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Portia Willingham hofft, in ihrer dritten Saison endlich einen angemessenen Ehemann zu finden. Nach der großen Liebe sucht sie dabei nicht unbedingt, aber die beiden lästigen Verehrer, die sie im Ballsaal relativ uncharmant umwerben, sind auf jeden Fall die Falschen – auch, weil beide mehr oder weniger bankrott sind und Portia nicht mit einer nennenswerten Mitgift rechnen kann. Cecil Beaufort, Earl of Walsey, dessen Rückkehr in die Gesellschaft allerlei Getuschel auslöst, sucht eine zweite Ehefrau, denn er hat noch keinen Erben und fürchtet um die Zukunft seiner kleinen Tochter. Mit ihm versteht sich Portia recht gut; sie stellen ähnliche Denkweisen und gemeinsame Interessengebiete fest und retten sich gegenseitig vor den Unternehmungen der beiden irregeleiteten Mitgiftjäger. Ein dritter dubioser Gentleman scheint sich weniger für Portia zu interessieren, steckt aber häufiger mit den anderen beiden Verfolgern Portias zusammen und wirft ihr finstere Blicke zu. Glauben diese Männer etwa fälschlicherweise, Portia habe ein Vermögen zu erwarten? An der Aufklärung des Rätsels beteiligen sich auch der Ermittler James Bournes und die unbezähmbare alte Lady Tenfield. Schließlich kommt es zu einem Mord; Walsey und Portia beschließen, ihre Feinde vor vollendete Tatsachen zu stellen und zu heiraten. Ob sie das durchführen können, scheint zunächst fraglich…
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Seitenzahl: 342
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Imprint
Rätsel im Ballsaal. Historischer Roman
Catherine St.John
Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.deCopyright: © 2021 R. John 85540 Haar
Cover: Charles Haigh Wood, Anxious Moments
Schade, dass er nicht einfach weitermachen konnte wie bisher! Beaufort Hall hatte er in den letzten vier Jahren so gründlich umgestaltet und, wo nötig, modernisiert, dass er sich hier wirklich wohlfühlte. Soweit es überhaupt möglich war, hieß das freilich.
Er und Marian.
Marian freute sich sehr, dass ihr Papa immer für sie Zeit hatte; er hatte ihr sogar das Lesen beigebracht und schrieb ihr immer wieder - in großen, ordentlichen Buchstaben - kleine Geschichten, zum Beispiel darüber, was ihre Katzen Mimi und Lion des Nachts alles anstellten, wenn Marian brav in ihrem Bettchen schlief.
Fiering öffnete die Tür zur Bibliothek. „Mylord, Lady Marian…“
„Papa!“ Marian rannte auf ihn zu und kletterte sofort auf seinen Schoß.
„Hast du schön gefrühstückt?“
„Ja! Eier und Schinken und gleich zwei Toasts mit Marmelade!“
„Sehr gut. Kannst du zwei schon mit den Fingern zeigen?“
Marian hielt zwei Finger hoch und er küsste sie auf die Wange. „Mein Schatz, du bist so klug!“
Sie rutschte wieder von seinen Knien. „Kann ich ein Bild malen, Papa?“
„Natürlich. Auf dem Tisch dort drüben liegen Blätter und Bleistifte, auch Rötelstifte. Wenn du aber ein Aquarell malen möchtest, tust du das bitte im Schulzimmer.“
„Nö, jetzt nicht. Wegen des Wassers, nicht wahr?“
„Richtig, Mausi!“
Marian war sofort in ihre Zeichnung vertieft und ihr Vater versank wieder in seinen Gedanken.
Sie war so ein reizendes Kind, hübsch, klug, brav, aber lebhaft und neugierig – und sie konnte Beaufort Hall und seinen gesamten sonstigen Besitz in und um London nicht erben, weil sie „nur“ ein Mädchen war. In diesem Land lief so einiges falsch, fand er. Nicht nur er!
Er brauchte einen Erben, daran war nicht zu rütteln.
Also musste er wohl doch noch einmal heiraten. Leider konnte er sich das aufgeregte bis abfällige Getuschel schon vorstellen, wenn er einen Ballsaal betrat. Es war ja nicht so, dass er nie eingeladen wurde, aber bisher hatte er zumeist höflich und unter wenig originellen, aber akzeptablen Vorwänden abgesagt.
Das musste er jetzt wohl ändern, auch um Marians willen. Ein oder zwei Brüder und sie stand nach seinem Tod nicht einfach auf der Straße…
Reichlich pessimistische Gedanken wälzte er da, fand er. Marian war hübsch und klug und lebhaft, sie würde eine ordentliche Mitgift mitbekommen und trug immerhin einen Höflichkeitstitel, warum sollte sie also keinen guten Ehemann finden, in zwölf bis fünfzehn Jahren?
Dann konnte er sich weiterhin hier vergraben und nur für Marian und den Besitz leben?
Das war feige, urteilte er, streng mit sich selbst.
Außerdem war dieses Leben doch etwas leer; einen Menschen, der ihm Zuneigung zeigte – einen erwachsenen Menschen! – brauchte er auch. Liebe… ein großes Wort. Zuneigung, wenigstens ein friedliches Zusammenleben, gute Gespräche, gemeinsames Sorgen für den Besitz und Kinder, das wäre schön… Er seufzte.
Marian sah alarmiert auf. „Bist du traurig, Papa?“ Sie ließ den Stift sinken, kletterte wieder auf seinen Schoß und umarmte ihn. „Ich hab dich lieb, Papa!“
„Ja, du hast mich lieb“, antwortete er und spürte den Kloß im Hals, „und ich hab dich auch lieb, mein Schatz.“
„Warum bist du dann traurig?“
„Hättest du nicht gerne auch eine Mama?“
Marian, die ihr Köpfchen an seine Brust gelehnt hatte, fuhr auf und sah ihn ratlos an. „Was ist eine Mama?“
„Sowas wie ein Papa, aber eben eine Frau. Du hattest einmal eine Mama, aber du kannst dich daran wohl kaum erinnern…“
„Wo ist diese Mama denn jetzt?“
Er seufzte wieder. „Im Himmel. Von da passt sie auf dich auf.“
Den Teufel würde sie tun, immerhin hatte sie ihre kleine Tochter kaltschnäuzig verlassen, um mit Sir Francis Bevenhurst zu leben.
Nun, immerhin ehrlicher, als ihm womöglich ein Kind von Bevenhurst unterzuschieben. Wenn er es recht bedachte, war sie eigentlich arm dran gewesen – nach einem Jahr war sie im Kindbett gestorben und der kleine Sohn mit ihr. Francis hatte ihn wenigstens informiert, aber er selbst hatte ihm nur in höflichen Worten kondoliert und den Kontakt nicht weiter gepflegt.
War das dumm gewesen?
