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Vornehm, aber frisch verwitwet und mittellos, tritt Eleanor Warren eine Stelle als Haushälterin auf Kesham Court an. Die Bediensteten dort sind nett und machen ihr die Einarbeitung in dem etwas freudlos wirkenden Schloss leicht; der Hausherr allerdings lässt sich zunächst nicht sehen. Eleanor erfährt schließlich, dass er an Kriegsverletzungen und Malaria leidet, und beschließt, alles daran zu setzen, dass er sich wieder wohler fühlt – ein Vorsatz, den besonders Köchin und Butler aus vollem Herzen unterstützen. Schrittweise bessert sich die Gesundheit des Earls, aber es gibt rätselhafte Rückfälle, und die Rollen seines Cousins, seines Sekretärs und des Nachbarn Sir Augustus Forsythe sind auch nicht ganz klar. Schließlich deckt das Personal, allen voran Eleanor, die Wahrheit über die Geheimnisse aus der Vergangenheit auf und dem Glück des Schlossherrn steht nun nichts mehr im Wege.
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Seitenzahl: 319
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Imprint
Ein trauriges Schloss. Historischer Roman
Catherine St.John
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de Copyright: © 2016 Catherine St.John/R. John 85540 Haar
Cover: privat
ISBN 9783********
„Keine Referenzen?“ Die ältere Dame in strengem Schwarz betrachtete Eleanor missbilligend durch ihr Lorgnon. „Ich fürchte, dann -“
Ein Räuspern hinter ihr unterbrach sie. Eine andere Dame, geringfügig jünger und geringfügig weniger streng wirkend, reichte ihr ein Schreiben, offenbar sehr dickes, kostbares Papier und ein - erbrochenes - Siegel aus schwarzem Lack. Ungeduldig warf die Inhaberin dieser sehr exklusiven Personalvermittlungsagentur einen Blick darauf, dann legte sie den Kopf schief, musterte Eleanor, sagte: „Sie entschuldigen uns einen Moment“, und zog sich mit ihrer Kollegin? Angestellten? in einen Nebenraum zurück.
Eleanor blieb sitzen und überlegte, was dies nun zu bedeuten haben mochte. Hatte jemand eine Warnung geschrieben, die angebliche Mrs. Warren keinesfalls an einen Haushalt zu vermitteln? Aber wer sollte das denn sein?
Hatte jemand darauf bestanden, dass gerade sie ihm vermittelt werde? Noch unwahrscheinlicher. Wurde sie etwa von den Behörden gesucht? Das war nun das Allerabsurdeste – sie schuldete niemandem etwas und hatte auch keine Feinde. Auf der ganzen Welt nicht. Das bedeutete allerdings auch nicht mehr als London und die südlichen Areale Englands.
Welche Bedenken konnten diese beiden hoheitsvollen Damen denn noch haben? Gewiss, sie hatte keine Referenzen, denn dies würde ihre erste Stelle sein, aber wie sie eben noch auf das Ausführlichste dargelegt hatte, war sie mit allen Aspekten einer vornehmen Haushaltsführung bestens vertraut. Das musste doch auch zählen?
Sollte sie hier keinen Erfolg haben, wusste sie nicht, wie es weitergehen sollte. Annie war doch ganz sicher gewesen, dass sie hier beide etwas Neues finden konnten?
Die beiden Damen kamen zurück und lächelten verblüffenderweise einigermaßen freundlich. Eleanor verstand gar nichts mehr: An der Tatsache, dass sie keine Referenzen hatte – sie nicht haben konnte – hatte sich ja schließlich nichts geändert!
Die jüngere der beiden lächelte noch etwas breiter. „Sie haben Glück, Mrs. Warren, das darf ich wohl sagen. Wir haben tatsächlich soeben eine Anfrage erhalten, für die Sie – trotz Ihres bedauerlichen Mangels an Referenzen – geeignet sein könnten…“
Eleanor sah erwartungsvoll-fragend drein.
„Auf Kesham Court wird eine Haushälterin gesucht. Referenzen sind offenbar nicht notwendig. Es scheint, dass die bisherige Haushälterin aus – äh – persönlichen Gründen sehr plötzlich das Schloss verlassen musste. Trauen Sie es sich zu, den Haushalt von Kesham zu leiten? Natürlich mit einem Butler an Ihrer Seite?“
„Gewiss“, antwortete Eleanor ruhig. Was hatte sie schließlich in den letzten Jahren anderes getan?
„Und Sie könnten sofort abreisen?“
„Gewiss“, wiederholte Eleanor. „Darf ich fragen, wo Kesham Court liegt?“
Ein etwas verächtlicher Blick traf sie. Offenbar erwartete man von gehobenem Hauspersonal, sämtliche Schlösser Englands und ihre adeligen Besitzer zu kennen – aber dazu war sie zu abgeschieden aufgewachsen.
„Kesham Court ist der Besitz des Earls of Kesham“, wurde sie kühl beschieden, und Eleanor biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu antworten, das liege ja wohl auf der Hand.
„Das Anwesen befindet sich in der Nähe von Milton Regis in Kent. Sie wissen, wo das ist?“
„Ich werde es finden. Wann werde ich erwartet?“
„In Milton Regis selbst befindet sich eine Poststation. Morgen gegen Mittag wird Sie dort jemand vom Schloss abholen. Vermutlich fährt die Post wie immer um acht Uhr heute Abend ab. Lombard Street, überprüfen Sie das bitte selbst. Wir sind gehalten, Ihnen für Ihre Auslagen zwei Guinees auszuzahlen. Sie werden Ihnen auf Kesham Court vom ersten Lohn abgezogen werden.“
„Selbstverständlich.“ Eleanor hätte sich gerne noch nach ihrem Lohn erkundigt, aber fürs Erste war sie froh, überhaupt eine Stellung gefunden zu haben, nachdem die Referenzen doch eine so große Rolle zu spielen schienen. Außerdem wollte sie nicht geldgierig erscheinen.
Die Inhaberin dieser vornehmen Agentur für gehobenes Hauspersonal warf Eleanor noch einen unsicheren Blick zu, studierte dann noch einmal den Brief, der offenbar dringenden Bedarf an einer Haushälterin meldete, und seufzte. „Machen wir den Vertrag fertig, Mrs. Warren…“
Eleanor verließ, nachdem sie an den angezeigten Stellen unterschrieben hatte, erleichtert das Gebäude und trat auf die belebte Oxford Street hinaus.
