Eine Hand voll Ruhe - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Eine Hand voll Ruhe E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Als Joachim Frohgemut in Iseltwald am Brienzersee einen Erholungsurlaub verlebte und dort das zierliche Schweizer Mädchen Liliane kennenlernte, konnte niemand ahnen, wie sich die Wege der beiden einmal ineinander verflechten würden. Schicksalsschwere Jahre gingen ins Land. Liliane war in die französische Schweiz gekommen, um dort die französische Sprache zu erlernen. Joachim hatte in den Zweiten Weltkrieg ziehen müssen. Angeschlagen an Leib und Seele kehrte er zurück. Seine ostpreußische Heimat war verloren, seine Mutter verschollen. Auf wundersame Weise fand er sie wieder. Bald darauf fuhren Mutter und Sohn zur Erholung nach Iseltwald. Dort begegneten sich nach vielen Jahren Joachim und Liliane wieder. Zunächst schien zwischen den beiden keine Verbindung zustande zu kommen. Das zu einer Schönheit erblühte Mädchen lehnte die oberflächliche, ichbezogene Art des nun bald Vierzigjährigen ab - und heiratete ihn dann doch, allen Warnungen zum Trotz - nicht aus Liebe, sondern weil sie glaubte, Joachim Frohgemut helfen zu müssen. Ein schweres Schicksal wartete auf sie. Dass Liliane daran nicht zerbrach und schließlich bereit wurde, unter der Last zu bleiben, war nur möglich, weil sie von der »Hand voll Ruhe« lebte, die allein Gott zu geben vermag, von dem sie sich mit allen ihren Lasten getragen wusste. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Eine Hand voll Ruhe

Band 25

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-146-6

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Eine Hand voll Ruhe

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Eine Hand voll Ruhe

Liliane war gerade acht Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Joachim hatte kurz vorher seinen 20. Geburtstag gefeiert. Das zierliche kleine Mädchen stand in einem roten Mäntelchen an der Schiffsanlegestelle und wartete, wie jeden Tag um diese Zeit, auf das Schiff, das von Brienz her kam und nach Interlaken weiterfuhr.

„Es kommt!“ stellte die Kleine befriedigt fest und hob den Arm zum Gruß – gewiss, dass ihr Freund, der Schiffskapitän, sie schon von ferne sehen würde.

„Was kommt?“ fragte der junge Mann, der lässig an das Geländer gelehnt, in sichtlicher Langeweile über den See blickte.

Das Kind hatte nicht zu ihm gesprochen, als es seine Feststellung machte, sondern als Bestätigung seines Wartens nur zu sich selbst. Aber dazu erzogen, Fremden höflich zu begegnen, antwortete es: „Das Schiff!“

„Wohnst du hier in Iseltwald?“ fragte der junge Mann.

„Ja, dort drüben.“

„Dann ist die Ankunft des Schiffes ja nichts Neues für dich. Das erlebst du doch jeden Tag einige Male.“

„Ja, ich bin die Freundin des Kapitäns. Jacki heißt er und ist der Freund meines Vaters.“

Der Fremde lachte belustigt und ein wenig höhnisch. „So, du bist die Freundin des Kapitäns? Da kann er sich ja was einbilden, denn du bist eine süße kleine Kröte.“

„Ich bin keine Kröte, und süß bin ich auch nicht; denn mich kann man nicht essen.“

„Oh, sage das nicht! Wer weiß, vielleicht bin ich ein Menschenfresser und verschlinge dich mit Haut und Haaren. So niedliche kleine Mädchen sind für mich ein großer Leckerbissen.“

Liliane warf dem jungen Mann einen prüfenden Blick zu. Seine Worte beunruhigten sie nicht. War sie auch noch klein – für so dumm musste er sie nicht halten, dass sie ihm glaubte, was er soeben dahergeredet hatte. Ihr Blick bedeutete vielmehr: Was bist du eigentlich für ein Mensch, dass du hier, wo es so viel Schönes zu sehen gibt, herumstehst, als merkest du es gar nicht?

