rosa Salon von Renfrew House und las einen Roman, eine Näharbeit unbeachtet neben sich, als sie aufsah und horchte: Ein nur allzu gut bekanntes Tockern war zu hören, das Unheil nahte!
Schon hörte man eine griesgrämige Stimme, die Tür öffnete sich schnell und Großtante Euphemia tockerte herein. Der schwere Gehstock ruinierte wahrscheinlich die feinen Böden in Renfrew House, dachte Sarah sofort, tauschte einen verständnissinnigen Blick mit dem Diener, der die Tür geöffnet hatte, und erhob sich seufzend, um die alte Dame mit einem angemessenen Knicks zu begrüßen.
Lady Euphemia Fenmore war die letzte überlebende Schwester von Sarahs Großvater, dem vierten Earl of Fentonham. Gareth zufolge hatte sein absolut standesgemäßes Auftreten sowohl in London als auch auf seinem Landsitz in Suffolk für die beengten Vermögensverhältnisse der Familie gesorgt. Das Stadthaus wurde schon ganz kurz nach der Heirat Aramintas mit dem verwitweten Lord Renfrew verkauft, der Landsitz schrumpfte ab diesem Zeitpunkt kontinuierlich dahin.
„Sarah“, stellte die Großtante dann mürrisch fest und setzte sich, bevor sie den Stock irgendwohin lehnte, worauf er klappernd zu Boden fiel.
„Sarah?“
Sarah erhob sich stumm, hob den Stock wieder auf und lehnte ihn stabiler gegen das Sofa, auf dem die alte Lady Platz genommen hatte. Dann setzte sie sich ebenso stumm wieder und nahm ihre Näharbeit auf, eine Borte für ein zu überarbeitendes Ausfahrkleid. So üppig war ihr Nadelgeld schließlich auch nicht.
„Das gehört sich nicht“, vernahm sie den düsteren Bass ihrer Tante. Er passte zu dem deutlich erkennbaren Schnurrbart der Alten, dachte Sarah böse.
Sie sah ihre Tante mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wenn möglich, sprach sie in deren Gegenwart gar nicht, sonst wurde nur ihre unedle Stimmlage getadelt – was immer das sein sollte.
Euphemia reagierte nicht, also beugte Sarah sich achselzuckend wieder über ihre Näharbeit.
„Dienstbotenarbeit“, grollte die alte Hexe.
Sarah resignierte; sie faltete die Näharbeit sorgfältig zusammen und verstaute sie in ihrem Stickbeutel, legte ihn auf ihren Schoß, faltete die Hände darüber und starrte auf die Kaminuhr. Halb zwei… in fünf Minuten würde sie aufstehen, steif knicksen und das Zimmer verlassen. Und die Tür ins Schloss schmettern!
Diese blöde alte Vettel, dachte sie sich und malte sich aus, wie die Decke des Salons herabstürzen und die Alte unter sich begraben würde. Hübsches Bild, aber Renfrew House war solide gebaut und Gareth konnte schließlich nichts dafür, dass Mama die alte Hexe eingeladen hatte, hier zu leben…
Bevor die fünf Minuten vorbei waren, kam leider Mama herein, lächelte ihrer Tante sparsam zu und fragte Sarah, wo denn Hannah sei. Sarah bekannte ihre Unwissenheit und fragte, ob sie auf ihr Zimmer gehen dürfe, sie wolle weiter an der Borte für das Ausfahrkleid arbeiten.
„Das kannst du doch auch hier tun?“
„Nein. Deine Tante hat es mir gerade verboten.“ Sie stand nach diesen Worten auf, knickste kurz vor ihrer Mutter und verließ den Salon, nun leider ohne mit der Tür zu knallen – aber mit der schönen Gewissheit, dass Mama und ihre grässliche Tante sich jetzt leise, aber giftig streiten würden.
Konnte Gareth die Alte nicht in einen Kurort abschieben? Harrogate oder so etwas? Schön weit entfernt, mindestens nach Yorkshire?