„Hatten Sie Erfolg, Mylady?“
„Annie, du sollst doch nicht mehr Mylady sagen! Ich bin jetzt Mrs. Warren. Nur als wohlanständige Witwe aus dem Bürgertum kann ich doch als Haushälterin arbeiten. Wie sieht es bei dir aus? Hatten Sie etwas für dich?“
Annie nickte glücklich. „Als Zofe, für die Töchter von Lady Denby. Hier in London. Sechs Töchter hat sie.“
„Großer Gott, Annie, sechs Töchter? Du wirst dich zu Tode arbeiten!“
Annie kicherte. „Nein, es gibt dort schon zwei Zofen. Zu dritt schaffen wir das sicher. Aber Myl – Mrs. Warren – Madam, wie war es denn bei Ihnen?“
Eleanor lächelte breit. „Ich habe eine Stellung, ist das nicht herrlich?“
„Gewiss – aber eigentlich sollten Sie so etwas wirklich nicht nötig haben. Immerhin sind Sie die Dowager Countess of Lanford!“
„Psst!“, zischte Eleanor. „Das braucht hier wirklich niemand zu wissen. Annie, ich muss ab und zu etwas zu essen haben, also brauche ich eine Stellung. Und Haushälterin auf Kesham Court, das stelle ich mir nicht so arg vor. Offenbar hält man es dort für nicht gar so tragisch, dass ich keine Referenzen vorzuweisen hatte.“
Sie schlenderten die belebte Straße entlang und schlugen dann die Richtung zu ihrer bescheidenen Pension ein.
„Ich denke immer noch, Mylady, dass Ihre Eltern Sie eigentlich angemessen versorgen sollten.“
„Annie, du sollst nicht Mylady zu mir sagen! Wie oft muss ich dich noch daran erinnern? Wenn du dich in der Pension vergisst, erhöht mir die Inhaberin entweder den Preis oder sie erzählt überall herum, dass ich bei ihr wohne und anscheinend völlig heruntergekommen bin.“
„Dann würden sich Ihre Eltern wenigstens gebührend schämen“, murmelte Annie trotzig.
Eleanor konnte ein böses Lächeln nicht ganz unterdrücken. „Sie würden eine Geschichte erfinden, warum ich an meiner Situation selbst die Schuld trage. Wenn sie aber gar nicht wissen, was aus mir geworden ist, dürfte ihnen es viel unangenehmer sein, sollte sich jemand nach mir erkundigen.“
„Aha“, antwortete Annie wenig überzeugt und ließ Eleanor den Vortritt auf der Treppe zum Eingang der Pension.
Beide verhandelten kurz mit der Inhaberin, da sie ihre Rechnungen begleichen wollten. Annie sollte morgen Vormittag zu Lady Denby aufbrechen, die in der South Audley Street residierte, und Eleanor sollte sich rechtzeitig zur Lombard Street begeben, um pünktlich um acht Uhr abends Richtung Kent abzureisen.
Die ältliche Standuhr in der schmalen Eingangshalle der Pension zeigte im Moment zwei Uhr nachmittags, also hatte sie noch genug Zeit, ihre Sachen zu packen.
Annie ging ihr dabei aus alter Gewohnheit zur Hand, denn die beiden jungen Frauen hatten sich ja ohnehin das Zimmer geteilt, um Geld zu sparen.
„Sie hatten so schöne Kleider, M-Madam“, bedauerte Annie, während sie geschickt die schwarzseidenen, hochgeschlossenen Kleider – drei Stück an der Zahl, und mehr oder weniger identisch – faltete und im Portemanteau auf der ebenfalls gefalteten Wäsche verstaute. Eleanor seufzte nostalgisch, während sie ihre langen dunklen Locken ausbürstete und sie dann mit wenigen Handgriffen wieder zu einem strengen Chignon aufsteckte. „Aber ich bin nun mal eine Witwe, so weit ist mein Auftreten nicht gelogen. Und eine Witwe trägt schwarz. Mindestens zwei Jahre lang.“
„Jammerschade. Und Ihr schöner Schmuck…“
„Na, soweit war es damit auch nicht her“, antwortete Eleanor gleichmütig und schüttelte vorsichtig ihre schwarzen Handschuhe aus, „das meiste gehörte sowieso zum Warrenschen Vermögen. Jetzt trägt es die neue Countess. Und wenn schon.“
„Sie hätten ihn verkaufen und davon leben können, bis ein bess- Verzeihung, Mylady. Madam, wollt´ ich sagen.“
„Schon recht, Annie. Ich weiß, dass meine Ehe kein wirklicher Traum war, aber der Schmuck gehörte mir nun einmal nicht. Du hättest doch nicht gewollt, dass ich etwas Unrechtes tue?“
„N-nein, Madam.“ Sehr glaubhaft klang das nicht, und Eleanor wandte sich mit einem Lächeln ab. Annie war jetzt drei Jahre lang auf Lanford Hall ihre Zofe gewesen und wirklich eine treue Seele. Ihre Empörung über den Wandel von Eleanors Lebensumständen war echt.
Nach dem tränenreichen Abschied von Annie war Eleanor in die Postkutsche nach Kent gestiegen, hatte ihr Portemanteau unter den Ecksitz geschoben und sich auf der Bank darüber zurecht gekuschelt, ihre Handtasche fest im Griff.
Offenbar wollten zurzeit kaum Leute nach Kent reisen, jedenfalls saßen tatsächlich nur vier Passagiere in der Kutsche – und ein unglücklicher junger Mann auf dem Dach, wo es schrecklich zugig sein musste.
Sie hatte nun genug Zeit, über ihre Situation nachzusinnen und aller Welt die Schuld daran zu geben, dass sie nicht mehr die verwitwete Gräfin von Lanford war, sondern die ehrsame (wenn auch ungeübte) Haushälterin Mrs. Warren. Zum einen aber fand sie nicht, dass es die Mühe lohnte, so fruchtlosen Gedanken nachzuhängen, und zum anderen war sie ungemein müde, kein Wunder nach einem aufregenden Tag mit der Suche nach einer Stellung und dem Abschied von Annie und von ihrem bisherigen Leben. Immerhin hatte die Fahrt mit der Post nicht annähernd die ganzen zwei Guinees verschlungen, und sie selbst besaß auch noch etwa fünf Pfund in verschiedenen kleinen Münzen – alles, was sie in ihren Räumen auf Lanford Hall noch gefunden hatte, die Reste ihres letzten Nadelgeldes. Kost und Logis bekam sie auf Kesham Court, korrekte Kleidung hatte sie in ihrer Tasche, und mehr brauchte sie ja wohl nicht.
