Eine Frage des Verlangens - Sylvia Day - E-Book

Eine Frage des Verlangens E-Book

Sylvia Day

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Beschreibung

Lady Elizabeth Hawthorne und Marcus Ashford, Earl of Westfield, verbindet eine leidenschaftliche, aber auch leidvolle Vergan genheit. Sie waren einst verlobt, bis Elizabeth Marcus der Untreue verdächtigte und ihn verließ. Nun, vier Jahre später, kreuzen sich die Wege der beiden erneut. Marcus, der Agent im Dienste der Krone ist, soll Lady Elizabeth beschützen, da ein Unbekannter sie bedroht. Beide fühlen sich erneut magisch voneinander angezogen. Aber können sie die alten Verletzungen vergessen?

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Seitenzahl: 437

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Sylvia Day

Eine Frage

des Verlangens

Roman

Aus dem Englischen

von Marie Rahn

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe ASK FOR IT erschien 2006 bei

Kensington Books, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2014

Copyright © 2006 by Sylvia Day

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung von © thinkstock

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-12355-0V003

www.heyne.de

Für meine Mutter Tami Day, weil sie meine Liebe zu Liebesromanen gefördert hat und so fantastisch PR für mich macht.

(Sie wirbt wie eine Wahnsinnige für meine Bücher!)

Ich liebe dich, Mom.

Prolog

London, April 1770

»Haben Sie Angst, dass ich die Frau verführe, Eldridge? Ich gebe zu, dass ich gerne Witwen in meinem Bett habe. Sie sind so viel angenehmer und unkomplizierter als Jungfrauen oder Verheiratete.«

Scharfe graue Augen sahen von dem Stapel Unterlagen auf dem riesigen Mahagonischreibtisch auf. »Dass Sie sie verführen, Westfield?« Die tiefe Stimme verriet Überdruss. »Nehmen Sie die Sache ernst, Mann. Dieser Auftrag ist sehr wichtig.«

Marcus Ashford, der siebte Earl of Westfield, verzichtete auf das spöttische Lächeln, das seine nüchtern kalkulierenden Gedanken verbarg, und atmete geräuschvoll aus. »Und Sie sollten wissen, dass er mir genauso wichtig ist.«

Lord Nicholas Eldridge lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und legte die langen, dünnen Finger zusammen. Er war ein großer, sehniger Mann mit einem wettergegerbten Gesicht, das schon zu viele Stunden an Deck eines Schiffs erlebt hatte. Alles an ihm, von seiner Sprechweise bis zu seiner Haltung, war genau durchdacht und kontrolliert. Vor dem Hintergrund einer betriebsamen Londoner Durchfahrtsstraße, die durch das Fenster hinter ihm zu sehen war, bot er einen einschüchternden Anblick. Eine Wirkung, die beabsichtigt und höchst effektiv war.

»Tatsächlich war mir dies bis jetzt nicht bewusst. Ich wollte Ihre Fähigkeiten als Kryptograf nutzen und hätte nie in Betracht gezogen, dass Sie den Fall freiwillig übernehmen würden.«

Marcus erwiderte den durchdringenden Blick mit grimmiger Entschlossenheit. Eldridge war der Leiter eines Elite-Agentenrings, der einzig und allein die Aufgabe hatte, berüchtigte Piraten und Schmuggler zu finden und zu fassen, und da er unter dem Schutz der Königlichen Marine arbeitete, hatte er große Macht. Wenn Eldridge ihm den Auftrag verweigerte, konnte Marcus kaum etwas dagegen machen.

Aber er würde nicht zurückgewiesen werden. Diesmal nicht.

Er biss die Zähne zusammen. »Ich werde nicht zulassen, dass ein anderer den Auftrag bekommt. Wenn Lady Hawthorne in Gefahr ist, wird kein anderer für ihre Sicherheit sorgen.«

Eldridge bedachte ihn mit einem unangenehm scharfen Blick. »Woher rührt Ihr leidenschaftliches Interesse? Nach dem, was zwischen Ihnen vorgefallen ist, wundert es mich, dass Sie überhaupt noch Kontakt zu ihr wollen. Ich begreife Ihr Motiv nicht.«

»Ich habe kein besonderes Motiv.« Zumindest keines, das er verraten würde. »Trotz unserer Vergangenheit will ich nicht, dass ihr geschadet wird.«

»Sie hat Sie in einen Skandal verwickelt, der Monate für Aufruhr sorgte und über den man bis heute noch spricht. Sie haben zwar gute Miene zum bösen Spiel gemacht, mein Freund, aber auch Narben davongetragen. Vielleicht sogar Wunden, die noch nicht verheilt sind?«

Marcus saß vollkommen reglos und ohne eine Miene zu verziehen da und kämpfte gegen seinen tiefen Groll an. Sein Schmerz ging nur ihn etwas an. Es widerstrebte ihm zutiefst, auch nur danach gefragt zu werden. »Glauben Sie, ich könnte Privates nicht von Beruflichem trennen?«

Eldridge schüttelte den Kopf und seufzte. »Nun gut. Das lasse ich mal so stehen.«

»Und Sie geben mir den Auftrag?«

»Sie sind mein bester Mann. Ich habe nur wegen Ihrer Vergangenheit gezögert, aber wenn Sie keine Bedenken haben, habe ich auch keine. Allerdings werde ich zustimmen, wenn sie einen anderen Agenten anfordert.«

Marcus nickte und bemühte sich, seine Erleichterung zu unterdrücken. Elizabeth würde niemals um einen anderen Agenten bitten; dazu war sie zu stolz.

Eldridge tippte seine Finger gegeneinander. »Das Tagebuch, das Lady Hawthorne zuging, war an ihren verstorbenen Gatten adressiert und ist codiert. Wenn es etwas mit seinem Tod zu tun hat …« Er zögerte. »Viscount Hawthorne ermittelte gegen Christopher St. John, als er starb.«

Marcus erstarrte, als er den Namen des berüchtigten Piraten hörte. Es gab keinen Verbrecher, den er lieber fassen wollte als St. John, und zwar aus persönlichen Gründen. St. Johns Angriffe gegen Ashford Shipping, die Reederei seiner Familie, waren der Grund, warum er sich dem Agentenring zur Verfügung gestellt hatte. »Wenn Lord Hawthorne wirklich über seine Aufträge Buch geführt hat und St. John an diese Informationen gerät – dann ist die Hölle los!« Bei dem Gedanken, der Pirat könnte Elizabeth zu nahe kommen, verkrampfte sich sein Magen.

»Genau«, nickte Eldridge. »Nachdem ich vor einer Woche von der Sache erfuhr, ist Lady Hawthorne bereits kontaktiert worden. Zu ihrer eigenen und zu unserer Sicherheit sollte das Tagebuch sofort aus ihrer Obhut entfernt werden, doch das ist augenblicklich nicht möglich. Sie wurde von einem Unbekannten angewiesen, es persönlich zu übergeben, daher braucht sie unseren Schutz.«

»Selbstverständlich.«

Eldridge schob eine Akte über den Tisch. »Hier stehen alle Informationen, die ich bislang zusammentragen konnte. Lady Hawthorne wird Sie auf dem Ball der Morelands vom Rest unterrichten.«

Marcus nahm die Akte mit den Details seines Auftrags, stand auf und ging. Erst im Flur erlaubte er sich ein grimmiges, aber zufriedenes Lächeln.

Er hatte nur noch wenige Tage warten wollen, um bei Elizabeth vorzusprechen. Der Abschluss ihrer Trauerzeit hieß auch, dass sein unerträglich langes Warten ein Ende hatte. Obwohl die Sache mit dem Tagebuch ziemlich bestürzend war, arbeitete sie zu seinen Gunsten, denn so konnte Elizabeth ihm nicht ausweichen. Nachdem sie ihn vor vier Jahren so unverschämt hatte sitzen lassen, würde sie nicht besonders erfreut sein, ihm wieder Zutritt zu ihrem Leben zu gewähren. Doch sie würde auch Eldridge nicht vor den Kopf stoßen, da war er sicher.

Schon bald, sehr bald, würde das, was sie ihm versprochen und dann versagt hatte, endlich ihm gehören.

1. Kapitel

Marcus entdeckte Elizabeth schon, bevor er einen Fuß in den Ballsaal der Morelands setzte. Genauer gesagt steckte er auf der Treppe fest, weil ungeduldige Adlige und Würdenträger ihn unbedingt sprechen wollten. Doch als er kurz einen Blick von ihr erhaschte, vergaß er alle, die um seine Aufmerksamkeit wetteiferten.

