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Alicia Sheridan, die älteste Tochter von Viscount Sherwood auf Sherwood kümmert sich um den Besitz, um ihre Geschwister und um die Verwaltung - zusammen mit ihrem Vater, da die Viscountess an einer rätselhaften Schwäche leidet. Eines Tages fragt ein fremder Reiter nach dem Weg, fällt aber vor lauter Höflichkeit vom Pferd, direkt auf den Kopf. Er wird zur Pflege in eins der Gästezimmer gebracht und es stellt sich heraus, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Alicia findet ihn nett, ihr Vater freut sich über einen erwachsenen Mann im Haus und die Kinder platzen fast vor Neugierde. Stück für Stück füllen sich die Gedächtnislücken, vor allem, als der Gast mit dem Viscount nach London fährt. Der Gast ist James Bournes, ein schon recht bekannter Ermittler bei Fällen in besseren Kreisen - und er soll den Marquess of Telham ausfindig machen, der mit seinem exzessiven Spielen sein Marquisat ruiniert hat und nun offenbar verschwunden ist. Vielleicht sitzt er ja in einer zahlreichen Höhlen und Hütten in der Nachbarschaft und überlegt, womit er seine Spielschulden bezahlen kann, denn niemand mehr würde ihm auch nur einen Penny leihen oder schenken... Man erfährt viel über die Nachbarschaft, auch über Alicias lästige Verehrer - und Alicia beteiligt sich begeistert (und recht scharfsinnig) an den Ermittlungen. Dabei kommen sie und Bournes sich allmählich näher... Schließlich wird Telham entdeckt und die Situation explodiert geradezu - aber Alicia und Bournes können sich endlich verloben!
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Seitenzahl: 345
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Imprint
Ermittlungen auf dem Land. Historischer Roman
„Miss Sheridan?“
Alicia wandte sich dem Butler zu, während sie ihrem unwilligen Bruder Rührei auf den Teller gab: „Ei ist gesund, Daniel! Es macht dich kräftig und stark! Iss! Ja, Pelling, was gibt es denn?“
„Der Doktor ist da, für die Viscountess.“
Für wen auch sonst, dachte Alicia mit einem Hauch Verachtung, deren sie sich sofort schämte. „Sagen Sie Liza Bescheid, wer weiß denn, ob Mama schon präsentabel ist!“
Nicky und Cressy, ihre kleinen Schwestern, machten sich bereits eifrig über ihre Teller her, Cressy monierte nur das Grüne in der Eierspeise. „Das sind nur Kräuter, die sind doch lecker. Und gesund!“
Damit setzte sie sich auch und nahm ihr eigenes – schon etwas kaltes – Frühstück in Angriff. Daniel maulte leise vor sich hin, aß aber stetig, Nicky hatte einen gesegneten Appetit, vielleicht sogar einen allzu gesegneten, ihr Morgenkleid saß recht stramm, sie brauchte wohl bald ein neues. Gut mit elf, bald zwölf Jahren begann sie wohl langsam heranzuwachsen… Alicia machte sich im Geist eine Notiz, nachzusehen, ob in den Nähten noch etwas Spielraum war oder ob das Kleid in Cressys Kleiderschrank umziehen musste.
Kaltes Rührei war keine kulinarische Offenbarung, aber so lief es fast bei jedem Frühstück – bis ihre Geschwister versorgt waren, war ihr Teller eben kalt. Und so luxuriös, dass man beim Frühstück von Schüsseln auf Wärmeplatten wählen konnte, war es auf Sherwood Hall eben nicht, aber das tat doch nichts zur Sache, denn hier war es wirklich nett! Eine reizende Umgebung, nette Nachbarn – zumeist, zwei Nachbarn waren schon etwas penetrant und verstanden abweisendes Verhalten leider so gar nicht. Papa war freundlich und hatte schon eingesehen, dass er etwas Unterstützung bei der Führung des Besitzes brauchte, die Kinder waren ganz besonders lieb (meistens) und Alicia machte es wirklich Freude, sie zu unterrichten, damit man die Gouvernante noch eine Zeitlang ersparen konnte.
Nun, und Mama? Sie trug wenig zum Familienleben bei, aber sie war eben kränklich, der Arzt ging in Sherwood Hall ein und aus. Immerhin waren seine Rechnungen nicht besonders hoch, dafür reichte es gerade noch.
Seit über fünf Jahren lag sie jetzt schon mehr oder weniger abwechselnd im Bett und auf dem Sofa im Salon, letzteres natürlich mit Riechfläschchen, Taschentüchern, Kräutertee und einer Schachtel Pralinés aus dem Vienna Café ausgestattet. Dort empfing sie auch Besuche, die allerdings zunehmend an Häufigkeit nachließen - die Beschreibung rätselhafter Leiden mit ersterbender Stimme schien dieBesucher wohl nicht mehr so sehr zu interessieren. Alicia konnte das, obwohl sie sich für ihre kritische Sicht auf die eigene Mutter etwas schämte, ehrlicherweise auch nachvollziehen, denn Mama hatte an ihrer Familie, vor allem ihren jüngeren Kindern, und an der Situation auf Sherwood Hall offenbar gar kein Interesse mehr.
Papa suchte seine Gemahlin auch nur selten auf; einmal berichtete er seiner Ältesten nicht ohne Empörung, Mama habe auf seine Berichte über den Besitz und über das Heranwachsen der Kinder nur mit der Klage reagiert, dies alles verstärke nur ihre Kopfschmerzen und ihr Herzklopfen.
Der Arzt allerdings, Mr. Graham, verlangte wohl auch deshalb recht wenig für seine medizinische Betreuung, weil er gegen die Zustände der Viscountess Sherwood nicht viel unternehmen konnte und ab und zu Alicia gegenüber durchblicken ließ, er halte so manches einfach für Einbildung – ginge die Viscountess ab und zu an die frische Luft, sei es mit den Kopfschmerzen gewiss bald vorbei – und wenn man den ganzen Tag nur lag, sei es auch kein Wunder, wenn man des Nachts nicht so recht in den Schlaf finden konnte…
Alicia hatte anfangs auch umschichtig eins der kleineren Kinder mitgenommen, wenn sie ihre Mutter besuchte, aber deren Begeisterung hielt sich in engen Grenzen – das Kind war zu laut, es stellte lästige Fragen, es berührte die Mutter, was sich nicht gehörte… also ließ sie es bald und Berenice, Cressida und Daniel, der lang ersehnte Erbe, hatten ihre Mutter mittlerweile wohl nahezu vergessen.
Mama war schon vor Daniels Geburt so seltsam gewesen und manchmal beschlich Alicia der Verdacht, dass ihre Mutter es vermeiden wollte, sich um die Kinder und um Haus und Hof zu kümmern. Konnte man sich in eine Krankheit flüchten? Weil einem alles zu viel wurde, vielleicht? Sollte sie Dr. Graham einmal danach fragen? Na, lieber nicht heute, vielleicht fand er sie nur unverschämt? Fehlte es ihr am kindlichen Respekt?
