Eine vernünftige Verbindung - Catherine St.John - E-Book

Eine vernünftige Verbindung E-Book

Catherine St.John

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Beschreibung

Der alte Earl of Eastley setzt seinen Enkel Miles unter Druck, endlich zu heiraten und für die Nachfolge zu sorgen. Ansonsten werde Miles nur den Titel und den verfallenden Stammsitz Easton Manor erben, aber nicht die viel schönere und komfortablere Eastley Hall. Sir Charles Allington versucht zu beweisen, dass seiner Familie eigentlich ein Herzogstitel zustehen müsste und kümmert sich darüber hinaus um rein gar nichts. Seine Tochter Emily verzweifelt allmählich an der wachsenden Geldnot und der Tatsache, dass ihr kleiner Bruder nicht auf eine gute Schule geschickt werden kann, weil es nicht einmal fürs Schulgeld reicht. Nach einem zufälligen Zusammentreffen stellen Miles und Emily gemeinsame Interessen fest und heiraten. Das junge Paar bezieht das arg vernachlässigte Manor und geht an die Arbeit; der junge William wird nach Eton gebracht. Das Manor ist schmutzig, fast unmöbliert und merkwürdig verschachtelt gebaut - immer wieder stürzt etwas um, Türen nach draußen stehen offen, Schmuck findet sich an den seltsamsten Stellen und Emily wird sogar niedergeschlagen. Treibt eine Bande von Juwelendieben hier ihr Unwesen? Der alte Earl und die Nachbarn sind nur begrenzt hilfreich und so dauert es etwas, bis Miles und Emily das Geheimnis aufklären und den spukartigen Vorfällen ein Ende machen können. Dabei sind sie sich aber immer näher gekommen und so wird aus der vernünftigen auch eine Verbindung voller Liebe.

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Imprint

Eine vernünftige Verbindung. Historischer Roman

Catherine St.John

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de Copyright: © 2020 R. John 85540 Haar

Cover: Edmund Blair Leighton: The Wedding Register

ISBN 978-3-753108-01-8

Kapitel 1

„Ich verstehe nicht recht, Sir?“

George Easton, der dritte Earl of Eastley, saß mit unbewegter Miene in seinem Lieblingsstuhl, einem wahren Monster, mit dunkelrotem Brokat bezogen und auf wirklich abscheulichen Klauenfüßen ruhend. „Du hast mich sehr wohl verstanden, junger Nichtsnutz!“

„Jung, Sir? Ich bin immerhin fünfunddreißig!“

Der Earl kicherte greisenhaft. „Aus meiner Sicht ist das jung. Außerdem solltest du in deinem Alter doch wenigstens eine Ehefrau und eine Schar Kinderchen aufzuweisen haben. Was hast du bis jetzt geleistet in diesen fünfunddreißig Jahren?“

Diese Frage brachte seinen Enkel, Miles Easton, in Verlegenheit. Auf erlesene Kleidung und große Fertigkeit im Reiten, Kutschieren, Fechten und Schießen hinzuweisen, war gewiss vergeblich – und alles andere ging den Earl nichts an. Der alte Herr würde ja doch nur abfällig schnauben!

„Was erwarten Sie also von mir, Sir?“

„Dreimal darfst du raten, junger Tunichtgut. Du weißt, dass du mein Erbe sein solltest?“

„Nun, Sir, gewiss doch.“

„Und was hast du bisher getan, um die Erbfolge sicherzustellen? Im Moment ist dein Erbe dein Cousin Jim – kein Eastley, sondern ein Fenwick, aber ein braver Junge.“

„Ich wüsste nicht, dass er bereits für die nötigen zwei Söhne gesorgt hätte“, antwortete Miles verdrießlich, dem das Thema des Gesprächs zu einer so frühen Tageszeit durchaus Kopfschmerzen bereitete.

Der Earl grinste kurz. „Er scheint sich aber nach einer passenden Frau umzusehen! Ich höre, dass er fleißig Bälle besucht.“

„Ich wünsche ihm viel Erfolg dabei“, murmelte Miles. Jim war ja ein ordentlicher Kerl, aber er hatte nur ein bescheidenes Vermögen, war lediglich ein Baronet und sah so durchschnittlich aus, dass man sich seiner kaum erinnerte. Sehr hoch konnte er seine Augen damit wohl kaum erheben.

„Sei nicht so hochmütig“, warnte sein Großvater, der bekanntlich Gedanken lesen konnte. „Was hättest du bei der Brautwerbung denn anzubieten, wenn man davon ansieht, dass du ein ganz hübsches Bürschchen bist?“

Miles grinste vorsichtig. „Nun, meine Frau wird eines Tages eine Countess sein, nicht wahr?“

„Gut gegeben. Ja, das bleibt dir auf jeden Fall.“

„Auf jeden Fall? Was ist mit – dem hier?“ Er beschrieb mit weit ausholender Handbewegung Eastley Hall und die Ländereien rundherum.

„Das“, antwortete Seine Lordschaft maliziös, „gehört nicht zum Earldom. Ich kann darüber verfügen, wie ich möchte. Und ich denke nicht, dass ich es einem jungen Nichtstuer hinterlassen werde, der herumtändelt und nicht daran denkt, die Linie fortzusetzen, obwohl er aus den Jugendjahren schon längst heraus sein sollte. Vielleicht erweist sich Jim ja doch als der bessere Erbe…“

Miles starrte seinen Großvater an.

„Mach den Mund zu“, empfahl dieser ärgerlich, „so siehst du recht dümmlich aus. Dir bleibt ja immer noch Easton Manor, nicht wahr?“

„Dieser Trümmerhaufen?“, ächzte Miles. „Darin kann man nicht wohnen!“

„Nun, das ist Ansichtssache, nicht wahr? Ein Dach hättest du dort über dem Kopf, ob es freilich dicht genug ist, den Regen abzuhalten… eigentlich wäre das genau die richtige Aufgabe für dich, wenn ich es mir recht überlege! Ich denke, so werde ich verfügen.“

„Was erwarten Sie dann von mir?“

„Junge! Geh und such dir eine Frau! Bring mit ihr Easton Manor in Schwung und zeuge zwei Erben, dann bekommst du am Ende auch Eastley Hall – all dies hier.“

Er nahm zierlich eine Prise, ganz im Stil des vergangenen Jahrhunderts, und betrachtete seinen Enkel lauernd.