Sie war noch liebreizender als früher, obwohl er das nicht für möglich gehalten hatte. Sie war schon immer wunderschön gewesen. Vielleicht war er noch empfänglicher dafür geworden, weil er sie so lange nicht gesehen hatte.

Ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. Offensichtlich erwiderte Elizabeth seine Gefühle nicht. Als sich ihre Blicke trafen, zeigte er deutlich seine Freude über ihr Wiedersehen. Sie hingegen hob das Kinn und sah weg.

Eine bewusste Abfuhr.

Der Schnitt war direkt und exakt ausgeführt, aber seine Wunde blutete nicht mehr. Da Elizabeth ihm schon vor Jahren die schmerzlichste Verletzung zugefügt hatte, war er gegen weiteren Schmerz immun. Er tat ihre Missachtung mühelos ab. Nichts konnte ihr Schicksal ändern, ganz gleich, wie sehr sie es sich wünschte.

Er diente nun schon seit Jahren als Agent der Krone und hatte in dieser Zeit ein Leben wie aus dem Abenteuerroman geführt. Er hatte unendlich viele Schwertkämpfe überlebt, war zweimal angeschossen worden und so oft unter Kanonenbeschuss gekommen, dass er es nicht mehr zählen konnte. Dabei hatte er drei seiner eigenen Schiffe verloren und ein halbes Dutzend fremder versenkt, bevor sein Titel es erforderlich machte, in England zu bleiben. Und doch erwachten nur dann all seine Sinne, wenn er im selben Raum wie Elizabeth war.

Sein Partner Avery James trat um ihn herum, als er sich einfach nicht vom Fleck rühren wollte. »Da ist die Viscountess Hawthorne, Mylord«, erklärte er mit einem fast unmerklichen Ruck seines Kinns. »Sie steht rechts von uns, am Rand der Tanzfläche, in einem violetten Seidenkleid. Sie ist –«

»Ich weiß, wer sie ist.«

Verblüfft sah Avery ihn an. »Ich wusste nicht, dass Sie miteinander bekannt sind.«

Marcus’ Lippen, die Scharen von Frauen ins Schwärmen brachten, verzogen sich in unverhohlener Vorfreude. »Lady Hawthorne und ich sind … alte Freunde.«

»Verstehe«, murmelte Avery, doch seine gerunzelte Stirn strafte ihn Lügen.

Marcus legte seinem kleineren Partner eine Hand auf die Schulter. »Gehen Sie schon vor, Avery, während ich mich um die Menge hier kümmere, aber überlassen Sie Lady Hawthorne mir.«

Avery zögerte kurz, dann nickte er widerstrebend und ging weiter in den Ballsaal – freier nun, da die Menge Marcus belagerte.

Marcus unterdrückte seinen Zorn über die aufdringlichen Gäste, die ihm den Weg versperrten, und hörte sich angespannt die vielen Willkommensgrüße und Fragen an. Genau deswegen hasste er solche Empfänge. Gentlemen, die nicht die Initiative ergriffen, ihn während der Geschäftszeiten aufzusuchen, hatten keinerlei Bedenken, ihn in einer zwangloseren Umgebung anzusprechen. Er hingegen vermischte niemals Geschäftliches mit Privatem. Daran hatte er sich immer gehalten, bis heute Abend.

Elizabeth würde die Ausnahme sein. So, wie sie immer die Ausnahme gewesen war.

Er drehte sein Monokel in der Hand und beobachtete, wie Avery sich mühelos durch die Gästeschar bewegte. Dann sah er zu der Frau hinüber, die er beschützen sollte. Wie ein Verdurstender sog er ihren Anblick in sich auf.

Elizabeth hatte nie etwas für Perücken übriggehabt und trug im Gegensatz zu den meisten anderen Damen auch an diesem Abend keine. Der Effekt der strahlend weißen Federn in ihren dunklen Haaren war atemberaubend und zog alle Blicke auf sich. Ihr Haar war rabenschwarz und betonte ihre Augen, deren violette Farbe an Amethyste erinnerte.

Zwar hatten sich ihre Blicke nur einen Moment lang getroffen, doch immer noch spürte er die magnetische Wirkung, die sie auf ihn ausübte. Er konnte nicht widerstehen, sie weiterhin wie gebannt anzustarren, trotz der Gefahr zu verbrennen.

Sie hatte eine ganz besondere Art, einen Mann mit ihren hinreißenden Augen anzusehen. Fast hätte Marcus geglaubt, er wäre der einzige Mann im Saal, alle anderen wären verschwunden und niemand mehr befände sich zwischen ihm auf der Treppe und ihr auf der anderen Seite der Tanzfläche.

Er stellte sich vor, wie er die Distanz zwischen ihnen überwand, sie ihn seine Arme zog und seinen Mund auf ihren drückte. Er wusste bereits, dass ihre überaus erotisch geformten prallen Lippen mit seinen verschmelzen würden. Er wollte mit dem Mund über ihren schmalen Hals und weiter über ihr Schlüsselbein fahren. Er wollte in ihrem üppigen Körper versinken und seinen quälenden Hunger stillen, den Hunger, der so mächtig geworden war, dass er fast den Verstand darüber verloren hatte.

Einst wollte er sie lächeln und lachen sehen, den Klang ihrer Stimme hören und ihre Sicht der Dinge erfahren. Jetzt waren seine Bedürfnisse grundlegender. Marcus weigerte sich, mehr zuzulassen. Er wollte sein altes Leben zurück, ein Leben ohne Schmerz, Wut und schlaflose Nächte. Elizabeth hatte ihm das genommen und musste es ihm verdammt noch mal zurückgeben.

Er spannte die Kieferknochen an. Es war Zeit, die Distanz zwischen ihnen zu überwinden.

Ein einziger Blick von ihr hatte seine Selbstkontrolle erschüttert. Wie würde es sein, wenn er sie wieder in seinen Armen hielt?

Elizabeth, die Viscountess Hawthorne, konnte sich vor Schock eine ganze Weile nicht rühren, und das Blut schoss ihr in die Wangen.

Nur eine Sekunde hatte sich ihr Blick mit dem des Mannes auf der Treppe getroffen, und doch hatte ihr Herz zu rasen angefangen. Sie war betört von der maskulinen Schönheit seines Gesichts, auf dem sich eindeutig die Freude über ihr Wiedersehen zeigte. Erschreckt und verwirrt über ihre Reaktion nach all den Jahren hatte sie sich gezwungen, ihn zu schneiden, und hochmütig die Augen abgewandt.

Marcus, mittlerweile der Earl of Westfield, bot immer noch einen prächtigen Anblick. Er war und blieb der bestaussehende Mann, den sie je gesehen hatte. Als sich ihre Blicke trafen, spürte sie den Funken zwischen ihnen wie eine greifbare Kraft. Zwischen ihnen hatte immer große Anziehung geherrscht. Es verwirrte sie zutiefst, dass sie nicht im Mindesten nachgelassen hatte.

Dabei sollte sie doch abgestoßen sein, nach dem, was er getan hatte.

Als Elizabeth eine Hand auf ihrem Ellbogen spürte, wurde sie in die Gegenwart zurückgerissen. Sie wandte sich um und sah George Stanton neben sich, der sie besorgt musterte. »Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie wirken ein wenig erhitzt.«

Sie nestelte an der Spitze ihres Ärmels, um ihr Unbehagen zu überspielen. »Es ist warm hier.« Sie ließ ihren Fächer aufschnappen und fächelte sich heftig kühle Luft zu.

»Ich glaube, etwas zu trinken würde helfen«, sagte George, und sie belohnte seine Aufmerksamkeit mit einem Lächeln.

Als George gegangen war, richtete Elizabeth ihre Aufmerksamkeit auf die Gruppe Gentlemen um sie herum. »Worüber sprachen wir gerade?«, fragte sie in die Runde. Ehrlich gesagt hatte sie fast die ganze letzte Stunde nicht auf die Unterhaltung geachtet.