Bisher hatte der junge Mann davon kein Wort gesagt. Irgendwie vermisste Liliane es, wenn sie es auch nicht hätte erklären können. Aber immer, wenn die Leute sagten, dass es hier in Iseltwald wunderschön sei, kam es Liliane vor, als gehöre dies alles ihr persönlich. Sie möchte dann den Feriengästen zunicken und kam sich beinahe wie ein kleiner Fremdenführer vor, wenn sie ihnen erklärte: „Dort drüben, auf der anderen Seeseite, liegt Ringgenberg und rechts davon Niederried. Wenn Sie mit dem Schiff bis ans Ende des Sees fahren, sind Sie in Brienz. Dort führt die Rothornbahn auf das Rothorn hinauf. Da oben ist jetzt schon Schnee. Wenn Sie auf dem See links weiter fahren, kommen Sie nach Bönigen und zuletzt nach Interlaken. Dort gibt es viele vornehme Hotels und schöne Geschäfte. Danach kommt der Thuner See. Der Berg auf der linken Seite, den man von hier aus sehen kann, ist der Niesen. Da bin ich aber noch nie gewesen. Ich bin ja auch erst acht Jahre alt. Aber später darf ich mit meinem Vater auf den Niesen. In Thun war ich schon ein paarmal. Dort wohnt meiner Mutter ihre Schwester. Aber der Brienzer See gefällt mir besser als der Thuner See, weil es unser See ist.“

Das Schiff war inzwischen angekommen. Liliane hatte keine Zeit mehr, über den gelangweilten Fremden nachzudenken. Sie musste ihrem Freund, dem Kapitän, zuwinken, sich neben das Mädchen von der Post stellen und ihm helfen, dem Schiffspersonal den Postsack hinüberzureichen und andererseits die Post vom Schiff in Empfang zu nehmen.

Immer sahen die Kurgäste, die während der Saison zahlreich an den Fahrten über den See teilnahmen, freundlich lächelnd dem eifrigen kleinen Mädchen zu, das möglichst keine Ankunft und keine Abfahrt des Schiffes versäumen wollte. Das Kind war so bei der Sache, dass man den Eindruck haben könnte, die Abwicklung des Schiffsverkehrs in Iseltwald sei ohne seine Mithilfe undenkbar.

Jetzt aber war die Hauptsaison vorbei. Es war Mitte Oktober. In den nächsten Tagen begann der Winterfahrplan. Verschiedene Sommerfahrten waren bereits gestrichen worden, und im Kur- und Ferienbetrieb wurde es ruhiger. Zwei – drei Leute hatten das Schiff verlassen, und nur wenige fuhren weiter in Richtung Interlaken.

Die Schiffsglocke läutete. Liliane hob wieder winkend die Hand und wandte sich dem Fremden zu, der immer noch am Geländer der Anlegestelle lehnte, aber nicht – wie sie – dem Schiff nachgeblickt hatte.

„Die Glocke läutet immer für mich. Das tut der Schiffskapitän, um mir ,Auf Wiedersehen‘ zu sagen.“

„Ich glaube, du bildest dir ordentlich was ein“, erwiderte der junge Mann in spöttischer Herablassung. „Ich würde mich nicht wundern, wenn du behaupten würdest, der Brienzer See gehöre dir ganz allein.“

„Natürlich gehört er mir, nur nicht mir alleine, sondern uns allen, die wir hier an seinen Ufern wohnen. Immer wieder sagt mein Lehrer: unser See. Und mein Vater sagt es auch. Mein Vater ist nämlich Fischer und fährt jeden Morgen in aller Frühe hinaus.“

„Ach, dein Vater ist Fischer? Wie interessant! Bringt denn die Fischerei so viel ein, dass ihr davon leben könnt? Du hast doch sicher noch Geschwister?“

„Ja, drei kleinere Brüder.“

„Dann wundere ich mich, dass du hier herumstehen kannst und nicht deiner Mutter behilflich sein musst, die Kleinen zu hüten.“

„Ich helfe ihr auch, aber wenn das Schiff kommt, lässt sie mich immer gehen, weil sie weiß, dass der Kapitän auf mich wartet.“

„Haha! So was Verrücktes!“

Empört drehte Liliane dem Fremden den Rücken zu. Was fiel ihm ein, sich über sie lustig zu machen!

Er aber sprach sie noch einmal an: „Du kleine, beleidigte Schönheit, glaubst du, dein Vater würde mich mal mitnehmen, wenn er zum Fischen fährt?“

„Nur ganz selten nimmt er jemanden mit, aber ich glaube …“ Liliane hatte sich noch einmal dem Sprecher zugewandt und maß ihn mit einem prüfenden Blick. Dann entschied sie, dass es nicht recht sei, auszusprechen, was sie dachte und schickte sich endgültig an, zu gehen.

