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Eigentlich freut sich Lady Mary Dering, dass nun auch ihr jüngerer Bruder Arthur heiratet. Und seine Auserwählte, Eliana Haring, ist wirklich hübsch und freundlich. Dass die Hochzeit unbedingt mit großem Gepränge in London stattfinden muss und das noch ohne die Brauteltern, die ihren niedergebrannten Landsitz im Norden nicht alleine lassen können, wie es scheint, ist allerdings etwas lästig, denn so bleibt die Organisation der Feier vollständig an Mary und ihrer Mutter, der Countess of Daleham, hängen. Sobald die Hochzeit überstanden ist, freut sich Mary auf die Rückkehr nach Dale und die beruhigende Wirkung der Landschaft in Hampshire. Dort allerdings verändert sich Eliana zusehends: Sie wird immer stiller und trauriger, hört den Familienmitgliedern nicht zu, interessiert sich für nichts und zieht sich zumeist einfach auf ihr Zimmer zurück, anstatt Fragen zu beantworten. Was ist da nur los? Warum wirkt Arthur verwirrt und Eliana fast schon gespenstisch? Und vor allem, warum haben die beiden so schnell geheiratet? Alle zerbrechen sich den Kopf, vor allem Mary, die es gar nicht leiden kann, wenn sich nicht alle wohlfühlen. Hilfe kommt schließlich von einem neuen Nachbarn, den Mary schon auf dieser verflixten Hochzeit in London kennengelernt hat…
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Seitenzahl: 341
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Catherine St. John
Rätselhafte Eliana
Historischer Roman
„Möchtest du nicht endlich dein Festgewand anziehen, Mary? In zwei Stunden beginnt die Trauung. Ach ja, Arthur und seine Eliana…“
„Solange ich dauernd für Hilfsdienste herumgejagt werde, schone ich das Kleid lieber! Der blassrosa Stoff ist ziemlich empfindlich.“
„Wer jagt dich denn herum? Ich habe dich doch gar nicht eingespannt?“
„Na, Eliana. Und ihr Mädchen, diese Trish. Eliana ist entsetzlich nervös, eine Krise nach der anderen – der Ausschnitt ist schief und ich wurde getadelt, weil ich sagte, ich könne da nichts sehen. Trish konnte die weißen Spitzenhandschuhe nicht finden, also musste ich sie suchen…“
„Wo waren sie denn?“
„In der Truhe mit ihrem Hochzeitskleid, wer hätte es gedacht? Hoffentlich geht das nach der Hochzeit nicht so weiter und die beiden bringen unseren Haushalt auf Dale nicht genauso durcheinander wie jetzt das Stadthaus… Warum haben wir das Ganze nur nicht gleich auf dem Land veranstaltet?“
„Das weißt du doch, Mary! Auf dem Land wären viel weniger Gäste gekommen.“ Lady Daleham seufzte. „Was das alles kostet… Nur gut, dass Charles und Moira viel unauffälliger geheiratet haben.“
„Sollten nicht eigentlich die Brauteltern für diese Kosten aufkommen?“
„Eigentlich ist das üblich, da hast du schon recht, aber nachdem Lord und Lady Haring sich um den Notfall im Norden kümmern müssen, können sie nicht nur nicht an der Hochzeit teilnehmen, sondern scheinen auch finanziell etwas knapp dran zu sein.“
Mary seufzte mitleidsvoll. „Weiß man denn jetzt eigentlich, warum ihr Schloss niedergebrannt ist? Und ist wirklich alles zerstört?“
„Genau weiß ich es auch nicht, aber Eliana hat wirklich sehr geweint, offenbar hat sie dort immer sehr schöne Ferien verbracht. Solche Erinnerungen können die Trauer gewiss auch verstärken…“
Mary seufzte wieder mitleidig. „Ja, das glaube ich gerne. Wenn unser Zuhause in Flammen aufginge – ein abscheulicher Gedanke! Wir müssten alle auf Dering Grange unterkriechen, nicht wahr?“
„Das oder auf unser Dower House zurückgreifen. Dale House hätten wir obendrein noch. So, und jetzt lass dich bitte für die Hochzeit ankleiden. Eliana soll gefälligst ihre Zofe herumschicken, wenn sie schon wieder etwas vermisst. Du musst sie nicht bedienen!“
„Ich wollte ihr doch nur ein wenig helfen; es ist doch verständlich, dass sie nervös ist, gerade weil sie in aller Öffentlichkeit heiratet. St. George ist ja nun nicht gerade eine abgelegene Privatkapelle…“
„Sie wollte doch unbedingt hier in London heiraten! Und dann noch ohne ihre Eltern und ihren Bruder… ich hoffe, ihr ist klar, dass wir nach den heutigen Festlichkeiten ohnehin aufs Land fahren…“
„Das glaube ich kaum – obwohl die Saison sich ja dem Ende zuneigt. Ach, schön! Ich freue mich so auf Dale. Die Tiere, die Blumen, die gute Luft, Ausritte ohne Regeln, Besuche bei den Nachbarn… In London gefällt es mir immer so etwa drei Wochen lang, dann geht mir das Gedränge wieder auf die Nerven.“
„Aber beim nächsten Mal musst du leider wieder auf alle Bälle gehen, du weißt ja, wie der Hase läuft.“
„Der Heiratsmarkt, natürlich. Ich werde mich bemühen, jemand Akzeptablen zu finden, versprochen.“
„Nicht irgendeinen, mein Schatz, einen, der dir auch gefällt!“
„Ich werde mich bemühen, aber die Auswahl an netten und vernünftigen Männern war zumindest in der letzten Saison nicht gerade besonders groß. So, und jetzt werde ich mich umkleiden.“
„Komm dann gleich in die Halle, wir müssen ja früher in der Kirche sein als die Braut.“
Mary grinste: „Und du glaubst, Arthur ist schon fertig?“
„Wehe, wenn nicht!“ Die Countess schmunzelte aber – ihr Sohn würde doch wohl nicht zu seiner eigenen Hochzeit zu spät erscheinen?
Mary eilte in ihr Schlafzimmer, wo ihre Zofe schon wartete und das blassrosa Kleid an der Schranktür hing. Das Umziehen ging schnell und Mary war immerhin schon in den blassrosa Traum geschlüpft und trug die dazu passenden Seidenslipper, als ein gequälter Schrei ertönte. Sie setzte sich an ihren Toilettentisch und verdrehte die Augen vor dem Spiegel, was Doris, die schon mit der Haarbürste hinter ihr stand, zu einem respektvollen Kichern veranlasste.
Ein panisches Klopfen ertönte an der Tür und Doris ging auf Marys Nicken hin zur Tür.