Vermutlich, aber wenn man seit dem vierzehnten Jahr nahezu alle Aufgaben der Mutter übernehmen musste, während die Mutter sich vollständig zurückgezogen hatte, ohne eine erkennbare Krankheit – für ein Kind erkennbare Krankheit – zu haben? Sicher, sie hatten eine Köchin und Mama auch eine Zofe, für die Kinder war eine Nanny vorhanden, die aber schon älter und mit gleich drei Kindern überfordert war.
Dazu kam aber noch, dass Papa sich zwar gut um die Landwirtschaft kümmerte, aber den Küchengarten und den Verkauf der Ernten zunehmend Alicia überließ. Da er wirklich nicht besonders rechnen konnte, war diese Entscheidung wohl auch ganz vernünftig…
Das hieß aber auch, dass sie festsaß, bis ihre Schwestern verheiratet waren und Daniel mindestens mit der Schule fertig war – dann war sie Anfang dreißig, wenn nicht noch älter. Heiraten konnte sie so bestimmt nicht mehr.
Nun, anderen ging es wohl ähnlich – manche hatten ihre Mutter früh verloren und mussten zugleich gegen den Bankrott des Besitzes ankämpfen, so schlimm war es hier immerhin nicht, im Gegenteil.
Aber wenn sie in Mamas Schlafzimmer trat oder den Salon trat, wo ihre Mutter dann gemütlich auf dem größten Sofa lag, Pralinés naschte, einen Roman las und in Wehklagen ausbrach, sobald ihre Älteste durch die Tür kam, konnte sie den Ärger kaum verbergen. Immerhin bemühte sie sich, einigermaßen höflich zu wirken!
Rühreier und alles andere waren nun verspeist; Daniel durfte im Kinderzimmer spielen, die Mädchen schickte Alicia ins Schulzimmer und folgte ihnen dann hinauf, wo sie mit Nicky – niemand rief sie Berenice – einen eher schlichten französischen Text besprach und sie dann bat, ihn zu übersetzen und danach mit Cressy – Cressida – über den Trojanischen Krieg sprach, denn immerhin kam dort ja (bei Shakespeare) eine Cressida vor; Cressy sollte das Wichtigste in einem kurzen Text zusammenfassen. Beide Mädchen gingen mit mäßiger Begeisterung an die Arbeit, aber immerhin!
Das Hausmädchen Betty klopfte an die Tür des Schulzimmers und schaute herein: „Miss? Mr. Pelling schickt mich, Sir Horatio ist eingetroffen. Er wartet im Salon…“
„Wunderbar“, murrte Alicia halblaut. „Na gut. Nicky, Cressy, ihr arbeitet bitte ordentlich weiter, ich bin schnell wieder zurück!“
Sie folgte Betty nach unten und betrat den Salon, wo Sir Horatio artig aufstand und sich verneigte, nicht ohne leises Knarren seines Korsetts.
„Sir Horatio, einen guten Morgen wünsche ich.“ Mit diesen Worten setzte sie sich und forderte ihren Gast auf, sich ebenfalls wieder niederzulassen.
„Es geht Ihnen gut, Miss Sheridan?“
„Natürlich, warum denn nicht?“
„Nun, ich fürchte, Sie haben hier schon recht viel zu tun – oder täusche ich michda?“
„Ja, Sie täuschen sich, wie ich Ihnen, Sir Horatio, schon mehrfach dargelegt habe. Ja, ich habe viel zu tun, aber das macht mir auch Freude!“ Sie sah ihn kriegerisch an, aber wie üblich half das gar nichts.
„Sicher, sicher“, antwortete er mit nicht nur einem Hauch Gönnerhaftigkeit, „aber für eine Lady ist das doch nichts! Eine Lady sollte sich verwöhnen lassen, ihr Personal mit dem Heben einer Braue dirigieren und – nun ja, all solche Dinge?“
„Ein Drittes ist Ihnen nicht mehr eingefallen? Nun, kein Wunder, was bleibt denn, wenn außer Herumliegen und Dienstboten herumzuscheuchen alles nicht ladylike ist. Entsetzliche Vorstellung!“
Er lachte nachsichtig. „Das können Sie doch noch gar nicht beurteilen, so jung wie Sie sind! Es hat Sie doch auch noch niemand wirklich verwöhnt, nicht wahr?“
„Glücklicherweise nicht!“, entgegnete Alicia scharf. „Ich hätte mich zu Tode gelangweilt, weil ich es nicht mag, wenn ich nichts Sinnvolles zu tun habe.“
Er lachte noch nachsichtiger. „Und was, verehrte Miss Sheridan, nennen Sie denn äh – sinnvoll?“ Dabei tätschelte er selbstzufrieden seine sehr runde Körpermitte, was Alicia etwas unappetitlich fand.
„Sinnvoll ist es, mich um meine kleinen Geschwister zu kümmern, den Haushalt hier auf Sherwood House zu überwachen, die Pächter im Auge zu behalten, Papa dabei zu helfen, Vieh und Ernten möglichst gewinnbringend zu verkaufen und die Zeitung zu studieren, um über die britische Politik informiert zu sein.“
Sie sah ihn triumphierend an und er war, wie zu erwarten, entsetzt: „Z-zeitung? Das ist doch nichts für Ladys! Und warum hat Lord Sherwood keinen Verwalter und keine Gouvernante?“
„So viel wirft Sherwood noch nicht ab – und die Kinder gehorchen mir bestimmt besser als so einer armen Gouvernante! Sir Horatio, was soll das alles? Warum versuchen Sie immer wieder, mich in Watte zu packen, damit ich darin ersticke?“
„Weil Sie es verdienen, liebste Miss Alicia.“
„Miss Sheridan“, korrigierte Alicia verdrießlich, „ich habe keine ältere Schwester. Und womit habe ich bitte diese Drohungen verdient?“
„Warum denn Drohungen, liebste Miss Sheridan? Das sind Versprechungen! Als Lady Eversham würden Sie rund um die Uhr verwöhnt!“
„Abscheuliche Vorstellung! Lieber Sir Horatio, bitte suchen Sie sich doch eine Frau, die mit dieser Schonbehandlung glücklich werden kann! Ich würde wirklich vor Langeweile sterben. So, und jetzt kehre ich ins Schulzimmer zurück!“
In der Tür drehte sie sich noch einmal um: „Gehaben Sie sich wohl, Sir – ach, und kennen Sie eigentlich Miss Usherton?“
„W-was meinen Sie?“
„Ich glaube, sie wüsste die Idee, rundherum verwöhnt zu werden, eher zu würdigen als ich…“
Damit eilte sie schon zur Treppe, während Pelling den Besucher zur Tür brachte und diese hinter ihm nicht ohne Nachdruck schloss. Das ließ Alicia kurz lächeln, dann eilte sie weiter.