Sie klemmte die Handtasche zwischen ihren Rücken und die dünn gepolsterte Rückwand, musterte die Mitreisenden kurz und misstrauisch und schloss die Augen.
Als sie wieder hochschreckte, schienen ihr nur wenige Minuten vergangen zu sein, aber vor dem kleinen und nicht gerade sauberen Fenster zu ihrer Rechten war es dunkel. Finstere Nacht und keinerlei Lichter, also waren sie doch schon so lange unterwegs, dass sie die Ausläufer Londons hinter sich gelassen hatten. Was hatte sie geweckt - ob sie womöglich überfallen wurden?
Nein, das beängstigende Geräusch kam von dem Geistlichen schräg gegenüber, der selig schlief und dabei schnarchte, als müsse er einen ganzen Wald roden.
Die gemütliche ältere Dame neben ihm hatte sich einen Schal so um den Kopf gebunden, dass er die Ohren bedeckte und so die Geräusche dämpfte, aber viel Erfolg hatte diese Maßnahme wohl nicht, denn sie sah immer noch recht gequält drein und lächelte Eleanor mit verdrehten Augen zu.
Auf Eleanors Seite saß noch ein schwarz gekleideter Mann in mittleren Jahren, der wie der Angestellte eines Kaufmanns oder Anwalts wirkte. Eleanor überlegte kurz, warum er diesen Eindruck erweckte, und bemerkte dann, dass er tatsächlich noch einen Ärmelschoner trug.
Auch er betrachtete den geräuschvollen Schläfer misslaunig und stieß ihn schließlich mit der Fußspitze an. Der Pfarrer gab einen letzten Röchler von sich, schlug die Augen auf und blickte sich orientierungslos um.
„Verzeihung, Hochwürden, ich wollte Sie nicht wecken“, entschuldigte der Angestellte sich dann nicht ganz aufrichtig. Eleanor unterdrückte ein Kichern, die Dame ihr gegenüber schnaubte. Der verschlafene Pfarrer lächelte freundlich. „Keine Ursache, mein Sohn… ich habe wohl wieder geschnarcht? Eine rechte Unsitte, mein Frau tadelt mich auch deshalb – aber was soll man machen?“
Allenthalben etwas gequältes Lächeln; der Pfarrer überspielte die Situation, indem er seine Uhr hervorholte. „Fast Mitternacht… wir müssten bald in Dartford sein, dort werden die Pferde gewechselt. Ich fahre öfter nach Canterbury, deshalb kenne ich mich dort aus.“
Die ältere Dame bekannte sich dazu, ihre Schwester in der Nähe von Canterbury besuchen zu wollten. „Sie lebt dort mit ihrer Tochter und deren Gatten, der als Amtsschreiber ein gutes Auskommen hat. Ein recht gebildeter Mann, jaja… und jetzt ist auch der erste Sohn angekommen. Meine kleine Schwester ist Großmutter, ich kann es noch gar nicht fassen!“
„Haben Sie selbst denn auch Enkel?“, erkundigte sich Eleanor höflich.
Ihr Gegenüber setzte eine abweisende Miene auf. „Nein.“
Stille breitete sich im Wagen aus und Eleanor, die nicht wusste, was an ihrer Frage so verkehrt gewesen war, hörte erleichtert, dass sich das Räderrasseln in der Tonlage veränderte – sie fuhren tatsächlich auf den Hof einer Poststation.
Mit Handtasche und Reisetasche stieg Eleanor aus, um sich die Füße zu vertreten. „Sie reisen nicht weiter?“, fragte der dünne Schwarzgekleidete sie.
„Doch. Aber die Kutsche wird während des Pferdewechsels nicht bewacht, und ich besitze nur das, was in der Reisetasche ist, und könnte es nicht ersetzen.“
„Wertsachen?“ Glitzerten seine Augen im schwachen Licht der Gasthofslaternen gierig?
„Meine Kleidung zum Wechseln. Gebraucht, nicht neu.“ Unwillkürlich fasste sie den Griff der Reisetasche fester.
„Sie sind etwas misstrauisch, Miss -?“
„Mag sein. Es ist aber nicht persönlich gemeint.“ Die Frage nach ihrem Namen hatte sie damit elegant überspielt, fand sie; seine säuerliche Miene war freilich nicht zu übersehen. Sie wandte sich ab und lief ein paar Mal hin und her, streckte sich und versuchte, tief zu atmen, um frische Luft zu schnappen. Frisch… nun gut. Kühl, feucht – so besonders weit waren sie von der Themsemündung hier nicht entfernt. Aber aus der offenen Gasthaustür drang der Geruch von Tabakrauch und Bier, begleitet von trunkenem Gegröle. So viel Betrieb noch nach Mitternacht? Nun, sie war erst zum zweiten Mal mit der Post unterwegs, also sollte sie sich lieber nicht wundern. Sie wanderte weiter auf und ab und erinnerte sich an den Abschied von Annie. Einer ihrer letzten Sätze war: „Kesham Court? Tatsächlich? Oh, Myl – Madam, sind Sie sicher?“
Genaueres war aus ihr nicht herauszubekommen. Was war mit Kesham Court? Spukte es dort? Wie albern, an so etwas glaubte sie nicht, sie war schließlich eine aufgeklärte Frau und hatte ihren Verstand durch intensive Lektüre geschult, vor allem in den letzten Jahren, als sie wenig anderes zu tun hatte.
Gab es dort ungesunde Ausdünstungen, etwa aus Mooren? Milton Regis lag nicht direkt am Meer, aber vielleicht ja Kesham Court? Und auf jeden Fall war es von dort nicht mehr weit bis zum Meer… Moore, Fens oder andere Feuchtgebiete waren durchaus vorstellbar.
Die dritte Möglichkeit bedeutete: Dort waren die Menschen unangenehm. Nun, sie würde so lange aushalten, bis sie eine ordentliche Referenz verlangen konnte, und dann würde sie sich eben etwas anderes suchen. Und versuchen, in jeder Stellung etwas zu sparen, um für ein friedliches Alter vorzusorgen.
Ob ihre Eltern sie wohl enterbt hatten?
Das war wohl anzunehmen, denn wenn sie nichts mehr bekam, konnte ihre jüngere Schwester Rosamund mit einer höheren Mitgift und später mit einem erfreulichen Erbe rechnen.