„Oh, Miss, bitte, Sie müssen kommen! Miss Harings ist verzweifelt!“
„Was gibt es denn jetzt schon wieder?“, fragte Mary leicht gereizt, während sie selbst die Nadeln aus ihrer Frisur löste.
„Das Strumpfband ist gerissen! Das bringt Unglück! Sie müssen kommen, bitte!“
„Nein, ich bin noch nicht frisiert und wir fahren in etwa einer Viertelstunde zur Kirche. Nur Papa bleibt noch, um Miss Haring zu begleiten und sie zum Altar zu führen. Doris, such ihr doch bitte eins von meinen Strumpfbändern heraus, ein weißes am besten.“
„A-aber Miss Haring weint!”
“Sag ihr, sie soll damit aufhören, sonst steht sie mit roten Augen am Altar. Doris, hast du etwas gefunden?“
„Ja, die ganz neuen mit der Spitzenrüsche, kann ich Trish die geben, Lady Mary?“ Doris knickste, offenbar, um Trish zu zeigen, dass Lady Mary viel vornehmer war als Miss Haring.
„Ja, natürlich. Trish, sagen Sie bitte Ihrer Herrin, sie möge sich jetzt zusammennehmen. Seine Lordschaft wird sie in einer halben Stunde zur Kirche bringen, viel Zeit für solche Dramen hat sie also nicht mehr.“
„Kann denn nicht wenigstens Doris -?“
„Auf gar keinen Fall! Soll ich unfrisiert in der Kirche stehen? Die liebe Eliana muss jetzt wirklich mit dir alleine zurechtkommen, Doris hat dir ja das Paar Strumpfbänder gegeben, nicht wahr?“
Trish schnaufte empört auf. „Da wird sich Miss Haring aber nicht freuen…“
„Daran kann ich jetzt auch nichts ändern. Lieber Himmel, bin ich froh, wenn wir wieder zu Hause auf dem Land sind!“
Trish knickste, von Kopf bis Fuß beleidigt, und zog sich zurück.
„Ich glaube, als der Prinzregent vor ewigen Zeiten geheiratet hat, gab es nicht halb so viel Aufwand“, murrte Mary und schloss genießerisch die Augen, als Doris begann, ihre Haare zu bürsten und sie dann sorgfältig aufzustecken und schließlich ein passendes blassrosa Band hindurchzuflechten. Eine schmale Perlenkette vollendete die Toilette und Mary drehte sich dankbar zu Doris um: „Das hast du sehr schön gemacht, ich werde in der Kirche sicher einen guten Eindruck erwecken!“
Doris kicherte. „Wenn ich das sagen darf, Mylady, vielleicht treffen Sie ja bei dieser Hochzeit selbst einen netten jungen Gentleman? Wäre das nicht hübsch?“
„Ja, vielleicht. Aber so eilig ist das auch wieder nicht. Und wer sagt mir denn, dass der nette junge Mann nicht nur ein oberflächlicher Stadtfrack ist?“
„Mylady!“
„Du weißt doch, was ich meine. Ein netter junger Gentleman vom Land wäre mir lieber – die übernehmen doch zumeist mehr Verantwortung. Charles und Papa sagen das auch. Ich glaube, wir sind jetzt fertig, nicht wahr? Dann werde ich aufbrechen. Du könntest, sobald ich unten bin, Trish daran erinnern, dass Eliana eine Viertelstunde nach uns aufbrechen sollte, zusammen mit Papa. Schließlich hat sie diesen minutiösen Zeitplan selbst aufgestellt!“
Doris versprach alles und reichte Mary ihr Retikül und einen Schal, falls es in der Kirche Zugluft geben sollte; Mary eilte nach unten, wo ihre Mutter schon wartete und Arthur, Charles und Moira gerade aus ihren Räumen herunterkamen.
Durch die halboffene Tür von Dale House sah man Teile des Grosvenor Square und davor die wartenden Wagen, einer mit Grauschimmeln, der andere mit Schimmeln bespannt.
„Wir nehmen die Grauschimmel“, legte Lady Daleham fest, „die Schimmel geziemen der Braut.“
„Ich hoffe, sie hat sich mittlerweile wieder beruhigt und ist mir nicht mehr böse, dass ich ihr zerrissenes Strumpfband nicht reparieren wollte.“
„Du musstest doch selbst fertigwerden! Was hast du also getan?“
„Ich hab ihr ein Paar von meinen gegeben, also, Doris hat sie überbracht, während ich meine Frisur löste, damit es nachher schneller ginge.“
„Das hast du richtig gemacht, meine Liebe – mehr wäre doch im diesem Moment gar nicht möglich gewesen!“
Die Fahrt zur Kirche dauerte nicht lange; Moira bewunderte Marys Robe, was Schnitt, Material und Farbton betraf („Wie das Innere einer Blüte, so romantisch!“)und Mary revanchierte sich aus ehrlichem Herzen, denn die zarte, blonde Moira sah in einem Kleid aus heller blaugrüner Seide wirklich bezaubernd aus; Charles drückte ihr auch liebevoll die Hand und ließ seine Frau dann nicht mehr los.
Ob Arthur und Eliana wohl genauso liebevoll miteinander umgingen? Mary hoffte es, aber so viele glückliche Ehen kannte sie auch nicht. Soweit sie in die Ehen anderer Leute überhaupt Einblick hatte, hieß das. Die meisten Leute waren ja wohl gut genug erzogen, um sich nicht in der Öffentlichkeit zu streiten! Andererseits hatte sie in Ballsälen, im Park und an den anderen üblichen Schauplätzen der Vergnügungen der obersten Kreise auch schon Menschen mit eher zweifelhaften Manieren angetroffen…
„Mary? Mary!“
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. „Ja?“
„Wir sind da.“ Sie schaute aus dem Fenster; der Wagen fuhr gerade in die Auffahrt zur Kirche, also griff sie nach Schal und Täschchen und machte sich bereit.
Zuerst stiegen aber natürlich ihre Mutter, der Bräutigam und der Erbe samt Gemahlin aus, dann reichte der Lakai ihr die Hand.
Die Kirche sah recht imposant aus, da hatten Eliana und Arthur eine gute Wahl getroffen. Nun, vermutlich vor allem Eliana, wenn man an die Akribie dachte, mit der sie diese Hochzeit geplant hatte. Direkt überfüllt waren die Bankreihen aber nicht – hatte Eliana die Zahl ihrer Bekannten und Freunde überschätzt, fehlte noch eine Familie, einmal abgesehen von ihren Eltern?