Der grunzte unwillig. „Mir bleibt ja wohl keine Wahl, nicht wahr? Haben Sie noch irgendwelche Wünsche bezüglich Ihrer künftigen Enkelin?“

„Nein. Sie soll dir gefallen – ach, doch: bitte keine Straßendirne aus dem East End und keine raffgierige Witwe vom Rande der besseren Gesellschaft.“

„Ich finde keinen Gefallen an ordinären Personen“, verwahrte Miles sich, ehrlich beleidigt.

„Dann bin ich ja beruhigt“, behauptete der Earl, der sich stets bemühte, sich über das Tun und Lassen seines Enkels zu informieren. „Such dir eine vernünftige junge Frau, die zupacken und später einmal als Countess auftreten kann. Falls die beiden Erben sich fristgerecht einstellen, heißt das.“

„Was bedeutet hier fristgerecht?“

„Ich gebe dir insgesamt drei Jahre, aber hoffentlich weißt du, dass sich Kinder nicht von heute auf morgen herstellen lassen? Also geh an die Arbeit!“

„Danke für den Hinweis, Sir.“ Miles verbeugte sich mit zusammengebissenen Zähnen und wandte sich zum Gehen.

Er war schon fast an der Tür der gewaltigen Bibliothek angekommen, als der Earl ihn noch einmal zurückrief. „Hast du nicht etwas vergessen?“

„Ich wüsste nicht, Sir.“

„Brauchst du kein Geld?“

„Nein. Ich habe für meine Bedürfnisse genug. Und Sie würden mich ja doch nur betteln lassen und mir am Ende jede Hilfe verweigern. Ich komme schon zurecht. Gehaben Sie sich wohl, Euer Lordschaft.“

Der Krach, mit dem die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel, stellte ihn ausgesprochen zufrieden, allerdings musste er einige Minuten später zugegeben, dass seine Reaktion doch etwas kindisch gewesen war.

Trotzdem: dieser alte Teufel! Erpresste ihn mit dem Hinweis auf den Simpel Jim! Dass der früher eine Frau fand als er selbst: unvorstellbar! Aber wenn doch? Dann wäre Eastley Hall verloren – und er liebte dieses großzügige und trotzdem gemütliche Haus.

Kapitel 2

Er stieg auf Dawn, der sich nur recht ungern von der Heuraufe in den gräflichen Stallungen hatte wegführen lassen, und machte sich auf den Weg nach Hause. Die Wohnung in der Jermyn Street erschien ihm, als er so darüber nachdachte, recht klein. Und in London stank es entsetzlich. Erstaunlich, dass die Luft auf Eastley Hall so viel besser war, so frisch und kühl! Zu Pferd war man ja kaum zwei Stunden unterwegs – und ein solcher Unterschied?

Dawn trabte gemächlich vor sich hin, aber es dauerte nicht lange, bis Miles feststellte, dass sein Pferd immer langsamer wurde und etwas ungleichmäßig ging.

Er saß ab und führte Dawn einige Schritte, um zu sehen, welches Bein er schonte, und inspizierte den rechten Vorderfuß. Dem Bein schien nichts zu fehlen, als er es vorsichtig abtastete, und Dawns Schnauben klang leicht ungeduldig, als wollte er sagen Doch nicht da, du Dummkopf! Der Huf? Das Eisen saß noch fest und in den Huf selbst hatte Dawn sich wohl auch nichts eingetreten – bei dem kräftigen Eisen wohl auch kaum möglich!

„Kann es sein, dass du nur keine Lust mehr hast, du Komödiant?“, murmelte Miles ihm ins Ohr. Dawn bewegte aufmerksam die Ohren, schnaubte und schüttelte den Kopf. Ob das etwas zu bedeuten hatte?

Nun, er würde ihn eine Zeitlang führen, vielleicht erholte er sich, wenn er kein Gewicht zu tragen hatte?

Sie schlenderten dahin, Miles genoss die spätnachmittägliche Sonne, die durch die Bäume links und rechts der Landstraße schien, und Dawn schien einigermaßen zufrieden zu sein, denn er schnaubte immer leiser. Miles klopfte ihm den samtigen hellgrauen Hals und fragte: „Besser?“, erhielt aber leider keine Antwort. Oder war gar kein Geräusch auch eine Antwort?

Schließlich tauchte rechter Hand eine recht klägliche Hütte auf; Miles betätigte zaghaft den Türklopfer, denn die Hütte sah aus, als wolle sie gleich in sich zusammenfallen.

Auch ein mutigeres Klopfen einige Minuten später zeitigte keine Wirkung, also wandte er sich achselzuckend wieder der Straße zu. Vielleicht gab es ja auch noch weniger verlassene Behausungen, wenn er weiterwanderte?

Allmählich wurde er müde – und Dawn schien wieder stärker zu humpeln. Endlich tauchte linker Hand ein winziges Pförtnerhäuschen auf. Eindeutig war es unbewohnt, aber bevor er sich enttäuscht wieder aufmachen wollte, entdeckte er den arg verunkrauteten Weg neben dem Pförtnerhäuschen. Ein Blick diesen Weg entlang verriet ihm, dass am Ende ein deutlich größeres Haus stand, geradezu ein bescheideneres Landhaus – und bewohnt schien es auch zu sein, jedenfalls stieg aus einigen der zahlreichen Schornsteine dünner Rauch auf. Und hatte er rechts hinter dem Haus nicht auch Stallgebäude gesehen? Wie sollten die Bewohner denn sonst jemals aus dem Haus kommen, wenigstens des Sonntags zur Kirche?

Vielleicht gab es einen Stallknecht, der herausfand, warum Dawn humpelte?

Jetzt bräuchte er den alten Harry… oder wenigstens seinen eigenen Nate!

Das Landhaus wirkte gleichzeitig sauber und vernachlässigt; Miles grübelte darüber nach, warum es diesen Eindruck erweckte und kam zu dem Schluss, dass hier wohl jemand mit geringen Einkünften um Sauberkeit bemüht war, sich aber umfassende Renovierungsarbeiten nicht leisten konnte.

Warum kam ihm dabei Easton Manor in den Sinn? Dort war es mit Sauberkeit ja wohl bei weitem nicht mehr getan!

Er betätigte den Klopfer und kurz darauf wurde die Tür aufgerissen. Miles sah nach unten, wo ihn ein vielleicht elfjähriger Junge anstrahlte: „Jö, was für´n feiner Gaul!“

„William“, hörte man eine Frauenstimme aus dem Hintergrund, „musst du so bäurisch sprechen? Bitte noch einmal!“

William rollte die Augen und grinste, dann verbeugte er sich artig und verkündete: „Oh, welch schönes Pferd! Ist es so besser, Em?“

„Viel besser. Und mit wem sprichst du da eigentlich?“

Die Frau kam näher und Miles registrierte, dass sie recht groß war, jung, aber kein Debütantinnen-Gänschen mehr, nach hinten gebundene blonde Haare und ein recht angenehmes Gesicht aufzuweisen hatte und ihn mit beträchtlichem Misstrauen musterte.