Oben stieß sie auf Hannah und warnte sie: „Bei Mama im Salon sitzt Tante Euphemia.“
„Huh, ich glaube, ich bleibe oben. Was hat die Alte denn wieder zu meckern gehabt?“
„Ich hatte mich erdreistet, an einer Borte zu nähen.“
„Komisch, sonst heißt es doch immer, dass dieses alberne Sticken genau das Richtige für junge Damen ist? Lesen ist ja auch böse, was soll man im Salon denn sonst tun? Die Hände in den Schoß legen und ein dummes Gesicht machen?“
„Wahrscheinlich. Vielleicht schüchtern lächeln, wenn ein Bewerber vorbeikommt.“
„Das hat ja bei Tante Euphemia nicht viel geholfen, oder? War sie jemals verheiratet – oder wenigstens verlobt?“
„Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen – wer hätte denn wohl um diesen Besen geworben? Viel Geld hätte sie schließlich auch nicht mitgebracht, so arm dran wie die Fenmores damals schon waren.“
„Ich versuche gerade, mir Tante Euphemia als junges Mädchen vorzustellen. Das ist gar nicht so einfach…“, schmunzelte Hannah. „Man denkt, sie wurde schon als alte Hexe geboren, nicht wahr? Außerdem riecht sie. Immer schlimmer!“
„Du hast Recht, aber sie stammt ja nun wirklich aus dem vorigen Jahrhundert, da hat man wohl nicht so oft gebadet. Haben die Leute nicht sogar geglaubt, dass man von Wasser krank wird?“
Hannah schnaubte wenig damenhaft. „Tante Euphemia glaubt das heute noch, wetten? Oder sie hat Angst, dass sie aus dem Waschzuber nicht mehr herauskommt.“
„Abscheuliche Vorstellung“, murmelte Sarah und wechselte hastig das Thema. „Freust du dich schon auf den Tanzabend nächste Woche?“
„Nun ja, ein wenig. Ich finde diese Veranstaltungen eigentlich etwas – öde?“
„Ich freue mich schon. Mr. Kendrick wird auch kommen.“
Hannah tätschelte ihrer kleinen Schwester die Hand. „Ja, dann natürlich!“
„Meinst du, Gareth wird auch dort sein?“
„Es wäre schön, wenn er sich nach einer netten Frau umsehen würde“, antwortete Hannah nachdenklich.
Sarah kicherte nervös. „Mama trifft der Schlag!”
Hannah schnaubte wieder – nur gut, dass weder Mama noch Tante Euphemia das hören konnten! „Mama sollte sich nicht einbilden, dass Gareth ein alter Hagestolz wird, nur damit Benton alles erbt, obwohl er das gar nicht will. Ich finde, wir sollten ihm eine nette Frau suchen.“
„Wissen wir denn, welche Art Frau ihm gefallen könnte?“
„Noch nicht. Aber wir können ihn beobachten, dann lernen wir etwas über seine Vorlieben, oder?“
„Das können wir immerhin versuchen. Ich mag Gareth, er sollte eine liebevolle Ehefrau bekommen – und Kinder natürlich.“
„Richtig, dann kann Benton wenigstens machen, was er möchte!“
Sie schüttelten sich feierlich die Hand und besiegelten so ihr Vorhaben.
Etwas später kam auch Benton in den oberen Stock. „Irgendwann lade ich die alte Krähe in die Kutsche, fahre an die Steilküste und schubse sie hinunter. Und sie stinkt wie ein Misthaufen!“
Seine Schwestern kicherten und tadelten dann seine grobe Wortwahl, bevor sie ihn darüber aufklärten, dass sie dieses Thema auch schon abgehandelt hatten.
„Was hat sie denn zu dir gesagt?“
„Ach, nur den üblichen Unsinn. Dass vornehme Menschen natürlich nur von Landbesitz zu leben haben, dass Gareth sehr unstandesgemäß handle, wenn er in London Geschäfte mache…“ Er grinste. „Ich habe sie daran erinnert, dass sie von diesen Geschäften auch recht gut lebt, dann wurde nur noch etwas von Aufführung, Respekt und der Jugend von heute gezischt. Mama war recht ratlos…“
Hannah lachte auf. „Weil du zwar ihr Liebling bist und deshalb keine Fehler machen kannst, sie aber auf der anderen Seite Angst vor der alten Fregatte hat?“
„So ungefähr. Und natürlich weiß Mama, dass ich Fehler mache – aber nur sie hat das Recht, mich deshalb zu tadeln!“
Hannah freute sich wieder darüber, wie gut sie drei sich verstanden. Vielleicht war das unbeabsichtigt Mamas Verdienst, weil man immerzu gegen ihre unzeitgemäßen Pläne zusammenhalten musste?