Hätten die den niedergebrannten Landsitz nicht ein paar Tage unter der Aufsicht eines Verwalters zurücklassen können? Bei der Heirat der Tochter zu fehlen, das sah doch wirklich etwas merkwürdig aus…
Ihre Mutter blieb neben der ersten Reihe stehen; Mary winkte Arthur, der sich schon gehorsam kurz vor dem Altar positioniert hatte (neben Charles), heiter zu, dann wartete sie, bis Charles und Moira sich gesetzt hatten und Mama neben Moira Patz genommen hatte. „Mary, du sitzt am Gang, du musst Elianas Brautjungfer vertreten.“
„Warum ist die nicht da?“
„Angeblich plötzlich erkrankt“, murmelte ihre Mutter. „Du musst nur während der Trauung hinter ihr stehen und ihr vielleicht mit dem Schleier helfen. Und jetzt warten wir auf den großen Auftritt!“
„Papa wird schon dafür sorgen, dass alles glattgeht“, hoffte Mary und ließ sich auf der Kirchenbank nieder.
Der Geistliche erschien zur festgesetzten Zeit, die Braut aber noch nicht.
„Sie hat doch nicht plötzlich Angst bekommen?“, überlegte Lady Daleham leise. „Das wäre ein Skandal!“
„Aber nein, sie kann nur ihren linken Handschuh nicht finden“, tuschelte Mary zurück und hörte Moira leise lachen.
Arthur zog eine Uhr aus seiner weißseidenen Weste und inspizierte das Zifferblatt. Erheitertes Raunen setzte ein und pflanzte sich durch das ganze Kirchenschiff fort, da half auch die strenge Miene des Geistlichen nichts.
Immerhin ließ Arthur die Uhr wieder verschwinden und setzte eine betont fromme Miene auf. „Ich hätte mir etwas zu lesen mitnehmen sollen“, murmelte Mary ihrer Mutter zu.
„Benimm dich! Doch nicht bei der Hochzeit deines Bruders!“
Schließlich, nachdem die Gespräche und die Unmutsäußerungen der Gäste immer lauter geworden waren, tauchten der Earl of Daleham und die Braut in der Kirchentür auf. Es dauerte ein wenig, bis sich dieses Auftauchen im ganzen Kirchenschiff herumgesprochen hatte und Eliana, so bemerkte Mary, verzog beleidigt das Gesicht. Das konnte nicht einmal der Schleier verbergen!
Die weiße Brokatrobe, mit Perlen bestickt und mit Spitzen verziert, war wirklich ein märchenhaftes Gewand, gab Mary neidlos zu; sie selbst hätte so etwas allerdings nie tragen mögen.
Vielleicht war das Ganze doch ein klein wenig – überladen? Nun, das war ja eigentlich nicht ihre Sorge! Sobald Eliana an Papas Arm an ihr vorbeigezogen war – einen eleganten Gang hatte sie, das musste ihr der Neid lassen – erhob sie sich und stellte sich hinter sie, fromm den Altar ins Auge fassend. Papa legte Elianas Hand in die Arthurs und setzte sich in die Familienbank. Mary ging Eliana zur Hand, um den Schleier zurückzuschlagen, danach hatte sie nichts mehr zu tun. Also lauschte sie mit halber Kraft der Predigt, die sich ganz schön hinzog, wie sie fand, und überlegte daneben, warum wohl die eigentliche Brautjungfer so plötzlich erkrankt war: Stimmte das überhaupt?
Als Arthur und Eliana ihre Gelübde sprachen, konzentrierte sie sich wieder auf das Geschehen und spähte zwischen den Brautleuten hindurch: Was für ein üppiger Ring! Mit einem Saphir? Nun, der passte wenigstens perfekt zu Elianas blauen Augen. Sehr schönen Augen, das musste man sagen…
Arthur hatte seiner Frau den Ring angesteckt und küsste ihr nun formvollendet die Hand; beide wandten sich vom Altar ab und Mary trat hastig zur Seite; Arthurs Eltern folgten dem jungen Paar und alle anderen reihten sich etwas ungeordnet dahinter ein; Mary, die nicht so schnell reagiert hatte, landete eher hinten im Gefolge. Nicht so tragisch, überlegte sie, den Schleier musste man jetzt doch nicht noch einmal richten? Und hätte sie sich vorgedrängt, hätte das womöglich wieder Ärger gegeben, mit wem auch immer. Freunde und Verwandte von Eliana vielleicht, da musste ja nur einer viel vornehmer sein als die Familie des Earl of Daleham! Sie kannte Elianas Familie überhaupt nicht, vielleicht war das Ganze dafür einfach zu schnell gegangen…
Nun, das konnte ja alles noch kommen und Eliana war bestimmt die Richtige für Arthur, er war ja auch sehr verliebt…
Es ging nun zurück nach Dale House, wo das Hochzeitsessen stattfinden sollte; die Tafel war im Ballsaal aufgebaut, denn der Speisesaal war für rund sechzig Personen nun doch zu klein. Die Tafel war hufeisenförmig, um in den Saal zu passen, und das Brautpaar präsidierte an der Rundung, flankiert von den Eltern Daleham und Charles und Moira. Die übrigen Gäste waren nach Rang angeordnet und Mary fand sich recht weit unten an einem der Schenkel des Hufeisens wieder, noch nach einigen Bekannten Elianas, die, soweit sie wusste, nicht einmal einen Höflichkeitstitel trugen. Ach, das war doch gleichgültig – aber sie hätte schon gerne gewusst, wer die Sitzordnung festgelegt hatte! Sie saß zwischen Henry, dem jüngeren Sohn der Peckhams aus der Nachbarschaft in Hampshire, und einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Um die Dreißig, sehr gut gekleidet, das Gesicht hatte sie von der Seite noch nicht so recht sehen können, weil er eine Frau auf der gegenüberliegenden Seite betrachtete.
Interessante Dame, musste sie zugeben. Sie war des Betrachtens wert! Dunkelbraunes Haar, wundervoll frisiert und mit Perlen geschmückt, ein sehr fein geschnittenes Gesicht, auf dem ein freundliches Lächeln lag – und, soweit im Moment erkennbar, eine elegante Festrobe in zartem Grün. Oh ja, und sie hatte auch grüne Augen!
Von den Augen abgesehen sah sie Eliana ähnlich, war sie wohl eine Verwandte? Eine Schwester oder Cousine?
Sie sprach ihren Nachbarn zur Rechten an. Er riss sich offenbar nur mit Mühe von dem reizenden Anblick los und wandte sich ihr zu: „Ja, Lady Mary, was kann ich für Sie tun?“
„Sie haben sich meinen Namen gemerkt?“
Er lächelte fein und deutete auf das Namensschildchen oberhalb ihres Gedecks. Sie wollte sich revanchieren und schielte nach rechts, aber er hatte seine Tischkarte umgedreht.