„Und Sie sind, Sir - ?“

Miles verbeugte sich. „Miles Easton, Ma´am. Ich kam hier zufällig vorbei und wollte nur fragen, ob Sie vielleicht einen Stallknecht entbehren könnten, der mit mir zusammen herausfinden würde, warum Dawn humpelt.“

Das intelligente Tier schnaubte leidend und hob den schmerzenden Fuß; Miles klopfte ihm den Hals.

„Dies ist das Haus von Sir Charles Allington, Mr. Easton. Ich bin Miss Allington und dies ist mein Bruder William. Einen Stallknecht haben wir leider nicht, aber ich bin sicher, William wäre Ihnen nur allzu gerne behilflich.“

William strahlte und seine Schwester fügte hinzu: „Deine lateinische Lektion erledigst du eben später, nicht wahr?“

Das Strahlen erlosch prompt.

„Du würdest mir helfen, William?“

„Na klar, Sir! Gerne! So ein tolles Pferd!“

„Dawn ist auch sehr freundlich und wohlerzogen. Und normalerweise auch schnell und ausdauernd. Irgendetwas ist mit seinem Huf rechts vorne. Der Lauf ist es nicht, das habe ich schon überprüft.“

William trat nach draußen und hielt Dawn seine Hand hin. Dawn schnupperte und schnaubte wohlwollend. Miles reichte William unauffällig eine Mohrrübe, die Dawn artig entgegennahm und knurpsend verspeiste. Danach durfte William die Zügel nehmen und den Hengst zum Stall führen, Miles folgte brav.

Im Stall standen eine hübsche Fuchsstute, ein schwarzer Wallach, ein großer dunkelgrauer Hengst, der ärgerlich die Zähne bleckte, als ein fremdes Tier hereinkam, und ein etwas zottiges Tier, das wohl das Gig in der Ecke zu ziehen hatte.

„Keine schlechte Auswahl“, lobte Miles, als er sich umsah.

„Ach ja“, antwortete William eifrig, „aber ein anständiges Paar Kutschpferde wären schon auch gut. Komm, Dawn, da gibt es etwas Hafer!“ Dawns Kopf steckte schon im Hafertrog und so konnte William seinen Vorderfuß anheben und den Huf inspizieren. Dawn fraß zufrieden, aber als William probeweise auf das Hufeisen drückte, zuckte der Hengst mit dem Fuß.

„Da muss etwas sein… aber sehen tu ich nichts.“

Miles reckte den Hals. „Ja, das habe ich auch schon überprüft und auch nichts gesehen.“

„Aber er reagiert empfindlich auf den Druck“, überlegte William, „vielleicht ist etwas zwischen Huf und Eisen geraten?“

„Dann gehen wir besser wieder nach draußen“, nickte Miles, „wir brauchen helleres Licht.“

Draußen fuhr William mit einer dünnen Feile zwischen Huf und Eisen. Dawn schien geneigt, das übelzunehmen, aber Miles hielt ihn am kurzen Zügel und sprach beruhigend auf ihn ein. Schließlich förderte William tatsächlich einen winzigen Kieselstein zutage und zeigte ihn zuerst Dawn, der die Augen verdrehte, und dann seinem Besitzer. Miles nickte zufrieden. „Das wird es gewesen sein!“

„Sehen wir ja gleich!“ William ließ den Vorderlauf vorsichtig los und Dawn stellte das Bein ebenso vorsichtig auf den Boden, dann stupste er William mit den Nüstern an. Miles ließ unauffällig eine weitere Mohrrübe in Williams Hand wandern, die auch umgehend verspeist wurde. „Wenn wir so weiter machen, werde ich zu Fuß nach London zurückkehren müssen. Dawn wird lieber hierbleiben wollen.“

William kicherte erfreut. „Gerne! Zwei Boxen wären ja noch frei! Aber nach London ist es noch recht weit, gell?“

„Zu Fuß auf jeden Fall.“

„Wir können Dawn noch ein bisschen Hafer geben, Sir – und Sie könnten vielleicht ein Bier vertragen?“

Das hielt Miles für eine sehr gute Idee.

Das Landhaus war wirklich klein, aber durchaus gemütlich; Williams Schwester servierte dem Gast einen Krug Bier und brachte für sich und ihren Bruder Tee, dazu gab es hauchdünne Butterbrote mit Brunnenkresse und frischem Dill.

Miles lobte das Brot, von dem er schon die Hälfte verspeist hatte und machte der Dame auch Komplimente zu dem hübschen Raum, in dem sie saßen.

„Danke“, war die trockene Antwort, „aber das ist vielleicht weniger guter Geschmack als mangelndes Vermögen. Für Zimmerschmuck nach der Mode haben wir kein Geld.“

„Unser Vater will beweisen, dass wir zur Familie des Herzogs von Sherborne gehören“, erklärte William, eifrig kauend.

„Nicht mit vollem Mund, Brüderchen“, mahnte seine Schwester so, dass man die langjährige Routine deutlich heraushörte.

„Dazugehören ist milde formuliert“, präzisierte Miss Allington sodann, „er möchte nachweisen, dass er den Herzogstitel tragen müsste. Deshalb sitzt er Tag und Nacht über uralten Dokumenten. Offenbar hat sich – seiner Theorie nach – ungefähr zu Oliver Cromwells Zeiten ein Zweig abgespalten.“

„Und diesem Zweig gehören Sie an?“

Sie grinste, anders konnte man es nicht nennen, und sah plötzlich aus wie ein junger Lausbub – wie ihr kleiner Bruder.

„Aber nicht doch! Auf diesem Nebenzweig sitzt der jetzige Herzog mit seiner Familie. Papa zufolge stellen wir den Hauptzweig dar. Nur interessiert das niemanden außer ihm.“

„Und wer kümmert sich hier um den Besitz? Ihr Vater scheint ja recht – hm – abgelenkt zu sein?“

„Papa kommt nie aus seinem Studierzimmer“, antwortete William, dieses Mal nicht mit vollem Mund. Seine Schwester nickte lobend und erklärte: „William kümmert sich um den Stall und ich verwalte den Besitz, der – man muss sagen, glücklicherweise – nicht allzu groß ist. Für das Haus haben wir noch ein Dienstmädchen. Die Böden muss ich also nicht schrubben. Eigentlich haben wir gerade so unser Auskommen, nur würde ich William gerne nach Eton schicken.“

„Dann müssten Sie sich auch noch um die Pferde kümmern? Das wird dann wohl doch zu viel für Sie, nicht wahr?“

„Das wäre wohl nicht das Problem, nur können wir das Schulgeld nicht aufbringen – und William ist wirklich ein kluger Junge, der eine angemessene Erziehung bekommen sollte.“

Miles trank einen Schluck Bier und betrachtete sein Gegenüber nachdenklich. Sie war keine Schönheit, sah aber angenehm aus, sie war schlicht, aber geschmackvoll gekleidet und hatte, soweit er es im Moment sehen konnte, eine hübsche Figur. Dem alten Teufel würde sie gefallen…

„Wie bitte?“ Miss Allington war erboste Röte ins Gesicht gestiegen.