„Ich war heute mit Gareth im St. Michaels-Heim“, begann Benton zu erzählen.
„Was ist das für ein Heim?“
„Ein Waisenhaus für Jungen. Gareth hat ein Examen für die besten zwanzig Jungen von zwölf Jahren abgehalten und ich durfte ihm ein wenig helfen. Die Kinder mussten zeigen, wie gut sie lesen, schreiben und rechnen konnten, sie bekamen auch Aufgaben zum Knobeln und mussten ihre Manieren präsentieren. Die zehn allerbesten wurden dann ausgewählt, um in verschiedenen Büros ausgebildet werden, bei Sir Adam Prentice, bei Viscount Lynet, bei Gareth selbst, bei Sir Andrew Claremont und in der Verwaltung der Londoner Börse.“
„Das klingt ja sehr gut“, fand Hannah. „So werden sie tatsächlich geachtete Männer! Gut, nicht bei Tante Euphemia, aber -“
„- wer hört schon auf diese vorsintflutliche Alte“, ergänzte Benton und feixte seine Schwester an.
„Aber was ist denn mit den zehn Jungen geschehen, die nicht unter den zehn allerbesten waren? Werden sie einfach auf die Straße gesetzt?“ Sarah hatte schon Tränen des Mitleids in den Augen.
Hannah kramte sicherheitshalber nach ihrem Taschentuch, aber Benton konnte Sarah wieder beruhigen. „Nicht doch! Einige werden auf eine spezielle Dienerschule geschickt, sie werden später sehr gefragt sein, zwei, die ein sehr gutes Gespür für Pferde haben, hat Gareth wieder übernommen, sie werden in seinen Stallungen auf dem Land ausgebildet, zu Stallburschen oder – wenn sie sich sehr anstellig zeigen – sogar zum Stallmeister. Gareth sagt, das hat er schon dreimal unternommen und die Jungen wurden ihm danach sozusagen aus den Händen gerissen. Ist das nicht ausgezeichnet?“
Hannah fand das auch, Sarah erkundigte sich nach den letzten, die erfolglos an der Prüfung teilgenommen hatten, und nahm Hannahs Taschentuch dankbar entgegen.
Benton überlegte. „Ich glaube, vier fehlen noch. Zwei bekommen einen Platz in der Verwaltung der Waisenhäuser, einer bei Prentice, einer bei Claremont, einer wird bei Claremonts Sohn zum Lakaien ausgebildet und der letzte – hm. Der wird Laufbursche bei einem Anwalt im Templebezirk. Er hat sich am ehesten noch in seinem Interesse an Rechtsfragen ausgezeichnet. Damit sind zwanzig junge Kerle untergebracht und es werden wieder zwanzigPlätze für andere Waisenknaben frei. Die anderen Waisenhäuser, mit denen Gareth zu tun hat, handeln ähnlich.“
„Während Leute wie Tante Euphemia finden, Waisenkinder gehörten in die Gosse“, murrte Hannah. Sarah schnüffelte gerührt in das Taschentuch und gab es ihrer Schwester dann zurück.
Hannah krauste die Nase und steckte eswieder ein.
„Wir gehen heute mit Anthea und Miss Stanton in den Hydepark“, verkündete Hannah beim Lunch. „Brauchen wir da noch einen Lakaien?“
„Gareth, sprich ein Machtwort!“, verlangte Lady Renfrew. „Die Mädchen können sich doch nicht mit dieser vulgären Person in der Öffentlichkeit sehen lassen! Und wer ist überhaupt Miss Stanton?“
Gareth schwieg und löffelte stetig seine Suppe, also ergriff Hannah das Wort: „Miss Stanton ist die Tochter von Sir Hector Stanton und Antheas Gesellschafterin, weil Lady Willows doch so kränklich ist. Und Anthea ist überhaupt nicht vulgär, sie ist sehr gebildet, sehr wohlerzogen und sie kleidet sich auch sehr geschmackvoll, keinesfalls protzig.“
Lady Renfrew schnaubte; Gareth ließ den Löffel sinken: „Aber das klingt doch ausgesprochen beruhigend, Araminta?“
„Willows ist ein Händler! Wie sollen die Mädchen jemals ordentliche Partien finden, wenn sie sich so – so gemein machen?“
„Ich möchte nicht, dass meine Schwestern Männer heiraten, die so vorsintflutlich sind, dass sie einen - immerhin geadelten – Großkaufmann verachten!“
„Es geht immer um den Stammbaum!“, verkündete Tante Euphemia.