Aus dem Schulzimmer drangen Stimmen – aha, Daniel war auch dort und die drei zankten sich wieder einmal! Also stieß sie die Tür recht energisch auf und fragte: „Was ist jetzt wieder los? Nicky?“
„Warum fragst du Nicky zuerst?“, begehrte Cressy sofort auf. „Die lügt doch bestimmt wieder!“
„Ich denke eben, sie ist die Ältere und damit vielleicht auch die Vernünftigere. Also, Nicky? Nein, Cressy, du kannst dich danach äußern!“
Nicky wirkte etwas verlegen. „Das Tintenfass ist - also, es hat etwas gewackelt und nun ist ein bisschen Tinte auf Cressys Buch gespritzt und sie kann diesen Satz nicht lesen…“
„Cressy?“
„Ja, schon, aber sie ist gegen das Tintenfass gestoßen!“
„Cressy, das ist nicht das Wichtigste. Habt ihr Vorschläge, wie man die Buchseite retten kann?“
Nicky und Cressy wechselten ratlose Blicke und Alicia half ihnen ein wenig: „Ist die Tinte denn schon trocken?“
„N-nein.“
„Was könnte man also tun?“
„Die Tinte aufsaugen?“
„Und womit?“
Cressy zog ihr Taschentuch und Alicia schüttelte traurig den Kopf. „Das wird hinterher bestimmt nie mehr sauber. Haben wir nichts, worum es weniger schade ist?“
Cressy schlug den Lappen vor, mit dem immer die Schultafel gewischt wurde.
„Gute Idee, Cressy, aber versuche es mit einer trockenen Ecke. Eine nasse saugt keine Flüssigkeit auf, die hat ja schon Wasser aufgenommen. Versuche es nur!“
Cressy näherte sich mit dem trockenen Zipfel des Putzlappens der Buchseite.
„Ganz vorsichtig, dann siehst du, wie der Lappenzipfel die schwarze Farbe aufsaugt“, erklärte Alicia.
Auch Nicky und Daniel sahen gebannt zu – und dann färbte sich die Lappenspitze schwarz und alle sahen zu Alicia auf. „Woher weißt du so etwas?“
„Ich habe doch schon öfter Flüssigkeiten aufgetupft – und ich interessiere mich für Naturwissenschaften. Obwohl viele Männer glauben, das sei nichts für Frauen“, fügte sie gedankenverloren hinzu.
„Warum nicht?“
„Sie glauben, wir hätten dazu zu wenig Verstand. Aber das ist natürlich Unsinn!“
Nicky und Cressy freuten sich. „Dann sind wir gescheiter als Daniel?“
Daniel schob prompt die Unterlippe vor und Alicia beeilte sich, einzugreifen. „Ihr seid ja auch älter als Daniel. Wenn ihr alle drei erwachsen seid, so etwa in sechzehn, achtzehn Jahren, müsstet ihr alle gleich gescheit sein – wenn ihr fleißig lernt, heißt das natürlich! Cressy, kann man die Buchseite wieder lesen?“
„Naja, schon…“
„Dann such dir die Antworten auf meine Fragen bitte heraus. Daniel, setz dich bitte zu mir, wir fangen mit den Buchstaben an!“
Sie übte mit ihm die ersten drei Buchstaben des Alphabets und trug ihm dann auf, sich fünf Wörter mit einem A darin zu überlegen.
« Alors, Mademoiselle Bérénice, comment ça va ? »,fragte sie ihre älteste Schwester und Nicky musste etwas überlegen, dann sagte sie artig: „Très bien, Madame! “
„Assez bien, ma chère. Aber ich bin keine Madame, sondern Mademoiselle Sheridan. Eine verheiratete Frau hättest du aber durchaus richtig angeredet, gut gemacht!“
Nicky strahlte.
„Daniel, hast du fünf Wörter gefunden?“
„Ich weiß nicht, ob ich noch alle weiß“, antwortete er etwas kleinlaut.
„Dann sag die, die du noch weißt!“
„Alicia…“
„Sehr gut, sogar gleich zweimal A, das zählen wir doppelt, einverstanden? Und weiter?“
Es klopfte an der Schulzimmertür und Betty schaute herein. Dann trat sie ein und knickste. „Miss, es tut mir leid, aber Mr. Pelling schickt mich – es ist schon wieder ein Besucher gekommen!“
Alicia gab einen eher unhöflichen Laut von sich und sah nach der Uhr: Viertel vor zehn? Das war keine Besuchszeit!
„Mr. Elton?“, vermutete sie also resigniert.
„Das hat Mr. Pelling nicht gesagt, Miss.“
„Na gut, ich gehe hinunter und bin streng mit Mr. Elton. Glaubt er, ich habe nichts Besseres zu tun? Nicky, könntest du bitte mit Daniel die übrigen Wörter suchen? Und Cressy achtet darauf, dass das Tintenfass nicht noch einmal zu kippen droht!“
Im Salon sprang ein sehr junger und sehr modisch angetaner Gentleman auf, als sie eintrat, und rief: „Oh, Miss Sheridan! Meine tiefste Verehrung! Ich habe die Minuten gezählt, bis ich Sie sehen konnte?“
Alicia bemühte sich um eine strenge Miene – dieses theatralische Bürschlein! „Wozu denn das? Im Übrigen einen guten Morgen.“
„Warum sind Sie so kühl zu mir, Verehrteste? Freuen Sie sich denn gar nicht, mich zu sehen?“
Er entblödete sich nicht, die Hand dramatisch auf sein Herz zu pressen und Alicia konnte ein Augenrollen nur unvollständig unterdrücken.
„Ganz ehrlich, ich bin gerade dabei, die Kinder zu unterrichten – und Sie haben mich dabei gestört. Es ist noch lange nicht Besuchszeit!“
„Aber Eversham, dieser alte… war doch auch schon da?“
„Der hat mich genauso gestört. Und woher wissen Sie das überhaupt?“
Mr. Elton lächelte schlau, besser gesagt, versuchte er es. „Ich muss meinen Rivalen doch im Auge behalten?“
„Sie sind keine Rivalen, Mr. Elton. Sie sind beide einfach Nachbarn – und ich möchte nicht, dass Sie täglich hier vorsprechen, mich von der Arbeit abhalten und Süßholz raspeln. Das gilt für Sie beide, vielleicht könnten Sie Sir Horatio entsprechend informieren?“
„Huh!“
„Ja, das wagen Sie nicht! Mr. Elton, ich danke für Ihren Besuch, aber jetzt muss ich wieder ins Schulzimmer – und auch für den Rest des Tages habe ich allerlei Wichtiges zu erledigen!“
Sie erhob sich und zog den Klingelzug, Pelling erschien und verbeugte sich.