Ach, wollte er wirklich mit dem halben Hausstand nach London reisen, sich im Ballsaal zum Affen machen und schließlich mit einer neuen Frau nach Hause zurückkehren, die vielleicht auch nicht besser war als Lucinda… vielleicht mochte sie Marian nicht und behandelte sie schlecht? Oder fing auch etwas mit einem Nachbarn an und verließ ihn wieder?
Jetzt begannen sich seine Gedanken schon arg im Kreis zu drehen…
„Es ist ja eigentlich albern“, stellte Lady Hertwood fest und grinste wenig damenhaft, „sich jedes Mal wieder auf die Saison zu freuen, aber es ist schon recht lustig. Als ob ich das noch nötig hätte…“
Ihr Schwägerin, die Viscountess Lynet, lachte. „Mir geht es doch genauso. Kaum bin ich wieder in London, rieche die gute Luft hier und sehe die überfüllten Straßen, sehne ich mich nach ebenso vollgestopften Ballsälen, vollkommen geistlosen Gesprächen und bösartigem Klatsch.“
„Aber Lady Tenfield ist doch köstlich?“
„Sie schon – aber erinnerst du dich noch an Selina Cuffley oder die grässliche Eloise?“
„Huh! Hoffentlich treffen wir sie nur selten…“
„Am besten gar nicht“, murmelte die Viscountess, die sehr tatendurstig wirkte, obwohl sie ihrem Gemahl erst vor wenigen Monaten einen Erben präsentiert hatte.
„Melinda, aber dieses Mal bist du nicht zu müde für einige Bälle, oder?“, fragte sie dann. „Weißt du noch, als du mit Klein-Eddie in der Hoffnung warst?“
„Oh ja! Und du nicht verstanden hattest, dass du dich längst in Ben verliebt hattest!“
„Eher es nicht verstehen wollte. Ich war schon recht dumm damals. Möchtest du dieses Mal ein kleines Mädchen?“
„Das wäre nett, wir könnten sie nach eurer Schwester Christina nennen. Das ist ein hübscher Name.“
„Oder nach Mutter“, antwortete Cecilia. „Sie hieß Catherine.“
„Das ist auch hübsch. Ich werde Sebastian fragen. Aber findest du nicht auch, dass man das Neugeborene erst sehen muss, um zu wissen, ob es eine Catherine oder eine Christina ist?“
„Unbedingt! Ben hatte ja tatsächlich mit Max geliebäugelt – einem besseren Max, du verstehst? Und nach dem ersten Blick auf den Kleinen, so rot und verquollen und obendrein sehr übellaunig, sagte er: „Nein, Max passt gar nicht zu ihm. Ich wäre für James.“
„Und damit warst du einverstanden?“
„Natürlich! Jimmy sah wirklich wie ein James aus. Ach, er ist so entzückend, er wächst und gedeiht. Hoffentlich bekommt ihm London – aber ich wollte mich nicht von ihm trennen.“
„Mit Eddie geht es mir doch genauso. Wollen wir nach ihnen sehen? Danach können wir ja überlegen, was wir morgen auf dem Ball der Prestons tragen wollen.“
„Uns geht es so wunderbar“, seufzte Melinda, als sie diese Pläne umgesetzt hatten. „Wir haben die allerliebsten Ehemänner, jede einen entzückenden kleinen Sohn, ich vielleicht bald noch eine Tochter, wir können auf dem Land leben und ab und zu ein paar Bälle in London mitmachen -“
„- auf denen wir nicht mehr zu hauptsächlich fadem Weiß verurteilt sind“, ergänzte Cecilia. „Mal sehen, wer morgen bei den Prestons sein wird. Lieber Himmel, hoffentlich nicht Carew – oder hat er jetzt endlich eine Frau gefunden?“
„Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich das weiß, oder? Frag doch die grässliche Eloise, immerhin ist sie seine Schwester!“
„Ungefälliges Weibsbild!“
„Wie bitte?“, fragte Lord Hertwood hinter ihr. „Wie sprichst du mit meiner Gemahlin, böse Schwester?“
Beide Damen kicherten. „Wir haben beide keine Lust, bei Lady Eloise Dalley nachzufragen, ob ihr unsäglicher Bruder jetzt endlich eine Frau gefunden hat“, erklärte Melinda.
„Obwohl uns die Antwort natürlich rasend interessieren würde“, ergänzte Cecilia.
„Warum eigentlich?“ Lord Hertwood setzte sich. „Kann es euch nicht vollkommen gleichgültig sein, ob dieser Idiot eine Dumme gefunden hat, die sich nur für den Titel einer Countess interessiert?“
„Natürlich, aber darüber zu klatschen macht doch Spaß!“ Melinda lächelte ihren Mann breit an.
„Ladys!“ Hertwood verdrehte die Augen zur Decke. „Was sagt denn Ben dazu?“
„Ungefähr das gleiche wie du, aber darüber, was mich amüsiert, entscheide ich schließlich immer noch selbst, nicht wahr, Seb?“, fertigte Cecilia ihren Bruder ab.
„Wir sollten Portia ein paar Mal mit auf Bälle nehmen“, wechselte Melinda das Thema. „Ich glaube, Tante Margaret findet eine Saison mittlerweile doch recht anstrengend – und wir gehen doch gerne auf Bälle.“
„Ja, wenn keine von uns beiden in der Hoffnung ist!“
„Oh, Cecilia? Habe ich da etwas verpasst?“, frotzelte ihr Bruder prompt.
„Unsinn, ich spreche von Melinda. Aber ihr scheint es ja recht gut zu gehen?“
„Hast du mir selbst eben nicht geglaubt?“ empörte sich Melinda etwas künstlich.
„Natürlich! Du bist in so spitzbübischer Stimmung, es muss dir glänzend gehen. Wollen wir Portia morgen Abend gleich zu den Prestons mitnehmen?“
„Ich schicke ein Brieflein zu den Arnebys“, nickte Cecilia.
Melinda wandte sich an ihren Mann: „Portia ist jetzt zwanzig und in ihrer dritten Saison. Allmählich sollte sie die Sache wohl ernsthaft angehen, nicht wahr, Sebastian?“
„Wenn sie das möchte? Es gibt auch Damen, die gar nicht heiraten wollen“, gab Sebastian zu bedenken.
„Besser gar nicht heiraten als den falschen Mann“, verkündete Cecilia kriegerisch. „Natürlich könnte man als Witwe des falschen Mannes auch recht zufrieden leben…“
„Solle ich Ben warnen, dass du ihm nach dem Leben trachtest, du alte Zynikerin?“, gab Sebastian sofort zurück.