„Ja, das stimmt“, kommentierte Benton, der mit seiner Suppe längst fertig war, „man muss schließlich nachweisen, auf wieviele Generationen völliger Nutzlosigkeit man schon zurückblicken kann, oder?“
Gareth prustete etwas Suppe über den Tisch; die Lakaien neben dem Buffet sahen stoisch drein, aber Bert kräuselte doch einen Mundwinkel. Leider sah das auch Lady Renfrew: „Bert, wenn du so wenig Respekt zeigst, bist du in diesem Haus wohl nicht richtig, nicht wahr?“
Euphemia assistierte im Stil des vorigen Jahrhunderts: „Gehe er und packe er seine Sachen!“
Gareth hob eine Hand. „Meine Damen, Renfrew House ist mein Haus. Wer hier eingestellt oder entlassen wird, entscheide immer noch ich. Und wenn ihr damit nicht einverstanden seid – das richtet sich vor allem an Lady Euphemia – dann hätten wir immer noch das Dower House von Renfrew Estate, nicht wahr?“
Das waren deutliche Worte, fand Hannah, den Blick krampfhaft auf ihren leeren Teller gerichtet – endlich einmal! Nicht schmunzeln, ja nicht schmunzeln! Und keinesfalls einen Blick mit Sarah oder Benton wechseln…
„Ich glaube nicht, dass du die Situation richtig erfassen kannst, Gareth“, wollte seine Stiefmutter sich nicht zufriedengeben.
„Dann werde ich später die vier Damen in den Park begleiten und mir selbst ein Bild von unseren Nachbarinnen machen“, entschied Gareth und ließ sich Braten und Gemüse servieren.
Seine Stiefmutter wollte weiter streiten, bemerkte aber die interessierten Blicke der Lakaien und hielt den Mund, so lange, bis alle mit dem Hauptgang versorgt waren und Gareth das Personal mit einer Geste aus dem Speisezimmer entfernt hatte.
„Und damit, liebe Araminta, dürfte das Thema wohl vorerst erschöpfend behandelt worden sein, nicht wahr?“ Lady Renfrew bestätigte das mit schmalen Lippen – wenn ihr Stiefsohn in diesem Ton mit ihr sprach, musste sie sich geschlagen geben.
Vorerst. Bis jetzt hatte sie es immer noch geschafft, ihre Ziele durchzusetzen, wenn sie es nur etwas raffinierter anpackte. Sozusagen indirekt…
Tatsächlich wurde das Thema zumindest nicht mehr offen erörtert, bis sich Gareth und seine Schwestern kurz vor fünf, entsprechend elegant gekleidet, in der Eingangshalle versammelten. Lady Renfrew und ihre Tante straften die herausgeputzten jungen Leute natürlich mit Missachtung, was niemanden zu stören schien, und so trat man nach draußen, wo eine freundliche Sonne schien und Miss Willows und Miss Stanton gerade eben auf die Treppe des Nachbarhauses kamen.
Gareth war sich nicht ganz sicher, welche der beiden Damen welche war – die Dunkelhaarige wirkte etwas älter, vielleicht eher reifer, ihr Gesicht war etwas runder, vielleicht weiblicher; die andere Lady war blond, einige Löckchen umrahmten das schmale Gesicht, das ein wenig mittelalterlich wirkte, aber dabei sehr anziehend und wohlgeformt. Vielleicht war doch eher diese die Ältere?