Joachim Frohgemut, so war der Name des Fremden, war mit einem Satz an ihrer Seite, hielt sie lachend am Arm fest und fragte: „Was – aber? Sprich aus, was du sagen wolltest!“

Liliane befreite sich mit einem Ruck von seinem Griff und erwiderte: „Ich weiß, dass man zu Fremden immer höflich sein muss, meine Mutter nimmt nämlich auch Gäste auf – ich will auch nicht unhöflich sein, aber …“, wieder zögerte sie, weiterzusprechen.

„Nun rede schon“, drängte der junge Mann. „Ich werde nicht beleidigt sein, was du auch sagst. Solch ein hübsches kleines Ding kann mich überhaupt nicht beleidigen.“

„Ich glaube nicht“, fuhr Liliane nun fort und hielt dem herausfordernden Blick des Fremden mit ernsten Augen stand: „Ich glaube nicht, dass Vater Sie mitnimmt. Er kann nur Leute brauchen, die schweigen können.“

„Hoho! Du stellst mir ja ein Zeugnis aus! Glaubst du, ich kann den Mund nicht halten? Habe ich dir etwa zu viel gesprochen?“

„Zu viel nicht – aber nicht das Richtige.“

„Du bist doch eine kleine Kratzbürste! So etwas hat mir noch keiner gesagt. Das ist das Amüsanteste, was mir in diesem Kuhnest bisher begegnet ist. Komm, bleib noch ein bisschen hier. Du gefällst mir je länger, desto besser!“

Aber das kleine Mädchen ließ sich nicht zurückhalten: „Nein, ich muss jetzt meiner Mutter helfen.“

Nach zwei Schritten blieb Liliane noch einmal stehen und wandte sich aufs Neue dem jungen Mann zu: „Haben Sie mit dem Kuhnest Iseltwald gemeint?“

„Ja, was denn sonst?“

Da würdigte sie ihn keines weiteren Blickes und keines Wortes mehr und ging davon.

„Hätt's Schiff hüt Verspätig g'ha?“ fragte die Mutter, als Liliane nach Hause kam.

„Nai, worum?“

„Will 'd so lang bliebe bisch!“

Da erzählte das Mädchen von dem Fremden, der kein Wort darüber verloren habe, wie schön es hier sei. Außerdem habe er sie eine Kröte genannt.

„Waas hätt'r gsait? Du sigescht e Krott? Wie chunnt er derzue?“

Liliane berichtete nun der Mutter ausführlich von der Begegnung mit dem jungen Mann und dass er noch gesagt habe, sie sei süß und eine kleine beleidigte Schönheit.

Frau Stucki, die sich bis dahin am Küchenherd zu schaffen gemacht hatte, drehte sich mit einem Ruck zu ihrer Tochter um und sagte: „Lilianeli, das isch e blöd's G'schwätz. Hör' nit druf.“

Liliane wollte nun wissen, wie sie sich verhalten solle, wenn er morgen wieder an der Schiffsanlegestelle stehe und sie anspreche. Sie wusste, die Mutter verlangte, dass Liliane zu den Kurgästen, von denen man hier abhängig war, immer höflich und freundlich war. Um der Fremden willen hatte sich Liliane daran gewöhnt, Schriftdeutsch zu sprechen, und wenn sie mit der Schule fertig war, würde sie ein Jahr in die französische Schweiz gehen, um die Sprache zu lernen. Später musste sie noch ein Jahr nach England, um sich ebenfalls mit den englisch sprechenden Gästen unterhalten zu können.

In letzter Zeit kamen immer mehr Ausländer, Deutsche, Franzosen, Amerikaner oder Engländer, in die Schweiz, um sich an deren Schönheit zu erfreuen. Es gehörte sich einfach, dass man sie in ihrer Sprache anredete. Der Fremde am See hat sich bestimmt gewundert, warum sie sich mit ihm nicht auf Schwitzerdütsch, sondern Hochdeutsch unterhalten hatte. Doch was hatte er schon gemerkt? Nicht einmal, wie schön es am Brienzer See war. Er hatte ja auch nicht geglaubt, dass es ihr See sei.

Nach einiger Zeit schrie Lilianes kleiner Bruder Ruedi, der erst ein halbes Jahr alt war. Er lag wach in seinem Bettchen, wollte trocken gelegt werden und etwas zu essen haben.

„Liliane, wo bisch?“ rief die Mutter aus der Küche. „Ghör'sch eigentlich nit, dass der Chli brüelt?“

Wo war sie denn nur? Frau Stucki hob die Milch vom Feuer, damit sie nicht überlaufe und suchte ihre Tochter. Sie fand sie im elterlichen Schlafzimmer vor dem Spiegel, wo sie sich eingehend betrachtete.