„Das ist unfair! Nun, es spielt keine Rolle… Mylord, wissen Sie, ob die Lady Ihnen gegenüber mit Eliana verwandt ist? Ich finde, sie sieht ihr recht ähnlich.“
„Die Dame ist, soweit ich weiß, eine Miss Montfort. Ich habe ganz kurz ihre Tischkarte gesehen – aber ihre Verwandtschaftsverhältnisse kenne ich leider auch nicht. Allerdings haben Sie Recht, Lady Mary, sie sieht der Braut sehr ähnlich.“
„Sehr hübsch, nicht wahr? Eliana sieht ja auch so reizend aus…“
Das klang etwas heuchlerisch, fand sie selbst, obwohl es doch die reine Wahrheit war!
„Ja, gewiss… und Sie sind die Schwester des Bräutigams? Vergessen Sie nicht, ich habe ihre Tischkarte gesehen – Lady Mary Dering, da gibt es doch wohl keine andere Erklärung?“
„Sie haben ganz recht – aber Sie bedienen sich unlauterer Hilfsmittel. Vielleicht könnten Sie mir wenigstens Ihren Namen nennen – Sir?“ Sie lehnte sich etwas zurück, denn ein Diener servierte ihr gerade eine Auswahl Vorspeisen.
Er lachte. „Ich denke, das lässt sich einrichten. Marcus Pemberton. Sir Marcus Pemberton.”
„Ein Freund der Familie Haring, vermute ich?”
„Bitte? Nicht doch – sind die Harings die Familie der Braut?“
„Hm. Die reinste Sphinx… gut, ich werde versuchen das Rätsel zu lösen. Also, dann gehören Sie zur Familie des Bräutigams, also Arthurs. Aber dann müsste ich Sie doch eigentlich kennen, wenn ich Arthurs Schwester bin?“
„Das sollte man annehmen“, stimmte er gelassen zu und aß einen Bissen.
Mary zuckte die Achseln und aß auch. Dieser Sir Marcus war nur sehr notdürftig höflich – und ihr Nachbar auf der linken Seite unterhielt sich sehr gut mit wiederum seiner Nachbarin. Auch recht, konzentrierte sie sich eben auf das Essen, das wirklich perfekt war, das Küchenpersonal hatte sich selbst übertroffen!
Vielleicht hielt er sie für dumm, weil sie das Rätsel nicht lösen konnte? Oder sie hätte ihn wirklich kennen müssen und nun war er gekränkt? So ein Seelchen…
Sie war ja auch nicht verpflichtet, ihn zu unterhalten, ihr Tischherr war doch eigentlich der Gentleman zu ihrer Linken – oder? Sollte dieser Pem-irgendwas eben weiter den Eliana-Zwilling gegenüber bewundern…
Was tat Eliana überhaupt?
Alles war gut, sie aß und plauderte mit Arthur – und zu ihrer Linken mit Charles, ab und zu witzelten die beiden Brüder auch miteinander – hinter Elianas Rücken, was ihr wohl nicht ganz so gut gefiel. Nun ja, daran musste sie sich gewöhnen, die beiden verstanden sich eben gut und hatten beide aus ihren Jungensjahren noch nicht ganz herausgefunden; für einen lustigen Streich konnten sie sich heute immer noch begeistern – alle beide! Moira pflegte das mit Langmut zu ertragen. Eliana würde das wohl auch noch lernen, was sollte sie auch anderes tun?
Das Essen war jedenfalls hervorragend und sie hatte keine Probleme damit, sich auf alle Speisen zu konzentrieren, wenn ihre beiden Nachbarn sie auf recht unhöfliche Art ignorierten.
Schließlich waren auch die Desserts verzehrt, fast alle Gäste wirkten leicht müde und Mama hob die Tafel auf, was Eliana leicht zu erstaunen schien.
Alle Damen folgten Mama in den großen Salon – was auch sonst - , wo es etwas Sherry gab und Mary an das Piano beordert wurde, um ein wenig Mozart zu spielen.
Natürlich wurden die Damen noch etwas müder, nachdem sie auf das üppige Essen auch noch Sherry getrunken hatten, aber Mama verkündete, dass man ab fünf Uhr im Ballsaal tanzen werde – der Saal werde gerade vorbereitet.
Alle schienen damit einverstanden zu sein, außer vielleicht Eliana und Mary selbst, die ja sozusagen für die Hintergrundmusik zuständig war. Es gab lahmes Lob für den prächtigen Hochzeitslunch, der doch eigentlich für diese Tageszeit viel zu mächtig gewesen war (Wer hatte bloß die Speisenfolge festgelegt?), kein Wunder, dass alle so schlapp wirkten!
Mary selbst spielte zwar routiniert einige bekanntere Stücklein von Mozart, aber auch sie hätte sich ein Schläfchen recht gut vorstellen können. Drei der Besucherinnen rieben sich immer wieder die Augen; Mary unterbrach ihr Spiel und fragte ihre Mutter leise, ob es nicht einige vorbereitete Gästezimmer gebe, damit sich die Gäste kurz ausruhen könnten. Dies hörte aber auch Eliana, die empört reagierte: Man könne doch die Gäste nicht einfach ins Bett stecken, wenn man nicht genug Programm hätte?
Moira merkte höflich, aber nicht ganz ohne süffisanten Unterton an, dass doch Eliana das Programm gemacht habe; Mary fragte: „Du möchtest doch sicher hinaufgehen und dein Ballkleid anziehen, oder? Da kannst du dich ja ein wenig ausruhen – und die Gäste haben die Möglichkeit nicht?“
„Ihr seid unmöglich!“, stieß die verärgerte Braut hervor und verließ den Salon; Moira und Mary verdrehten die Augen; Lady Daleham seufzte leise und bat Mary, weiterzuspielen, „aber leise, wir wollen doch niemanden wecken, nicht wahr?“
Moira erhob sich und kündigte an, die Zofen von Lady Daleham, Mary und ihr selbst nach oben zu schicken, damit sie den Damen vor dem Ball helfen konnten, sich wieder etwas frisch zu machen.
Die übrigen Damen reagierten kaum; manche dösten zufrieden in den tiefen Sesseln, andere schliefen wirklich schon, nur zwei unterhielten sich leise und etwas stockend, darunter die Dame, die Mary beim Lunch aufgefallen war, weil sie Eliana so ähnlich sah.
Mary klimperte leise vor sich hin und hoffte, dass sich die Gäste vielleicht eine Stunde lang erholen konnten. Etwas schlapp fühlte sie sich auch – nun, morgen konnte sie vielleicht ausschlafen?