Er erschrak. „Das habe ich jetzt aber nicht laut gesagt, oder?“

„Leider doch“, schnappte sie.

„Wer ist denn der alte Teufel?“, wollte William wissen, der sich wohl eine spannende Geschichte erhoffte.

Miles seufzte. „Mein Großvater. Ich habe ihn auf Eastley Hall besucht und er findet, ich sollte umgehend heiraten.“

„Ist das so schlimm?“

„Wie man es nimmt… bist du für eine solche Diskussion nicht noch ein bisschen zu jung?“

„William, deine lateinische Lektion!“, mahnte seine Schwester. „Geh hinauf und mach die Arbeit fertig, der Reverend will sie morgen sehen.“

William murrte pro forma, ging aber doch ohne weiteren Widerspruch, vor allem, als Miles sich bei ihm noch einmal für seine Hilfe bedankt hatte.

Sobald sich die Tür geschlossen hatte, sah Miss Allington Miles aufmerksam an. „Viele Eltern und Großeltern wünschen sich, dass ihre Kinder oder Enkel heiraten… sind sie alle deshalb alte Teufel?“

„Nein, sicherlich nicht. Der Wunsch ist ja ganz natürlich, nicht wahr?“

„Ja, vermutlich.“ Das klang etwas schwächlich.

„Ihr Vater wünscht sich nicht, dass Sie heiraten?“

„Ich glaube nicht, dass er meine – oder Williams – Existenz seiner Aufmerksamkeit wert findet. Dazu ist die Jagd nach diesem imaginären Herzogstitel wohl zu wichtig.“

Das hatte erstaunlich wenig bitter geklungen – eigentlich nur ein wenig, als sie von William gesprochen hatte.

 „Das wäre aber doch seine Pflicht“, stellte er also streng fest. „Er macht sich gar keine Gedanken über seine Kinder?“

„Nein, absolut nicht.“

In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und ein älterer Herr im Schlafrock, eine Brille auf der Nase und ungekämmte Reste grauen Haupthaars rund um das faltige Gesicht, trottete herein. „Tee?“

Miss Allington goss ihm eine Tasse ein und reichte sie ihm. „Hier, Papa.“

Miles hatte sich artig erhoben und verbeugte sich nun. „Sir Charles, darf ich mich vorstellen?“

Sir Charles sah ihm einen Moment lang ins Gesicht, gab dann ein undefinierbares Geräusch von sich, griff mit der freien Hand nach einem Butterbrot von der Platte und verschwand wieder.

„Tut mir sehr leid, Mr. Easton, aber so ist er immer“, erklärte seine Tochter verlegen.

„Eigentlich seltsam“, fand Miles. „Ich könnte doch jemand sein, der einen wichtigen Stammbaum beschaffen könnte? Und dann ignoriert er mich?“

Miss Allington lachte auf. „Ganz recht! Manchmal frage ich mich allerdings, ob er noch selbst an seine Theorie glaubt. Vielleicht weiß er, dass es einen solchen Stammbaum gar nicht geben kann?“

„Und trotzdem hält er daran fest?“

„In Ermangelung einer anderen Wahnidee, wahrscheinlich. So kann er sich vorstellen, er sei ein großer Gelehrter, ein Historiker und Heraldiker. Aber eigentlich wollten Sie mir doch erklären, warum Ihr Großvater ein alter Teufel ist, nur weil er gerne eine Schwiegerenkelin hätte?“

„Und die zwei nötigen Urenkel“, grummelte Miles.

„Ach, Sie sollen die Linie fortsetzen?“

„Richtig. Er hat mir gedroht, wenn ich nicht bald „vernünftig“ werde, werde ich nur erben, was an den Titel gebunden ist, also ein praktisch unbewohnbares Stammschloss. Alles Schönere, also Eastley Hall und das gesamte Vermögen, fiele dann an einen braven Cousin.“

„Der schon zwei Erben in die Welt gesetzt hat, ich verstehe“, nickte Miss Allington.

„Aber nicht doch, er ist genauso unverheiratet wie ich, scheint aber auf unseren Großvater einen zuverlässigeren Eindruck zu machen als ich. Nun ja, James ist wohl wirklich harmlos – aber das bin ich doch auch?“

Miss Allington lachte wieder. „Sehen Sie mich nicht so auffordernd an, ich kenne Sie doch gar nicht! Dass Sie einen schönen Grauschimmel namens Dawn reiten und Ihr Großvater, der alte Teufel, Sie enterben will, ist noch kein umfassendes Charakterbild!“

„Sie formulieren das sehr hübsch, Miss Allington.“

„Danke schön. Noch ein Bier?“

„Danke, nein. Ich denke, ich sollte jetzt aufbrechen, wenn ich noch bei Tageslicht nach London kommen möchte. Aber ich habe vor, bald wieder vorbeizukommen, ich glaube nämlich, ich habe eine Idee, wie uns beiden – und William! - geholfen werden könnte.“

„Ach ja?“ Sie erhob sich und er tat es ihr gleich.

„Das erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal, ich muss das alles noch durchdenken. Grüßen Sie den jungen William herzlich von mir! Ihrem Vater dürfte ein Gruß von mir wohl gleichgültig sein, nehme ich an?“

„Da gebe ich Ihnen Recht. Er hat sicherlich schon völlig vergessen, dass er vorhin hier einen Fremden gesehen hat. Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Heimritt.“

An der Tür küsste er ihr die Hand, was sie mit recht aufschlussreichem Erstaunen, aber guter Haltung quittierte.

Dawn blinzelte ihm satt und zufrieden entgegen und schnaubte leise, als Miles sich in den Sattel schwang.

Kapitel 3

Es war doch schon dunkel, als Dawns Hufe über das Pflaster von Piccadilly klapperten. Miles war so geistesabwesend, dass man von Glück sprechen konnte, dass Dawn den Heimweg auch alleine fand.