„Maitli, bisch du nit g'schiet? Do sto'sch du vor em Spiegel und chümmersch di nit um d'r Ruedi! Dänksch epper dem blöde G'schwätz vo vorig noach?“

Puterrot war Liliane, weil sie sich von der Mutter ertappt sah. Ja, es stimmte, sie wollte feststellen, ob der Fremde Recht hatte, ob sie wirklich eine kleine Schönheit war. Ohne überhaupt ein Wort zu erwidern, eilte sie zu dem schreienden Brüderlein. Irgendwie hatte es sie geschmeichelt, von dem jungen Mann bewundert worden zu sein. Wenn ihr seine lässige Art und das spöttische Gerede auch gar nicht gefallen hatten, so klangen seine Worte doch in ihr nach: „Süße kleine Kröte! Kleine Schönheit!“ Sie müsste kein Mädchen gewesen sein, wenn ihr solche Komplimente nicht gefallen hätten, obwohl sie erst acht Jahre alt war.

Am Nachmittag konnte Liliane bei der Ankunft des Schiffes nicht am Steg sein; sie hatte Schule. Erst am nächsten Morgen war es wieder möglich. Tatsächlich, da stand auch der Fremde! Sie wollte so tun, als sähe sie ihn nicht.

Er aber rief ihr wie einer alten Bekannten zu: „Hallo, Liliane!“

Einen kleinen Augenblick zögerte sie, doch dann wandte sie sich ihm zu: „Grüetzi!“ Sie verbesserte sich: „Guten Tag!“

„Nicht wahr, du weißt noch nicht einmal, wie ich heiße“, sagte der junge Mann lachend und kam zu ihr. „Mein Name ist Joachim Frohgemut.“

„Frohgemut“, wiederholte das Mädchen sinnend. „Das ist ein schöner Name, aber –“, prüfend blickte es dem Fremden ins Gesicht.

„Aber was?“ fragte er lachend zurück, „was hast du heute schon wieder an mir auszusetzen?“

„Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf.“

„Natürlich darfst du!“ Er amüsierte sich sichtlich über die kleine Schweizerin.

„Der Name passt nicht zu Ihnen.“

„Nanu! – Wieso denn nicht?“

„Weil Sie gar nicht froh ausschauen. Und Sie sehen auch gar nicht das, was einen hier froh machen kann – die Berge, den blauen Himmel und vor allem unseren See.“

„Klar, sehe ich das alles.“

„Aber nicht richtig“, behauptete das Kind jetzt wieder. „Sie sehen es nicht so, dass es Sie froh macht, wie die anderen Fremden, die hierher kommen.“

Joachim Frohgemut schüttelte den Kopf. Dieses Mädchen war eine altkluge kleine Person. Irgendwie hatte er seinen Spaß an ihr, und es reizte ihn aufs Neue, sie zu necken.

„Ich will dir einmal etwas sagen, Liliane – dein See hier ist eine lächerliche, kleine Wasserpfütze im Vergleich zum Meer. Du musst nämlich wissen, dass ich von Ostpreußen komme. Aber du weißt bestimmt nicht, wo das ist. Bei dir hört die Welt hinter Thun und auf der anderen Seite des Sees hinter Brienz auf. Aber du kannst dir das mal auf dem Atlas anschauen. Meine Mutter und ich wohnen in Königsberg. Ganz in unserer Nähe ist die Ostsee. Da haben wir ein Sommerhaus am Strand. Deinen winzig kleinen Brienzer See verschluckt das Meer hunderttausendmal in einem Atemzug. Bei uns am Strand sieht man nichts als Himmel und Wasser, Wasser und nochmal Wasser.“

„Und keine Berge?“

„Nein, keine Berge.“

„Und keine Dörfer am anderen Ufer?“

„Keine Rede davon. Du machst dir keinen Begriff!“

„Das will ich auch nicht. Nie im Leben gehe ich von hier fort, nur wenn ich Französisch und Englisch lernen muss, aber dann komme ich immer wieder zurück nach Iseltwald. Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, warum bleiben Sie dann überhaupt da?“

„Schau an, die Kleine zeigt ihre Krallen und geht wieder zum Angriff über. Wirklich, Liliane, du bist das einzige Amüsante hier in diesem Kuhnest.“

„Nun sagen Sie schon wieder so etwas Hässliches.“

„Stimmt es etwa nicht? Aus jedem Haus oder jedenfalls aus jedem Stall brüllen ein paar Kühe. Die sind doch mit ihrem Glockengeläut der ganze Stolz von euch Schweizern.“