Nicht, dass Rosamund es darauf angelegt hätte, das stand fest. Aber ihre Eltern hofften wohl, wenigstens sie nutzbringend zu verheiraten, wenn Eleanor schon derartig versagt hatte.
Sie wusste zwar nicht, was sie falsch gemacht hatte, schließlich hatten ihre Eltern Lanford ausgesucht – aber sie wusste, was hätte geschehen sollen: Sie hätte Lanford die beiden üblichen Söhne, also den Erben und den Ersatzerben, präsentieren sollen. Nur hatte Lanford daran offenbar kein Interesse gehabt, warum, hatte sie lange auch nicht verstanden. Etwaige Mutmaßungen hatten ihre Eltern allerdings auch nicht interessiert: Versagen war Versagen, basta.
Nun gut, das war mittlerweile auch nicht mehr wichtig. Der Pfarrer kam aus dem Gasthof zurück, gefolgt von ihren beiden anderen Mitreisenden. Und vor der Kutsche tänzelten jetzt vier frische Pferde, also stieg sie wieder ein und arrangierte ihr Gepäck.
Bald breitete sich wieder schläfriges Schweigen im Kutscheninneren aus – kein Wunder, offenbar hatten die anderen im Gasthof auch etwas gegessen. Etwas mit vielen Zwiebeln darin.
Die warme, scharf riechende Luft machte Eleanor müde und sie kuschelte sich wieder in ihre Ecke. Als sie das nächste Mal aufwachte, hatte sich die Dunkelheit in der Richtung, in der sie Osten vermutete, sanft aufgehellt. Wo sie jetzt wohl waren? Sie ließ eins der Fenster einen Spalt herunter und schnupperte die Luft, die einen Hauch Meerwasser in sich zu haben schien. Ihr Gegenüber regte sich, blinzelte in ihre Richtung und verlangte, die kalte Nachtluft sofort wieder auszusperren. Eleanor gehorchte, um sich schon einmal in ihre Rolle als Dienstbotin einzufühlen, und die frischgebackene Großtante schloss ihre Augen zufrieden wieder.
Nach endlosen Stunden Langeweile erreichten sie schließlich Milton Regis und rasselten in den Hof der Poststation. Erleichtert verabschiedete Eleanor sich von ihren schläfrigen Mitreisenden und stieg aus.
Neun Uhr morgens… es war ausgesprochen kalt, und Eleanors Mantel war zu dünn für die Jahreszeit. Sie sah sich fröstelnd um… musste nicht irgendwo ein Gig stehen, um sie nach Kesham Court zu bringen?
Nein, nichts. Nur eine kleine mahagonifarbene Kutsche, die neben den Stallungen wartete. Dorthin brachten Stallknechte gerade die erschöpften Postpferde, während zwei andere Knechte frische Zugtiere heranführten.
Vielleicht waren sie zu früh angekommen? Nun, das war gleichgültig, sie genoss jedenfalls die Gelegenheit, zu stehen und tief durchzuatmen. Auch hier roch die Luft nach Meer, nach Salz und Fisch. Sehr angenehm. Stärkend – so kam es Eleanor wenigstens vor. Ganz anders als die muffige Luft in London. Und das muffige Denken der besseren Gesellschaft, unter dem sie bis zur ihrer Heirat gelitten hatte – was man alles nicht durfte! Was sich nicht schickte! Die Belanglosigkeiten, für die man sich zu interessieren hatte, wenigstens als junge, unverheiratete Lady.
Nun, das war jetzt vorbei – sie war frei.
Frei ja – aber sie fror. Das Schloss hatte doch jemanden schicken wollen?
Mittlerweile kamen ihre Mitreisenden geringfügig gestärkt aus dem Gasthof zurück und bestiegen die frisch bespannte Kutsche, die dann auch alsbald wieder davonrollte.
Eleanor sah sich erneut suchend um, und jetzt näherte sich ein Lakai, der bis jetzt an der kleinen braunen Kutsche gelehnt hatte. Als er in Hörweite herangekommen war, verbeugte er sich geschmeidig. „Mrs. Warren?“
„Ja. Guten Morgen. Sie kommen von Kesham Court?“
„Gewiss. Wenn Sie mir Ihr Gepäck anvertrauen möchten…“
Eleanor überreichte ihm die Reisetasche. „Das ist alles.“
„Ah, ich verstehe. Das große Gepäck kommt später, als Fracht?“
Eleanor lächelte verlegen und zog es vor, ihre praktische Mittellosigkeit nicht sofort zu offenbaren.
Er hielt ihr den Wagenschlag auf, sie sank in weiche Polster und eine warme Decke wurde ihr angeboten. Kein Vergleich mit der Postkutsche!
Der Wagen fuhr geschmeidig an und erreichte schnell ein beträchtliches Tempo. Nach etwa zehn Minuten wurden die Pferde gezügelt, der Wagen vollführte eine scharfe Rechtskurve und die Räder klangen anders, als führen sie über Holzbohlen – hatte Kesham Court etwa wirklich noch eine Zugbrücke? Eleanor reckte sich, um aus dem Fenster zu sehen, aber da rasselten sie schon auf einen weiten Vorplatz und der Wagen hielt.
Als sich eine behandschuhte Hand durch den geöffneten Schlag streckte, fuhr sie regelrecht zusammen, erhob sich aber dann und ließ sich das Treppchen herabhelfen. Der Lakai nahm auch ihre Reisetasche in seine Obhut, verbeugte sich höflich und folgte Eleanor zu einem pompösen Portal, das von einer etwas schwächlichen Sonne beschienen wurde.
Sie erkannte einen Butler im Eingang und wappnete sich mit aller Autorität, die sie in den wenigen Jahren als Countess an den Tag gelegt hatte – niemand sollte merken, wie unsicher sie sich fühlte!
Der Butler verbeugte sich, als sie nahe genug herangekommen war. „Mrs. Warren? Ich bin Jessop, der Butler. Willkommen auf Kesham Court.“
Eleanor reichte ihm die Hand. „Vielen Dank, Jessop. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Gewiss sind Sie hier auf Kesham Court mit allem vertraut, nicht wahr? Ich werde zunächst sicher häufig Ihren Rat und Ihre Hilfe benötigen.“
Erneute Verbeugung. „Daran soll es nicht fehlen, Mrs. Warren. Wenn Sie bitte hereinkommen möchten? Lizzie, unser Erstes Mädchen, zeigt Ihnen gleich Ihr Zimmer.“
Eleanor dankte ihm und ließ sich, von dem Lakaien gefolgt, von Lizzie zwei Stockwerke nach oben geleiten und dort am Ende eines langen, etwas düsteren Ganges in ein recht großes Zimmer führen.