Schließlich blieb der Hengst in der Stallgasse hinter dem Haus stehen und gab ein mahnendes Geräusch von sich. Miles kehrte in die Wirklichkeit zurück, saß ab und rief einen Burschen aus dem Mietstall, der auch sofort kam und begann, das Pferd abzureiben. Miles steckte ihm noch eine Mohrrübe zu, klopfte ihm den Hals und begab sich in seine Wohnung, wo ihn sein Diener Nate empfing, ein kleiner, drahtiger Bursche, der ursprünglich aus dem East End stammte. „Willkommen zurück, Sir, hatten Sie einen angenehmen Aufenthalt?“

„Teils, teils“, seufzte Miles und trat ein, so dass Nate ihm Hut und Mantel abnehmen konnte. Schließlich kniete er vor ihm und zog ihm die Reitstiefel von den Füßen, nicht ohne das Leder misstrauisch zu inspizieren – nicht, dass der Herr einen Kratzer hineinpraktiziert hatte! Nein, alles tadellos…

„Werden Sie später noch ausgehen, Sir?“

„Ich glaube nicht, ich habe einiges zu überlegen. Bring mir einen Brandy und zwei Sandwiches ins Arbeitszimmer, Nate.“

Dort saß er dann, schaute gedankenvoll ins Kaminfeuer, nippte an seinem Brandy und dachte an den vergangenen Tag.

Der alte Teufel! Das war doch die reinste Erpressung! Würde er wirklich Eastley Hall dem kleinen Langweiler James vererben? Und er selbst bekäme nur diesen heruntergewirtschafteten Steinhaufen, Easton Manor? Aber der Alte war niemand, der leere Drohungen ausstieß…

Was beim Jupiter konnte ihn denn so verärgert haben? Miles war nun wirklich nicht der Enkel, der jede Woche beim Großvater auftauchte und um Geld bettelte! Er hatte ihn noch nie angebettelt. Gut, mit Ausnahme dieses einen Mals, als er gerade nach Eton gekommen war – aber so nachtragend konnte der Alte doch wirklich nicht sein, nach fünfundzwanzig Jahren?

Und damals hatte er gerade mal eine Guinee erbettelt! Der Earl war steinreich, vermutete Miles. Man musste ja nur an Eastley Hall denken, an das Jagdhaus in Melton Mowbray, an Eastley House in Mayfair… und ein großes Vermögen in sicheren Staatspapieren musste er doch auch besitzen?

Miles selbst hielt nicht viel von Staatspapieren – sicher waren sie, denn was sollte England schon zustoßen, wenn nicht einmal Boney es geschafft hatte? Die Rendite war freilich entsprechend dürftig… er selbst investierte lieber in vielversprechende Projekte wie Kanäle, Fabriken und landwirtschaftliche Neuerungen. Dabei riskierte man vielleicht mehr, aber dafür war der Gewinn auch höher, wenn man sich nicht geradeverspekulierte… Er konnte mit seinen Finanzen durchaus zufrieden sein, aber davon konnte er einen Steinhaufen aus dem sechzehnten Jahrhundert wohl kaum instandsetzen! Und obendrein eine Familie ernähren! Und das außerdem auf dem platten Land, wo man die neuesten Gerüchte und Projekte nicht zu hören bekam!

Dieser alte Teufel… er hatte ihn wirklich im Würgegriff.

Der Steinhaufen war allerdings nur etwa zehn Meilen vom Haus der Allingtons entfernt, also vielleicht knapp zwei Stunden von seiner Wohnung hier. Wenn er auf Easton Manor wohnen würde – besser gesagt: hausen, denn wohnen konnte man das ja kaum nennen – , könnte er doch vier-, fünfmal in der Woche in die Stadt reiten oder fahren, sich in den Clubs umhören, an der Börse vorbeischauen, Kontakte pflegen…

Andererseits: heiraten?

Warum trat ihm jetzt wieder diese Miss Allington vor Augen? Sie war nett, das konnte er nicht bestreiten. Sie verstand offenbar, aus wenig etwas zu machen. Sie kümmerte sich gut um ihren Bruder, der sie eindeutig sehr schätzte. Der Vater freilich war offenbar nicht recht bei Trost.

Hatte er keine anderen Möglichkeiten? Was war mit seiner reizenden Christabelle, bei der sich allerdings manchmal fragte, ob sie wirklich auf diesen Namen getauft war? Und eine Tänzerin konnte er nun wirklich nicht heiraten! Zumindest war sie nicht das, was er dem alten Teufel präsentieren konnte. Im Steinhaufen konnte er sie sich auch nicht vorstellen: Die süße Christabelle, die so viel Sinn für Luxus hatte, würde sich da schön bedanken!

Nur gut, dass diesen Luxus auch noch andere finanzierten – er selbst war wahrscheinlich der knickerigste unter ihren Verehrern.

Wenn er heiraten sollte, war es mit solchen Amüsements ohnehin vorbei, denn so sahen seine Vorstellung einer guten Ehe nicht aus, auch wenn man aus vernünftigen Erwägungen heraus geheiratet hatte.

Welche Frau würde sich für einen Mann interessieren, der möglicherweise nur ein verfallenes Herrenhaus erben würde – schließlich konnten ja immer noch die beiden Söhne ausbleiben, nicht wahr? Eine Countess werden: gut, aber dafür in einer Ruine hausen?

Miss Allington freilich war ein solches Leben wohl schon gewöhnt…

Sie war recht hübsch, sie war absolut nicht dumm und sie schien tatkräftig. Er wiederum hatte genug Geld, um William nach Eton zu schicken – und auch gute Beziehungen zu dieser Schule. Ob sie das überzeugen konnte?

Und was würde Phoebe dazu sagen? Sie wohnte notgedrungen auf Eastley Hall und wurde von ihrer Gouvernante erzogen. Ab und zu schrieb sie ihrem großen Bruder und beklagte sich, wie langweilig es auf Eastley Hall sei, immer nur Unterricht und bestenfalls eine Stunde ausreiten pro Tag, Miss Primford sei aber eine so schlechte Reiterin, dass man nur im Schritt gehen könne. Nachbarn kämen auch nie zu Besuch, für Geselligkeiten sei sie noch zu jung, behaupte der Großvater, der sie überhaupt gar nicht verstehe…

Der Gedanke an Phoebe sprach auch dafür, dass er wirklich über eine Heirat nachdenken sollte. Aber konnte er seine kleine Halbschwester mit ihren zwölf Jahren wirklich in den Steinhaufen holen?