„Aber wie Sie es sagen, ist es nicht schön. Sie wollen uns verspotten, wenn Sie Kuhnest sagen. Warum gehen Sie dann nicht fort?“

Joachim Frohgemut war von der Jugendfreundin seiner Mutter eingeladen worden, die auch eine Deutsche war. Sie hatte einen Schweizer geheiratet, der aber schon nach einigen Jahren starb. In Iseltwald besaß sie ein Chalet, in dem sie während der wärmeren Jahreszeit wohnte. Bern, die Hauptstadt, war ihr ständiger Wohnsitz. Frau Frohgemut hatte ihr vor einigen Monaten geschrieben, ihr Sohn müsse nach Davos, um eine Lungensache auszuheilen.

Auch Frau Frohgemut war Witwe. Ihr Mann war im Ersten Weltkrieg gefallen. Joachim war damals gerade vier Jahre alt. Herr Frohgemut besaß ein gutgehendes Herrenbekleidungsgeschäft in Königsberg, das er von seinem Vater übernommen hatte, als dieser sich zur Ruhe setzte. Nur die kurze Zeit, bis er an die Front geschickt wurde, führte er es in eigener Verantwortung. Nach dessen Tode übernahm der Großvater wieder das Geschäft.

Joachim wuchs unter der Obhut der Großeltern heran. Sie sahen in dem Jungen den über alles geliebten Stammhalter. Liebevoll umsorgt und von seiner zu weichherzigen Mutter, einer reichen Gutsbesitzertochter aus Memel, verhätschelt und verwöhnt, verlebte er seine Kindheit. Er litt keine Not, selbst in den schweren Kriegsjahren nicht, in denen Tausende darben mussten. Auch während seiner Schulzeit vermisste er nichts. Die Großbauern, von denen es damals in Ostpreußen noch viele gab, wussten, dass ihre Erzeugnisse begehrte Tausch- und Zahlungsmittel waren, mit denen sie sich bei Frohgemuts neu einkleiden konnten. Das großelterliche Gut, auf dem Joachims Mutter aufgewachsen war, versorgte die Familie ebenfalls mit Eiern, Butter, Mehl und Fleisch.

Joachim betrachtete das alles als selbstverständlich und lernte nicht, sich zu fügen. Er schien anzunehmen, dass das Leben immer so weitergeht. In der Privatschule hätte er seiner Intelligenz entsprechend zweifellos an der Spitze der Klasse stehen können, er blieb aber nur ein mittelmäßiger Schüler, weil er einfach zu faul war und nicht lernte. Die Mutter hätte ihn am liebsten studieren lassen. Dazu wiederum hatte er keine Lust. Mit Mühe schaffte er die mittlere Reife und war damals bereits achtzehn Jahre alt, weil er in einer Klasse sitzengeblieben war. Auf Wunsch des Großvaters sollte der Enkel denselben Beruf ergreifen wie sein Vater und er. Der alte Mann wollte das Geschäft einmal in Joachims Hände legen. So musste er notgedrungen den Beruf eines Textilkaufmanns erlernen. Eigentlich hatte er dazu keine Lust, aber irgendetwas musste er ja unternehmen.

Der Großvater starb, als Joachim im ersten Lehrjahr war. Ein langjähriger, gewissenhafter Angestellter führte das Geschäft weiter. So hatte es der Großvater gewünscht, bis Joachim soweit war, es übernehmen zu können. Die Großmutter überlebte ihren Mann nur kurze Zeit. Dann wurde Joachim krank. Der Arzt stellte ein Lungenleiden fest, weshalb er die Lehre unterbrechen musste und nach Davos geschickt wurde. Hier sollte er solange bleiben, bis die Krankheit ausgeheilt war. In der ersten Zeit gefielen ihm der Aufenthalt und das Nichtstun in Davos. Nicht pünktlich frühmorgens im Geschäft sein zu müssen, keine Pflichten zu haben – das schmeckte ihm besser, als den Lehrjungen zu spielen. Sein Vorgesetzter hatte ihm nichts geschenkt. So war es dem verzärtelten Muttersöhnchen nicht leicht gefallen, sich anzupassen und zu fügen. Immer wieder hatte er vor der Mutter auf begehrt, dass er ja schließlich nicht irgendein Lehr junge, sondern im Grunde genommen schon jetzt Besitzer des Geschäftes – also sein eigener Chef sei.