„Pelling, begleiten Sie Mr. Elton zur Tür. Er soll mir ein anderes Mal zur Besuchszeit willkommen sein, aber nun habe ich etwas tun. Gehaben Sie sich wohl, Mr. Elton!“
Während dieser – jeder Zoll gekränkte Eitelkeit – zum Portal geleitet wurde, eilte Alicia wieder nach oben, wo verdächtige Ruhe herrschte.
„Nun, wart ihr schön fleißig?“, fragte sie in der Tür des Schulzimmers.
„Ja!“ rief Daniel, vor Begeisterung zappelnd, „Nicky hat es mir noch einmal erklärt! Also, ich habe Alicia, das sind zwei A, aber die kennst du ja schon. Dann Cressida, da ist hinten ein A, dann Anna, das ist Nickys Freundin auf The Larches – und ist da nicht auch ein A drin?“
Alicia lobte ihn: „Das sind sogar sechs A, wunderbar, Daniel. Pass auf, ich schreibe die Wörter auf ein großes Blatt Papier und du malst die As in Rot an, ja?“
„Au ja!“
„Natürlich zeigst du uns immer ein A, bevor du es anmalst“, mahnte Nicky und grinste ihrer großen Schwester zu.
Hinterher waren alle sehr zufrieden, auch Cressy war es gelungen, die Informationen aus dem nur noch leicht tintenbeklecksten Buch zusammenzufassen – und Nicky hatte einen französischen Dialog nahezu fehlerfrei niedergeschrieben!
Also durften sie spielen, von Nanny Riley nachsichtig beaufsichtigt, und für den Nachmittag kündigte Alicia ihnen einen kleinen Ausritt an, denn jedes Kind besaß – natürlich – ein Pony und alle drei ritten schon sehr gut.
„Aber erst nach dem Lunch!“
Ach, der Lunch… Alicia eilte in die Küche und besprach sich mit der Köchin, die schon Vorschläge bereit hielt. Abnicken genügt wieder einmal.
Als nächstes suchte sie ihren Vater auf und erkundigte sich nach der vermutlichen Ernte und den zu erwartenden Preisen. „Ich wäre sehr froh, wenn du mich zum Händler begleiten würdest,“ gestand Lord Sherwood. „Beim letzten Mal hat er etwas mehr geboten, als du auf die Qualität des Korns hingewiesen hast.“
„Aber gerne! Wenn wir etwas mehr einnähmen, könnten wir manche der Pächterkaten neu decken und vielleicht den Küchengarten vernünftiger anlegen. Und langfristig bräuchten wir eine Gouvernante – ich unterrichte die Kinder wirklich gerne, aber alles weiß ich ja nun auch nicht.“
Lord Sherwood seufzte. „Das wird nicht ganz billig – aber die Kinder müssen natürlich vernünftig ausgebildet werden, bis zumindest Daniel nach Harrow kann.“
„Warum ausgerechnet Harrow?“
„Da bin ich auch erzogen worden, die Schule ist gut!“
„Ein Anliegen hätte ich noch – kann ich Pelling bitten, Eversham und Elton abzuweisen, wenn sie wieder außerhalb der Empfangszeiten auftauchen, um mir die Zeit zu stehlen. Er kann ja sagen, sie möchten um elf zurückkommen!“
„Diese beiden Nervensägen! Natürlich, sag Pelling Bescheid.“
„Vielen Dank, Papa. Dann werde ich einmal nach Mama sehen und mich dann in den Salon setzen, obwohl ja meine lästigen Verehrer schon vor Tau und Tag erschienen sind. Aber man weiß schließlich nie, nicht wahr?“
Er nickte freundlich und sie eilte hinauf zum Zimmer der Countess.
Ihre Mutter lag im Bett, das ihre Zofe vermutlich gerade erst frisch aufgeschüttelt und geglättet hatte, damit Mylady es auch bequem hatte. Mylady hatte eine Hand auf ihre Stirn gelegt und jammerte leise vor sich hin. Auf dem Tischchen neben dem Bett standen eine leere Tasse mit leichten Schokoladespuren, ein mit Zucker und Schokolade verschmierter abgegessener Teller, ein leeres Wasserglas, ein offenbar halb gelesener Roman und eine Flasche französischer Lotion für eine zarte, jugendliche Gesichtshaut, daneben einige benutzte Tücher.
Alicia musterte das Durcheinander angewidert und warf der Zofe mit gehobenen Brauen einen tadelnden Blick zu. Sofort machte sich Liza daran, wenigstens das Geschirr zu entfernen.
„Mama, wenn du Kopfschmerzen hast, solltest du aber nicht lesen, das verstärkt die Schmerzen doch nur?“
„Ach, mein Kind, das verstehst dunicht!“
„Das scheint mir auch so. Wäre ein Spaziergang an der frischen Luft – einmal durch den Park? – nicht belebender?“
„Nein. Das wird mir alles zu viel…“
„Was denn genau? Vielleicht könnten wir ja etwas ändern, so dass es dich weniger belastet?“ Damit setzte Alicia sich auf die Bettkante und musterte ihre Mutter gründlich – bleich, nervös (diese Zuckungen!) und eingefallene Wangen…
„Nein… darüber muss ich nachdenken, aber das ist ja auch so mühsam…“
„Ich könnte versuchen, dich zu befragen, bis wir der Wahrheit näherkommen…“
Dieser Vorschlag kam nicht gut an; Lady Sherwood schloss gepeinigt die Augen.
„Möchtest du etwas zu trinken?“
„Ja, lass mir etwas Tee heraufbringen… aber jetzt möchte ich ruhen!“
Alicia gab auf, sagte in der Küche Bescheid und warf einen Blick in den Salon. Halb elf… sie räumte den Salon etwas auf, stocherte im Kaminfeuer herum und stellte sich den Flickkorb (fast nur Kinderkleidung) bereit.
Vielleicht noch einen Blick in die Kinderzimmer – was unternahm die Nanny wohl mit ihnen? Im Zimmer der Mädchen saß die Nanny und beaufsichtigte die Stickversuche von Nicky und Cressy, die schon recht gut aussahen, wenn es auch eher einfache Stiche auf sehr grobem Leinen waren, wo man nicht allzu viel falsch machen konnte. Sie äußerte sich also lobend und erntete erfreutes Lächeln. „Daniel ist nebenan und baut etwas aus seinen Holzbaukötzen.“
Alicia nickte, er war ja noch so jung! Aber Cressy erzählte, dass Daniel die As im Schulzimmer sorgfältig ausgemalt hatte, also schaute Alicia noch in Daniels Zimmer und bewunderte sein Bauwerk, bevor sie seine As im Schulzimmer kontrollierte und ihm dafür auch ihr Lob aussprach.