„Versuch´s nur, er wird dich anstarren, als seiest du nicht recht bei Trost“, prophezeite Cecilia. „Oh fein, der Tee!“
Cecil betrachtete sich recht unlustig im Spiegel. Sicher, der schwarze Abendfrack saß wie angegossen (auf Weston war eben Verlass), die blassgraue, silbern bestickte Weste war elegant, nach der neuesten Mode und dennoch streng in der Anmutung, das Halstuch war tadellos gelegt, die schwarzen Pantalons waren über jeden Zweifel erhaben. Nichts war zu beanstanden – und Kniehosen brauchte er gar nicht, denn heute Abend ging es nicht zu Almack´s. Aber, du lieber Himmel, hatte er keine Lust auf diesen Ball! Sicher, Michael Preston gehörte zu seinen wenigen Freunden, was die Chance verringerte, dass ihn jemand offen schnitt – aber gegen angeregtes bis aufgeregtes Getuschel war auch kein Gastgeber gefeit…
„Stell dich nicht so an“, hatte Michael einigermaßen barsch gesagt, „einmal muss es ja doch sein! Denk an die kleine Marian: Soll sie eines Tages auf die Gnade eines entfernten Verwandten angewiesen sein?“
Marian – ja, für sie nahm er das alles auf sich. Aber mussten die meisten jungen Damen gar so naiv, kindisch und geistlos sein? Bedeutete eine Ehe nicht in den meisten Fällen endlose Langeweile?
Lucindas Konversation war auch nicht auszuhalten gewesen. Eigentlich war es die meiste Zeit nur darum gegangen, wie schön sie war, wie gut ihr die zweihundertste Robe stand, welchen Tratsch sie von ihren Freundinnen gehört hatte und welche Veranstaltungen sie als nächstes besuchen wollte. Und warum er sie schon wieder nicht begleiten wollte, ungefällig, wie er war. Wozu: Um am Rand zu stehen und zuzusehen, wie sie in die Arme immer wieder anderer Männer flog? Mit ihm wollte sie nicht tanzen, wie sie ihm klargemacht hatte: Wozu denn? Wir sind doch verheiratet!
Für so etwas war ihm seine Zeit zu kostbar – und immer mehr Herren warfen ihm auch mitfühlende Blicke zu. Das brauchte er genauso wenig.
Lucinda war eine kaltherzige Egoistin gewesen. Nicht einmal für ihr Kind hatte sie ein Herz gehabt. Oder wenigstens ab und einmal etwas Zeit…
Gut, vielleicht wäre sie bei ihm geblieben, wenn er sie täglich wortreich bewundert hätte, ihre Schönheit in den delikatesten Formulierungen gelobt… er war doch kein verdammter Poet!
Was hatte der arme Bevenhurst wohl mit ihr auszustehen gehabt, bevor sie gestorben war?
Andererseits: de mortuis nil nisi bene, warum also so abfällig an die arme Lucy denken, sie war ja schließlich tot? Und er musste dringend eine neue Frau finden, für Marian und für einen Erben. Und vielleicht auch ein wenig für sich selbst… war er nicht doch etwas einsam?
Nein, er hatte doch Marian. Sie war wirklich reizend, so aufgeweckt für ihre sechs Jahre!
Aber sie brauchte auf die Dauer auch eine Mutter, nicht nur ihre Nanny oder eine Gouvernante wie Miss Sheffield. Mutter war ihr im Moment noch eine ganz fremde Rolle, denn Lucy – nein, Schluss damit!
„Sehr schön, Mylord, wenn ich das bemerken darf“, lobte Grin, sein Kammerdiener. Cecil lächelte kurz. „Als ob du sonst um Erlaubnis bitten würdest! Aber ich bin auch recht zufrieden – streng, aber elegant.“
Grin machte seinem Namen alle Ehre und verneigte sich dann. „Mit einem undefinierbaren Hauch von Halbtrauer?“
„Sehr gut beobachtet. Nun, ich bin gespannt, ob ich den Ball bei den Prestons genießen werde…“
„Aber gewiss doch, Mylord. Und – wenn ich das bemerken darf: Das Haus braucht wieder eine Herrin.“
„Das weiß ich selbst, Grin. Du brauchst übrigens nicht aufzubleiben!“
„Danke, Mylord.“
Cecil schlenderte die Treppen hinunter und durch die Halle, ein Diener reichte ihm Zylinder und Umhang, der Butler pfiff nach draußen, woraufhin der Wagen vorfuhr. Ich bin der Earl of Walsey, verdammt, sagte sich Cecil und stieg in die Kutsche. Sie werden mich nicht schneiden – und für diesen klatschsüchtigen, nutzlosen Haufen gibt es doch jeden Tag eine neue Sensation. Was haben diese armen Tröpfe denn sonst zu tun?
In wenigen Minuten standen sie vor dem Haus der Prestons; einer der Lakaien sprang von seinem Platz hinten auf dem Wagen und klappte den Tritt aus, bevor er die Tür des Wagens öffnete.
Cecil stieg herab, sah sich selbstbewusster um, als er sich fühlte, und schritt die Stufen zum Portal hinauf. Drinnen herrschte bereits ein gewaltiges Gedränge, wie es für einen gelungenen Ball offenbar zwingend erforderlich war, aber es gelang ihm, die geschwungene Treppe auszumachen, auf deren erstem Absatz Sir Michael und Lady Preston standen und die Gäste mit sorgsam abgestufter Herzlichkeit begrüßten.
Ein alleinstehender Herr vor ihm zum Beispiel empfing ein sehr kühles Lächeln und Lady Preston zog eine Miene, als fragte sie sich, ob sie diesen Gentleman tatsächlich eingeladen hatte. Sofort begann Cecil zu überlegen, wer das wohl sein mochte – doch jedenfalls jemand, der gar nicht mehr wohlgelitten war – aber mit Recht?
Er selbst wurde schließlich auch nicht immer begeistert begrüßt…
„Cecil! Na endlich sieht man dich mal wieder!“ Michael umarmte ihn und klopfte ihm auf die Schulter; Cecil erwiderte die Umarmung noch etwas ungeschickt, schielte kurz zur Seite und beugte sich dann über die Hand der strahlend lächelnden Laura Preston. „Michael hat recht, du hast dich viel zu lange nicht mehr blicken lassen! Wenn dies hier dein erster Ball der Saison ist, fühlen wir uns sehr geehrt.“
„Das ist er tatsächlich“, antwortete Cecil und erwiderte das Lächeln: Er hatte seine Freunde wirklich zu lange vernachlässigt. „Ich wusste eben nicht, ob -“ Er brach ab.
„Ob wir den idiotischen Gerüchten glauben? Cecil, wofür hältst du uns denn? Nun, auf jeden Fall wünschen wir dir viel Vergnügen!“
Er trat zur Seite, denn hinter ihm wurden die nächsten Gäste gewiss langsam ungeduldig, und stieg die Stufen zum Ballsaal hinauf.