Doch dann war er nach Davos gekommen. Der dortige Kurbetrieb hatte allerlei Abwechslung geboten, nur gefiel ihm die stundenlange Liegekur nicht und dass er – jedenfalls in den ersten beiden Monaten – am Abend keinen Ausgang hatte.

Länger als geplant musste Joachim in Davos bleiben, bis er als geheilt aus dem Sanatorium entlassen werden konnte. Am liebsten wäre er so schnell wie möglich nach Königsberg gereist. Aber dort hätte er wieder in die Lehre gehen müssen. Darum sagte er gerne zu, als die Freundin seiner Mutter ihn einlud, noch einige Wochen – gewissermaßen als Nachkur – zu ihr nach Iseltwald zu kommen. Seit ein paar Tagen war auch Frau Frohgemut zu Besuch bei ihr. Mutter und Sohn hatten sich längere Zeit nicht gesehen. Die Feststellung, dass ihr Sohn inzwischen nun wirklich ein Mann geworden war, hielt Frau Frohgemut nicht davon ab, ihn wie eh und je zu verwöhnen. Am liebsten hätte sie ihn in Watte gepackt und jedes Lüftchen von ihm ferngehalten.

„Vergiss nicht, Achim, du hast ein Lungenleiden gehabt! Ein Rückschlag kann sehr schlimm werden.“

Ein – zwei Tage hatte sich der Sohn dies mitangehört, doch dann war er auf begehrt: „Nun mach aber mal einen Punkt, Mama! Ich bin schließlich kein Wickelkind mehr! Wenn du hier schon in Angst um mich vergehst, obwohl hier ein viel milderes Klima herrscht als bei uns in Königsberg, so möchte ich wissen, wie es zu Hause weitergehen soll? Im Übrigen hoffe ich nicht, dass du vorhast, dich hier allzu lange aufzuhalten.“

Er hatte sich an Frau Madeury gewandt: „Entschuldige, Tante Henny, ich will meinen Aufenthalt hier in keiner Weise schmälern. Es ist sehr liebenswürdig von dir, dass du mich eingeladen hast. Und du hast auch in rührender Weise für mich gesorgt, aber jetzt, nachdem Mama hier ist, atme ich wieder Heimatluft ein. Sie hat etwas von der Ostseebrise mitgebracht. Ich möchte jetzt wirklich ganz schnell nach Hause, zumal sich in Deutschland gewaltige Ereignisse anbahnen. Lange genug bin ich fortgewesen. Ich möchte dabei sein, wenn nun in unserem Vaterland die große Wende eintritt.“

„Sprichst du von diesem Hitler?“ hatte Frau Madeury gefragt.

„Ja, Tante Henny, genau!“

„Ich befürchte, er wird das deutsche Volk in Unheil stürzen, in noch weit größeres, als es durch den unseligen Krieg bereits geraten ist.“

„Verzeih! Obgleich du von Geburt aus Deutsche bist, merkt man dir doch an, dass du seit Jahren in der Schweiz lebst und dir eine gewisse Kleinkariertheit angeeignet hast. Du bist solch eine kluge Frau, aber auf diesem Gebiet scheinst du deinen Horizont nicht erweitert zu haben.“

„Joachim!“ hatte Frau Frohgemut bestürzt getadelt. „Du beleidigst meine Freundin!“

Diese hatte lächelnd den Kopf geschüttelt. „Nein, Gretchen, das kann er nicht. Sprich nur weiter, Joachim.“

„Ich habe mich in der Zeit meiner Abwesenheit ganz bewusst auf dem Laufenden gehalten, Tante Henny. Mama hat mir regelmäßig die Königsberger Zeitungen geschickt. Eure Schweizer Blätter maßen sich ja an, über die neue Bewegung in Deutschland ein vernichtendes Urteil zu fällen. Aber sie

werden schon sehen, dass unser Volk sich zu einer Größe erhebt wie nie zuvor.“

„Wenn du nur keine allzu große Enttäuschung erlebst!“ meinte Frau Madeury.