Der Lakai setzte seine Last ab, verbeugte sich und verließ den Raum.
„Darf ich Ihnen alles zeigen, Ma´am?“
„Gerne, Lizzie.“
Lizzie präsentierte einen unübersehbaren Schrank, ein ebenfalls gut erkennbares Bett, ein Tischchen und einen Sessel – und eine diskrete Tür, die in eine Badekammer mit Kupferwanne führte.
„Sehr schön“, lobte Eleanor ehrlich, denn in Lanford Hall hatte ihr Schlafzimmer, immerhin das der Herrin, auch nicht anders ausgesehen.
„Ich werde schnell auspacken und mich ein wenig frisch machen. Richtest du Jessop bitte aus, ich würde ihn in einer Viertelstunde gerne in der Halle sehen, um einen Rundgang durch das Schloss zu machen – das heißt, ich sollte mich zuvor wohl dem Earl und vor allem der Countess vorstellen, denke ich.“
Lizzie knickste erschrocken. „Oh nein, Ma´am! Eine Countess haben wir hier gar nicht, und der Herr lässt sich schon wieder seit Tagen nicht sehen. Es geht ihm wohl nicht gut.“
Was fehlt ihm denn? Leider konnte sie darüber nicht mit dem Dienstmädchen tratschen, ohne sich unmöglich zu machen.
„Das tut mir Leid“, sagte sie also nur und hoffte, dass der Butler sie unaufgefordert näher informieren würde. „Dann wird mir Jessop sicher alles Weitere mitteilen.“
„Oh, gewiss, Ma´am!“ Lizzie knickste noch einmal und verschwand; Eleanor packte rasch ihre Tasche aus und schichtete ihren gesamten Besitz – inklusive dreier Bücher, die sie sehr liebte – in den Schrank, auch die leere Tasche passte noch hinein. Etwas zweifelnd betrachtete sie dann, wie armselig ihre übrigen schwarzen Kleider auf den Bügeln schwankten, und wie leer die Wäschefächer auf der Seite wirkten.
Nun, es fehlte ihr aber doch an nichts? Und eine Gräfin war sie nun eben nicht mehr – besonders erstrebenswert hatte sie diesen Titel ohnehin nie gefunden.
Sie schritt den Gang entlang zum Haupttreppenhaus – durfte sie das überhaupt benutzen? Jessop sollte ihr nachher die Dienstbotentreppe zeigen.
Immerhin hatte sie sich bis jetzt nicht verlaufen; offenbar führte der Herrschaftsgang rund um die Halle mit dem imposanten geschnitzten Treppenhaus, und von diesem im Quadrat geführten Gang gingen in zwei Richtungen weitere Gänge ab. Am Ende des linken lag ihr Zimmer, den rechten musste sie bei Gelegenheit noch erforschen.
Am Fuß der Treppe wartete Jessop, ohne Missbilligung zu zeigen. Dem entnahm Eleanor, dass sie heute noch nicht auf die Hintertreppe angewiesen war, und sie beschloss, aufrichtig zu sein. Selbstsicher, gewiss, aber eben sich unerfahren.
Jessop nickte, als sie ihm gestand, dass dies ihre erste Stellung war. „Ich habe es mir fast gedacht, Madam, weil unsere Anfrage bei der Personalvermittlung so schnell erfolgreich war. Ich hätte mit einer längeren Wartezeit gerechnet.“
„Tatsächlich? Warum? Ich meine, das Anwesen ist doch sehr eindrucksvoll und offenbar in gutem Zustand, auch nicht direkt an der schottischen Grenze. Warum sollten Dienstboten nicht gerne hier arbeiten wollen?“
Jessop hatte nicht ganz erfolgreich ein Lächeln unterdrückt. „An der schottischen Grenze?“
Eleanor lächelte offener. „Nun, nach London ist es kaum eine Tagesreise… Dienstboten achten doch auf so etwas.“
„Das stimmt, Mrs. Warren. Und Sie haben auch Recht, es ist hier ein durchaus angenehmes Arbeiten, ein Schlossgespenst haben wir auch nicht, nur…“
„Nur?“
„Nun ja…“ Jessop wand sich etwas. „Es ist nur – der Earl, er ist – wie soll ich es sagen – er ist etwas eigentümlich.“
„Eigentümlich“, wiederholte Eleanor ratlos. „Wie äußert sich das? Hat diese Tatsache schon Dienstboten vertrieben?“
„N-nein, nicht direkt.“
Eleanor sah über Jessops Schulter auf die Seitentür zum Küchenbereich und entdeckte Lizzie und noch ein häubchengeschmücktes Mädchen, die beide beobachteten, was Jessop und die neue Haushälterin da taten.
„Ich schlage vor, Sie zeigen mir erst einmal, was ich hier kennen sollte, und immer dann, wenn wir einen ruhigen Moment haben, erzählen Sie mir, warum der Earl die Dienstbotenlage so erschwert.“
„Eine gute Idee, Mrs. Warren.“ Jessop wirkte erleichtert, und Eleanor überlegte, warum das wohl so war, während sie leicht abgelenkt die Küche inspizierte, sich die Köchin und ihre Untergebenen bis hin zur letzten Spülmagd vorstellen ließ und gleich den Speiseplan durchlas, den die Köchin, Mrs. Kingsley, ihr präsentierte. „Drei Gänge? Auf Anhieb würde ich sagen, das ist ein bisschen spärlich, nicht wahr? Oder ist das hier so üblich?“
„Der Earl ist kein starker Esser“, erklärte Mrs. Kingsley. „Er wird nicht einmal diese Speisen wirklich zu würdigen wissen. Wahrscheinlich kommt fast alles zu uns in die Küche zurück.“
Dann freilich schienen Eleanor drei Gänge wirklich genug zu sein. Sie inspizierte mit Mrs. Kingsley die Küche, die Silberkammer (Jessops Ressort), die Vorratskammer und die Spülküche, fand alles ordentlich und sauber vor und äußerte zurückhaltendes Lob, das erfreut entgegen genommen wurde.