Immerhin hatte er den ungeliebten Gast eben erkannt – Carew. Kein Wunder, dass die Prestons so kühl reagiert hatten: Carew hatte doch vor vielleicht zwei Jahren versucht, sich durch die Entführung einer Erbin zu sanieren? Cecilia Herrion? Viel besser schien es ihm heute auch noch nicht zu gehen, jedenfalls wirkte sein Abendanzug reichlich abgetragen.
Dafür schien er aber deutlich an Gewicht zugelegt zu haben, zumindest spannte der Frack am Rücken unübersehbar.
Wer interessierte sich schon für Carew? Bedauernswerter Tölpel.
Der Ballsaal war bereits gut gefüllt und er schlenderte langsam am Parkett vorbei zu den Erfrischungen, wo er seine Freunde Adam Prentice und Ben de Lys stehen sah. Im Näherkommen breitete er die Arme schon in einer demütigen Geste aus und sagte, als er vor ihnen stand: „Ich weiß, ich weiß, ich war dumm, mich so lange fernzuhalten, Michael hat es auch schon gesagt. Aber mein Ruf – naja.“
„Dummkopf“, antwortete Adam freundlich, „was interessiert uns denn der Ruf unter diesem Volk hier?“ Er deutete weitausholend einmal rund um den Ballsaal, was ihm einige pikierte Blicke eintrug. Ben und Cecil lachten. Nun wurde auch Cecil fixiert – und Ben, um den es ja vor längerer Zeit auch üble, wenn auch genauso unberechtigte Gerüchte gegeben hatte.
Sie stießen mit Champagner darauf an, dass Cecil in die Öffentlichkeit zurückgefunden hatte. „Und was hat dich nun hergetrieben?“, fragte Ben. „Geschäfte?“
„Das wohl auch. Aber ich fürchte, ich muss wieder heiraten, schon wegen Marian. Wenn sie keine Brüder bekommt, steht sie nach meinem Tod doch vor dem Nichts!“
„Ist dein momentaner Erbe so herzlos?“
„Wahrscheinlich ja – und ohne Mitgift findet auch eine Lady Marian nicht so leicht einen guten Mann. Ich brauche einen Erben, das steht fest.“
„Oder zwei“, murmelte Adam.
„Ach ja – ihr beide seid ja schon versorgt, nicht wahr? Erzählt!“
Adam lächelte. „Charles ist zwei und Lizzie fast ein Jahr alt. Helen und ich sind sehr glücklich mit unserem Pärchen.“
„Unser Jimmy ist erst vier Monate alt, aber quietschfidel und gesund – und das ist das Wichtigste, nicht wahr?“ Ben strahlte ebenfalls vor Vaterstolz.
Cecil erwiderte das Lächeln. „Marian ist jetzt sechs. Und sie kann schon lesen und zählen! Ist das nicht wunderbar?“
Das Orchester begann die Instrumente zu stimmen und Ben stellte sein Glas ab. „Ich werde mich zu Cecilia gesellen.“ Adam tat es ihm gleich und Cecil begann wieder herumzuschlendern. Kichernde Debütantinnen, streng dreinsehende Mütter, pfiffige und steife alte Damen, dazwischen einige Gesellschafterinnen oder andere noch junge Frauen, die aber eindeutig nicht mehr auf dem Heiratsmarkt waren.
Wäre das vielleicht eine Option? Nein, beschloss er, so nüchtern wollte er die Sache auch nicht angehen.
Er sah sich unauffällig um, während er scheinbar blicklos noch einmal an der Tanzfläche vorbei schritt. Diese Blonde in dem blassblauen Kleid, vielleicht? Sie sah ernst und vernünftig drein und fast so, als rechne sie nicht damit, überhaupt aufgefordert zu werden.
Das Orchester intonierte probehalber einen Ländler und Cecil straffte sich. Er verbeugte sich vor der ältlichen Begleitung der Blondine und stellte sich vor. Sie nickte mit leicht hochgezogenen Augenbrauen und wies nachlässig auf ihre junge Nachbarin. „Meine Tochter, Miss Violet Settinghurst.“
Cecil bat um Miss Settinghursts Tanzkarte und trug sich für den Ländler ein, den das Orchester gerade sozusagen angekündigt hatte.
Die junge Dame nickte ernst und erhob sich, um seinen Arm zu nehmen und sich aufs Parkett führen zu lassen.
Sie tanzte leichtfüßig und sah ab und an zu ihm hoch, immer noch ohne zu lächeln.
„Bedrückt Sie etwas, Miss Settinghurst?“
„Warum fragen Sie das, Euer Lordschaft?“
„Sie wirken so ernst und – nun – in sich gekehrt.“
„Das ist meine Art, fürchte ich. Deshalb bin ich auch über das Heiratsalter hinaus, schon fast dreiundzwanzig. Aber es ist reizend, dass Sie mich aufgefordert haben, das geschieht nicht mehr oft.“
„Es war mir ein Vergnügen, Miss Settinghurst.“
„Das zu behaupten ist genauso reizend.“
„Sie glauben mir nicht?“ Er sah stirnrunzelnd auf sie herunter.
„Oh, ich wollte Sie keinesfalls kränken, Mylord. Aber gebot es nicht die Höflichkeit, an dieser Stelle genau das zu sagen?“
Er musste lachen. „Sie sind eine scharfe Beobachterin der gesellschaftlichen Konventionen, Miss Settinghurst, Respekt!“
„Man muss die Verlogenheit doch durchschauen, um bei diesem Spiel mithalten zu können, nicht wahr?“
„Das gebietet wahrscheinlich die Selbsterhaltung“, stimmte Cecil zu und zog sie in eine schwungvolle Drehung. „Schließlich klatschen die Geier dort drüben“ – er nickte in Richtung der Matronen und Anstandsdamen – „über uns alle, nicht wahr?“
Sie grinste. „Wie wahr! Wahrscheinlich überlegen sie, warum meine Mutter das alte Ding immer noch auf Bälle mitschleppt, anstatt sich auf meine jüngere Schwester zu beschränken.“
„Das alte Ding? Das ist doch wirklich ungezogen!“
„Alte Damen dürfen das. Eigentlich wäre ich auch gerne schon eine exzentrische alte Dame und würde Unverschämtheiten nach Herzenslust austeilen.“
„Nun, mit dreiundzwanzig sind Sie ja schon nahe dran, nicht wahr?“ Er grinste frech und sie lachte schallend los, so schallend, dass etliche Köpfe auf der Tanzfläche zu ihr herumfuhren. Sie beruhigte sich wieder und murmelte: „So viel Aufsehen habe ich noch nie erregt…“
„Gefällt Ihnen das?“
„Ich glaube ja. Fromm dreinzusehen, damit Mama zufrieden ist, ist so unglaublich langweilig.“
Der Ländler verklang und er brachte Miss Settinghurst zu ihrer Mutter zurück, wo er ihre Hand an seine Lippen zog und murmelte: „Es war mir wirklich ein großes Vergnügen!“
Lady Settinghurst sah recht töricht drein, vor allem, als gleich drei junge Herren herbeieilten und förmlich um Miss Settinghursts Tanzkarte bettelten.