„Niemals! Und bitte, liebe Tante, verstehe, dass es mich nun nicht mehr länger hier hält. In der Schweiz ist es mir zu eng. Und dann, was bietet dieses Kuhnest Iseltwald?“

„Joachim!“ hatte Frau Frohgemut aufs Neue ihren Sohn gerügt. „Wie kommst du mir vor? Vergiss nicht, dass du hier zu Gast bist.“

„Nein, gewiss nicht, Mama. Ich wollte dich, Tante Henny, beileibe nicht kränken. Aber ich bin überzeugt, dass auch du jedes Mal froh bist, wenn sich dein Aufenthalt hier in Iseltwald dem Ende zuneigt und du wieder nach Bern in deine Villa zurückkehren kannst. Dort wird doch wenigstens etwas geboten: Konzerte, Theater, kulturelle Veranstaltungen mancher Art. Wenn ich hier mal ins Kino will, muss ich nach Interlaken. Die Verbindung ist miserabel, besonders wenn ich am Abend spät zurückkomme, und jetzt haben sie sogar noch einige Schiffe vom Fahrplan gestrichen. Ich hoffe, du springst mir nicht gleich ins Gesicht, Tante Henny, wie meine kleine Freundin von der Schiffsanlegestelle, weil ich ihr sagte, dass Iseltwald ein Kuhnest ist.“

Joachim hatte sich königlich über seine Mutter amüsiert, die bei seinen letzten Worten bereits wieder ängstliche Augen machte.

„Was sagst du? Eine kleine Freundin?“

„Kein Grund zur Sorge“, hatte sie Frau Madeury beruhigt. „Joachim hat mir bereits von ihr erzählt. Es ist ein achtjähriges Mädchen.“

„Ja, Liliane heißt sie und ist ein bildhübscher kleiner Fratz. Du müsstest sie nur sehen, Mama.“

Sie hatte ihm mit dem Finger gedroht. „Achim, ich hatte

schon wieder Angst! Du musst nämlich wissen, Henny, er angelt sich überall, wo er auch hinkommt, im Handumdrehen ein paar Freundinnen.“

Nicht ohne mütterlichen Stolz hatte sie fortgefahren: „Die Mädchen fliegen ihn an, wie die Bienen die Blüten.“

Einen kleinen Augenblick hatte Frau Madeury den jungen Mann sinnend angeschaut. Er hätte etwas darum gegeben, ihre Gedanken lesen zu können.

Sie aber hatte sich ihrer Freundin zugewandt: „Die kleine Liliane, die er seine Freundin nennt, ist das Töchterchen eines hiesigen Fischers. Ich kenne die Familie. Es sind einfache Leute, die aber ein vorbildliches Leben führen.“

„Na, ich finde diese Liliane ziemlich altklug, um nicht zu sagen vorlaut“, hatte Joachim widersprochen.

„Und doch nennst du sie deine Freundin?“

„Ach Mama, nimm doch bloß nicht alles so wörtlich. Die Kleine hat mich eben amüsiert, zumal sie mir bei den wenigen Gesprächen ein paarmal die Leviten verlesen hat.“

„Nanu, hast du dich so daneben benommen?“

„Ach, woher! Ich habe sie nur ein bisschen geneckt.“

Eine Woche nach diesem Gespräch hatte Joachim es durchgesetzt, dass seine Mutter die Koffer packte. Ihn hielt es hier nicht mehr länger, weil aber auch gar nichts los war.

Liliane hatte er nicht mehr an der Schiffsanlegestelle gesehen. Ob sie krank geworden war? Sie hatte ihm doch erzählt, dass sie täglich möglichst bei jeder Ankunft des Schiffes am Steg stehe.

Es war am Vortag der Abreise. Noch einmal schlenderte der junge Mann lässig durch den Ort, mit dem ihn auch nicht das Geringste verband. Als er sich dem See und der Schiffsanlegestelle näherte, entdeckte er Liliane, die einen Kinderwagen vor sich herschob, in dem ein kleiner pausbäckiger Junge saß, während links und rechts vom Wagen zwei Buben von etwa drei und fünf Jahren trotteten.

Joachim wunderte sich, dass das Mädchen nicht wie sonst den Weg zur Schiffsanlegestelle einschlug, sondern über den Dorfplatz steuerte und dann in einem Nebensträßchen mit den Brüdern verschwand. Er entschloss sich, hinter ihnen herzugehen. Ihr Weg führte durch ein paar Gässchen und dann nach einer Weile wieder am See entlang. Von einer Kurpromenade konnte man hier nicht sprechen. Aber einige Bänke in bescheidenen Anlagen ließen annehmen, dass dieser Weg, von dem aus man eine gute Aussicht auf die gegenüberliegenden Berge hatte, von den hier weilenden Fremden gerne benutzt wurde.

Liliane hatte sich auf eine Bank gesetzt. Sie schaukelte den Wagen hin und her. Der kleine Bruder schien zu schlafen, während die beiden größeren sich vergnügten, indem sie hintereinander hersprangen oder sich gegenseitig ins Gras warfen. Solange sie dem Wasser nicht zu nahe kamen, ließ Liliane sie gewähren, passte aber genau auf, dass sie sich nicht in Gefahr begaben.