Ach nein, morgen wurde gepackt, um nach Dale Estate zurückzukehren. Nur gut, dass es keine zwei Stunden von London entfernt lag!
Ob es Eliana dort gefallen würde? Sie hatte Dale noch nie besucht, auch ihre Eltern nicht, eigentlich merkwürdig – ob es so auf Dauer ihren Geschmack traf? Sehr viel los war dort nicht, allerdings gab es immer genug zu tun.
Ab und zu fuhr man natürlich nach Romsey oder Winchester, um einige Dinge zu besorgen (zumeist etwas, das man besser in London erworben hätte) und vielleicht dort zu speisen. Noch seltener machte man sich an den Solent auf, um ein wenig Meeresluft zu schnuppern und spazieren zu gehen und den Blick aufs Meer zu genießen. Nun ja, in der nächsten Saison konnten sie und Arthur ja wieder im Stadthaus leben, groß genug war es schließlich! Und Arthurs eigener Besitz machte ihnen vielleicht mehr Freude, er lag aber praktisch an der Grenze von Dale. Eigentlich war doch alles aufs Beste geregelt, da konnte Eliana ja wirklich -
„Mary!“
Sie schrak zusammen. „Ja, Mama?“
Außer ihr war nur noch ihre Mutter wach, jedenfalls schienen jetzt glücklich alle weiblichen Gäste eingenickt zu sein. Kein Ruhmesblatt für eine Hochzeitsfeier! „Es ist fast vier Uhr“, stellte Lady Daleham mit einem Blick auf die Kaminuhr fest.
„Dann sollten wir uns wohl für den Ball umkleiden lassen, meinst du nicht?“
„Du hast recht“, war die matte Antwort. „Wir hätten die Hochzeit auf dem Land abhalten sollen, dort hätten alle Gäste eigene Zimmer und man hätte sich im
Park ergehen können. Nun ja… Eliana wollte ja unbedingt St. George haben.“
„Vielleicht hat sie einfach Kummer, weil ihre Eltern nicht dabei sein konnten“, überlegte Mary.
„Ach, das verstehe ich ja auch nicht, konnten sie die Ruine nicht einige Tage dem Verwalter anvertrauen und sich nach der Hochzeit um den Wiederaufbau kümmern?“
„Pst! Das muss Eliana doch kränken?“
„Sie ist gar nicht hier, keine Sorge.“
„Sie ist die ganze Zeit auf ihrem Zimmer geblieben? Obwohl sie doch die Hauptperson ist? Da fehlte ja nur noch, dass Arthur sich auch in sein Schlafzimmer verkrochen hat! Naja, vielleicht war das alles zu viel für sie…“
„Mary, du bist wirklich ein gutmütiges Kind! Aber vielleicht hast du recht, wir sollten Eliana noch eine Zeitlang im Alltag beobachten, bevor wir uns ein Urteil bilden. Moira andererseits war bei der Hochzeit mit Charles sehr gelassen und freundlich…“
„Sie hatte auch ihre eigene Mutter bei sich, die alles organisiert hatte. Wenn du eines Tages meine Hochzeit ausrichtest, werde ich auch gelassen und freundlich sein, das verspreche ich dir!“
Lady Daleham lachte und weckte damit die ersten Damen auf, die sich prompt verlegen die Augen rieben und sich dann hastig etwas gerader aufsetzten.
„Ein so wunderbarer Lunch“, äußerte Lady Cole rasch. „Ich muss wirklich viel zu viel gegessen haben – sonst nicke ich nie am helllichten Nachmittag ein!“
„Mir ging es genauso“, bekannte die Countess of Restick wenig originell, rettete sich dann aber durch den Zusatz: „Gerade bei den Desserts konnte ich wirklich gar nicht mehr an mich halten!“
Mary bewunderte ihre Mutter, die nicht prustete, sondern nur lächelnd für das Lob dankte und versprach, es der Köchin auszurichten. Dann erinnerte sie daran, dass der Tanz in einer Stunde beginne, wenn sich die Damen noch umkleiden wollten, im zweiten Stock seien Zimmer bereitgestellt…
Damit leerte sich der Salon zügig, nur zwei ältere Damen erklärten freundlich, über das Tanzalter seien sie hinaus, sie wollten gerne hier sitzenbleiben – und vielleicht noch einen Sherry trinken?
Den ließ Lady Daleham sofort servieren, wünschte ihnen eine angeregte Unterhaltung und verließ von Mary gefolgt den Salon. Draußen sah Mary ihre Mutter fest an. „Wer hat das geplant?“
„Frage mich nicht! Eliana war es nicht, zumindest hat sie sich diese alberne Erholungspause nicht ausgedacht. Höchstens könnte man sagen, dass der Speisezettel etwas allzu üppig angelegt war.“
„Das stimmt, ich war selbst etwas schläfrig, aber immerhin ist mir der Kopf nicht auf die Tasten gefallen!“
„Eliana hat sicher vorher noch nie eine Hochzeit geplant.“
„Hat sie dir ihren Plan denn nicht gezeigt, damit du das Menü etwas zusammenstreichen kannst?“
„Nein, sie hat etwas von Überraschung und Eindruck gemurmelt und gesagt, sie schafft das auch alleine.“
„Nicht einmal Arthur durfte ihr helfen?“
„Nein, sie wollte besonders ihm wohl zeigen, dass sie so etwas ganz alleine fertigbringt.“
„Da hat sie sich wohl etwas übernommen. Zumindest hat sie den Lunch etwas unterschätzt. Ob sie wohl schläft – oder kleidet sie sich wenigstens für den Tanz an? Ein Brauttanz sollte ja schon stattfinden!“
„Geh dich umkleiden, mein Schatz, ich kontrolliere den Ballsaal. Wenn wir beim Beginn nicht anwesend sind, macht das auch keinen besonders guten Eindruck.“
Mary nickte. „Und dann verderben wir der armen Eliana den Ball.“
Sie eilte hinauf in ihr Zimmer, wo Doris schon mit dem blassgelben Ballkleid wartete. Diese Farbe fand Mary immer besonders schön, weil das Gelb ein wenig ins Rötliche spielte, was so gut zu ihren Locken passte.
Hastig ließ sie sich aus ihrem Kleid helfen und sich das Rötlichgelbe über den Kopf ziehen. Doris schloss die Knöpfchen auf dem Rücken, beorderte Mary an den Toilettentisch und begann mit dem Frisieren, während Mary überlegte, was sich als Haarschmuck eignen könnte. „Ein Band in dieser Farbe haben wir ja leider nicht… daran hätte ich denken sollen, zu dumm!“
„Sie haben eins in Elfenbein mit kleinen gelben Blüten darauf, wie wäre es denn damit?“
Das Band passte perfekt und Mary lobte ihre Zofe aus vollem Herzen. Damit war sie früh genug fertig und beschloss, ihrer Mutter im Ballsaal beizustehen; Doris versprach, sicherheitshalber bei Eliana vorbeizugehen und zu klopfen.