So, noch rasch in die Küche… der Lunch war schon auf einem guten Weg und Alicia bat auch darum, Lady Sherwood eine kleine Auswahl in ihr Zimmer zu bringen.
Danach kehrte sie in den Salon zurück und setzte sich aufs Sofa, um sich den Flickkorb vorzunehmen. Immerhin schaffte sie drei Paar Stümpfe und einen Hemdkragen, bevor Pelling Mrs. Hellings meldete.
Sie ließ Tee und Gebäck bringen und begrüßte Mrs. Hellings freundlich. Diese setzte sich und seufzte.
„Geht es Ihnen nicht so gut, Mrs. Hellings?“
„Nicht doch, Miss Sheridan! Es ist alles in Ordnung – aber dass Sie jetzt auch noch die Aufgaben einer Flickschneiderin übernehmen müssen? Ich finde, Ihr Vater nutzt Sie doch etwas aus, meinen Sie nicht?“
„Nein, Mrs. Helling, das meine ich nicht. Ich kümmere mich sehr gerne um Haus und Hof und vor allem auch um meine jüngeren Geschwister. Ein Leben ohne Aufgaben würde mich zu Tode langweilen. Damit hat mich Sir Horatio heute schon geplagt…“
Mrs. Hellings verbiss sich ein Lächeln nur sehr unvollständig und Alicia erwiderte das Lächeln ganz offen.
„Dann müssen Sie nur noch mit dem kleinen Mr. Elton rechnen?“
„Er hat mir seine Verehrung heute auch schon zu Füßen gelegt, als ich eigentlich die Kinder unterrichten wollte. Da habe ich auf sein zartes Seelchen wohl nicht allzu viel Rücksicht genommen…“
„Na, der Junge sollte vielleicht in zehn Jahren einmal über das Heiraten nachdenken! Ist er überhaupt schon mit der Schule fertig?“ Mrs. Hellingschnaubte.
„Mehr als das erste Trimester in Oxford oder wo auch immer traue ich ihm auch nicht zu, ich denke, er ist gerade einmal achtzehn. Eigentlich fehlt ein Junge in dem Alter noch in meiner Kinderschar…“
„Sprechen Sie doch nicht so, Miss Sheridan! Man könnte ja meinen, Sie hätten jede Hoffnung aufgegeben, doch noch zu heiraten?“
„Ach! Ich denke, das sehe ich recht gelassen. Sherwood ist meine Heimat, ich liebe meine Familie – und meine beiden Verehrer sind eigentlich nur lästig.“
Mrs. Hellings nickte nachdenklich. „Und wie fühlt sich Ihre Mutter, die Viscountess Sherwood, zurzeit?“
Alicia hob die Brauen. „Eigentlich so ähnlich wie schon seit längerer Zeit. Sie fühlt sich eben schwach. Wenn Sie möchten, frage ich sie bei Gelegenheit, ob sie sich über Ihren Besuch freuen würde.“ Dann lächelte sie höflich, aber ein wenig verlogen und wartete.
Wie zu erwarten, begann Mrs. Hellings ein wenig herumzustottern und zu behaupten, sie wolle den Gesundungsprozess der Countess auf keinen Fall beeinträchtigen: „So etwas sollte man ja nicht unnötig stören, nicht wahr? Ich fürchte, ich muss mich jetzt wieder auf den Weg machen… einen schönen Tag noch, Miss Sheridan!“
Pelling brachte die Dame mit erlesener Höflichkeit zur Tür und Alicia atmete auf. Bei Gelegenheit fand sie die klatschsüchtige Nachbarin auch recht amüsant, aber wenn sie Gerüchte über Mama verbreitete… das ging dann wirklich zu weit!
Was nun? Besuche dürften für heute erledigt sein, glaubte sie, die Kinder hatten genug gelernt… sie würde einen Blick in den Stall werfen und generell einmal die Landwirtschaft in den Blick nehmen. Vielleicht ließ sich das mit dem geplanten kleinen Ausritt verbinden?
Im Stall schien alles in bester Ordnung sein, ihre eigene Stute Chocolat freute sich, gekrault zu werden, und die Ponys der Kinder am anderen Ende der Boxenreihe waren ebenfalls bester Laune und – den runden Bäuchen zufolge – sehr gut gefüttert, um nicht zu sagen: vollgefressen. Eindeutig brauchten sie Bewegung!
Erstmal Ausritt! Sie ließ alle vier satteln und ging dann ihre Geschwister informieren, die sofort jubelnd ihre Reitkleidung aus den Schränkenzerrten; sie selbst eilte in ihr Zimmer und zog sich ebenfalls um.
Jem, der zweite Reitknecht, war bereit, sie zu begleiten – bei drei Kindern, die zwar gut ritten, aber mit ihren etwas starrköpfigen Ponys manchmal doch noch etwas zu kämpfen hatten, vor allem Cressy und Daniel, war ein Reitknecht in Reichweite auf jeden Fall noch nötig.
Jem half den Kindern in den Sattel – Nicky versuchte sich schon im Damensattel, was vor allem ihre dicke Polly irritierte – und dann auch Alicia, die ihre Röcke ordentlich arrangierte, sich nach den Kindern umsah, feststellte, dass auch Jem startklar wirkte, und Chocolat vorsichtig antrieb. Bis zum Beginn der Wiese wurde im Schritt gegangen, dann trabte Chocolat und die Ponys verfielen in ihren hastigen Zuckeltrab, der sie eifrig, aber doch wenig elegant wirken ließ. Die Kinder kamen gut zurecht und schließlich gelangten sie auf den sandigen Weg, der am Wald vorbeiführte und dann in einer weiten Kurve zu den Ställen zurückkehrte. Jem nickte, als sie fragend zu ihm blickte, und sie gab Chocolat die Sporen. Die kluge Stute hatte immerhin schon gelernt, dass sie zwar galoppieren durfte, aber die Ponyhorde nicht abhängen sollte, also galoppierte sie etwas zurückhaltend – und die Ponys trippelten, so schnell sie konnten: putzig, aber ungraziös. Hauptsache, die Kinder hatten ihren Spaß!
Sie wirkten wirklich vergnügt, als sie alle wieder vor den Ställen eintrafen, und Daniel fragte auch, ob man das nicht täglich machen konnte. „Wenn wir die Zeit dafür finden“, antwortete Alicia. „Versprechen kann ich es nicht!“
Daniel schmollte prompt und Nicky versuchte es anders: „Ich muss doch mit dem Damensattel üben, sonst lerne ich es nie!“
„Du machst das schon sehr schön!“, versuchte Alicia zu begütigen, aber das war natürlich falsch. Nun musste sie nur noch Cressy vergrämen, dann waren glücklich alle beleidigt…
„Na, war der Ausritt heute denn nicht schön? Wollt ihr auf Vorrat schmollen?“
„Ja, schon… aber morgen wollen wir auch wieder!“
„Mal sehen. Versprechen kann ich es nicht!“
„Hast du schon gesagt!“, kommentierte Nicky vorlaut, was ihr einen strengen Blick eintrug.