Konnte er über den Steinhaufen überhaupt verfügen? Falls nicht – wo sollte er mit seiner Frau, den erhofften zwei Söhnen und obendrein noch Phoebe und ihrer Gouvernante eigentlich wohnen? Die Wohnung hier war doch eher eine Junggesellenwohnung – ein Salon, ein Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und eine Kammer für Nate. Außerdem eine Badekammer und außerhalb der Wohnung ein Örtchen mit Wasserspülung, für jede Wohnung ein eigenes: vergleichsweise neuzeitlich.

Wie sahen die sanitären Einrichtungen auf Easton Manor wohl aus? Vermutlich gab es dort nichts dergleichen…

Wenn man ihm die Möglichkeit geben würde, könnte er da natürlich Abhilfe schaffen… aus dem Steinhaufen ein außen traditionsreiches und innen modernes und bequemes Haus zu schaffen, das hörte sich doch eigentlich recht reizvoll an…

Er lächelte und nippte an seinem Brandy.

Personal würde man dort brauchen. Nun, Nate natürlich. Und so etwas wie eine Köchin? Das wusste Miss Allington bestimmt besser als er. Nate konnte allerdings auch einigermaßen kochen…

Also musste er den alten Teufel noch einmal ins Gebet nehmen, um die genauen Bedingungen festzulegen. Einen Hausstand in dieser kleinen Wohnung wollte er nicht einrichten – und in Eastley House durfte er seinen Wohnsitz bestimmt nicht aufschlagen.

Und sobald der alte Earl einigermaßen brauchbare Regeln festgelegt hatte, würde er bei den Allingtons vorbeischauen. Hoffentlich war Miss Allington nicht allzu romantisch veranlagt, denn eine Liebesheirat konnte er ihr nicht bieten, wohl aber ein recht friedliches Zusammenleben und die Arbeit an einer gesicherten Zukunft, auch für den jungen William.

Morgen würde er erst einmal seinen Vermögensstand ermitteln. Was nämlich, wenn der alte Teufel sich stur stellte und ihm außer dem Steinhaufen gar nichts überließ? Weil er vielleicht Miss Allington nicht akzeptieren wollte?

Dann könnte er sich natürlich auch eine andere geeignete Frau suchen…

Ach, Unsinn! Miss Allington schien ihm doch genau passend zu sein. Aber mit ihr in dem Steinhaufen zu hausen, war das wirklich eine so gute Idee? Dass er dann wenigstens auf genügend Rücklagen zurückgreifen konnte, um das Manor bewohnbar zu machen, wäre das doch einigermaßen beruhigend; er durfte sich eben nicht verspekulieren – aber das war ihm noch nie geschehen.

Kapitel 4

„Wer war das eigentlich?“, wollte William am nächsten Morgen von seiner Schwester wissen. Emily, die praktisch bis zur Taille im Vorratsschrank steckte, fragte nur: „Wen meinst du? Wir haben fast nichts mehr zu essen im Haus. Nur aus Mehl kann ich nun auch kein Brot backen. Gerade noch vier Eier… Kannst du bitte im Stall nachsehen, ob die Hühner gelegt haben?“

„Aber danach erzählst du mir, wer der Mann gestern war, der mit diesem wunderschönen Grauschimmel?“

„Mr. Easton? Sicher, soweit ich etwas über ihn weiß. So lange haben wir uns ja auch nicht unterhalten. Die Eier?“

William griff nach einem Korb und verließ die Küche. Emily griff sich einen Lappen und wischte angesichts der guten Gelegenheit die nahezu leeren Fächer sorgfältig aus. Gute Gelegenheit? Ach, diese Gelegenheit hatte sie nur zu oft! Der Vater gab das wenige Geld, das er noch hatte, lieber für Abschriften dubioser Dokumente aus, die dann doch nie bewiesen, dass er der soundsovielte Herzog von Sherborne sein müsste.

Es reichte kaum noch dafür, Deirdre zu bezahlen und für das Nötigste an Essen zu sorgen.

Eine ferne Glocke schlug an und Emily seufzte, bevor sie ihre Hände abtrocknete und die Küche verließ.

Das größte Zimmer im Erdgeschoss war – natürlich – das Arbeitszimmer. Papierstapel allenthalben, staubige Vorhänge, ein monströser (kalter) Kamin und mittendrin an dem übergroßen Schreibtisch, den niemand je hatte polieren dürfen, saß ihr Vater und linste ärgerlich zur Tür, nachdem er sein Einglas beiseitegelegt hatte. „Bekomme ich kein Frühstück?“

„Gewiss, Vater. Es ist aber nicht mehr viel da. Tee, etwas Brot und ein Ei? Mehr habe ich nicht zu bieten.“

„Warum nicht?“

„Weil wir kein Geld mehr haben. Eier legen die Hühner, Brot kann ich noch etwa zweimal backen, Wasser kommt aus dem Brunnen.“

Sir Charles winkte ab. „Wenn ich erst einmal Sherborne bin, werden wir genug Geld haben. Und angemessen wohnen.“

Emily starrte ihren Vater an. „Und was tun wir bis dahin?“

„Es kann nicht mehr lange dauern.“

„Das versprechen Sie seit Jahren, Vater. Ich werde von den Resten vor allem William ernähren und dann mich selbst. Sie, Vater, können sich von der Hoffnung auf diese imaginäre Herzogskrone ernähren, nicht wahr?“

Damit verließ sie das Arbeitszimmer. In der Küche traf sie auf William, der hungrig auf das schon aufgeschlagene Ei sah. „Das ist für Papa?“

„Nein, für dich. Vater lässt uns hungern, also lasse ich ihn jetzt auch hungern, ich habe nämlich genug!“

„Er wird böse werden“, warnte William.

„Was will er denn tun?“, entgegnete Emily herausfordernd. „Uns das Geld streichen?“

„Welches Geld?“ William war verdutzt.

„Na, eben! Ich könnte aber damit drohen, sein Arbeitszimmer einmal gründlich sauberzumachen.“

„Und dabei seine Papiere hoffnungslos durcheinanderzubringen?“ William grinste.

„Ganz recht! Aber auf die Dauer muss es hier anders werden, denn so geht es doch nicht weiter!“

„Wie soll das denn geschehen?“

Emily zuckte die Achseln. „Ich denke darüber nach. So, und jetzt bekommst du dein Ei und Brot und Tee dazu!“

Sie räumte weiter in der Küche auf, während William aß und sich, sobald Teller und Tasse geleert waren, weiterhin hungrig umsah. „Schinken haben wir nicht?“

„Nein, woher sollte der kommen? Du musst übrigens in einer halben Stunde beim Pfarrer sein, für deine lateinische Lektion.“

William seufzte. „Latein ist ja recht interessant, aber wozu lerne ich es denn, wenn ich keine Gelegenheit habe, eine anständige Schule zu besuchen? Am besten gehe ich beim Hufschmied in die Lehre…“

„Mir wird schon etwas einfallen“, antwortete Emily schwächlich, denn im Moment fiel ihr eben nichts Brauchbares ein.