Der Ballsaal prangte mittlerweile im Schmuck gelber Blumensträuße und blassgelber Draperien, auch um die Empore der Musiker. Mary zog sich auf dem Weg zu ihrer Mutter, die sich noch prüfend umsah, beiläufig eine der gelben Blumen aus einem Strauß und steckte sie in ihren dunklen Haarknoten.
Lady Daleham sah ihr entgegen: „Sehr hübsch, Mary. Die Musiker sind schon da, der Raum ist ordentlich geschmückt, finde ich, es fehlen nur noch die Gäste…“
In diesem Moment schlenderte Arthur herein, elegant in seinem besten Abendanzug, und sah sich etwas verwundert um, bevor er seine Uhr aus der Westentasche zog. „Viertel vor fünf – wo sind denn alle?“
„Ich glaube, viele haben ein Schläfchen gemacht“, erklärte Mary. „Du verstehst, der üppige Lunch… war es beim Portwein nicht so ähnlich?“
Arthur seufzte. „Die älteren Herren haben auf jeden Fall hörbar geschnarcht, da hast du wohl recht… wo ist denn Eliana?“
„Ich habe Doris gebeten, Trish zu informieren. Eliana war auch recht müde… ein anstrengender Tag, ohne Zweifel.“
Arthur zog ganz kurz eine Grimasse, dann gab er seiner Schwester wieder einmal recht. Mary schmunzelte: „Heute so auf Harmonie bedacht?“
Arthur winkte ab.
Immerhin tauchte der Earl nun auf und gesellte sich zu seinen Kindern, nicht ohne zu fragen, wo denn Charles und Moira steckten. Nach Eliana erkundigte er sich nicht – hatte er sie vergessen?
Seltsame Situation, fand Mary. Und jetzt begannen die Musiker auch noch, ihre Instrumente zu stimmen – allerdings war der hallende Effekt im nahezu leeren Saal doch recht interessant!
Ihre Mutter strich noch einmal um den Saal herum und zupfte einige Schleifen zurecht, dann gesellte sie sich zu ihrer Familie und konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. „Arthur, möchtest du nicht vielleicht Eliana daran erinnern, dass der Tanz um fünf Uhr beginnt? Immerhin solltet ihr beide ihn doch eröffnen!“
Arthur lehnte das ab. „Wenn man Eliana antreibt, dauert es nur noch länger. Sie kommt bestimmt bald. Bis dahin können wir doch mit den Gästen plaudern…“ Er sah sich um.
„Ja, wenn die Gäste denn mal auftauchten“, ergänzte Mary und musterte ebenfalls den leeren Saal. „Naja, dann beginnt der Tanz eben ein wenig später, so strikt müssen wir den Zeitplan doch wohl nicht einhalten, oder? Heißt das bei den Franzosen nicht Laissez-faire? Also entspannen wir uns!“
„Aber ohne Champagner!“, verlangte Arthur. „Den gibt es erst, wenn sich Eliana auch zu uns gesellt hat!“
Zunächst aber kamen Freunde der Eltern und eine Freundin oder Verwandte von Eliana; warum hatte die eigentlich nicht das Amt der Brautjungfer übernommen? Den Schleier zurückzuschlagen und vielleicht vorübergehend den Brautstrauß zu halten, hätte sie wohl nicht überfordert. Sie lächelte ihr zu und lobte zuerst einmal das Gewand der Dame, die sich glücklicherweise rasch vorstellte: „Sie sind die Schwester des Bräutigams, nicht wahr? Lady Mary? Ich bin Louisa de Vere. Ihr Gewand hat aber auch eine sehr hübsche Farbe – exakt auf den Ballsaal abgestimmt?“
„Ganz ehrlich hab ich meinen Haarschmuck zum Teil aus einer der Vasen genommen“, verriet Mary und zwinkerte. „Sie sind eine Freundin von Eliana, nicht wahr?“
„Eher ihre Cousine. Mütterlicherseits. Meine Eltern leben ziemlich weit im Norden, aber Eliana hat offenbar nur mich eingeladen.“
„Du lieber Himmel Sie sind ganz alleine gereist? Den ganzen weiten Weg?“
„Darüber hat sich Eliana wohl wenige Gedanken gemacht. Ich habe meine beiden Brüder gebeten, mich zu begleiten; sie hatten gerade nicht allzu viel zu tun und waren gerne bereit. Heute sind sie an die Küste gefahren, morgen Vormittag werden sie mich hier wieder abholen… Das passt doch hoffentlich? Ich weiß nicht, ob Eliana das alles bedacht hat.“
„Machen Sie sich da keine Gedanken! Wir werden morgen packen und im Lauf des Nachmittags nach Dale zurückkehren – die Saison ist vorbei, aber Eliana wollte ja gerne in St. George heiraten. Das ist jetzt wohl erledigt, also können wir das Stadthaus bis zur nächsten Saison schließen. Bis auf den üblichen Notbetrieb natürlich.“
Miss de Vere nickte. „Sehr freundlich, dass Sie nichts gegen diesen etwas überraschenden Plan einzuwenden haben. Und zur nächsten Saison sind Sie wieder in der Stadt?“
„Vermutlich. Schließlich muss ich ja auch noch unter die Haube gebracht werden, danach können sich meine Eltern beruhigt zurücklehnen.“
„Das habe ich glücklicherweise schon hinter mir, ich bin immerhin verlobt. Meine Eltern müssen nur noch diese meine Brüder unter die Haube bringen – nun ja, vielleicht in der nächsten Saison? Der Ältere heißt Michael de Vere, Lord Friston, und der Jüngere ist William de Vere.“
„Das ist so ähnlich wie bei uns – also ist Ihr Vater auch ein Earl?“
Miss de Vere nickte und sah zur Tür: „Oh, da kommen ja weitere Gäste, immerhin sehen sie recht ausgeschlafen aus!“
Allmählich füllte sich der Ballsaal, aber von Eliana war immer noch nichts zu sehen – alle anderen versammelten sich aber vergnügt, unterhielten sich angeregt und freuten sich sichtlich auf das Tanzvergnügen und das anschließende Souper. Mary überlegte, wo man das stattfinden lassen wollte – der Lunch war ja auch im Ballsaal abgehalten worden. Wie oft wollte man hier denn noch umräumen lassen?