Ein leichtes Lächeln um die Lippen, schlenderte Cecil davon. War er nun plötzlich in der Position, junge (und nicht mehr ganz so junge) Ladys in Mode zu bringen? Er, der eben noch als verfemt galt, weil man ihn verdächtigte, beim Tod seiner Frau die Hand im Spiel gehabt zu haben? Warum war das nun plötzlich verziehen? Oder wussten diese Jünglinge nichts von dem alten Skandal? Hatten sie vor drei Jahren noch die Schulbank gedrückt – in Oxford oder Cambridge doch wenigstens?
„Was amüsiert dich so, Cecil?“
Ach, Hertwood!
„Sebastian.“ Er verneigte sich. „Und Lady Hertwood, wie reizend!“
„Und, warum schmunzelst du so vergnügt?“
„Ach, ich habe gerade mit einer Miss Settinghurst getanzt und mich dabei recht gut unterhalten. Offenbar galt sie als Mauerblümchen, warum kann ich auch nicht nachvollziehen – aber kaum hatte ich sie an ihren Platz geleitet, stürzten gleich mehrere Jüngelchen auf sie los, um sie um einen Tanz zu bitten. Anscheinend kann ich jetzt Ballköniginnen küren, aber ich weiß gar nicht, wie ich zu dieser Ehre komme.“
Lady Hertwood lachte. „Das können wir ja gleich einmal ausprobieren! Wir haben eine junge Verwandte bei uns, Portia Willingham – und in dieser Saison würde sie gerne jemanden finden… sich nicht mehr nur amüsieren. Vielleicht tanzen Sie einmal mit ihr, dann sehen wir ja, was geschieht?“ Sie lächelte nicht ohne Spott zu ihm auf und er musste lachen. „Wo sitzt sie denn?“
„Im Moment tanzt sie. Die junge Dame in blassgrün, mit den roten Locken und dem elfenbeinfarbenen Spitzenband im Haar. Aber ich glaube, der nächste Tanz ist noch frei. Und sie darf natürlich Walzer tanzen!“
Cecil lächelte höflich und kräuselte spöttisch einen Mundwinkel. „Es wird mir ein Vergnügen sein!“
Der Tanz verklang allmählich und die junge Dame mit den kupferroten Locken wurde an ihren Platz zurückgeleitet. Cecil wurde von Lady Hertwood vorgestellt und bat sogleich um die Tanzkarte, die ihm mit höflichem, aber nicht unbedingt begeistertem Lächeln gereicht wurde. „Dann wähle ich doch gleich den Walzer, Miss Willingham!“
„Gerne, Mylord…“
Sie tanzte gut, stellte er fest, aber das taten die meisten Debütantinnen – und eine Debütantin war sie, nach dem, was Hertwoods Frau (Melinda, oder?) gesagt hatte, ohnehin nicht mehr.
„Wie sind Sie denn mit den Hertwoods verwandt, Miss Willingham?“, erkundigte er sich.
Sie sah fröhlich zu ihm auf. „Meine Zieheltern sind entfernte Onkel und Tante von Sebastian, also Lord Hertwood, und seiner Schwester Cecilia.“
„Ah ja, ich weiß, wen Sie meinen – Cecilia ist die Frau von Ben de Lys, nicht wahr? Ein guter Freund von mir.“
„Da haben Sie wirklich einen guten Freund, Mylord! Die Lynets und die Hertwoods sind einfach reizend. Und die Arnebys, bei denen ich lebe, sind ebenfalls immer so gut zu mir gewesen, als sich meinVater nach dem Tod meiner Mutter nicht imstande gesehen hatte, für mich zu sorgen.“
„Dann haben sie auch Glück – so gute Freunde!“ Er wirbelte sie herum und sie lachte wieder. „Ich habe Sie während der letzten Saison nie gesehen, glaube ich.“
„Sie meinen, meine finstere Miene hätte sich Ihnen sicherlich eingeprägt?“
„Welche finstere Miene? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen, Mylord.“
„Ich bin selbst erstaunt, dass mir dieser Ball so gut gefällt“, gestand er und lächelte etwas schief. „Die Londoner Gesellschaft geht mir normalerweise eher auf die Nerven, dieses ewige Getuschel und Verbreiten von Gerüchten…“
„Das kann ich gut verstehen – aber was sollten diese Leute wohl sonst tun? Die meisten haben doch keine vernünftige Beschäftigung!“
„Sie lieben Klatsch also nicht?“ Er zog die Brauen hoch und Portia lächelte reuig: „Nun, zuweilen – aber wir halten uns eher über entsetzliche Ballkleider auf. Nichts Rufschädigendes und nichts Arrogantes!“
„Was wäre etwas Arrogantes?“
„Ach, es gibt da einige besonders Vornehme, die sich über Menschen empören müssen, die erst vor drei Generationen geadelt wurden, stellen Sie sich vor, wie entsetzlich! Mit solchem Bürgergewürm muss man im gleichen Ballsaal sitzen! Ich würde manchmal gerne fragen, ob diese Menschen schon einmal etwas Nützliches getan haben – aber dann kann ich wohl jeden Abend zu Hause sitzen. Wenn Sie ebenfalls mit Menschen nichts anfangen können, deren Vorfahren noch nicht von William dem Eroberer geadelt wurden, steht es ihnen natürlich frei, diesen Tanz abzubrechen.“
Jetzt lachte er schallend. Ob sich die Herrschaften am Rande der Tanzfläche über das Vergnügen des Gattinnenmörders wunderten?
„Warum sollte ich denn, wenn ich mich so gut amüsiere? Im Übrigen haben Sie mit ihrer Einschätzung der dämlicheren Teile des ton vollkommen recht. Und ließe ich Sie auf der Tanzfläche stehen, wären wir wohl beide der Skandal des Abends – für Leute, die keine Ahnung von wirklichen Skandalen haben!“
Er wirbelte sie herum.