Hilfesuchend irrte sein Blick zu Hannah, die sofort übernahm: „Anthea, Persy – äh – Miss Stanton, ich glaube, Sie kennen meinen Halbbruder, Lord Renfrew noch nicht? Wir wohnen hier bei ihm in Renfrew House. Gareth, dies ist Anthea Willows“ – Anthea knickste, Gareth verbeugte sich und lächelte höflich – und dies ist Miss Persephone Stanton, Antheas leidgeprüfte Gesellschafterin.“ Die blonde junge Frau knickste ebenfalls und lächelte etwas skeptisch, Gareth verbeugte sich genauso tief und lächelte genauso höflich – er wollte da keine Unterschiede machen.
„Meine Damen, ich würde Sie gerne in den Park begleiten, wenn Sie einverstanden sind“, verkündete er dann.
Miss Willows schien sofort einverstanden und überlegte, dass man dann ja auch den Lakaien zu Hause lassen könnte: „Oder möchtest du gerne mitkommen, Tom?“
Das stürzte Tom in Verlegenheit und Anthea lachte. „Lass nur, Tom, genieße ruhig ein wenig freie Zeit! Papa wird früh genug einen Auftrag für dich haben!“
„Wenn Lord Renfrew einverstanden ist, uns Schutz und Geleit zu geben, nehmen wir das Angebot dankbar an, nicht wahr, Anthea?“, stellte Miss Stanton klar, wie die schickliche Antwort auf dieses Angebot auszusehen hatte.
Anthea giggelte kurz und bedankte sich.
Es war nicht weit zum Park und das Wetter war sehr angenehm, also ging man zu Fuß, alle Damen natürlich mit farblich passenden Sonnenschirmen bewehrt, die dunkelhaarige Miss Willows in zartrosa, die blonde Gesellschafterin in eisblau.
Überhaupt waren die beiden ausgesprochen geschmackvoll und zurückhaltend gekleidet; Aramintas Epitheton „vulgär“ entsprang also wie üblich nur ihren Vorurteilen.
Hannah plauderte mit Miss Stanton über die Porträtausstellung in der National Gallery, Sarah sah sich eifrig um, also wandte Gareth sich Miss Willows zu und begann eine recht allgemein gehaltene Plauderei. Schließlich lachte Miss Willows auf und fand, diese Standardthemen erinnerten sie doch stark an die zusammenhanglose Konversation, wie sie in Ballsälen üblich war.
„Sie könnten Recht haben, Miss Willows. Schlagen Sie etwas Interessanteres vor!“
„Bücher, zum Beispiel? Ich lese gerade eine sehr aufschlussreiche Geschichte Englands – und aus der Geschichte werden einem so einige Merkwürdigkeiten der Gegenwart verständlicher, nicht wahr?“
„Können Sie mir da ein Beispiel nennen?“
„Nun ja… heutzutage fragt man sich ja oft, warum Katholiken so sehr aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden – von Mrs. Fitzherbert natürlich einmal abgesehen -, aber wenn man dann über Queen Mary Tudor liest, über Mary Stuart und die Stuarts nach König Charles II, dann kann man wieder verstehen, warum da gewisse Vorbehalte bestehen, meinen Sie nicht?“
„Da mögen Sie durchaus recht haben, Miss Willows, aber glauben Sie nicht, dass man zwischen dem sechzehnten Jahrhundert und heute unterscheiden sollte? Heute gibt es doch wohl keine Glaubenskriege mehr, nicht, nachdem wir doch alle aufgeklärt sind?“
„Ja, aber wenn man bedenkt, dass die letzten Hexenverfolgungen noch keine hundert Jahre zurückliegen…?“
„Das ist allerdings ein gutes Argument. So vernünftig sind wir wohl noch nicht alle… Ich denke, über dieses Thema sollten wir uns noch öfter unterhalten.“
„Jederzeit gerne. Politik und Geschichte interessieren mich außerordentlich und ich habe glücklicherweise einen sehr aufgeschlossenen Vater, der nicht im Traum daran dächte, mir die Morning Post aus der Hand zu nehmen oder mich auf kitschige Liebesromane zu verweisen.“
„Sie haben Glück. Ich fürchte, meine Stiefmutter versucht sehr wohl, Hannah und Sarah in dieser Hinsicht etwas einzuengen.“
„Ich weiß.“ Sie lächelte ihn blitzschnell an. „Aber die beiden sind ja nun nicht gerade die gehorsamsten Kinder, nicht wahr?“
„Glücklicherweise – genauso wenig wie Benton.“
„Ach ja – der kleine Bruder. Ihn kenne ich noch kaum.“
„Aber mit Hannah und Sarah sind Sie gut befreundet? Wie kam es dazu?“
„So ähnlich wie heute traten wir gleichzeitig aus unseren Heimen, um in den Pantheon Bazaar zu gehen und ein wenig zu stöbern. So kamen wir ins Gespräch und amüsierten uns köstlich miteinander. Und Persy passt ja auch immer gut auf uns auf.“
„Ah, Miss Stanton, nicht wahr? Ein düsterer Vorname, finden Sie nicht, Miss Willows?“
„Weil Persephone die Göttin der Unterwelt ist? Aber das ist sie ja schließlich nicht freiwillig geworden, oder?“
„Wenn ich mich richtig erinnere, hat Hades sie entführt, nicht wahr?“
„Und ihre Mutter Demeter hat lautstark protestiert“, ergänzte Miss Willows gedankenverloren. „Das wäre heute wohl gar nicht so anders, oder?“
„Zumindest müsste sie auf einer sofortigen Heirat bestehen, um die Ehre der Tochter wieder herzustellen“, bestätigte Lord Renfrew.