Louisa hatte sich bereits unter die anderen Gäste gemischt, so konnte Mary selbst ihre Mutter aufsuchen und sich erkundigen, wie und vor allem wo das Souper geplant war. Lady Daleham seufzte. „Allmählich hätte ich Lust, zu Bett zu gehen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Wir hätten das Ganze in Haring House machen sollen, dann hätte Elianas Familie die Kosten und die Arbeit – und sie könnten alle diese Gäste unterbringen!“
„War es nicht so geplant, bevor das Schloss im Norden niedergebrannt ist?“
„Ich weiß es schon war nicht mehr, es hat so viele Hiobsbotschaften und Änderungswünsche gegeben, dass ich längst den Überblick verloren habe.“
„Denk an morgen Abend, Mama, da sitzt du friedlich im gelben Salon auf Dale und die Hochzeit ist Geschichte. Eliana wird auch froh sein, wenn das alles überstanden ist. Ich denke, nach Schottland durchzubrennen hat auch seine Vorteile…“
„Mary!“
„Das war ein Scherz, Mama. Oh, schau doch, wer uns noch die Ehre gibt!“
In zart blaugrüne Seide gehüllt, stand Eliana etwas schüchtern an der Tür; Mary packte das Mitleid und sie ging ihr entgegen, lächelnd.
„Mich hat niemand geweckt…“, murmelte Eliana.
„Tatsächlich? Ich hatte Doris gebeten, deine Trish zu informieren und sie zu bitten, dich rechtzeitig zu wecken. Hat Trish das nicht getan?“
„Doch, aber das war wohl zu knapp, meine Frisur…“ Eliana hob eine zarte Hand an den silberblonden Knoten, der von zierlichen Löckchen umgeben war.
Mary lobte das Ballkleid und die kunstvolle Frisur, während sie überlegte, ob Eliana jetzt nicht zwei völlig verschiedene Begründungen? Ausreden? vorgebracht hatte.
„Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Wieso denn ich? Das wäre doch wohl etwas aufdringlich gewesen, meinst du nicht? Außerdem wollte ich Mama bei der Kontrolle des Ballsaals beistehen. Er ist hübsch geworden, nicht wahr?“
„Ja, sehr nett…“
„Komm, wir wollen mit dem Tanz beginnen – und Arthur und du sollten ja zuerst alleine tanzen, nicht wahr?“
Eliana folgte ihr brav zu Lord und Lady Daleham, auf ein Zeichen intonierte das Orchester einen Tusch und der Earl of Daleham ließ noch einmal das Brautpaar leben. Arthur trat mit Eliana auf die Tanzfläche, ein Walzer erklang und sie wirbelten über das Parkett. Eliana tanzte sehr leichtfüßig, stellte Mary neidlos fest – und sie sah wirklich aus wie eine Märchenfee, so zart und blond…
Arthur lächelte sie innig an – schön, es war wirklich eine Liebesheirat, genauso wie bei Charles und Moira. Die hatten mit der kleinen Barbara ja auch schon ein Baby. Die Derings waren wohl wirklich vom Glück begünstigt!
Alle sahen dem Tanz des Brautpaars zu, dann gesellten sich Charles und Moira zu ihnen und Marys Eltern folgten ihnen.
Schließlich tanzten fast alle, Mary allerdings kümmerte sich lieber darum, dass einige ältere Gentlemen, die nicht tanzen wollten, und einige tratschende ältere Ladys, für die das Gleiche galt, Erfrischungen bekamen. Vielleicht konnte man den Bereich des Buffets und das Spielzimmer sogar später für das Souper nutzen? Auch schwierig… wenn diese Hochzeit nur bald überstanden wäre… der junge Mann, der während des Lunchs so stumm neben ihr gesessen hatte, bat sie um den nächsten Tanz und sie akzeptierte natürlich, war aber doch leicht verblüfft.
Sobald sie zu tanzen begonnen hatten, fragte sie also doch etwas spitz, ob die hübsche Doppelgängerin der Braut etwa schon vergeben sei.
„Wer? Ach so, die Dame, die uns gegenüber saß? Nein, aber ich habe wohl bei Ihnen etwas gutzumachen, oder? Beim Lunch habe ich Sie ja sträflich vernachlässigt.“
„Nun ja, ich habe es überstanden, nicht wahr?“
„Natürlich! Aber ich fand mein Benehmen im Nachhinein doch etwas unbefriedigend – eigentlich hat man mich wirklich besser erzogen. Das würde zumindest meine Mutter feststellen und mich streng mustern… Vorgestellt hatte ich mich doch wenigstens?“
„Keine Sorge! Wie war das gleich wieder? Ah ja, Sie sind Sir Marcus Pemberton und haben mit der Familie der Braut nichts zu tun. Weitere Rätsel haben Sie nicht gelöst.“
„Ich bin untröstlich! Lassen Sie mich überlegen: Sie wüssten gerne, wer mich eigentlich auf diese Hochzeit eingeladen hat?“
„Das wäre tatsächlich interessant. Eliana kann es ja schlecht gewesen sein?“
„Eliana?“
„Die Braut, dort tanzt sie mit meinem Bruder Arthur – er ist der frischgebackene Ehemann.“
„Lord Arthur Dering?“
„Richtig. Er ist mein jüngerer Bruder.“
„Jünger als Sie? Du lieber Himmel, wie alt ist er denn?“
„Fünfundzwanzig, warum?“
„Sie sehen eigentlich nicht aus, als seien Sie älter als fünfundzwanzig“, entfuhr es ihm und sie lachte vergnügt auf.
„Nein, das haben Sie missverstanden. Arthur ist jünger als Charles, der hat als Erbe einen eigenen Titel, Viscount Deele. Ich bin hier nur die kleine Schwester, geboren gerade noch im vorigen Jahrhundert. Sind Sie jetzt im Bilde?“
„Vollkommen. Und Sie?“
„Nein. Wer hat Sie denn nun eingeladen?“
„Arthur natürlich. Ich habe einen Besitz in der Nähe von Dale geerbt und wir sind uns des Öfteren begegnet, bei Ausritten und Spaziergängen.“
„Ja, Arthur liebt es, draußen zu sein. Ich hoffe, Eliana teilt diese Vorliebe… Moment! Warum lassen Sie mich denn alle diese Plattheiten erzählen, wenn Sie ohnehin alles wissen?“
Er gluckste. „Ich konnte einfach nicht widerstehen…“
„Morgen kehren wir auch nach Dale zurück. Sollte ich Ihnen dort irgendwo begegnen, werde ich mich fürchterlich rächen!“
„Und wie wollen Sie das tun?“
„Das verrate ich Ihnen doch jetzt noch nicht – das sehen Sie dann schon…“ Sie lächelte ihn an und hoffte, dass es bedrohlich wirkte, vielleicht sogar Angst einflößend?