„Jetzt gibt es erst einmal den Lunch. Geht euch die Hände waschen und kommt dann ins Speisezimmer!“
Viscount Sherwood hielt nichts davon, Kinder nur im Kinderzimmer essen zu lassen, denn Tischmanieren lernten sie doch wohl besser durch das Vorbild der Erwachsenen – nicht nur der Nanny! Alicia überlegte, ob später eine Gouvernante wohl mit der Familie oder eher mit dem Personal in der Küche essen sollte. Nun, das hatte ja wohl noch etwas Zeit…
Eigentlich zeigten die Kinder schon durchaus angemessenes Benehmen, auch wenn Daniel noch etwas ungeschickt agierte und Nicky schon sehr dezidierte Vorlieben und Abneigungen zeigte, auch heute: „Was ist das denn?“ Damit zeigte sie auf eine Schüssel.
„Das ist Spinat, Miss Berenice“, erläuterte Pelling freundlich lächelnd.
„Ihh! Das esse ich nicht!“, reagierte Nicky sofort.
„Nicky, wie sagt man das richtig?“, mahnte Alicia und registrierte das Lächeln ihres Vaters.
„Danke, ich nehme lieber etwas von dem gewürzten Reis“, leierte Nicky gehorsam. „Und etwas Rührei.“
„Sehr schön. Mir bitte zwei Löffel Spinat und auch etwas Rührei, Pelling. Danke.“
„Daniel hat mir eine Erbse geklaut!“, klagte Cressy und Daniel grinste selbstzufrieden. Alicia nahm ihm zwei Erbsen weg und reichte sie Cressy – auf einem Löffel.
„Du lässt das bitte bleiben, Daniel, hast du verstanden?“, fragte sie mit durchaus scharfem Unterton. Dann wandte sie sich an ihren Vater: „Mama hat sich auch etwas zum Lunch bestellt?“
„Ja, Liza hat dafür gesorgt.“ Pelling verneigte sich zustimmend.
„Was hat Mama eigentlich?“, erkundigte sich Nicky, die Augen fest auf Reis und Rührei gerichtet.
„Das weiß wohl keiner so genau – nicht wahr, Papa?“
Viscount Sherwood ließ sein Besteck sinken und nickte ernsthaft: „Sogar Dr. Graham weiß nicht, was ihr fehlt. Sie ist nur immer so müde und kann sich nicht aufraffen…“
Nicky, die sich noch am ehesten an Kinderkrankheiten erinnern konnte, fragte: „Können es die Masern sein? Da war ich auch ganz immer ganz müde…“
„Aber hattest du da nicht auch überall rote Flecken?“, erkundigte sich Alicia höflich.
„Oh! Ja – aber ich habe mich nicht gekratzt! Und gegen die Pocken sind wir doch alle geimpft, oder? Da kann man doch so scheußliche Narben im Gesicht bekommen, oder? Dann heiratet einen bestimmt keiner mehr…?“
„An den Pocken konnte man sogar sterben“, ergänzte der Vater.
„Was habe ich schon gehabt?“, fragte Cressy.
„Und ich?“, schloss sich Daniel sofort an und ließ seinen Löffel aufgeregt in die Rührei-Reste fallen.
„Cressy hatte auch schon die Masern, als sie fünf Jahre alt war – Nicky war damals acht – und Daniel war bis jetzt immer gesund.“
Daniel wirkte enttäuscht. „Iss dein Rührei auf, bevor es kalt wird, dann schmeckt es nicht mehr so gut!“, mahnte seine große Schwester.
„Eine Kinderkrankheit hat eure Mutter bestimmt nicht“, schloss der Viscount die Diskussion ab und tupfte sich zierlich den Mund ab. „Esst schön auf und geht dann ein bisschen in den Park! Alicia, ich hätte mit dir noch etwas zu besprechen.“
„Gut, Papa.“
Sie folgte ihm in sein Arbeitszimmer und er legte ihr zwei Angebote für die aktuelle Weizenernte vor.
Sie las sich beide durch und sah dann auf: „Wieviel Weizen haben wir?“
Er nannte ihr die Zahl und sie nickte. „Dann ist dieses Angebot wohl nicht sinnvoll, das gilt ja nur für eine deutlich größere Menge.“
„Ich werde noch einmal nachwiegen lassen. Und das andere Angebot?“
„Das sieht brauchbar aus, aber der Preis pro Sack ist nicht gerade hoch, nicht wahr?“
„Nach den kalten Jahren dürften die Ernten wieder gestiegen sein, da sinken dann die Preise.“
„Ja, wenn du meinst, dann nimm das Angebot an. So schlecht ist es nicht. Hat Fenton eigentlich mit seinen Obstexperimenten Erfolg gehabt? Ich war seit einigen Tagen nicht mehr bei ihm…“
„Die Johannisbeeren haben reichlich getragen, die Himbeeren auch. Er bringt sie nächste Woche auf den Markt und wir bekommen die Hälfte, immerhin!“
„Sehr gut! Was, vermutest du, fällt da für uns ab?“
„Nun ja, vielleicht zwanzig Pfund?“
„Immerhin, als Extraeinkommen nicht so schlecht“, lobte Alicia etwas verhalten. Sie einigten sich auf Dreiprozenter für zehn Pfund und Industriepapiere für die andere Hälfte. Nicht gerade überwältigend, aber wenn das jedes Jahr funktionierte – und es gab ja auch noch anderes, das man später im Jahr verkaufen konnte, von den beiden Dreijährigen ganz zu schweigen…
Sie half ihrem Vater noch, den Haufen unsortierter Papiere aus den letzten Jahren etwas abzubauen, indem sie wenigstens allesvon 1817 aussortierte und zu einem ordentlichen – und beschrifteten! – Faszikel verschnürte und verräumte.
„Morgen mache ich mich über 1769 her… du lieber Himmel, ist das nicht das Geburtsjahr Boneys?“
Ihr Vater grinste etwas unlustig – jaja, der Großvater hatte sich leider so gar nicht für die Landwirtschaft interessiert, sondern eher für die unwahrscheinliche Möglichkeit, am Spieltisch ein Vermögen zu gewinnen.