Jessop führte sie durch die Räume im Erdgeschoss und im ersten Stock, zuerst drei verschiedene Salons, alle sehr ordentlich, aber kalt und offenbar selten genutzt. Es folgten eine große, etwas ungemütliche Bibliothek und ein Arbeitszimmer, offenbar das Refugium des Sekretärs, der wenigstens vor Ort war und leicht überrascht aufsah, als Jessop und Eleanor eintraten.
„Das ist Mr. Grant, der Sekretär Seiner Lordschaft. Mrs. Warren, die neue Haushälterin.“
Eleanor reichte dem Sekretär, einem recht sympathisch aussehenden jungen Mann mit überraschend rotem Haar, freundlich die Hand und sprach ihre Hoffnung auf eine gute Zusammenarbeit aus. Mr. Grant stimmte sofort zu und bat sie, sich stets vertrauensvoll in Haushaltsangelegenheiten an ihn zu wenden.
Bis jetzt schien das Personal nett und freundlich zu sein, fand Eleanor und nahm als nächstes das Zimmer der Haushälterin in Augenschein. Der Raum erfüllte seinen Zweck – Schreibtisch, Regale, eine Reihe von Mappen mit Unterlagen, Rechnungsbücher, ein unbequem aussehender Stuhl – sonst nichts. Nun gut, ein Arbeitsraum eben.
Generell schienen ihr die Räume hier etwas freudlos auszusehen – genau genommen so ähnlich wie auf Lanford Hall, das ja immer ein Trauerhaus geblieben war.
Vielleicht traf das auf Kesham Court auch zu… vielleicht hatte es einmal eine Countess gegeben? Nun, mit untröstlichen Witwern kannte sie sich schließlich aus! Aber wen konnte sie danach fragen?
Ein Frühstückszimmer, ein kleines Speisezimmer, ein großes Speisezimmer. Das Übliche.
„Der Bankettsaal und der Ballsaal befinden sich im Stock über uns, Mrs. Warren. Und dort sind auch die Schlafräume untergebracht. Im Ostflügel die des Hausherrn und der Dame des Hauses und einige Gästezimmer, im Westflügel finden Sie die übrigen Gästezimmer und ganz am Ende – wie Sie ja bereits erfahren haben – die Räume des gehobenen Personals. Die übrigen Dienstboten sind natürlich im Stockwerk darüber untergebracht. Im Turm befinden sich noch weitere Gastzimmer – schon seit längerem nicht mehr im Gebrauch – und ein Aussichtsraum mit Sternwarte.“
„Oh, interessant. Seine Lordschaft befasst sich mit Astronomie?“
Jessop verbeugte sich. „Der verstorbene Earl, ein Onkel des jetzigen, pflegte dieses Steckenpferd. Er soll ein namhafter Gelehrter auf diesem Gebiet gewesen sein.“
Eleanor nickte. „Sie sagten vorhin – die Räume der Dame des Hauses? Es gibt – oder gab also eine Countess of Kesham?“
„Gewiss. Die Gemahlin des sechsten Earls, des Astronomen. Der gegenwärtige siebte Earl ist nicht verheiratet und er hat auch außer Mr. Randal, seinem Cousin, keine Verwandten mehr.“
„Sein Cousin… hätte der dann nicht der siebte Earl werden müssen?“
„Nein, Mrs. Warren. Der fünfte Earl hatte nämlich drei Söhne. Der älteste wurde der sechste Earl, der zweite war der Vater des jetzigen siebten Earls und seiner Schwester, und der dritte wiederum war der Vater von Mr. Randal. Der sechste Earl hatte einen Sohn, Victor, der aber bei einem Jagdunfall ums Leben kam… und dann wurde der Vater vor Trauer sehr, sehr krank, daraufhin musste man Mr. Anthony – äh – den jetzigen Earl aus Spanien abberufen.“
Eleanor fühlte sich leicht benommen angesichts dieser Fülle an Einzelheiten und Earls. Sie nickte nur, und Jessop, der sich offenbar warmgeredet hatte, seufzte tief auf: „Der arme gnädige Herr!“
„Sie sprechen jetzt von dem trauernden Vater? Ja, sein einziges Kind zu verlieren, den Erben noch obendrein, das muss wirklich bitter sein. Ich kann mir das sehr gut vorstellen.“ Sie hatte kurz an Lanford gedacht – aber wenn sie ehrlich war, hatte sie da nicht unbegrenztes Verständnis aufgebracht. Also seufzte sie auch, aber eher aus Unwillen.
„N-nein, eigentlich habe ich von dem gegenwärtigen Earl gesprochen.“
„Aha? Er wollte lieber eine Militärkarriere verfolgen und musste sie für Kesham abbrechen?“ Was sollte man nach diesen Andeutungen denn anderes vermuten?
„Der arme Herr!“
Ja, soweit waren sie schon einmal gewesen. „Inwiefern?“, fragte Eleanor also mit einem leichten Hauch von Ungeduld nach.
Jessop wand sich etwas. „Nun, er war gerade recht schwer verwundet worden… und krank war er obendrein – ist er immer noch, immer wieder einmal.“
„Fieberschübe?“ Eleanor hatte einmal so etwas gelesen.
„Vermutlich – Dr. Sheppard versucht alle möglichen Kuren und vielleicht schlägt ja eine auch einmal an“, hoffte der Butler.
„Die Medizin macht ja ständig Fortschritte...“
Jessop seufzte. „Das kann noch recht lange dauern, befürchte ich.“
Eleanor lächelte. „Aber – haben wir denn nicht Zeit?“
Das konnte Jessop nicht bestreiten; er seufzte ein letztes Mal tief auf und führte seine neue Kollegin weiter.
Eleanor stellte hinterher fest, dass alles sauber und ordentlich aussah, aber etwas trübsinnig wirkte, kein Schmuck, keine Blumen, kaum Bilder (außer in der Ahnengalerie) und recht ungemütliche Sitzgelegenheiten.
Sie nahm sich vor, das ganze Schloss, so weit möglich, etwas wohnlicher zu gestalten, denn all diese netten Menschen hatten das wirklich verdient! Kosten durfte es allerdings nichts… es sei denn, sie konnte den Earl überzeugen. Aber den würde sie sobald gewiss nicht zu Gesicht bekommen.