Schließlich zog William seine Reitstiefel an und ächzte theatralisch, weil sie ihm zu klein geworden waren. Mit seiner Mappe, Jacke und Reithandschuhen begab er sich zum Stall, um Blacky zu satteln und zum Pfarrhaus zu reiten. Emily sah ihm nach und seufzte: Nein, so konnte es wirklich nicht weitergehen!

Warum fiel ihr das ausgerechnet heute so stark auf? Weil William hungrig und mit zu engen Stiefeln aus dem Haus musste und nicht auf eine anständige Schule gehen konnte, obwohl er gescheit und immerhin ein künftiger Baronet war?

Weil ihr Vater sich zusehends in seiner albernen Traumwelt verlor? Er hatte nicht den geringsten Anspruch auf dieses Herzogtum, soweit sie seinen Ausführungen hatte folgen können. Es hatte verschiedene Erbverträge gegeben, die er großzügig missachtete – und spätestens unter Charles II war das Herzogtum, das brach gelegen hatte, einem seiner Günstlinge zugefallen. Diese Familie hatte Titel und Ländereien immer noch inne. Schon die Vorgängerfamilie – katholische Royalisten, was sie um 1650 das Leben gekostet hatte – war mit den Allingtons gar nicht mehr verwandt gewesen, der Vater musste schon zur Zeit der blutigen Mary in seinen verwickelten Stammbäumen nicht nur einmal falsch abgebogen sein. Und weil er sich um nichts anderes kümmerte, war kein Geld mehr da. Oder es war zwar da, aber er gab alles für weitere nutzlose Dokumente aus.

Wutentbrannt marschierte sie wieder ins Arbeitszimmer.

Ihr Vater sah ärgerlich aus. „Was ist jetzt wieder? Und Frühstück habe ich immer noch keins.“

„Ich auch nicht. Die Reste hat William bekommen, er ist im Wachstum. Vater, es ist nichts mehr da, ich brauche Geld, dann könnte ich wenigstens bei den Bauern in Little Moreton etwas besorgen. Mehl, Butter, Schinken, Gemüse, ein paar Äpfel…“

„Ich brauche keine Äpfel.“

„Wir aber schon! Papa, wenn du uns verhungern lässt, hast du keinen Erben für dein imaginäres Herzogtum, willst du das? Entweder gibst du mir Geld oder ich schaue, ob ich etwas verkaufen kann. Vielleicht dein Pferd? Oder ich räume hier einmal richtig auf und werfe dieses ganze Papier in den Küchenherd. Dann wird die Küche wenigstens einmal richtig warm.“

Sir Charles starrte seine Tochter, die wie eine Furie vor ihm stand, verwirrt an und wollte seinen Blick schon wieder auf die Papiere vor ihm senken, als sie ihn anschrie: „Das habe ich ernst gemeint! Wir haben keinen Anspruch auf dieses dumme Herzogtum1 Du vertust deine Zeit und lässt uns hungern!“ Damit packte sie einen sorgfältig verschnürten Stapel Papier und wandte sich zur Tür. Sir Charles kreischte auf: „Halt! Das sind wichtige Beweise! Hier, ich habe noch etwas Geld!“

Er kramte in seiner Jackentasche und warf eine Handvoll Münzen auf den Boden; Emily sammelte sie hastig auf – sogar ein Sovereign war darunter! Aber sein Benehmen: Gehörte er nicht allmählich nach Bedlam?

Sobald sie sich wieder beruhigt hatte und auch ihr Gesicht, wie sie in dem Spiegel in ihrem (kalten) Schlafzimmer sehen konnte, nicht mehr so zornrot war, spannte sie an und fuhr nach Little Moreton, wo sie einen prächtigen Schinken kaufte, außerdem alles, was man für mehrere Brotlaibe brauchte, einen Korb Äpfel, einen Bund Mohrrüben (für William und die Pferde), einen großen Käse und noch so allerlei. Das würde für etwa eine Woche reichen, überlegte sie – aber so viel war von dem Sovereign danach gar nicht mehr übrig. Einen Laden für Tee und Gewürze gab es in Little Moreton auch, so dass sie auch Tee besorgen konnte und auf der Straße vor dem Geschäft auch mit einigen Bekannten Bemerkungen wechseln konnte. Über das zu kühle Wetter und den Mehlpreis ging das aber auch nicht hinaus.

Zuhause verräumte sie ihre Einkäufe und machte auch ihrem Vater etwas zu essen, bevor sie an die Herstellung eines Brotteigs ging und ihn schließlich, in ein sauberes Tuch gewickelt, beiseitestellte.

Ihr Vater war mit Schinken, Eiern und dem Rest des älteren Brotes offenbar zufrieden gewesen, jedenfalls war der Teller restlos geleert. Emily nahm ihn stumm mit in die Küche, wo sich mittlerweile auch die kleine Deirdre eingefunden hatte, die gerade Spülwasser heißmachte.

„Hast du überhaupt schon etwas gegessen, Deirdre?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, Miss.“

„Gut, spül du das Geschirr – viel ist es ja nicht, danach essen wir auch etwas.“

Immerhin hatte William fünf neue Eier gefunden, so dass es für Rührei mit gebratenem Schinken reichte und auch noch etwas übrigblieb. Und danach für jede einen Apfel…

Sie brachten danach die Küche einträchtig in Ordnung und Emily begann zu überlegen, seit wann sie hier das Leben einer Kreuzung aus Erstem Hausmädchen und Gouvernante führte. Eigentlich lief es doch seit Williams Geburt so, es wurde nur langsam immer ärger mit Papa.

Hatte die Idee, dass er nun einen Erben hatte, ihm so das Hirn vernebelt, dass er nun unbedingt diesem Erben nicht eine Baronets-, sondern eine Herzogswürde hinterlassen wollte? Und Mama, die ihn vielleicht noch hätte bremsen können, war wenige Tage nach Williams Geburt gestorben… So genau wusste sie die Einzelheiten auch nicht, denn damals hatte sie gerade einmal zwölf Jahre gezählt. Mit dem Neugeborenen, das die Milch nicht recht vertrug, war sie beschäftigt genug gewesen, so dass sie nicht so ganz registriert hatte, wie sehr ihr Vater in diese Wahnwelt abgeglitten war.