Thomas Fowler antwortete. »Wir sprachen über den Earl of Westfield.« Er deutete diskret zu Marcus. »Erstaunlich, dass er hier ist. Der Earl ist bekannt für seine Abneigung gegen gesellschaftliche Ereignisse.«

»In der Tat.« Sie gab sich gleichgültig, während ihre Handflächen in ihren Handschuhen feucht wurden. »Ich hatte gehofft, die Neigung des Earls würde auch heute Abend Wirkung zeigen, doch offenbar hatte ich kein Glück.«

Thomas verlagerte unbehaglich sein Gewicht. »Verzeihung, Lady Hawthorne. Ich habe Ihre Verbindung mit Lord Westfield vergessen.«

Sie lachte leise. »Aber nicht doch. Ehrlich gesagt bin ich Ihnen sogar aufrichtig dankbar, denn Sie sind sicher der Einzige in ganz London, der den Anstand hatte, dies zu vergessen. Achten Sie gar nicht auf ihn, Mr. Fowler. Der Earl war für mich damals kaum von Bedeutung und ist es jetzt noch weniger.«

Als George mit dem Getränk zurückkehrte, lächelte sie, worauf er strahlte.

Während die Unterhaltung um sie herum ihren Fortgang nahm, veränderte Elizabeth langsam ihre Position, um besser verstohlene Blicke auf Marcus werfen zu können, der sich die übervölkerte Treppe hinabmühte. Offenbar hatte sein skandalöser Ruf weder seine Macht noch seinen Einfluss geschmälert. Selbst in einer Menge war seine Wirkung bezwingend. Mehrere angesehene Gentlemen eilten ihm entgegen, anstatt abzuwarten, bis er zur Tanzfläche hinuntergekommen war. Frauen in einer leuchtend bunten Auswahl spitzenbesetzter Abendkleider glitten kaum merklich Richtung Treppe. Der Strom der Bewunderer, der auf ihn zutrieb, störte das Gleichgewicht des gesamten Saals. Allerdings musste man Marcus zugutehalten, dass er auf die Katzbuckelei um ihn herum höchst gleichgültig reagierte.

Während er sich seinen Weg zum Ballsaal bahnte, bewegte er sich mit der lässigen Arroganz eines Mannes, der immer genau das bekommt, was er haben will. Die Menge um ihn herum versuchte, ihn aufzuhalten, doch Marcus drängte sich mühelos hindurch. Einigen hörte er aufmerksam zu, anderen nur beiläufig, und einige wenige wies er mit erhobener Hand zurück. Allein mit der Kraft seiner Persönlichkeit beeinflusste er seine Umgebung, und alle schienen damit zufrieden zu sein.

Als er ihre Aufmerksamkeit spürte, trafen sich erneut ihre Blicke. Die Winkel seines großzügig geschnittenen Mundes hoben sich, als sie sich ansahen. Das Funkeln in seinen Augen und die Wärme seines Lächelns versprachen mehr, als er je hätte halten können.

Anders als vier Jahre zuvor schien Marcus nur Augen für sie zu haben, und eine rastlose Energie lag in seinen Bewegungen. Das waren Warnzeichen, die Elizabeth zu beachten beabsichtigte.

George blickte leichthin über ihren Kopf hinweg, um die Szene zu betrachten. »Wie ich schon sagte. Offenbar kommt Lord Westfield hierher.«

»Sind Sie wirklich sicher, Mr. Stanton?«

»Ja, Mylady. Jetzt, während wir sprechen, starrt Westfield mich unverhohlen an.«

Elizabeth spürte, wie sich Anspannung in ihrer Magengrube bemerkbar machte. Bei ihrem ersten Blickwechsel war Marcus wie erstarrt stehen geblieben, und der zweite war noch verstörender gewesen. Er kam zu ihr, und sie hatte keine Zeit, sich vorzubereiten. George sah sie an, als sie sich heftig Luft zufächelte.

Verdammt, dass er ausgerechnet heute Abend kommen musste! Ihr erstes gesellschaftliches Ereignis nach drei Jahren Trauer, und er tauchte unfehlbar direkt nach ihrem Wiedererscheinen auf, so als hätte er die letzten Jahre ungeduldig genau auf diesen Moment gewartet. Sie war sich nur allzu bewusst, dass sie damit völlig falschlag. Denn während sie um ihren verstorbenen Mann trauerte, hatte Marcus weiterhin seinen Ruf als Frauenheld gefestigt.

Nachdem er ihr so brutal das Herz gebrochen hatte, hätte Elizabeth ihm überall die kalte Schulter gezeigt, doch vor allem hier. Sie wollte nicht das Fest genießen, sondern einen Mann treffen, auf den sie gewartet hatte. Einen Mann, mit dem sie sich heimlich verabredet hatte. Heute Abend würde sie sich der Erinnerung an ihren Ehemann widmen. Sie würde Gerechtigkeit für Hawthorne finden.

Die Menge teilte sich widerstrebend vor Marcus und strömte hinter ihm sofort wieder zusammen. Diese Bewegung kündigte sein Kommen an. Und dann war Westfield da, stand direkt vor ihr. Als er lächelte, fing ihr Herz wieder an zu rasen. Die Versuchung lockte, zurückzuweichen, einfach zu fliehen, aber die Gelegenheit dazu war viel zu schnell vorbei.

Elizabeth straffte die Schultern und holte tief Luft. Da das Glas in ihrer Hand zu zittern begann, schluckte sie rasch den restlichen Inhalt, bevor er ihr noch das Kleid ruinierte. Dann gab sie das leere Glas George, ohne ihn anzusehen. Marcus nahm ihre Hand, ehe sie sie zurückziehen konnte.

Er verbeugte sich tief und lächelte charmant, ohne den Blick von ihr zu lösen. »Lady Hawthorne, Sie sind wie immer betörend.« Seine Stimme war warm und weich. »Wäre es vermessen zu hoffen, dass Sie noch einen freien Tanz haben, den Sie an mich vergeben wollten?«

Elizabeth dachte hektisch nach, um eine Ausflucht zu suchen. Seine gefährliche männliche Energie, die schon aus der Distanz mächtig wirkte, war aus der Nähe einfach überwältigend.

»Ich bin nicht hier, um zu tanzen, Lord Westfield. Fragen Sie die Gentlemen hier im Umkreis.«

»Mit denen will ich nicht tanzen«, entgegnete er trocken, »also interessieren mich ihre Gedanken zu dem Thema nicht.«

Sie wollte schon protestieren, als sie seinen spöttischen Blick bemerkte. Sichtlich belustigt lächelte er sie an und forderte sie eindeutig heraus. Sie zögerte. Auf gar keinen Fall wollte sie ihm die Genugtuung geben, dass sie Angst hatte, mit ihm zu tanzen. »Wenn Sie darauf bestehen, Lord Westfield, dann können Sie den nächsten Tanz haben.«

Mit zustimmender Miene verneigte er sich tief vor ihr. Dann bot er ihr seinen Arm und führte sie auf die Tanzfläche. Als die Musiker zu spielen begannen, erfüllten die heiteren Klänge eines wunderschönen Menuetts den ganzen Saal.

Marcus drehte sich zu ihr und streckte seinen Arm nach ihr aus. Sie legte ihre Hand auf seine und war nur dankbar, dass sie beide Handschuhe trugen. Im goldenen Licht der vielen Kerzen fiel ihr das Muskelspiel seiner Schultern besonders auf. Unter gesenkten Wimpern musterte sie ihn auf etwaige Veränderungen.

Marcus war schon immer ein ausgesprochen körperbetonter Mann gewesen, der sich vielen Sportarten und körperlichen Aktivitäten hingab. Es war kaum vorstellbar, doch er schien noch stärker und imposanter geworden zu sein. Er wirkte wie die personifizierte Kraft, und Elizabeth wunderte sich, wie sie je so naiv hatte sein können zu glauben, sie könnte ihn zähmen. Zum Glück war sie inzwischen klüger.

Das einzig Weiche an ihm war sein herrlich dichtes sandfarbenes Haar. Es schimmerte wie Zobelfell und war im Nacken mit einer schlichten schwarzen Schleife zusammengebunden. Selbst der Blick aus seinen smaragdgrünen Augen war durchdringend und zeugte von seiner Intelligenz. Er hatte einen scharfen Verstand, für den Betrug nur ein Spiel war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste. Ihr Herz und ihr Stolz hatten dabei starken Schaden genommen.

Sie erwartete schon beinahe, Anzeichen seines ausschweifenden Lebens zu sehen, doch sein markantes Gesicht ließ derlei nicht erkennen. Im Gegenteil: Seine Haut war sonnengebräunt, so als verbringe er viel Zeit im Freien. Seine Nase ragte gerade und kühn über seine vollen, sinnlichen Lippen, die sich jetzt zu einem halben Lächeln verzogen, das gleichzeitig jungenhaft und verführerisch wirkte. Er war einfach atemberaubend, von Kopf bis Fuß. Und er merkte genau, wie sie ihn musterte und widerstrebend bewunderte. Daher senkte sie den Blick und starrte entschieden auf sein Jabot.