Und sie alle wollten doch Sherwood so weit nach vorne bringen, dass der kleine Daniel eines Tages nicht nur einen schuldenfreien Besitz erbte, sondern auch ein finanzielles Polster hatte. Wer sagte denn, dass seine Frau eines Tages nicht auch eine Verschwenderin sein könnte? Nun, bis dahin konnte ihnen allen hoffentlich der Zustand von Sherwood gleichgültig sein. Sie rechnete kurz, denn der Vater hatte sich schon wieder über seine Rechnungen gebeugt: Daniel heiratete so etwa im Jahre 1840, dann hatte die Gemahlin etwa fünf Jahre später die beiden Erben hervorgebracht… 1845 war sie selbst achtundvierzig – verheiratet, verwitwet – oder die alte Tante? Hm…
„Ich werde mal nach Mama schauen, Papa?“
Er nickte nur und sie schlüpfte in den Gang hinaus und eilte ein Stockwerk nach oben.
Mama sah ihr matt entgegen, was sie schon wieder etwas reizte. Aber gut, beruhigte sie sich selbst, Mama war schon über vierzig, sie hatte vier Kinder – nein, sechs, zwei waren schon als Säuglinge gestorben, vielleicht hatte die Trauer an ihr gezehrt? Aber sie selbst war schon erwachsen und bestimmt keine Belastung mehr – und die drei kleineren waren wirklich brav, sie gehorchten, meistens, sie lernten brav, meistens, und sie hatten Papa und die große Schwester recht gerne; gesund und klug waren sie auch, obendrein so wohlerzogen, wie man es bei ihren jungen Jahren erwarten konnte. Ihre Mama freilich war ihnen schon weitgehend aus dem Gedächtnis geschwunden, aber dafür konnten sie ja wohl nichts!
Was konnte diese rätselhafte Krankheit nur sein? Sollte sie Dr. Graham einmal fragen? Aber er hatte Papa doch auch nichts gesagt? War er vielleicht kein besonders guter Arzt? War die Krankheit wirklich rätselhaft oder hatte Dr. Graham nur noch nichts von ihr gehört?
Sie merkte, dass sie ihre Mutter jetzt bestimmt zwei Minuten lang stumm angestarrt hatte, ohne etwas zu sagen; Mama hatte auch schon die Augen wieder geschlossen.
„Mama?“
Die Augen öffneten sich langsam wieder. „Ach, Alicia… was möchtest du denn?“
„Eigentlich gar nichts, Mama, ich wollte mich nur erkundigen, ob es dir gut geht und ob du auch einen schönen Lunch hattest.“
„Ach so.“
„Und?“
„Ich fühle mich schwach, aber der Lunch war recht gut, vielen Dank.“
„Oh, habe ich dich bei deinem Verdauungsschläfchen gestört?“
„Ach nein, aber jetzt würde ich gerne ein Schläfchen machen…“
„Ich gehe gleich wieder – aber soll ich dir nicht einmal die Kinder vorbeibringen, denn du hast sie ja schon länger nicht mehr gesehen, nicht wahr? Berenice steht schon fast an der Schwelle zum jungen Mädchen – und Daniel beginnt bereits schreiben zu lernen!“
„Sehr schön! Frag mich doch bitte vor deinem nächsten Besuch noch einmal.“ Damit schloss sie die Augen wieder.
„Dann werde ich dich jetzt wieder in Ruhe lassen“, verkündete Alicia in etwas unzufriedenem Tonfall, knickste ehrerbietig und verließ das Schlafzimmer wieder, wobei sie die Tür betont lautlos schloss.
Wie immer hatte sie keine klaren Antworten erhalten – nun gut, sie würde ab und zu nach ihr sehen (Mama hatte schließlich auch noch eine sehr fürsorgliche Zofe) und sich ansonsten keine Gedanken mehr machen, es lohnte sich ja doch nicht! Das war vielleicht untöchterlich, aber ihre Geduld hatte irgendwann eben auch ein Ende und das Vorhandene wollte sie doch lieber auf die Kinder und den Besitz verwenden!
In der Halle gab es immerhin eine Uhr: nun ja, kurz vor zwei? Um vier gab es Tee, auch für die Kinder – und wenn sie Pech hatte, tauchten ihre beiden Belästiger da schon wieder auf! Sie interessierte sich weder für betuliche Fürsorge noch für jugendliche Anbetung. Elton war in einigen Jahren vielleicht etwas für Nicky, aber für ihre Schwestern wünschte sie sich eigentlich intelligente, vernünftige und auf die richtige Art liebevolle Männer – und für Daniel natürlich eine entsprechende Frau, aber vermutlich musste die im Moment noch laufenlernen…
Sie setzte sich in den Salon und las ein wenig, wobei ihre Gedanken immer wieder abirrten; schließlich gab sie es auf, legte das Buch beiseite, räumte ein wenig im Salon auf und beschloss dann, das Herrenhaus einmal ganz zu umrunden, um zu sehen, ob es etwas zu verbessern, aufzuräumen oder gar zu reparieren gab.
Offenbar konnte sie heute gar nicht entspannt sein und womöglich etwas freie Zeit genießen? Sonst fand sie doch immer etwas Zeit, um etwas zu lesen, ein wenig auf dem Piano zu spielen, auch einmal (fast) alleine auszureiten oder nur einen hübschen Spaziergang auf dem Grund von Sherwood zu unternehmen, um Bewegung zu haben und die frische Luft zu genießen – warum also heute nicht?
Der Rundgang konnte ja als Spaziergang durchgehen, beschloss sie, etwas ärgerlich auf sich selbst, zog ihre Stiefelchen an, nahm ein Umschlagtuch um und trat nach draußen, nach dem sie dem Lakaien am Portal ihre Absicht genannt hatte.
Die Sonne schien etwas matt, aber der Himmel war weitgehend klar, von vereinzelten Wölkchen abgesehen. Hübsche Stimmung… Vögel zwitscherten in den Bäumen rund ums Haus, ein Baum war aber immer noch unbelaubt und zeigte auch so gut wie gar keine Knospen – war er wohl abgestorben? Und dabei stand er direkt neben der Zufahrt, das war ja fast schon peinlich! Sie spähte den Weg entlang bis zur Landstraße – tatsächlich, wenn sie die Straße sehen konnte, sah auch jeder, der draußen vorbeiritt oder im Wagen vorbeifuhr, sofern er nicht auf die Pferde und die Straße achtete, wie schäbig die Baumrunde rund um das Haus aussah. Nein, so konnte das nicht bleiben!
Von der Landstraße bog ein Reiter tatsächlich auf die Zufahrt ab. Weder Eversham noch Elton, schätzte sie anhand der näherkommenden Silhouette – wer sollte das nun sein? Wollte er wirklich auf den kahlen Baum hinweisen? Wen außer den Sheridans sollte das denn interessieren? Einen vagabundierenden Gärtner? Sie hatten zwei Gärtner! Aber mit denen sollte sie vielleicht wirklich einmal sprechen…
Der Reiter kam näher, ein gut gekleideter Mann in den Dreißigern, schätzte sie. Und ein schöner Dunkelbrauner, auf dem er da saß. Fast so schön wie ihre eigene Stute Chocolat… Der Reiter sah gut aus, musste sie zugeben, er passte zu seinem Pferd.