Sie beobachtete Mrs. Kingsley bei der Vorbereitung des Dinners und probierte ab und zu, um die Köchin dann zu loben. Mrs. Kingsley lächelte geschmeichelt und akzeptierte schließlich auch den Vorschlag, hier und da die Gewürze ein wenig großzügiger einzusetzen. Das etwas fade, wenn auch gut gelungene Essen hatte Eleanor doch fatal an die ebenfalls fade Ausstattung des Schlosses erinnert. Zwischendurch kontrollierte sie das kleine Speisezimmer, in dem der Earl, wenn er nicht gerade krank zu Bette lag, des Abends das Dinner einzunehmen pflegte. Der Diener Cyrus hatte korrekt gedeckt, es gab nichts zu beanstanden, aber Eleanor fand in der Anrichte einen silbernen Kerzenleuchter und passende Wachslichte dazu. Sie polierte das Silber sorgfältig und steckte die Kerzen hinein.
„Sobald Seine Lordschaft die Treppe herunterkommt, zünden Sie die Kerzen an, Cyrus!“
Cyrus blinzelte. „Warum, Mrs. Warren? Gibt es etwas zu feiern?“
„Aber nein. Gut, nicht dass ich wüsste, jedenfalls. Aber Kerzenlicht direkt auf dem Tisch macht das Essen etwas feierlicher. Vielleicht tut das Seiner Lordschaft gut?“
Cyrus lächelte. „Meinen Sie?“
„Schaden kann es wohl nichts, also versuchen wir es!“
Cyrus verbeugte sich ergeben.
Die Standuhr in der Halle schlug halb sechs, als sie das Speisezimmer verließ. Noch eine gute halbe Stunde… sie sah sich in der Halle um: wenige, aber gut polierte dunkle Möbel – Kommoden, Tischchen, Stühle, eine Bank und eine sehr mittelalterlich wirkenden Truhe, ein ebenfalls dunkler Boden mit einem Wappen in der Mitte, nur ein Gemälde, darstellend einen Kavalier aus der Zeit des ersten Charles, vielleicht ein Opfer der Rundköpfe. Ebenfalls sehr dunkel, vielleicht durch den Staub der letzten hundertfünfzig Jahre, vielleicht aber auch durch die Absicht des Malers.
Ein Strauß Blumen mit hellen Blüten würde den Raum sehr aufheitern. Und langfristig sollte man auch die Beleuchtung verbessern. Eleanor notierte sich das in einen kleinen Kalender, den sie mit dem Schlüsselbund in der Tasche ihrer schwarzseidenen Schürze trug.
Solche Schürzen hatte ihre Vorgängerin zurückgelassen und sie war sehr dankbar dafür, denn sie selbst besaß so etwas selbstverständlich nicht.
Sie ließ einen letzten kritischen Blick über alles schweifen und übergab dann an Jessop, der Cyrus und - Martin? Ja, Martin - beim Servieren zu überwachen hatte. In der Küche hatte die erste Küchenhilfe, Nancy, bereits den großen Tisch in der Ecke gedeckt.
„Mrs. Warren, das hier ist Ihr Platz, an der Stirnseite. So kommt es Ihnen zu!“, erläuterte Mrs. Kingsley, die eine Suppenterrine und eine kleine Schüssel mit Gebäck auf ein Serviertablett stellte.
Eleanor bedankte sich höflich und hoffte, dass ihre Stimme ausdrückte, was sie nicht in Worte fassen wollte: Sie wusste natürlich, dass ihr der Vorsitz zukam!
Mrs. Kingsley wandte sich dem nächsten Gang zu und Eleanor betrachtete sich nachdenklich das geschäftige Chaos um die Köchin herum und die Ruhe, wenn man Richtung Spülmägde blickte. „Gibt es nicht etwas, was man jetzt schon spülen und verräumen könnte, damit wir nach dem Essen schneller fertig sind?“
Mrs. Kingsley sah auf. „Gewiss. Alles, was dort drüben gestapelt ist, könnte eigentlich schon gewaschen werden.“
Eleanor sah Agnes und Gladys auffordernd an, die sich daraufhin gehorsam, aber lustlos in Bewegung setzten und alles in die Spülküche schafften.
„So seid ihr beiden doch nach dem Essen früher frei“, erläuterte Eleanor noch einmal halblaut und erntete ein wenig begeistertes Nicken.
Martin holte das Tablett mit der Suppe ab und Mrs. Kingsley bereitete zwei Servierplatten vor.
Eleanor inspizierte die Spülküche, die sehr modern ausgestattet war – sie besaß nämlich einen eigenen, wenn auch einfachen Herd, um das Abwaschwasser zu wärmen. Die beiden Mädchen hatten auch schon einen großen Kessel aufgesetzt und sich damit ein Lob verdient.
Während der Earl oben sein Mahl verzehrte, war in der Küche nicht sehr viel zu tun – Mrs. Kingsley machte noch den dritten Gang servierfertig und Annie und Gladys spülten alles, was herumstand und was in die Küche zurückkehrte, und verräumten es dann. Eleanor bemühte sich, überall mit anzupacken, um gleich zu zeigen, dass sie nicht nur zu kommandieren oder „alles anders zu machen“ verstand. Gelegentliches Lächeln der Köchin und der Küchenmädchen zeigten ihr, dass sie damit durchaus Erfolg hatte.
Sobald der dritte Gang zurückkehrte, stellte Mrs. Kingsley die Reste und einen Korb Brot auf den Esstisch.
„Na, viel hat er nicht übriggelassen“, kommentierte Agnes, den Hals reckend.
„Ist doch gut“, antwortete Mrs. Kingsley, „dann muss Seine Lordschaft heute recht ordentlichen Appetit gehabt haben. Na, vielleicht hatte er einen langen Ausritt hinter sich.“
Eleanor fand, dass die Reste aus allen drei Gängen immer noch ausreichten, um sie alle satt zu machen, auf jeden Fall mit dem zusätzlichen Brot.
Die Stallburschen und der Stallmeister kamen herein und setzten sich, nachdem sie sich der neuen Haushälterin vorgestellt hatten. Martin und Cyrus gesellten sich auch zum übrigen Personal. „Seine Lordschaft hat das Essen gelobt“, verkündete Cyrus. „Und mit seinem Portwein hat er sich in sein Arbeitszimmer verzogen.“
Nach den Hausmädchen tauchte Jessop als letzter am Esstisch auf und man setzte sich, während Mrs. Kingsley bereits die Suppe austeilte.
„Was ist denn mit Mr. Grant?“, erkundigte Eleanor sich, nachdem sie rekapituliert hatte, wer ihrer Kenntnis nach alles zum Haushalt gehörte.