Sein Geruch betäubte ihre Sinne. Er roch wunderbar männlich nach Sandelholz, Zitrone und etwas Drittem, das unverkennbar nur ihm anhaftete. Das Blut, das ihr in die Wangen geschossen war, strömte nun in ihr Inneres, das sich erwartungsvoll zusammenzog.

Marcus neigte den Kopf, als könnte er ihre Gedanken lesen. Mit leiser, heiserer Stimme sagte er: »Elizabeth, ich freue mich sehr, dich nach so langer Zeit wiederzusehen.«

»Die Freude, Lord Westfield, ist ganz einseitig.«

»Früher hast du mich Marcus genannt.«

»Das wäre nicht mehr angemessen, Mylord.«

Er verzog den Mund zu einem reuigen Lächeln. »Ich gebe dir die Erlaubnis, dich jederzeit mir gegenüber unangemessen zu benehmen. Genau gesagt hat mir dein unangemessenes Benehmen immer sehr gefallen.«

»Du hattest eine Vielzahl williger Frauen, die dir genauso gefallen haben.«

»Aber nein, meine Liebe. Du warst immer etwas ganz Besonderes und Herausragendes.«

Elizabeth war schon vielen Lebemännern und Schürzenjägern begegnet, doch deren Glattzüngigkeit und Aufdringlichkeit hatten sie immer kaltgelassen. Aber Marcus war so gewieft darin, Frauen zu verführen, dass er immer vollkommen aufrichtig wirkte. Einst hatte sie jede seiner Liebesbezeugungen geglaubt, die er von sich gegeben hatte. Selbst jetzt wirkte er fast überzeugend, als er sie mit scheinbar großer Sehnsucht in den Augen ansah.

Am liebsten hätte sie vergessen, was er war: ein herzloser Verführer. Doch ihr Körper wollte das nicht zulassen. Sie fühlte sich fiebrig, und leichter Schwindel überkam sie.

»Drei Jahre Trauerzeit«, sagte er mit leichter Verbitterung. »Ich sehe mit Erleichterung, dass die Trauer deiner Schönheit nichts anhaben konnte. Im Gegenteil: Du erscheinst mir noch schöner als bei unserer letzten Begegnung. Du erinnerst dich doch noch daran, oder nicht?«

»Vage«, log sie. »Ich hab schon jahrelang nicht mehr daran gedacht.«

Weil sie wissen wollte, ob er ihr die Lüge abnahm, sah sie ihn an, während sie die Partner wechselten. Marcus strahlte wie üblich die ihm eigene sexuelle Anziehungskraft aus. Wie er sich bewegte, wie er sprach und roch – all das zeugte von seiner mächtigen Energie und seinem großen Appetit. Sie spürte seine kaum gebändigte Kraft unter der glatten Fassade und erinnerte sich daran, wie gefährlich er war.

Seine Stimme umschmeichelte sie, als die Schrittfolge des Menuetts sie wieder zu ihm zurückführte. »Es kränkt mich, dass du dich nicht mehr freust, mich zu sehen, vor allem, weil ich diesen elenden Empfang nur erdulde, um mit dir zusammen zu sein.«

»Lächerlich«, gab sie zurück. »Du hattest keine Ahnung, dass ich heute Abend hier sein würde. Was immer dein Ziel war, gib es bitte auf und lass mich in Frieden.«

Seine Stimme war gefährlich sanft. »Mein Ziel bist du, Elizabeth.«

Einen Moment lang starrte sie ihn an, während ihr Magen unangenehm zu brennen anfing. »Wenn mein Bruder uns zusammen sieht, wird er fuchsteufelswild sein.«

Sie zuckte zusammen, als sie sah, wie sich seine Nasenflügel blähten. Früher waren William und er die besten Freunde gewesen, aber die Auflösung ihrer Verlobung hatte auch das Ende ihrer Freundschaft bedeutet. Von allen Dingen bedauerte sie das am meisten.

»Was willst du?«, fragte sie, als er nichts mehr sagte.

»Dass du dein Versprechen erfüllst.«

»Welches Versprechen?«

»Deine Haut an meiner, mit nichts dazwischen.«

»Du bist ja wahnsinnig«, sagte sie schwer atmend und erschauerte. Dann verengte sie ihre Augen zu Schlitzen. »Lass deine Spielchen mit mir. Denk an die vielen Frauen, die du seit unserer Trennung im Bett hattest. Ich habe dir einen großen Gefallen getan, als ich dich freigab –«

Sie keuchte auf, als er seine Hand unter ihrer herumdrehte und ihre Finger fest drückte.

Mit finsterem Blick stieß er hervor: »Du hast mir alles andere als einen großen Gefallen getan, als du dein Wort gebrochen hast.«

Schockiert wegen seiner heftigen Reaktion gab sie zurück: »Du wusstest genau, wie wichtig mir Treue war, wie sehr ich sie mir wünschte. Du hättest nie der Ehemann sein können, den ich wollte.«

»Ich war genau das, was du wolltest, Elizabeth. Du wolltest mich so sehr, dass du davor zurückgeschreckt bist.«

»Das ist nicht wahr! Ich habe keine Angst vor dir!«

»Wenn dir noch ein Funken Verstand geblieben wäre, hättest du Angst«, murmelte er.

Sie hätte protestiert, doch jetzt riss sie der Tanz wieder auseinander. Er bedachte die Frau, die um ihn herumtrippelte, mit einem strahlenden Lächeln, worauf Elizabeth die Zähne zusammenbiss. Den Rest des Menuetts sprach er kein Wort mehr mit ihr, bezirzte aber jede andere, mit der er in Kontakt kam.

Elizabeths Hand brannte von seiner Berührung, und ihre Haut glühte unter der Hitze seines Blicks. Er hatte nie versucht, seine ausgeprägt sexuelle Natur zu verleugnen, im Gegenteil: Er hatte sie ermutigt, ihre zu entfesseln. Er hatte ihr das Beste aus beiden Welten angeboten – die Ehrwürdigkeit ihres Standes und die Leidenschaft eines Mannes, der ihr Blut in Wallung versetzen konnte –, und sie hatte geglaubt, er könnte sie glücklich machen.

Wie naiv sie gewesen war! Sie hätte es doch besser wissen müssen, bei ihrer Familie!

Kaum war der Tanz vorbei, floh Elizabeth eilends. Als sie eine halb erhobene Hand entdeckte, lächelte sie, denn sie erkannte Avery James. Sie konzentrierte sich, da sie wusste, dies war der Mann, auf den sie gewartet hatte. Avery würde nur auf Lord Eldridges Geheiß einen solchen Empfang besuchen.

Eldridge hatte ihr versichert, als Witwe eines verdienten Agenten müsse sie nur fragen, falls sie jemals etwas brauche. Avery war ihr als Kontaktmann zugeteilt worden. Trotz seines zynischen und gelangweilten Auftretens war er ein freundlicher und rücksichtsvoller Mensch, der ihr in den ersten Monaten nach Hawthornes Tod unendlich geholfen hatte. Sein Anblick erinnerte sie daran, weshalb sie hier war.

Sie wollte noch schneller gehen, als Marcus hinter ihr ihren Namen rief.

»Der von Ihnen erbetene Tanz ist vorüber, Westfield«, bemerkte sie, über ihre Schulter hinweg. »Sie können sich nun im Glanz Ihres hart erarbeiteten Ruhmes sonnen und die Aufmerksamkeit Ihrer Bewunderer genießen.«

Sie hoffte, er begriff, dass sie ihn nicht wiederzusehen beabsichtigte, was es auch kostete.

Marcus sah zu, wie Elizabeth anmutig auf Avery zuging. Da sie ihm den Rücken zuwandte, musste er sein Grinsen nicht länger unterdrücken. Sie hatte ihm eine Abfuhr erteilt. Wieder einmal.

Doch leider würde seine süße Elizabeth bald begreifen, dass man ihn nicht so leicht loswurde.

2. Kapitel

»Mr. James«, sagte Elizabeth aufrichtig erfreut, »es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.« Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, die er in seine nahm, während ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Ein seltener Anblick. Er bot ihr ihren Arm und führte sie durch eine Flügeltür in ein Atrium.