Schließlich zügelte der Unbekannte sein Pferd und fragte: „Verzeihung, aber was ist das hier?“
„Wie bitte? Wenn Sie das Anwesen meinen, das ist Sherwood, der Besitz des Viscount Sherwood.“
„Danke – oh, ich bin ja recht unhöflich!“ Er fasste die Zügel in einer Hand zusammen und schwang ein Bein graziös über den Pferderücken. Aus seinem Gemurmel war nur das Wort Telham verständlich – und dann blieb der fremde Besucher anscheinend mit dem freien Fuß an dem Sporn am anderen Fuß hängen – oder am Steigbügel, ließ offenbar vor Schreck die Zügel und damit seinen Halt los und stürzte auf den Weg.
Alicia starrte ihn einen Moment lang erschrocken an, dann bückte sie sich zu ihm herab und klopfte leicht seine Wangen. „Sir? Sir? Haben Sie sich verletzt, Sir?“
Er reagierte nicht, aber seine Lider flatterten ein wenig. Für einen Mann hatte er recht lange Wimpern, fand sie und tadelte sich im Stillen sofort dafür: Wie viele Männerwimpern hatte sie denn bisher schon aus der Nähe gesehen?
Außerdem war das jetzt überhaupt nicht wichtig! Sie klopfte ihm noch einmal auf die Wangen, ohne eine besondere Wirkung zu erzielen, und legte dann ihr Ohr auf seine Brust: Atmen tat er zumindest!
Ein Arzt wäre gut… Sie rief laut nach den Dienern und Pelling erschien gemessen im Portal: „Pelling, schicken Sie sofort zu Dr. Graham, der junge Gentleman ist vom Pferd gestürzt! Und ich denke, er muss ins Bett – zwei Diener sollen ihn in ein Gästezimmer bringen, dann kann der Arzt über ihn verfügen!“
Pelling verneigte sich und kehrte mit erhöhtem Tempo in die Halle zurück, wo man ihn hastige Befehle bellen hörte.
Drei Lakaien eilten umgehend nach draußen und nahmen den Verwundeten an Schultern und Füßen, um ihn ins Haus zu tragen. „Das blaue Gästezimmer!“, rief Alicia ihnen noch nach und wandte sich dann Pelling zu, der etwas würdevoller auf den Vorplatz zurückgekommen war und sich verbeugte. „Dr. Graham kommt umgehend. Er empfiehlt einen Aderlass…“
„Das kommt gar nicht in Frage! So ein Blödsinn…“
„Aber Miss Sheridan!“ Pelling schmunzelte.
„Ach, das war ja wohl ein Unfall, das hat mit zuviel Blut doch nichts zu tun!“
„Da stimme ich Ihnen zu, Miss Sheridan!“
Hufschlag war zu hören – sollte Dr. Graham so schnell unterwegs sein? Im Gig??
Sie spähte die Auffahrt entlang – nein, ein Pferd, kein Gig.
„Der schon wieder!“, murrte sie. „Reicht es nicht, wenn er mir einmal am Tag die Zeit stiehlt?“
„Mr. Elton?“
„Natürlich. Sir Horatio bevorzugt sein Karriol, damit ich bewundern kann, wie wunderbar er fährt. Na, es geht gerade so…“
Mr. Elton kam näher und sprang so graziös vom Pferd, wie es sicherlich seinem Selbstbild entsprach. Einen Moment hatte Alicia das Gefühl, er werde ebenfalls stürzen – dann konnten sie hier gleich ein Lazarett eröffnen! Sie kicherte etwas hilflos und begrüßte Mr. Elton dann höflich, wies aber gleich darauf hin, dass sie jetzt gar keine Zeit für ihn habe und er besser wieder nach Hause reiten solle.
„Ach, warum denn?“
„Ich habe Dringenderes zu tun“, versuchte sie ihn kurz abzufertigen.
Er sah töricht drein: „A-aber eine junge Dame von Stand? Was können Sie denn zu tun haben?“
Jetzt blieb ihr nichts mehr als recht unhöflich die Augen zu verdrehen. „Ich kümmere mich um den Haushalt und um meine kleinen Geschwister, helfe meinem Vater bei der Führung des Guts und führe auch die Bücher.“
Das letzte war leicht übertrieben, aber bevor Mr. Elton sich darüber wundern konnte, trug sie den Krieg ins feindliche Lager: „Was tun Sie eigentlich den ganzen Tag?“
„I-ich? Wieso? Was meinen Sie damit?“
„Unterstützen Sie Ihre Eltern, befassen sie sich mit der einen oder anderen Wissenschaft, kümmern Sie sich um bestimmte Aufgaben auf dem Landsitz Ihres Vaters? Hat Ihnen Sir Lawrence da nichts zugewiesen?“
„N-nein. Ich jage manchmal, ich empfange mit Mama auch die Besucher, wenn ich nichts Besseres vorhabe…“
„Dann haben Sie natürlich viel freie Zeit? Mir geht es aber nicht so, deshalb habe ich eben manchmal etwas Wichtigeres und Dringenderes zu tun als Besuche zu empfangen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mr. Elton!“
Etwas beleidigt erklomm er wieder sein Pferd und trabte davon.
„So ein Nichtsnutz!“, murmelte Alicia, sobald er außer Hörweite war. Pelling gluckste leise.
„Ich werde einmal nachsehen, wie die Diener mit dem Verletzten zurechtgekommen sind. Ach, und was ist aus seinem Pferd geworden?“
„Ein Stallknecht hat es in die Ställe gebracht, das habe ich noch gesehen.“ Pelling verneigte sich wieder.
„Gut. Hoffentlich auch abgerieben und gefüttert und getränkt?“
„Das nehme ich doch an – aber ich werde es überprüfen, Miss Sheridan!“
„Danke. Wenn der Doktor kommt, bringen Sie ihn bitte ins blaue Gästezimmer, aber damit können Sie auch einen Lakaien beauftragen… ach, Sie wissen das ja selbst am besten!“
Damit eilte sie ins Haus zurück und hinauf zum blauen Gästezimmer, wo die drei Diener, assistiert von Papas Kammerdiener, sich um den immer noch Bewusstlosen bemühten. Auf einer Kommode lagen schon einNachthemd und ein Schlafrock bereit.
„Wo habt ihr die Kleidung her? Aus Papas Schränken?“
„Nicht doch, der Herr hatte einen Mantelsack hinter dem Sattel, den hat uns George aus dem Stall gebracht. Offenbar ist der Gentleman – denn das ist er, seinem Gepäck zufolge! – auf einer Reise befindlich gewesen“, erklärte Bosset, der Kammerdiener.