„Gareth?“
Er sah sich um, um festzustellen, wer ihn angesprochen hatte – ach, Benjamin!
Er begrüßte Sir Benjamin Huddock freundschaftlich und stellte ihn auch Miss Willows und ihrer Gouvernante vor, die dabei untadelige Haltung bewiesen. Was Araminta mit vulgär gemeint hatte, war ihm wirklich nicht klar!
Benjamin blinzelte ein wenig und begann dann mit Miss Stanton zu plaudern, die nach kurzem Zögern und einem Blick auf ihren Schützling auch darauf einging.
Ganz vorne schritten Hannah und Sarah Arm in Arm und winkten gelegentlich Freundinnen, die auf einem parallel verlaufenden Weg flanierten.
Als ihnen der junge Lord Belmont entgegen kam, blieben sie natürlich stehen; Belmont stieg höflich von seinem Rappen, der ihn zum Dank mit den Nüstern anstupste. Hannah lachte. „Er fragt wohl nach einer Rübe?“
„Das glaube ich auch, Miss Renfrew. Glücklicherweise habe ich vorgesorgt…“ Er zogeine Rübe aus der Rocktasche und hielt sie seinem Reittier hin. „Hier, Black Princess – aber iss manierlich, es sind Damen anwesend!“„Sie ist doch auch eine Dame, oder?“, fragte Sarah.
„Aber mit eigenartigen Tischmanieren“, seufzte Belmont. Black Princess bewies allen, wie recht er hatte; sie verspeiste die Rübe in zwei großen Bissen, wobei ihr der Speichel aus dem Maul troff. Danach stupste sie ihren Herrn erneut an und bekleckerte dabei seinen feinen Reitrock.
Hannah, Anthea und Sarah konnten ein Kichern nicht unterdrücken, Miss Stanton hielt sich vornehm zurück. Sir Benjamin und Lord Renfrew grinsten leicht.
Schließlich schlenderten sie weiter in Richtung Serpentine, wobei Lord Belmont seine Black Princess am Zügel führte und sie sich, mit der Rübe offenbar vollauf zufrieden, recht manierlich benahm – sie schnaubte und prustete nur ab und zu, was aber, wie Hannah fand, recht gut zum Gespräch passte.
Sir Benjamin erkundigte sich, wie Miss Stanton die Arbeit als Gesellschafterin gefiel, und erfuhr, dass ihr Vater praktisch ruiniert war, so dass sie es vorgezogen hatte, sich eine Stellung zu suchen.
Black Princess gab mitfühlende Geräusche von sich.