Sie drückte seinen Unterarm. »Ich dachte schon, ich wäre zu spät gekommen und hätte unsere Verabredung verpasst.«

»Aber nicht doch, Lady Hawthorne«, entgegnete er voller Zuneigung, »dann hätte ich den ganzen Abend gewartet.«

Elizabeth legte den Kopf in den Nacken und atmete tief die duftgeschwängerte Luft ein. Die Atmosphäre dieses riesigen Innengartens war angenehm und eine willkommene Abwechslung nach dem Geruch von Rauch und verbranntem Wachs, Puder und schwerem Parfüm im Ballsaal.

Als sie langsam über die Pfade schlenderten, wandte sich Elizabeth plötzlich zu Avery und fragte: »Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Sie der Agent sind, der mir zugeteilt wurde?«

Er lächelte. »Ich helfe einem anderen Agenten in dieser Angelegenheit, ja.«

»Natürlich.« Sie verzog reuig den Mund. »Sie arbeiten ja immer mit einem Partner, nicht wahr? Genau wie früher Hawthorne und mein Bruder.«

»Das funktioniert gut, Mylady, und hat Menschenleben gerettet.«

Ihr Schritt stockte. MancheMenschenleben vielleicht. »Mir gefällt nicht, dass es diesen Agentenring überhaupt gibt, Mr. James. Williams Heirat und seine darauf folgende Kündigung ist ein Segen für mich. Er wäre in der Nacht, als ich meinen Mann verlor, ebenfalls fast gestorben. Ich kann es kaum erwarten, dass die Organisation nicht mehr Teil meines Lebens ist.«

»Wir bemühen uns, alles so schnell wie möglich zu einem Abschluss zu bringen«, versicherte er ihr.

»Das weiß ich«, seufzte sie. »Ich freue mich, dass Lord Eldridge Sie ausgesucht hat.«

Avery drückte ihre Hand, die immer noch auf seinem Unterarm lag. »Ich war dankbar für die Gelegenheit, Sie wiederzusehen. Seit unserer letzten Begegnung sind einige Monate vergangen.«

»Ist das wirklich schon so lange her?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Die Zeit vergeht wie im Flug.«

»Ich wünschte, das könnte ich auch behaupten«, ertönte eine bekannte Stimme hinter ihr. »Leider kamen mir die letzten vier Jahre wie eine Ewigkeit vor.«

Elizabeth erstarrte, und ihr stockte das Herz, bevor es rasend schnell wieder einsetzte.

Avery drehte sich mit ihr zu dem Mann herum, der sich zu ihnen gesellt hatte. »Ah, da ist ja mein Partner. Wie ich gehört habe, sind Lord Westfield und Sie alte Bekannte. Hoffentlich wird dieser Umstand die Abläufe beschleunigen.«

»Marcus«, flüsterte sie und riss die Augen auf, denn seine Anwesenheit traf sie wie ein Schlag.

Er verneigte sich. »Zu Ihren Diensten, Madam.«

Als Elizabeth schwankte, stützte Avery sie. »Lady Hawthorne?«

Marcus kam mit zwei großen Schritten auf sie zu. »Nicht ohnmächtig werden, meine Liebe. Tief Luft holen.«

Das war eine unmögliche Aufgabe für sie, denn plötzlich schnappte sie wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft, und ihr Korsett schnürte sie unerträglich ein. Sie wehrte ihn ab, weil seine Nähe und der Geruch seiner Haut es ihr noch schwerer machten, zu Atem zu kommen.

Sie sah, wie Marcus Avery einen vielsagenden Blick zuwarf, woraufhin dieser sich umdrehte und zu einem Farn in einiger Entfernung schritt, für den er sich plötzlich sehr zu interessieren schien.

Leicht benommen, aber schon etwas stabiler schüttelte Elizabeth den Kopf. »Marcus, jetzt hast du wirklich den Verstand verloren.«

»Ah, ich sehe, du erholst dich«, erwiderte er mit einem spöttischen Lächeln.

»Suche dein Amüsement woanders. Reiche deine Kündigung ein. Verlasse die Organisation.«

»Deine Sorge ist rührend, wenn auch etwas verwirrend, nachdem dir mein Wohlergehen in der Vergangenheit doch mehr als gleichgültig war.«

»Spar dir deinen Sarkasmus«, fauchte sie. »Weißt du denn nicht, worauf du dich da eingelassen hast? Es ist gefährlich, für Lord Eldridge zu arbeiten. Du könntest verletzt werden. Oder getötet.«

Marcus atmete geräuschvoll aus. »Elizabeth, du bist überreizt.«

Sie starrte ihn finster an und warf rasch einen Blick zu Avery, der immer noch eingehend den Farn studierte. Dann senkte sie die Stimme: »Wie lange bist du schon Agent?«

Er biss die Zähne zusammen. »Vier Jahre.«

»Vier Jahre?« Sie taumelte zurück. »Warst du schon Agent, als du mir den Hof gemacht hast?«

»Ja.«

»Du verdammter Mistkerl.« Ihre Stimme war zu einem gequälten Flüstern gesunken. »Wann hattest du denn vor, mich darin einzuweihen? Oder sollte ich es erst erfahren, wenn du in einem Sarg nach Hause gekommen wärst?«

Er verzog das Gesicht und verschränkte die Arme über der Brust. »Ich wüsste nicht, wieso das jetzt noch wichtig wäre.«

Sie erstarrte, als sie seinen frostigen Tonfall hörte. »All die Jahre habe ich mich vor der Ankündigung deiner bevorstehenden Eheschließung gefürchtet. Dabei hätte ich besser die Todesanzeigen lesen sollen!« Sie wandte sich ab und legte sich eine Hand auf ihr rasendes Herz. »Wie sehr wünschte ich mir, du wärst weit, weit weg von mir geblieben.« Sie raffte ihre Röcke und eilte davon. »Ich wünschte bei Gott, ich wäre dir niemals begegnet.«

Nur seine lauten Schritte auf dem Marmorboden warnten sie vor. Dann wurde sie am Ellbogen gepackt und herumgewirbelt.

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, grollte er.

Er ragte drohend über ihr, sein sinnlicher Mund war vor Zorn angespannt, und in seinen smaragdgrünen Augen blitzte etwas, das sie erschauern ließ.

»Wie konnte Lord Eldridge dich mir zuteilen?«, rief sie. »Und warum warst du einverstanden?«

»Ich habe darauf bestanden.«

Als er sie erstaunt aufkeuchen hörte, wurden seine Lippen noch schmaler. »Mach keinen Fehler. Du bist einmal vor mir geflohen. Ein zweites Mal werde ich das nicht dulden.« Er zog sie näher an sich heran. Die Luft zwischen ihnen knisterte vor Spannung. Seine Stimme wurde rau: »Und wenn du den König persönlich heiratest: Ich werde dich haben.«

Sie wollte sich von ihm losreißen, doch er umfasste sie wie ein Schraubstock. »Himmel noch mal, Marcus. Haben wir einander nicht schon genug verletzt?«

»Nicht mal annähernd.« Er stieß sie von sich, als wäre ihm ihre Nähe zuwider. »Aber jetzt lass uns den Fall deines verstorbenen Mannes abschließen, damit Avery gehen kann.«

Zitternd eilte Elizabeth zu Avery. Marcus folgte ihr mit der gefährlichen Eleganz einer Raubkatze.

Es bestand kein Zweifel: Sie wurde gejagt.

Bei Avery blieb sie stehen und holte zitternd Luft, ehe sie sich umdrehte.

Marcus musterte sie mit unergründlichem Blick. »Ich habe gehört, du hättest ein Tagebuch deines verstorbenen Mannes bekommen.« Er wartete, bis sie nickte. »Weißt du, wer es dir geschickt hat?«

»Es war Hawthornes Handschrift auf dem Päckchen. Offensichtlich wurde es schon vor einiger Zeit adressiert, denn die Tinte war verblasst und die Verpackung vergilbt.« Sie hatte tagelang darüber nachgedacht, aber weder die Herkunft noch den Zweck des Päckchens ergründen können.

»Dein Mann hat sich selbst ein Päckchen geschickt, das drei Jahre nach seinem Tod angekommen ist?« Marcus kniff die Augen zusammen. »Hat er irgendwelche Karten mit seltsamen Löchern oder ein Schriftstück, das dir komisch vorkommt, hinterlassen?«

»Nein, nichts.« Sie griff in ihr Ridikül und holte das schmale Tagebuch und den Brief hervor, die sie nur Tage zuvor bekommen hatte. Beides reichte sie Marcus.