Leider wirkte es nicht so, er feixte sie vergnügt an und küsste ihr die Hand, denn der Walzer war gerade verklungen. „Was werden Sie jetzt tun?“
„Alles ein wenig im Auge behalten, denke ich, Mama kann das nicht alles alleine beaufsichtigen – und die Brautleute sollen sich ja schließlich unbesorgt amüsieren können.“
„Sehr vorbildlich!“
„Ach, gar nicht, ich verstehe mich sehr gut mit meiner Mutter. Eigentlich mit allen in der Familie, wenn ich so darüber nachdenke. Wie ist das bei Ihnen?“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, Sie haben doch sicher auch eine Familie – verstehen Sie sich auch mit allen gut?“
„Meine verwitwete Mutter lebt in Bath, mit meiner Schwester, die dort hoffentlich noch einen geeigneten Ehemann finden wird.“
„Hoffentlich noch…?“ wiederholte Mary. „Wie alt ist sie denn? Und wie heißt sie?“
„Sie heißt Venetia und ist zweiundzwanzig, fünf Jahre jünger als ich. Warum sie noch nicht geheiratet hat, weiß ich auch nicht, sie hatte durchaus Angebote…“
„Na, man kann doch auch nicht den ersten Besten nehmen, oder? Und ich habe schon sehr kuriose Gestal- äh, Gentlemen angetroffen, als ich mich notgedrungen in den letzten Monaten in den Ballsälen aufhalten musste. Unglaublich, was es für dumme Menschen gibt.“
„Nur Männer?“
„Es gibt auch dumme Frauen, aber die werden ja zum Teil auch nicht zum Denken erzogen. Die Herren aber doch eigentlich schon, oder?“
„Nun ja, das denkt man wohl so, aber wenn ich an Winchester zurückdenke, war es in der Schule mit dem selbstständigen Denken nicht so arg weit her. Und über die griechische und römische Geschichte haben wir deutlich mehr gelernt als über aktuelle Probleme, zum Beispiel hier in England. Natürlich erfahren die jungen Mädchen noch sehr viel weniger wirkliches Wichtiges, Venetia hat darüber auch schon sehr geschimpft.“
„Mary, würdest du dich bitte einmal um die alten Damen vor dem Kamin kümmern. Sie scheinen sich tatsächlich etwas vernachlässigt zu fühlen!“ Lady Daleham eilte gleich weiter zum nächsten Problem, ohne auf eine Antwort ihrer Tochter zu warten.
Mary seufzte. „Dann vielleicht bis später einmal, Sir Marcus…“
Die älteren Damen vor dem Kamin amüsierten sich prächtig mit uralten Klatschgeschichten und betrachteten sich die Tochter des Hauses etwas befremdet, bis Mary fragte, ob sie vielleicht noch eine Runde Erfrischungen haben möchten. Das war offenbar die richtige Frage und als Mary einen Diener mit einem Tablett voller Sherry- und Weingläser herbeieilen ließ, war die Stimmung eindeutig noch prächtiger.
Mary wünschte weiterhin gute Unterhaltung, wechselte einige Worte mit Charles und Moira, erkundigte sich bei Gästen, deren Namen sie kaum im Gedächtnis behalten hatte, ob sie sich gut amüsierten, und sah den Tanzenden zu, die begeistert über das Parkett wirbelten, in der Mitte immer Arthur und Eliana.
Nun, wenn die beiden glücklich waren, stimmte ja auf jeden Fall die Hauptsache!
Die Musik wurde zunehmend von anderen Geräuschen unterlegt; die Tänzer störte das offenbar nicht, aber Mary wunderte sich doch; da alle Gäste gut beschäftigt schienen, schlich sie sich aus dem Ballsaal und ging den Geräuschen nach; schließlich fand sie ihre Mutter im großen Speisezimmer, wo sie nicht ohne Nervosität die Diener dirigierte, die dort die Soupertafel aufbauten. Das also war das merkwürdige Geräusch gewesen, das Herumschieben der Tische, die die normale Tafellänge erweitern sollten!
„Ach, Mary – es ist wirklich furchtbar, dieser Saal ist einfach zu kurz! Sieht nur, dort hinten!“ Mary nickte: Das Tafelende stieß praktisch an die Wand, niemand hätte seinen Platz auf der Fensterseite erreichen können, ohne die Tafel vollständig zu umrunden.
„Nein, das ist nichts, da gebe ich dir recht…“, sinnierte Mary. „Können wir die Tafel nicht in L-Form aufbauen?“
Der Butler begann zu lächeln; Lady Daleham überlegte noch. „Die letzten zwei Tische, meinst du? Das wären acht oder zwölf Personen… dann müsste es reichen – aber kommen wir da nicht zu nahe an die Fenster?“
„Nicht, wenn wir die ganze lange Tafel ein Stück näher zu den Türen rücken, Euer Ladyschaft“, merkte Caling an und vollführte seine eleganteste Butlerverbeugung.
Lady Daleham nickte resigniert und die Diener zogen alle Tische zugleich ein Stück in Richtung der Türen. Mary kicherte hilflos: „Das hat man im Ballsaal bestimmt gehört!“
„Ach ja, der Ballsaal, ist dort alles in Ordnung?“
„Aber gewiss doch, Mama. Alles tanzt, trinkt und tratscht. Den größten Spaß haben wohl die alten Ladys beim Durchhecheln alter Skandale und verborgener Verwandtschaften. Ob ich später wohl auch einmal so werde?“
„So werden wir wohl alle – in diesem Alter wissen wir zu viel und haben zu wenig zu tun“, antwortete ihre Mutter nachdenklich und beobachtete die Bediensteten, wie sie die Tische in die ideale Anordnung brachten.
„Schön… das war eine gute Idee, Mary. Nur – wen setzen wir an dieses mindere Ende?“
„Müssen wir da so hochvornehm sein? Das Brautpaar an den Ehrenplatz, euch beide auf die eine, Charles und Moira auf die andere Seite – und alle anderen sollen sich selbst einen Platz suchen, ganz ungezwungen?“
Seufzen. „Wenn du meinst – eine andere Idee habe ich auch nicht…“
Allmählich wurde Mary ungeduldig – sie konnte doch nun am wenigsten dafür, dass die Planung weder von Mama noch von Eliana wirklich gründlich durchdacht worden war! Und während sich alle anderen beim Tanz amüsierten, stand sie hier und sollte die Sitzordnung in diesem eigentlich zu kleinen Raum retten! „Ich schaue wieder in den Ballsaal“, verkündete sie also eilig, bevor sie womöglich noch beim Tischdecken helfen sollte. Sie war ein Gast wie alle anderen auch, zum Teufel!