Aber so konnte es nicht weitergehen – sollte sie jetzt einmal pro Woche dem Vater drohen, seine Stammtafeln, Kirchenbuchauszüge und sonstigen „Beweise“ der herzoglichen Abkunft ins Feuer zu werfen, damit er das nötigste Geld für den Haushalt herausrückte? Diese Drohung brauchte sich doch ab! Spätestens in zwei Wochen würde er kaum noch aufblicken, wenn sie damit einfing. Oder er hätte seine Kostbarkeiten weggeschlossen…

Kostbarkeiten… nein, es gab nichts mehr, was man zu Geld machen konnte. Ihre Perlenohrringe (von Mama) waren nicht viel wert und konnten hier in der Gegend auch kaum verkauft werden – mehr besaßen sie nicht mehr. Höchstens die Pferde, aber das kam gar nicht in Frage, es bräche William das Herz! Und litt der Junge nicht schon genug darunter, dass es kein Schulgeld für ihn gab? Ihr Vater war wirklich ein Rabenvater!

Sie konnte aber doch auch nicht hier herumsitzen und hoffen, dass ein Retter vorbeikam? Warum dachte sie dabei an diesen recht sympathischen Gentleman, dem William geholfen hatte, ein Steinchen unter dem Eisen seines Pferdes hervorzupraktizieren? Der würde doch nicht noch einmal vorbeikommen, das wäre wohl zuviel des Zufalls.

Kapitel 5

Miles hatte seine finanziellen Mittel gründlich revidiert und war zu dem Ergebnis gekommen, dass er einer Frau auch mit einem hartleibigen Großvater einen bescheidenen Wohlstand bieten konnte.

Wenn er die nette, vernünftige Miss Allington dafür ins Auge fasste – ihr würde ein bescheidener Wohlstand wohl wie das Paradies erscheinen! Und der aufgeweckte Junge konnte auf die Schule geschickt werden, es wäre ja schade, seine Anlagen nicht zu nutzen.

Dann sollte er zuerst seinen Großvater auf die Bedingungen festnageln und danach Miss Allington ein Angebot machen - und das würde er jetzt auch sofort erledigen!

Nate wurde zum Stall geschickt, um Dawn satteln zu lassen, er selbst kleidete sich für einen langen Ritt um und eilte dann, in einem modischen Reitmantel, hochglänzenden Stiefeln, Handschuhe und Gerte in der Hand, nach unten, wo Nate mit dem Stallknecht plauderte, der den schnaubenden Dawn knapp am Zügel hielt.

Er warf dem Stallknecht eine Münze zu, tauschte mit Nate ein Grinsen und schickte ihn nach oben, die Wohnung in Ordnung zu bringen, dann schwang er sich in den Sattel und trieb Dawn an.

Unterwegs hatte er viel Zeit, sich Strategien zu überlegen, mit denen er seinen Großvater auf seine Seite ziehen konnte, aber er musste sie alle wieder verwerfen, denn der alte Teufel war ihm fast fünfzig Jahre an Schlauheit voraus – das konnte schwierig werden…

Er blinzelte ab und zu in die hübsche, aber kühle Spätsommerumgebung und ließ Dawn traben, während er sinnierte. Wenn er nur wenigstens Easton Manor sofort haben konnte! Andererseits war es das einzige, das der alte Teufel nicht dem Langweiler James vererben konnte, wenn es am Titel hing.

Er neidete dem Cousin die Zuneigung des Großvaters nicht, auch wenn er sie nicht recht verstand. Musste der alte Earl sich mit dem behäbigen James nicht langweilen? Er selbst war doch deutlich geistreicher und konnte sich mit dem alten Teufel elegant streiten, wobei dann die alten, aber immer noch lebhaften dunklen Augen amüsiert zu funkeln pflegten. James hatte doch bestenfalls ein unterdrücktes Gähnen erreicht?

Gut, das war unfair, eigentlich war er ein herzensguter Kerl.

Aber eben langweilig.

Bei einem Gasthof hielt er an, ließ seinen Hengst tränken und füttern und trank selbst einen Krug Bier, dann ritt er weiter und kam kurz vor der Lunchzeit in Eastley Hall an. Der Butler freute sich, ihn zu sehen: „Lord Miles! Das wird seine Lordschaft aufmuntern!“

War James etwa dagewesen und hatte ihn angeödet? Laut antwortete er aber nur: „Ich werde mein Bestes tun, Morton.“

Der Earl befand sich in der prunkvollen Bibliothek und saß dort an einem großen Tisch, wo er verschiedene Folianten um sich herum aufgestapelt hatte.

„Sie forschen, Sir?“

„Ah, Miles! Was führt dich denn so schnell wieder hierher? Ja, ich versuche einige Aspekte unserer Familiengeschichte zu klären – so lange es diese Familie noch gibt.“ Er seufzte theatralisch, was Miles ein Grinsen entlockte.

„Ich bin durchaus entschlossen, die Linie fortzusetzen, Sir“, erklärte er dann etwas steif.

„Ach! Nun plötzlich doch? Hat der Sinneswandel etwas mit all diesem hier“ – er vollführte eine elegante Handbewegung, so dass der große Rubin an seinem Ringfinger aufblitzte – „zu tun?“

„Gewiss ist das auch ein Grund. Schließlich hänge ich an diesem Anwesen.“ Er hörte sich sehr förmlich an, fand er selbst, aber die Unterstellungen des alten Teufels ärgerten ihn eben.

„Es freut mich, das zu hören. Nun sag mir aber nicht, dass du schon eine geeignete Dame gefunden hast? Vergiss übrigens nicht, dass ich eines deiner Bettschätzchen nicht als künftige Countess of Eastley akzeptieren werde!“

„Ich möchte wirklich wissen, woher Sie Ihre unzutreffenden Informationen beziehen. Welche Bettschätzchen denn?“

„Ach, ein einigermaßen junger, gesunder Mann – und keine Mätresse? Kann ich mir nicht vorstellen.“

Der Earl grinste frech und Miles erlaubte sich ein schiefes Grinsen. „Versteht sich. Aber erstens sind es nie mehrere zur gleichen Zeit, zweitens ist mir selbst klar, dass eine Mätresse sich nicht zur Ehefrau eignet – nicht, dass meine letzte – äh – Gespielin solche Ambitionen gehegt hätte. Ja, und drittens wird sich dieses Thema mit der Eheschließung doch ohnehin erledigt haben.“

„Wie ausnehmend tugendhaft“, spottete Miles´ Großvater.