Nachdem er einen flüchtigen Blick auf das Tagebuch geworfen hatte, steckte er es in seinen Mantel. Anschließend überflog er den Brief und runzelte die Stirn. »In der Geschichte der Organisation wurde nur Lord Hawthornes Tod nicht aufgeklärt. Ich hatte gehofft, dich so wenig wie möglich da mit hineinziehen zu müssen.«

»Ich werde alles tun, was notwendig ist«, erwiderte sie rasch. »Hawthorne verdient es, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Falls nötig, werde ich dazu beitragen.« Sie würde alles dafür tun.

Marcus faltete vorsichtig den Brief. »Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen.«

Jetzt verlor Elizabeth die Beherrschung. »Ach, mich willst du in Sicherheit wissen, während du selbst deinen Hals riskierst? Ich leide doch wohl mehr unter den Folgen dieser Angelegenheit als du oder deine kostbare Organisation!«

Marcus knurrte warnend ihren Namen.

Da räusperte sich Avery laut. »Offenbar können Sie beide nicht gut zusammenarbeiten. Daher schlage ich vor, Lord Eldridge von diesen Schwierigkeiten in Kenntnis zu setzen. Ich bin sicher, es gibt andere Agenten, die –«

»Nein!«, zischte Marcus scharf.

»Ja!« Vor lauter Erleichterung brach Elizabeth fast zusammen. »Ein ausgezeichneter Vorschlag.« Unendlich dankbar lächelte sie ihn an. »Sicher erkennt Lord Eldridge, wie vernünftig das wäre.«

»Läufst du schon wieder weg?«, spottete Marcus.

Sie starrte ihn finster an. »Ich bin nur vernünftig. Offensichtlich können wir nicht miteinander arbeiten.«

»Vernünftig?« Er schnaubte verächtlich. »Das Wort, das du suchst, lautet feige!«

»Lord Westfield!«, mahnte Avery mit gerunzelter Stirn.

Elizabeth winkte ab. »Lassen Sie uns einen Moment allein, Mr. James. Bitte.« Sie löste ihren Blick nicht von Marcus, während Avery zögerte.

»Tun Sie, was sie sagt«, murmelte Marcus und sah sie genauso finster an.

Avery murrte, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte wütend davon.

Daraufhin kam Elizabeth direkt zur Sache. »Sollte ich zur Zusammenarbeit mit dir gezwungen werden, Westfield, werde ich der Organisation alle weiteren Informationen verweigern und mich allein um die Sache kümmern.«

»Den Teufel wirst du!« An Marcus’ Kiefer begann ein Muskel zu zucken. »Ich lasse nicht zu, dass du dich in Gefahr bringst. Versuch’s nur, dann wirst du schon sehen, was passiert. Aber es wird dir nicht gefallen, das verspreche ich dir.«

»Ach ja?«, erwiderte sie provozierend und nicht geneigt, vor einem Wutanfall zurückzuschrecken, der den meisten Männern Angst eingejagt hätte. »Und wie willst du mich aufhalten?«

Drohend trat Marcus auf sie zu. »Ich bin ein Agent der Krone –«

»Das hatten wir schon.«

»– und habe einen Auftrag. Solltest du meine Untersuchungen behindern, betrachte ich das als Verrat und werde dich entsprechend behandeln.«

»Das würdest du nicht wagen! Lord Eldridge würde das nicht zulassen.«

»Doch, das würde ich, und er würde mich nicht aufhalten.« Er blieb vor ihr stehen. »Dieses Tagebuch sieht so aus, als enthielte es Aufzeichnungen von Hawthornes Aufträgen, und könnte mit seinem Tod in Verbindung gebracht werden. Wenn das stimmt, bist du in Gefahr. Eldridge wird das genauso wenig dulden wie ich.«

»Wieso nicht?«, forderte sie ihn heraus. »Es ist doch offensichtlich, was du für mich empfindest.«

Er trat noch näher an sie heran, bis seine Schuhspitzen unter dem Saum ihres Kleides verschwanden. »Anscheinend nicht. Aber wenn du meinst, du müsstest alles Eldridge erzählen, dann nur zu. Sag ihm, welche Wirkung ich auf dich habe und wie sehr du dich nach mir sehnst. Erzähl ihm alles über unsere schmutzige Vergangenheit, und vergiss nicht zu erwähnen, dass selbst das Andenken an deinen lieben verstorbenen Mann dein Verlangen nach mir nicht dämpfen kann.«

Sie starrte ihn an, dann entfuhr ihr ein trockenes Lachen. »Deine Arroganz ist erstaunlich.« Sie wandte sich ab, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Das verdammte Tagebuch konnte er haben. Am nächsten Morgen würde sie mit Eldridge sprechen.

Sein Spott verfolgte sie. »MeineArroganz? Du bist doch diejenige, die glaubt, alles drehe sich nur um sie!«

Elizabeth erstarrte und wirbelte herum. »Du mit deinen Drohungen hast etwas Persönliches daraus gemacht.«

»Es ist keine Drohung, dass wir ein Liebespaar werden. Sondern ein höchstwahrscheinlicher Schluss, der nichts mit dem Tagebuch deines verstorbenen Mannes zu tun hat.« Als sie widersprechen wollte, hob er die Hand. »Spar dir die Mühe. Diese Mission ist für Eldridge von großer Bedeutung. Nur aus diesem Grund wollte ich sie haben. Um dich in mein Bett zu kriegen, muss ich nicht mit dir arbeiten.«

»Aber …« Sie verstummte und überlegte, was er vorher zu ihr gesagt hatte. Tatsächlich hatte er nie behauptet, dass er den Auftrag unbedingt ihretwegen haben wollte. Blut schoss ihr ins Gesicht.

Marcus schlenderte lässig an ihr vorbei und wandte sich zum Tanzsaal. »Also erzähle Eldridge ruhig, warum du meinst, du könntest nicht mit mir arbeiten. Er weiß allerdings sehr genau, dass ichkein Problem damit habe, mit dirzu arbeiten.«

Elizabeth biss die Zähne zusammen, um keinen der Kraftausdrücke auszusprechen, die ihr auf der Zunge lagen. Sie war nicht dumm und wusste genau, was er wollte. Er würde nicht gehen, bis er entschied, dass er genug hatte – Auftrag hin oder her. In diesem ganzen Debakel konnte sie höchstens noch dafür sorgen, dass ihr Stolz nicht gebrochen wurde.

Ihr zog sich der Magen zusammen. Nun, da sie ihre Trauerzeit beendet hatte und in die Gesellschaft zurückgekehrt war, würde sie seine Verführungskünste mit ansehen müssen. Sie würde gezwungen sein, mit Frauen zu verkehren, die seine Aufmerksamkeit erregt hatten. Sie würde das Lächeln sehen, das er mit ihnen, aber nicht mit ihr tauschte.

Verdammt! Ihr Atem ging schneller. Gegen jede Vernunft und Selbstachtung setzte sie sich in Bewegung, um ihm zu folgen.

Eine sanfte Berührung an ihrem Ellbogen erinnerte sie daran, dass Avery auch noch da war. »Lady Hawthorne, ist alles in Ordnung?«

Sie nickte ruckartig.

»Ich werde so bald wie möglich mit Lord Eldridge sprechen und –«

»Das wird nicht nötig sein, Mr. James.«

Sie wartete, bis Marcus um die Ecke verschwunden war, dann sah sie Avery an. »Meine Aufgabe ist es nur, das Tagebuch zu übergeben. Der Rest unterliegt Lord Westfield und Ihnen. Also besteht keine Notwendigkeit, einen anderen Agenten anzufordern.«

»Sind Sie sicher?«

Sie nickte erneut, weil sie das Gespräch beenden und in den Tanzsaal zurückkehren wollte.

Averys Blick war zwar skeptisch, doch er sagte: »Nun gut. Ich schicke Ihnen zwei bewaffnete Männer, die Sie überallhin begleiten. Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie die Einzelheiten der Übergabe bekommen.«

»Natürlich.«

»Da wir hier fertig sind, werde ich aufbrechen.« Erleichterung zeigte sich in seinem Lächeln. »Solche Empfänge waren noch nie etwas für mich.«

Er nahm ihre Hand und deutete einen Kuss auf ihren Handrücken an.

»Elizabeth?« Williams dröhnende Stimme tönte durch das große Atrium.

Sie riss die Augen auf und umklammerte Averys Finger. »Mein Bruder darf Sie nicht sehen. Er wird sofort vermuten, dass etwas nicht stimmt.«

Avery, der ihre Sorge zu schätzen wusste und im Fassen schneller Entschlüsse geübt war, nickte grimmig und tauchte schnell hinter einem Busch unter.