„Wie ist es zu diesem Ruin gekommen – wenn es nicht zu aufdringlich ist, diese Frage zu stellen?“
„Ach nein, das stört mich gar nicht. Soweit ich weiß, hat er zu viel in die Ladung eines Schiffs investiert, das dann aber nie in Liverpool angekommen ist. Vermutlich ist es im Atlantik gesunken, nicht wahr? Der Schiffseigner scheint auch nichts Genaueres zu wissen. Ich habe mich bei ihm erkundigt, aber er wurde nur unverschämt.“
„Wie heißt dieser Lümmel denn, wissen Sie das noch?“
„Das war ein Mr. Cropley, Nathanael Cropley. Jedenfalls sagte das Schild an der Hauswand das aus.“
„Im Hafen?“
„Ja, gewiss, warum?“
„Das ist für eine junge Dame aber doch viel zu gefährlich! Hatten Sie niemanden dabei?“
„Aber natürlich, wir hatten immerhin noch einen Diener, einen sehr kräftigen obendrein. Mir ist absolut nichts zugestoßen!“
„Ich glaube, ich sollte mir diesen Mr. Cropley einmal ansehen…“, überlegte Sir Benjamin. „Ein solches Benehmen kann man doch nicht dulden…“
„Haben Sie keine Angst, dass er zu Ihnen genauso unverschämt ist?“
„Nicht im Geringsten, Miss Stanton. Im Notfall hätte ich ja noch diesen da.“ Er hob seinen Spazierstock und Miss Stanton lachte auf. Black Princess prustete zustimmend und Sir Benjamin fuhr fort: „Vermutlich reicht es aber, ihm mit juristischen Folgen zu drohen. Ich denke, ich kenne da die richtigen Leute.“
„Oh, wenn Sie ihm wenigstens etwas Angst machen können – das wäre ja wunderbar!“
„Vielleicht kann ich ihn sogar so weit bringen, dass er etwas von dem verlorenen Geld zurückgibt – oh! – Ihr Herr Vater hat doch nicht etwa -?“
„Nein, nein! Papa würde sich nie auf diese Art und Weise aus der Affäre ziehen. Außerdem habe ich ja noch einen jüngeren Bruder, und James ist noch nicht volljährig, für ihn kämpft Papa immer noch um den Besitz.“
Sir Benjamin nickte nachdenklich. „Stanton – Sir Hector Stanton? Auf Nettles in Cambridgeshire?“
„Ja, tatsächlich – Sie kennen meinen Vater? Aber doch nicht persönlich?“
„Nein, das leider nicht. Mir scheint, man hat ihm übel mitgespielt. Vielleicht lässt sich da ja etwas tun… dann müssten Sie auch nicht mehr als Gesellschafterin tätig sein?“
„Ach, das tue ich doch gerne. Was sollte ich auf Nettles denn auch den ganzen Tag lang machen? James ist im Moment noch in der Schule, Papa brütet über den Resten des Vermögens und neuen Möglichkeiten in der Landwirtschaft, die nächsten Nachbarn sind recht weit entfernt… Man kann doch nicht immer nur abwechselnd lesen und flicken und ab und zu das verbliebene Personal beaufsichtigen! London ist da deutlich anregender, denke ich.“
„Dieser Cropley sitzt doch in der Hafengegend, sagten Sie vorhin? Wie sind Sie denn dorthin gekommen?“
„Mit einer Mietkutsche. Es hat auch etwas gedauert, das gebe ich zu. Wir hatten ein kleines Stadthaus hier in Mayfair.“ Sie funkelte ihn an und er fand sie reizend, wenn sie sich ärgerte.
Hinter ihnen spazierten Gareth und Miss Willows, flankiert von Sarah und Hannah; die drei jungen Damen neckten sich gegenseitig und Gareth stellte dabei fest, dass Miss Willows zu sehr geistreichen Repliken imstande und offenbar auch sehr belesen war. Sarah hatte dagegen keine Chance, Hannah hielt immerhin tapfer einigermaßen mit und fragte ab und zu nach der Quelle eines Zitats.
Als seine Schwestern sich vorübergehend miteinander unterhielten, nutzte er die Gelegenheit und erkundigte sich, ob Miss Willows es nicht übel aufnahm, dass ihre Gesellschafterin Sir Benjamin so mit Beschlag belegte.
Das trug ihm einen sehr erstaunten Blick ein. „Wie meinen Sie das, bitte? Warum darf Miss Stanton nicht mit Sir Benjamin plaudern? Ich plaudere doch auch mit Ihnen? Kommt uns das nicht zu – oder haben Sie Ihre Frage anders gemeint?“