„Mr. Grant speist auf seinem Zimmer, wenn er nicht mit Seiner Lordschaft isst. Er gesellt sich nicht so gerne zum Personal. Zum übrigen Personal. Er hält sich ja für etwas Besseres“, erläuterte Jessop. „Die Suppe schmeckt heute wirklich besonders gut, Mrs. Kingsley!“
Mrs. Kingsley lächelte geschmeichelt und Eleanor schloss sich dem Lob an, ohne zu erwähnen, dass sie ihr den Tipp gegeben hatte, doch etwas kräftiger zu würzen.
Auch den übrigen Gängen wurde so herzhaft zugesprochen, dass nichts mehr übrig blieb und tatsächlich noch weiteres Brot und Käse aus der Speisekammer geholt werden mussten, um alle zu sättigen.
„Merkwürdig“, sinnierte Jessop hinterher und hob seinen Krug, „heute haben wir alle einen ganz besonders guten Appetit… woran das wohl liegen mag?“
Er trank einen herzhaften Schluck Bier.
„Vielleicht liegt es an der neuen Hausgenossin“, schlug Mrs. Kingsley vor und prostete Eleanor zu. „Auf Mrs. Warren!“
Darauf tranken alle.
Zwei Wochen waren seitdem vergangen und Eleanor hatte das Gefühl, schon viel länger auf Kesham zu leben. Sie kannte mittlerweile das ganze Anwesen wie ihre Westentasche und hatte auch dafür gesorgt, dass speziell die Räume, die der unsichtbare Hausherr zu benutzen pflegte, nicht nur tadellos sauber, sondern auch warm, gemütlich und freundlich waren.
Für das Personal musste zunehmend extra gekocht werden, denn die Reste, die von Lunch und Abendtafel in die Küche zurückfanden, wurden immer kärglicher, so dass Eleanor zu überlegen begann, wann wohl ein Schneider aufs Schloss bestellt werden würde, um die Kleidung des Earls weiter zu machen.
Andererseits zehrte dieses mysteriöse Leiden vielleicht so an ihm, dass auch reichlicheres Essen ihn nicht zunehmen ließ? In der letzten Woche schien er einen derartigen Anfall gehabt zu haben, jedenfalls hatte sein Kammerdiener Beatty drei Tage lang einen gehetzten Eindruck erweckt und es war plötzlich wieder mehr Essen in die Küche zurückgebracht worden.
Außerdem hatte Eleanor den Eindruck gewonnen, des Nachts ein immer wiederkehrendes Stöhnen gehört zu haben.
Als sie dies in der Küche erwähnte, ließ Nancy vor Schreck einen Teller fallen.
„Oh, Entschuldigung – ich werde sogleich -“ Weiter stammelnd enteilte sie, um einen Besen zu holen.
Eleanor drehte sich ratlos zu Mrs. Kingsley um, die gerade Gemüse putzte. „Können Sie sich vorstellen, warum Nancy so erschrocken ist? Habe ich etwas Falsches gesagt? Das täte mir leid.“
„Ach nein, Mrs. Warren, nichts Falsches. Es ist nur – dieses Stöhnen, das hat uns schon so manches Mädchen vertrieben. Diese dummen Dinger sind sich nämlich nicht so recht sicher, ob es hier nicht vielleicht doch spukt.“
Eleanor lächelte. „Aber ich dachte, es gibt hier gar kein Schlossgespenst?“
„Natürlich nicht! Unsere Mädchen – nun, sie haben nicht gerade viel Bildung, nicht wahr? Und so sind sie für Aberglauben recht anfällig.“
„Und Vernunftgründen nur begrenzt zugänglich, vermute ich.“
„Sie treffen da den Nagel auf den Kopf, Mrs. Warren. So ist es, leider.“
Sie verstummten, denn Nancy kam mit dem Besen zurück und fegte die Scherben zusammen, dabei ab und zu schniefend und sich furchtsam umsehend.
„Dummes Ding“, fuhr Mrs. Kingsley sie schließlich an, „hier gibt es gar nichts, wovor man sich fürchten müsste. Du weißt doch, dass Seine Lordschaft krank ist!“
„Manche haben schon gesagt, er ist besessen“, wisperte Nancy und senkte die Augen scheu auf die letzten Scherben.
„Besessen – von wem denn? Oder wovon?“ Eleanor war völlig ratlos.
„Vom – vom Teufel?“
Mrs. Kingsley riss ihr den Besen aus der Hand. „Du dummes, dummes Ding, was soll das papistische Geschwätz? Geh in deine Kammer und denk darüber nach, welchen Unsinn du gerade geredet hast!“
Nancy floh, und Mrs. Kingsley sah ihr kopfschüttelnd nach. „Woher mag sie diesen Unsinn nur haben? Vom Teufel besessen, so etwas Dummes! Aber wie ich eben schon sagte – keinerlei Bildung, dafür finsterer Aberglauben. Wie im Mittelalter!“
Eleanor stellte fest, dass die Köchin offenbar recht belesen war, und stimmte ihr zu. „Ist meine Vorgängerin etwa auch aus einem so – äh – albernen Grund gegangen?“
Mrs. Kingsley schnaubte. „Gegangen? Geflohen, sollte man wohl eher sagen! Seine Lordschaft hatte offenbar in seinem Fieber einen grässlichen Alptraum und hat geschrien – und am nächsten Morgen hat Mrs. Lorrimer ihre Sachen gepackt. Dabei hat sie den armen gnädigen Herrn nie zu Gesicht bekommen…“
„Warum? Ich meine – lässt er sich nie blicken? Ich würde mich ihm bei günstiger Gelegenheit schon gerne vorstellen.“
„Lieber nicht, meine Gute – äh – Mrs. Warren, wollte ich sagen. Er ist kein schöner Anblick, der Arme. Krieg ist schon etwas Schreckliches, das muss man sagen. Auch wenn er natürlich nötig war, um diesen Bonaparte in seine Schranken zu weisen…“ Murmelnd kehrte sie zu ihrem Gemüse zurück. Eleanor beseitigte rasch die letzten Scherben und starrte dann, auf den Besen gestützt, vor sich hin. Fieber und eine offenbar entstellende Kriegsverletzung – kein Wunder, dass er sich in diese Einsamkeit verkrochen hatte und sich auch vor dem Personal nicht sehen ließ – obwohl, beim Essen wurde doch serviert? Hielt man Cyrus und Martin für weniger empfindlich? Und Beatty, der doch täglich mit ihm engsten Umgang hatte?