Als Elizabeth sich umwandte, sah sie, wie ihr Bruder näher kam. Wie Marcus bewegte er sich mit lässiger Eleganz, und seinem Bein war nichts von der Verletzung anzusehen, die ihn fast das Leben gekostet hätte.

Sie sahen vollkommen unterschiedlich aus, obwohl sie Geschwister waren. Sie hatte die rabenschwarzen Haare und die amethystfarbenen Augen ihrer Mutter, William das blonde Haar und die blaugrünen Augen ihres Vaters. Hochgewachsen und breitschultrig sah er aus wie ein Wikinger: stark und gefährlich, aber auch humorvoll, wovon die feinen Fältchen an seinen Augen zeugten.

»Was machst du hier?«, fragte er und überflog mit einem neugierigen Blick das Atrium.

Elizabeth hakte sich bei ihm unter und steuerte ihn zum Ballsaal zurück. »Ich habe nur die schönen Pflanzen sehen wollen. Wo ist Margaret?«

»Bei ihren Bekannten.« William wurde langsamer, blieb stehen und zwang sie, ebenfalls innezuhalten. »Ich habe gehört, du hast eben mit Westfield getanzt.«

»Und schon wird geklatscht?«

»Halte dich von ihm fern, Elizabeth«, warnte er sie leise.

»Es gab keine Möglichkeit, ihn höflich abzuweisen.«

»Du musst auch nicht höflich sein. Ich traue ihm nicht. Seltsam genug, dass er heute Abend hier ist.«

Sie seufzte traurig, weil sie den Bruch der Freundschaft verursacht hatte. Marcus mochte kein guter Ehemann sein, aber er war William ein treuer Freund gewesen. »Der Ruf, den er sich in den vergangenen Jahren erworben hat, rechtfertigt mein Verhalten. Ich versichere dir, ich laufe nicht Gefahr, mich noch mal von ihm bezirzen zu lassen.«

Sie zog ihn zum Ballsaal und war erleichtert, als William ihr willig folgte. Wenn sie sich beeilten, sah sie vielleicht noch, wohin Marcus ging.

Marcus trat aus seinem Versteck hinter einem Baum hervor und fegte sich ein Blatt vom Umhang. Während er sich die Erde von den Schuhen stampfte, hielt er den Blick auf Elizabeths Rücken gerichtet, bis er aus seinem Sichtfeld verschwand. Er fragte sich, ob sein wahnsinniges Verlangen nach ihr sichtbar war. Sein Herz raste und seine Beine schmerzten von der Anstrengung, ihr nicht zu folgen und sie sich zu schnappen.

Ihre Sturheit und ihr Eigensinn machten ihn rasend, doch genau deswegen war sie perfekt für ihn. Keine andere Frau erregte dermaßen seine Leidenschaft. Nur Elizabeth brachte sein Blut derart zum Kochen, ob vor Wut oder vor Begierde. Er musste sie einfach haben.

Er wünschte bei Gott, er würde Liebe empfinden. Aber dieses Gefühl schwand unweigerlich mit der Zeit, verbrannte zu Asche, wenn alles aufgezehrt war. Nur Verlangen wurde mit der Zeit größer, schmerzte und nagte an einem, bis es gestillt wurde.

Nun tauchte Avery vor ihm auf. »Wenn Sie so mit einer alten Freundin umgehen, Mylord, möchte ich nicht sehen, wie Sie Ihre Feinde behandeln.«

Sein Lächeln zeigte keine Spur von Belustigung. »Sie wollte meine Frau werden.« Avery schwieg verblüfft. »Jetzt sind Sie sprachlos, was?«

»Verdammt noch mal!«

»Allerdings.« Er wappnete sich innerlich und fragte: »Plant sie, mit Eldridge zu sprechen?«

»Nein.« Avery bedachte ihn mit einem Seitenblick. »Halten Sie es für klug, den Auftrag übernommen zu haben?«

»Nein«, gestand er, erleichtert, dass sein Plan aufgegangen war, und dankbar, dass er sie nach all den Jahren immer noch so gut kannte. »Aber ich bin überzeugt, dass ich keine andere Wahl habe.«

»Eldridge ist entschlossen, Hawthornes Mörder zu fassen. Möglicherweise werden wir bei unserer Mission gezwungen sein, Lady Hawthorne in Gefahr zu bringen, um dieses Ziel zu erreichen.«

»Nein. Hawthorne ist tot. Es wird ihn nicht zurückbringen, wenn wir Elizabeths Leben gefährden. Wir werden andere Wege finden, den Auftrag auszuführen.«

Avery schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich vertraue darauf, dass Sie wissen, was Sie tun, denn ich weiß es nicht. Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Mylord, dann verschwinde ich durch den Garten, bevor noch etwas passiert.«

»Ich glaube, ich komme mit.« Er setzte sich ebenfalls in Bewegung und lachte, als er Averys hochgezogene Augenbrauen sah. »In einer längeren Schlacht muss ein Mann bereit sein, sich bei Gelegenheit zurückzuziehen, um später ausgeruht und mit frischer Kraft zurückzuschlagen.«

»Guter Gott! Schlachten, geplatzte Verlobungen und zerbrochene Freundschaften! Ihre Vergangenheit mit Lady Hawthorne wird nur Probleme machen.«

Marcus rieb sich die Hände. »Darauf freue ich mich schon.«

3. Kapitel

»Das ist ja die reinste Belagerung!«, klagte Elizabeth, als ein weiterer ungebührlich großer Blumenstrauß ins Wohnzimmer gebracht wurde.

»Es gibt Schlimmeres für eine Frau, als von einem teuflisch gut aussehenden Adligen umworben zu werden«, bemerkte Margaret, strich sich über den Rock und nahm auf dem Sofa Platz.

»Du bist eine hoffnungslose Romantikerin, weißt du das?« Elizabeth stand auf, nahm ein winziges Brokatkissen und stopfte es ihrer Schwägerin in den Rücken. Dabei sah sie bewusst den riesigen und offensichtlich teuren Blumenstrauß nicht an. Marcus hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sein Interesse an ihr sowohl beruflich als auch körperlich war, und darauf hatte sie sich so gut wie möglich vorbereitet. Aber dieser Angriff auf ihre weibliche Empfindsamkeit kam überraschend.

»Ich bin enceinte«, protestierte Margaret wegen dieser Verhätschelung. »Nicht invalide.«

»Lass mich dich doch ein bisschen verwöhnen. Es macht mir solche Freude.«

»Ich bin sicher, später werde ich dir dafür dankbar sein, aber im Moment kann ich mich noch ganz gut um mich selbst kümmern.«

Trotz ihres Protests ließ sich Margaret mit einem zufriedenen Seufzer gegen das Kissen sinken. Ihre sanft gerötete Haut passte perfekt zu ihren dunkelroten Locken.

»Da bin ich anderer Meinung. Obwohl du im fünften Monat bist, wirkst du noch schmaler als vor deiner Schwangerschaft.«

»Fast im fünften Monat«, korrigierte Margaret sie. »Und es ist schwer zu essen, wenn einem die meiste Zeit übel ist.«

Elizabeth schürzte die Lippen, griff nach einem Scone, legte ihn auf einen Teller und bot ihn Margaret an. »Iss«, befahl sie.

Mit gespielt finsterer Miene gehorchte Margaret und sagte dann: »William behauptet, die Wettbücher seien schon voll wegen der Frage, ob Lord Westfield dich immer noch heiraten will oder nicht.«

Elizabeth, die gerade Tee zubereitete, riss den Mund auf. »Du meine Güte!«

»Du bist eine Legende, weil du ihn sitzen gelassen hast – einen so gut aussehenden Earl, den alle Frauen wollten. Alle außer dir. Die verpatzte Liebesgeschichte eines Lebemannes.«

Elizabeth schnaubte verächtlich.