Sie schnappte nach Luft und legte dann den Kopf schief: „Als da wären?“
„Wollen Sie das wirklich wissen?“ Er sah ungläubig auf sie herab und sie schnaubte wenig ladylike. „Würde ich sonst fragen?“
„Nun gut, aber beklagen Sie sich nicht, wenn ich Sie schockiert habe!“
„Ich bin nicht so leicht zu schockieren. Also?“
„Die Zustände im East End. Wie kleine Kinder in manchen Waisenhäusern traktiert werden. Dass kleine Jungen in die Kamine getrieben werden. Wie die Arbeiter in manchen dieser neuen Fabriken behandelt werden. Wie man in diesem Land mit Menschen umspringt, die nicht der Church of England angehören – genügt das?“
„Fürs erste – ja. Und was tun Sie dagegen?“
„Was tun Sie dagegen?“
„Ich besuche einmal die Woche ein Waisenhaus für kleine Mädchen und bringe den Mädchen lesen und schreiben bei. Nein, keine Sorge“, versicherte sie, als sie die steile Falte zwischen seinen dichten dunklen Brauen sah, „Lady Arneby gibt mir immer einen baumlangen, gefährlich aussehenden Diener in Zivil mit, der währenddessen im Waisenhaus auch kleinere Reparaturen ausführt, und eins ihrer Hausmädchen, das sehr gut im Nähen ist. Während die Kleinen mir zeigen, wie gut sie schon ihren Namen schreiben können, flickt sie ihre Kleider, soweit es nötig ist. Jetzt sind Sie an der Reihe!“
Der Walzer begann nach den letzten jubelnden Höhen auszuklingen und Portia murmelte: „Mist!“
„Ich bitte um Verzeihung?“
Sie lächelte reuig. „Das hat sich nur darauf bezogen, dass ich unbedingt hören wollte, was Sie gegen all das Elend unternehmen. Sie haben doch viel mehr Möglichkeiten als ich!“
„Promenieren wir ein wenig“, schlug er vor. „Ich hatte keinesfalls vor, mich um die Antwort zu drücken.“
„Gut so!“ Zierlich legte sie die Hand auf den Arm, der ihr galant dargeboten wurde, und fühlte merkwürdig interessiert die harten Muskeln unter dem feinen dunklen Tuch.
„Dass ich mehr Möglichkeiten habe als eine junge, unverheiratete Frau, ist nicht von der Hand zu weisen. Ich bin ein Mann, habe also mehr Rechte, ich habe einen Titel, der mir einen Platz im House of Lords sichert, ich habe Geld genug, um in Verbesserungen zu investieren… Zunächst kümmere ich mich finanziell und auch organisatorisch um eines der Waisenhäuser von Sir Adam Prentice – kennen Sie ihn? – im East End. Er hat mittlerweile vier davon und holt so viele Jungen und Mädchen von der Straße. Aber er kann nicht alle selbst betreuen, er hat noch vieles andere zu tun, auch wenn seine Frau ihn sehr unterstützt. So hat er gute Bekannte und Freunde angeworben und ich darf mit Stolz sagen, dass ich einer von ihnen bin. Viscount Lynet ist einer und Mr. Stafford ebenfalls.“
„Benedict de Lys kenne ich natürlich, von Mr. Stafford habe ich noch nie gehört. Wer ist das?“
„Oh – äh – er leitet einen recht vornehmen Herrenclub.“
„Eine Spielhölle?“, hauchte sie halb entsetzt, halb fasziniert.
„Nein. Nein, nicht so. Sicher kann man dort spielen und trinken und – äh – sich unterhalten, aber das findet durchaus mit Niveau statt. Aber ich wollte nicht über Stafford tratschen. Die Jungen in den Waisenhäusern bekommen eine recht annehmbare Schulbildung, lernen akzentfrei zu sprechen und sich gesittet zu betragen, so dass sie durchaus Lakaien in vornehmen Häusern werden können. Oder Stallburschen, Reitknechte, Gärtnergehilfen.“
Portia nickte billigend. „Und das ist der Anfang eines möglichen Aufstiegs, ich verstehe. Sehr löblich – das trägt Ihnen gewiss viel Ehre ein.“
Er grinste. „Kaum, Miss Willingham. Diejenigen, die davon wissen – und das sind nicht gerade viele – wundern sich eher, wie ich mich mit diesen schmutzigen Kindern abgeben kann.“
„Wo Sie doch Ihre Zeit viel nutzbringender darauf verwenden könnten, mit einem Standesgenossen darauf zu wetten, welche Fliege die Fensterscheibe schneller hinaufkrabbelt“, schlug Portia vor und blickte verschmitzt zu ihm auf.
Wenn er grinste, erhellte sich sein manchmal doch etwas düsterer Blick und er hatte ein Grübchen neben dem rechten Mundwinkel. Eigentlich war er recht sympathisch, fand sie.
„Ganz recht“, bestätigte er dann aber nur. „Wie alt sind denn die Mädchen in Ihrem Waisenhaus?“
„Oh, zwischen vier und dreizehn. Danach können sie nicht mehr länger bleiben. Ich finde das zu früh, um in die Welt hinausgeschickt zu werden, aber es gibt so viele elternlose kleine Mädchen und das Heim ist nicht groß genug, um alle aufzunehmen, ohne die Ältesten zu entlassen. Jüngere als vier Jahre gibt es natürlich auch, aber die sehe ich seltener, weil sie für Unterricht noch etwas zu jung sind.“
Cecil nickte wieder. „Wir bräuchten eben mehr solcher Heime. Gut geführte, natürlich.“
„Oder für die Mütter die Möglichkeit, ihre Kinder bei sich zu behalten und zugleich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.“, schlug Portia vor.
„Ein interessanter Gedanke“, lobte er. „Ich werde mich auf jeden Fall damit auseinandersetzen. Wir werden uns auf dem nächsten Ball bestimmt sehen und das Gespräch fortsetzen können.“
„Das sollte mich freuen, Mylord.“
Sie ließ sich zu Lady Hertwood zurückgeleiten und knickste dort höflich vor ihm.
„Das war aber ein langer Tanz“, murmelte Melinda.
„Oh – meinst du, zu lange? Wir haben uns noch unterhalten und sind dabei durch den Ballsaal promeniert, für alle Welt sichtbar. War das unangemessen?“
Melinda lächelte. „Nicht doch, ich dachte nur – recht vielversprechend?“
„Er ist sehr nett und vor allem auch klug, scheint mir. Vielleicht treffe ich ihn auf anderen Bällen wieder!“
„ich würde es dir wünschen, Portia. Ach herrje…“
Portia sah auf; Viscount Kelling. Nun, so furchtbar fand sie ihn nun auch wieder nicht, aber in der Konversation arg öde und im Ton eher unfreundlich.
Sie folgte ihm auf die Tanzfläche, lächelte freundlich, knickste graziös und ließ sich von ihm durch die Figuren führen. Gelegentlich tauschte sie mit ihrer Nachbarin den Platz, wenn der Schritte es erforderten, aber ansonsten sprach der Viscount. Zunächst über das Wetter (immer noch unangenehm kühl, nicht wahr?), über den Ball (überfüllt, aber so etwas zeigte ja den Erfolg einer Veranstaltung, nicht wahr?) und über die Vorzüge Londons (so ein reiches Angebot an Unterhaltungen, nicht wahr?).
Nicht wahr? war dabei eine reine Floskel, er wartete nie ab, ob Portia etwas dazu anzumerken wünschte, sondern sprach sofort weiter.
Nachdem die Standardthemen abgehandelt waren, kam er zur Sache: „Sie haben vorhin mit Walsey getanzt?“
„Gewiss.“ Hoffentlich vertrieben ihn einsilbige Antworten – aber sie hatte da wenig Hoffnung.
„Er wird Sie nicht heiraten, wissen Sie.“
„Ach?“ Welch unverschämte Bemerkung! Sie verwarf die Strategie der Einsilbigkeit, dafür war sie zu ärgerlich.
„Sie glauben, ich wolle jeden Mann heiraten, der mich zum Tanz auffordert? Ist Ihnen nicht klar, dass wir praktisch keine Aufforderung ablehnen dürfen? Sollte ich sagen Nein, ich tanze nicht mit Ihnen, Sie wollen mich bestimmt nicht heiraten? Das gäbe einen netten Skandal!“
„Wie meinen Sie das, Miss Willingham?“
„Genauso wie ich es gesagt habe.“
Zurück zur Einsilbigkeit!
Diese Kombination wirkte bestimmt dämpfend, lobte sie sich selbst.
„Aber alle jungen Damen wollen doch heiraten?“
„Und die Männer nicht, außer wenn die junge Dame die lästige Beigabe zu einem hübschen Packen Staatspapiere ist. Das ist mir auch klar. Deshalb höre ich doch nicht bei jedem Gentleman, der sich vor mir verbeugt, sofort Hochzeitglocken läuten!“
„Bei Walsey jedenfalls nicht. Ist wohl auch besser so.“
„Ach.“
Das fand Kelling wohl nicht neugierig genug, jedenfalls zog er ein arrogantes Gesicht und sprach nicht mehr weiter. Ein Steingesicht ziehen konnte Portia auch; sie beschränkte sich darauf, die zweite Dame im Carré freundlich anzulächeln, eine schüchterne Debütantin, die dafür recht dankbar zu sein schien.
In verkniffenem Schweigen endete der Tanz und der Viscount brachte Portia zurück, gönnte ihr kürzest mögliche Verbeugung und entfernte sich.
„Da ist aber jemand beleidigt“, stellte Lady Tenfield fest, die hinter Melinda saß und leise vor sich hin kicherte.
„Oh, Mylady!” Portia erhob sich hastig wieder und knickste ehrerbietig. „Ja, ich glaube, er ist – nun, zumindest enttäuscht. Er wollte mir Klatsch über Lord Walsey erzählen und ich habe deutliches Desinteresse gezeigt. Lord Walsey kam mir recht vernünftig vor und Lord Kelling: nun ja.“
„Alberner Langweiler. Walsey ist vernünftig, er kennt auch meinen Neffen und einige andere kluge Männer, die sich für den ton nicht interessieren. Ich frage mich nur, warum er jetzt wieder in der Gesellschaft auftaucht…“
„Wie die meisten Menschen, die nicht ganz freiwillig auf solchen Festivitäten erscheinen, sucht er wohl nach einer Ehefrau. Wäre ich denn hier, wenn ich nicht heiraten wollte?“
„Gut gesprochen, Kindchen! Wenn man diese Suche aber hinter sich hat, ist es recht nett, sich das Treiben anzuschauen und ein bisschen mitzuklatschen. Nicht wahr, Lady Hertwood – Lady Lynet?“
Cecilia, die sich gerade neben Melinda niederließ, grinste spöttisch. „Wobei das Wissen, selbst nicht mehr Spekulationsobjekt zu sein, fast der reizvollste Aspekt sein dürfte.“
Portia lachte. „Auf diesen Tag freue ich mich schon – denn ganz ehrlich müsste ich diesen Heiratszirkus nicht ununterbrochen haben.“
„Das müsste wohl niemand“, antwortete Cecilia fächelnd. „Heiß hier… Nicht umsonst endet die Saison ja genau dann, wenn sie den Menschen zum Halse heraushängt.“
„Na, nicht deshalb, Kindchen! Das liegt wohl eher an der Parlamentspause.“
„Die haben wohl auch keine Lust mehr“, entgegnete die unbezähmbare Cecilia.
„Aber ich überlege noch, was Kelling gemeint haben könnte…“
„Was hat er denn genau gesagt?“ Melinda wollte ihr ja gerne Aufschluss geben – sofern sie konnte.
„Erst hat er festgestellt, ich hätte mit Walsey getanzt. Das habe ich nicht bestritten, wozu auch? Daraufhin meinte er, Walsey werde mich nicht heiraten.“
„Was für ein Idiot!“, kommentierte Lady Tenfield nicht gerade leise.
Portia lächelte ihr zustimmend zu. „Ich wurde natürlich wütend – soll ich bei jedem Mann, der mit mir tanzt, Heiratswünsche entwickeln? Wenn ich sogar mit einem Unsympathen wie Kelling tanzen muss? Oh, wie schade! Dass hätte ich als Argument anführen sollen, dann hätte er mich auf der Tanzfläche stehen gelassen.“
„Der Höhepunkt des Abends“, kommentierte Cecilia.
„Und ein Skandal!“, merkte Melinda sanft an. „Das war alles?“
„Nein. Er sagte noch Das ist auch besser so. Meint er, es ist besser, wenn mich niemand heiratet? Wenn ich mir keine zu großen Hoffnungen mache? Oder wenn Walsey nicht heiratet?“
„Was hast du denn geantwortet?“
„Nur noch ein betont gleichgültiges Ach? Daraufhin hat er gar nichts mehr gesagt.“ Portia zuckte die Achseln. „Verstanden habe ich das alles nicht, aber dummerweise würde es mich jetzt doch interessieren, auch wenn es, weil es von Kelling kommt, gewiss doch nur lauter Unsinn ist.“
„Vermutlich“, sinnierte Melinda und drehte sich zu Lady Tenfield. „Mylady, Sie wissen doch alles! Was könnte die Giftkröte Kelling denn gemeint haben?“
Die Angesprochene seufzte. „Das hieße, über die Angelegenheiten eines Mannes zu klatschen, der mir nie etwas getan hat. Bei Kelling selbst oder Gestalten wie Carew hätte ich da deutlich weniger Skrupel.“
„Nur das Nötigste, bitte, Mylady!“, flehte Portia.
„Es wäre mir lieber, sie fragten Hertwood oder Lynet, die doch mit ihm einigermaßen gut bekannt sind – aber nun ja. Es gab da Gerüchte über den Tod seiner Frau, vor einigen Jahren.“
„Ach, der Arme… das ist bitter. Hat er Kinder?“
„Eine kleine Tochter, soweit ich weiß.“
„Ohne Mutter… das kenne ich aus eigener Erfahrung“, sinnierte Portia.