»Du hast mir nie erzählt, was Lord Westfield eigentlich getan hat, weswegen du eure Verlobung hast platzen lassen.«

Elizabeths Hände zitterten, als sie Tee in das kochende Wasser in der Kanne löffelte. »Das ist schon lange her, Margaret, und wie ich bereits mehrfach sagte, gibt es keinen Grund, darüber zu reden.«

»Ja, ja, ich weiß. Aber er sehnt sich doch eindeutig nach deiner Nähe, was seine wiederholten Versuche, dich zu umwerben, beweisen. Ich bewundere Westfields Selbstsicherheit. Er blinzelt nicht mal, wenn er abgewiesen wird. Er lächelt nur, sagt etwas Nettes und geht.«

»Ja, der Mann hat eine Menge Charme. Die Frauen strömen in Scharen zu ihm, um sich lächerlich zu machen.«

»Das klingt, als wärst du eifersüchtig.«

»Nein, bin ich nicht«, widersprach sie. »Ein Stück Zucker oder zwei? Egal, du brauchst zwei.«

»Wechsel nicht das Thema, sondern erzähl mir von deiner Eifersucht. Hawthorne wurde auch von vielen Frauen attraktiv gefunden, aber das schien dich nicht zu stören.«

»Hawthorne war auch treu.«

Margaret nahm mit einem dankbaren Lächeln ihre Teetasse entgegen. »Und wie du schon sagtest: Westfield nicht.«

»Nein«, seufzte Elizabeth.

»Bist du sicher?«

»So sicher, als hätte ich ihn in flagranti ertappt.«

Margaret verengte ihre moosgrünen Augen zu Schlitzen. »Du hast einem Außenstehenden mehr geglaubt als deinem Verlobten?«

Elizabeth schüttelte den Kopf und trank zur Stärkung einen Schluck Tee, bevor sie antwortete: »Ich hatte eines Abends etwas Dringendes mit Lord Westfield zu besprechen, daher fuhr ich zu seinem Haus …«

»Allein? Was um Himmels willen ist in dich gefahren?«

»Margaret, willst du die Geschichte nun hören oder nicht? Es fällt mir auch ohne deine Unterbrechungen schon schwer genug, darüber zu sprechen.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich zerknirscht. »Erzähl bitte weiter.«

»Nach meiner Ankunft musste ich einige Zeit warten, bis er mich empfing. Als er erschien, war sein Haar feucht, seine Haut gerötet, und er trug einen Bademantel.«

Elizabeth starrte in ihre Tasse und spürte, wie ihr leicht übel wurde.

»Weiter«, forderte Margaret sie auf, als sie schwieg.

»Dann ging die Tür auf, durch die er gekommen war, und eine Frau tauchte auf – ähnlich gekleidet, mit nassen Haaren.«

»Ach du meine Güte! Das dürfte schwierig zu erklären gewesen sein. Wie hat er es denn versucht?«

»Gar nicht.« Elizabeth stieß ein trockenes, freudloses Lachen aus. »Er sagte, er dürfe nicht mit mir darüber sprechen.«

Stirnrunzelnd setzte Margaret ihre Teetasse auf dem Beistelltisch ab. »Hat er später versucht, es zu erklären?«

»Nein. Ich brannte mit Hawthorne durch, und Westfield verließ das Land, bis sein Vater starb. Bis zum Ball der Morelands letzte Woche haben sich unsere Wege nicht mehr gekreuzt.«

»Nie? Vielleicht hat Westfield seinen Fehler eingesehen und möchte ihn wiedergutmachen«, spekulierte Margaret. »Es muss doch einen Grund geben, warum er dir so hartnäckig nachstellen will.«

Elizabeth erschauerte beim Wort nachstellen.

»Glaub mir, ganz sicher hat er nicht die noble Absicht, seine früheren Fehler wiedergutzumachen.«

»Aber die Blumen, die täglichen Besuche …«

»Lass uns über etwas Erfreulicheres reden, Margaret«, sagte sie warnend. »Sonst trinke ich meinen Tee woanders.«

»Oh, auch gut. Du und dein Bruder seid richtige Sturköpfe.«

Aber Margaret ließ sich nicht so leicht von etwas abbringen, schließlich hatte sie ihren Mann überzeugt, sein Leben als Agent aufzugeben und sie zu heiraten. Daher wartete Elizabeth schon darauf, dass ihre Schwägerin auf das Thema zurückkommen würde, und war nicht überrascht, als sie später am Abend davon anfing.

»Was für ein Prachtkerl.«

Elizabeth folgte Margarets Blick durch die Menge beim Empfang der Dempseys. Sie sah, dass Marcus bei Lady Cramshaw und deren hübschen Tochter Clara stand. Elizabeth tat zwar so, als ignorierte sie ihn, folgte allerdings jeder seiner Bewegungen. »Wie kannst du dich noch von seinem Äußeren blenden lassen, wo du doch von unserer Vergangenheit weißt?«

Sie hatte alle Gesellschaften der letzten Woche bewusst gemieden, am Ende allerdings die Einladung der Dempseys angenommen, denn sie war sicher, der Ball der Faulkners würde Marcus mehr interessieren. Aber der lästige Kerl hatte sie doch aufgespürt und sich auch noch herausgeputzt! Seine dunkelrote Jacke reichte ihm bis zu den Oberschenkeln und war großzügig mit goldenen Stickereien verziert. Die schwere Seide schimmerte ebenso im Kerzenlicht wie die Rubine an seinen Fingern und seinem Jabot.

»Wie bitte?« Margaret sah sie mit großen Augen verwirrt an und zeigte mit ihrem Fächer durch den Saal. Da entdeckte Elizabeth William und errötete heftig, weil sie sich geirrt hatte.

Margaret lachte. »Dein Westfield und Lady Clara geben ein sehr schönes Paar ab.«

»Er ist nicht mein Westfield, und das arme Mädchen kann mir nur leidtun, sollte er es auf es abgesehen haben.« Sie hob das Kinn und wandte den Blick ab.

Verräterisches Rascheln schwerer Seide kündete einen neuen Teilnehmer in ihrer Runde an. »Ganz meine Meinung«, murmelte die verwitwete Duchess of Ravensend, als sie sich zu ihnen gesellte. »Lady Clara ist doch noch ein Kind und könnte nicht mal darauf hoffen, diesem Mann zu genügen.«

»Euer Gnaden.« Elizabeth deutete einen Knicks vor ihrer Patentante an.

Die sanften braunen Augen der Duchess funkelten spitzbübisch. »So leid es mir tut, dass du Witwe bist, meine Liebe, aber du und der Earl habt damit eine neue Chance.«

Elizabeth schloss die Augen und betete um Geduld. Von Anfang an war ihre Patin von Marcus eingenommen gewesen. »Westfield ist ein Betrüger. Ich schätze mich glücklich, dies vor der Eheschließung bemerkt zu haben.«

»Aber wahrscheinlich ist er der bestaussehende Mann, den ich je kennengelernt habe«, erklärte Margaret. »Nach William natürlich.«

»Und so gut gebaut«, fügte die Duchess hinzu, nachdem sie einen Blick durch ihre Lorgnette geworfen hatte. »Meiner Meinung nach der ideale Gatte.«

Seufzend bauschte Elizabeth ihre Röcke und unterdrückte den Drang, ihre Augen zu verdrehen. »Ich wünschte, ihr beide würdet die Hoffnung aufgeben, dass ich wieder heirate. Denn das werde ich nicht.«

»Hawthorne war doch eher ein Junge«, bemerkte die Duchess. »Aber Westfield ist ein Mann. Du wirst feststellen, dass das etwas ganz anderes ist, solltest du dich je entschließen, das Bett mit ihm zu teilen. Von einer Heirat war ja gar nicht die Rede.«

»Ich verspüre nicht den Wunsch, auf die Eroberungsliste dieses Verführers gesetzt zu werden. Er ist ein Hedonist. Das könnt Ihr nicht leugnen, Euer Gnaden.«

»Ein Mann mit Erfahrungen hat schon etwas für sich«, bemerkte Margaret. »Ich muss es wissen, da ich mit deinem Bruder verheiratet bin.« Sie zuckte vielsagend mit den Augenbrauen.

Elizabeth erschauerte. »Margaret, bitte.«

»Lady Hawthorne.«

Rasch drehte sie sich um und bedachte George Stanton mit einem dankbaren Lächeln. Freundlich grinsend verneigte er sich.

»Ich würde mich freuen, mit Ihnen zu tanzen«, sagte sie, ehe er fragen konnte. Eifrig darauf bedacht, vor ihren Gesprächspartnerinnen zu fliehen, legte sie die Fingerspitzen auf seinen Ärmel und ließ sich von ihm zur Tanzfläche führen.

»Danke«, wisperte sie.

»Sie wirkten, als müssten Sie gerettet werden.«

Sie lächelte, während sie Aufstellung nahmen. »Sie sind bemerkenswert scharfsinnig, mein lieber Freund.«