„Es heißt, er kümmere sich sehr liebevoll um sie.“
Portia nickte gedankenverloren. „Wir haben über Waisenhäuser gesprochen…“
Die Musik setzte wieder ein und ihr Herz sank, denn es kam ein junger Mann auf sie zu, der trotz seiner noch jungen Jahre schon recht wohlbeleibt war und mit seinen leicht vorquellenden, leer dreinblickenden blassblauen Augen einen wenig intelligenten Eindruck vermittelte – einen Eindruck, der sich schon bei Tänzen in der letzten Saison auch bestätigt hatte.
„Bezaubernde Miss Willingham!“
„Wie bitte, Sir Alexander?“
„Was meinen Sie?“ Jetzt staunte er auch noch mit offenem Mund!
„Das tut wohl nichts zu Sache, Sir Alexander.“ Sie bemühte sich streng dreinzusehen, vielleicht erinnerte ihn das an seine Nanny (derer er immer noch zu bedürfen schien) und er benahm sich geringfügig besser?
Nein, er griff nach ihrer Hand und zog sie hoch. „Kommen Sie tanzen!“
Sie konnte sich nicht wehren, ohne Aufsehen zu erregen, aber sie zischte ihm auf dem Weg zur Tanzfläche doch zu: „Könnten Sie das vielleicht etwas gesitteter gestalten, anstatt mich durch die Gegend zu zerren?“
„Was haben Sie denn plötzlich?“
Ihr Glück, dass es kein Walzer war! Bei einer Allemande konnte er sich wenigstens nicht so dicht an sie pressen…
„Was heißt hier plötzlich? Ich wüsste nicht, dass ich schon einmal Gefallen in schlechtem Betragen gefunden hätte!“
„Ich kann mich gar nicht schlecht benehmen, immerhin bin ich ein Baronet!“
Was für ein dümmliches Argument: Sogar der Prince of Wales konnte sich schlecht benehmen - und das nicht zu knapp!
Aber das sagte sie jetzt besser nicht, am besten schwieg sie überhaupt und zog eine belästigte Miene!
„Wenn Sie so hochnäsig dreinschauen, sehen Sie besonders reizend aus.“
Verflixt! Und das hätte sie jetzt beinahe auch noch laut gesagt…
„Ach.“
Die Allemande schien ihr ewig zu dauern, aber immerhin machte Sir Alexander keine Andeutungen über Walsey. Das konnte natürlich auch daran liegen, dass er den Klatsch der Leute nicht mitbekam, schließlich sah er nicht nur recht töricht drein, er war auch nicht gerade das, was man geistvoll oder auch nur einigermaßen klug nannte.
Er verneigte sich, als die Musik verklang und ließ sie alleine zu ihren Bekannten zurückfinden. Nicht, dass sie das nicht auch selbst fertigbrachte – aber seine Manieren waren wirklich unter aller Kritik!
„Diesem Lümmel sollte jemand mal angemessenes Benehmen einprügeln“, fand Lady Tenfield.
Portia lächelte. „Aber Mylady, Sie verstehen nicht – er ist ein Baronet und hat von daher doch automatisch eine perfekte Aufführung, oder etwa nicht?“
Die alte Dame kicherte beglückt. „Das würde ich ja zu gerne ein wenig unter die Leute bringen.“
„Aber von Herzen gerne!“ Portia setzte sich, zupfte ihr Kleid zurecht und seufzte. Sie würde wirklich gerne heiraten – einen vernünftigen, klugen und netten Mann! – und bestimmt zwei, drei Jahre lang keinen Ballsaal mehr von innen sehen…
Nach einigen Minuten stand sie wieder auf und schlenderte einmal durch den Ballsaal, unterhielt sich mit einigen Mädchen, mit denen sie sich angefreundet hatte, trank mit Cecilia de Lys ein Glas Champagner, spottete mit ihr über ein grauenvolles Ballkleid in schreiendem Purpur, abgesetzt mit jadegrünem Samt, passend zum Turban in Grün mit einer purpurn gefärbten Feder. Leider wussten sie beide nicht, wer die fragliche Dame war. Cecilia tanzte danach mit ihrem Gemahl und Portia kehrte zu Melinda zurück, die etwas müde wirkte und sehr gerne bereit war, nach Hause zu fahren und Portia unterwegs in der South Audley Street abzuliefern.
Im Wagen atmete Portia tief auf.
„So schrecklich?“, fragte Melinda mitfühlend.
„Nun ja… ich bin dir und Cecilia so dankbar, dass ihr mich chaperoniert, wenn Tante Margaret dazu nicht in der Lage ist, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich mir heute erst gedacht, sobald ich einen annehmbaren Mann gefunden habe, möchte ich einige Jahre lang keinen Ballsaal mehr sehen. Vor allem Kelling und Sir Alexander Jessen waren wirklich unangenehm.“
„Ich habe mich schon gefragt, warum diese beiden plötzlich an dir so interessiert sind“, sinnierte Melinda.
„Also, so ein Schreckmittel bin ich doch auch nicht!“, empörte sich Portia nur halb im Scherz.
„Natürlich nicht, aber ich frage mich… ausgerechnet diese beiden – mit Verlaub – Trottel? Was haben sie außer schlechten Manieren noch gemein? Ich muss Sebastian fragen, er weiß es bestimmt.“
„Und dann diese seltsame Art, Walsey bei mir anzuschwärzen, nur weil ich einmal mit ihm getanzt habe…“
„Du hast dich auch recht lange mit ihm unterhalten. War es ein gutes Gespräch?“
„Oh, das finde ich schon. Was man für Waisenkinder tun müsste, ist doch wohl interessanter als das Wetter, der überfüllte Ballsaal oder die Frage, ob der Pavillon des Regenten in Brighton grauenvoll oder wunderschön ist. Dass er nicht an Reformen interessiert zu sein scheint, finde ich deutlich wichtiger – und ärgerlicher.“
„Aber die meisten Gentlemen finden, über so etwas sollte sich eine Lady nicht ihr hübsches Köpfchen zerbrechen.“
„Natürlich! Wer nicht mitdenkt oder nicht mitdenken darf, ist doch viel leichter zu beherrschen!“
„Sehr guter Gedanke, Portia! Und gut, dass uns hier niemand hören kann, sonst schrumpfte die Auswahl an netten Männern wohl beträchtlich…“
Portia schnaubte. „Einen, der mir das Denken verbietet, will ich gar nicht! Dann lieber gar keinen.“
„Aber wovon willst du dann leben?“
„Habt ihr nicht ein leeres kleines Cottage auf Herrion?“
Melinda riss die Augen auf und Portia lachte. „Das war nur ein Witz! Ich würde euch nicht auf der Tasche liegen wollen, ihr tut schon genug für mich! Ich bin euch ja so dankbar…“