Das Mädchen schrak sichtlich zusammen, als sich plötzlich ein Mann neben sie auf die Bank setzte.

„Hallo, Liliane!“ Joachim Frohgemut streckte ihr die Hand hin, die sie nur zögernd und tief errötend ergriff. Nun hatte sie bewusst die Schiffsanlegestelle gemieden. Und jetzt kam er und setzte sich einfach neben sie. Kein Wunder, dass ihr das Blut in die Wangen stieg.

Sie war den Tränen nahe gewesen, als der sonst immer so gütige Vater ihr mit Bestimmtheit gesagt hatte, er wünsche nicht, dass sie sich am Steg weiterhin mit diesem jungen „Löli“ unterhalte.

„Aber Vati!“ hatte Liliane erschrocken zu widersprechen gewagt. „Warum? I gang doch jedde Dag an' See!“

„Du häsch mi verstände!“ war seine kurze Antwort gewesen. „Mr bruche nimmer drüber z'räde.“

Liliane konnte nicht wissen, dass ihre Mutter dem Vater berichtet hatte, dass das dumme Geschwätz des Fremden das Maitli nicht unbeeindruckt gelassen habe. Schon einige Male hatte sie die Tochter in den letzten Tagen vor dem Spiegel getroffen, und mehrmals hatte sie der Mutter berichtet, was der junge Mann ihr gesagt hatte.

Den Namen wusste Liliane nun auch schon! Immer, wenn er sie an der Schiffsanlegestelle getroffen hatte, war sie mit einem neuen Bericht heimgekommen. Anscheinend redete dieser Mensch stets in dummdreisten Schmeicheleien auf das Kind ein. Musste man da als Mutter nicht besorgt sein? Wenn auch sonst nichts geschehen war, als dass das Maitli sich etwas in den Kopf setzte, dabei eitel und oberflächlich wurde und schließlich sich selbst noch einredete, eine kleine Schönheit zu sein. Das fehlte gerade noch!

Ehrlich besorgt sprach sie darüber mit ihrem Mann.

Dass dieser junge Mensch seine Tochter bildhübsch genannt hatte, tat er mit einer Handbewegung ab. Liebe Zeit, das Maitli war erst acht Jahre alt! Zehn Jahre später würde die Sache schon anders aussehen. Doch dass dieser unreife, hochnäsige Jüngling sein Iseltwald ein elendes Kuhnest nannte, und vor allem, in welcher Art er es anscheinend getan hatte, das ging dem Fischer Stucki gegen seine Ehre. Wie seine Tochter fragte er jetzt seine Frau: „Worum isch er denn do? Was tuet er i dr Schwyz, der dütschi Chaib, wenn es ihm bi üs nit g'fallt?“

Kurzum, das Familienoberhaupt verbot seiner Tochter, in der nächsten Zeit an die Schiffsanlegestelle zu gehen. Als Liliane ihn mit verschleierter Stimme fragte, was denn ihr Freund, der Schiffskapitän, dazu sagen würde, wenn sie nicht mehr am Steg stände und auf ihn warte, versprach der Vater, diesem Bescheid zu sagen. Er erkannte, dass seine Anordnung der Tochter wirklich zu Herzen ging und vertröstete sie, dass es jetzt bald kälter werde und die Fremden in Kürze abreisen würden. Liliane wusste, der Vater würde sich in keine weitere Auseinandersetzung einlassen. Was er bestimmte, das galt.

Und nun saß dieser Joachim Frohgemut tatsächlich neben ihr auf der Bank. Am besten wäre es, sie stand sofort auf und verließ mit ihren Geschwistern den Platz. Aber da begann der junge Mann bereits ein Gespräch.

„Du bist nun drei Tage nicht an der Schiffsanlegestelle gewesen, Liliane. Hast du etwa Streit mit deinem Freund, dem Schiffskapitän?“

„Nein“, antwortete das Mädchen und schlug die Augen nieder.

„Warum bist du denn nicht gekommen?“

Liliane geriet sichtlich in Bedrängnis. Sie wollte weder unhöflich noch unwahr sein.

„Ich durfte nicht!“ antwortete sie schließlich.

„Du durftest nicht? Ich habe dich immer gesucht.“

„Grad drum!“

„Ich verstehe dich nicht!“ Weil das Mädchen nun beharrlich schwieg, fragte er: „Das sind wohl deine drei Brüder?“

„Ja, das ist der Ruedi. Wir dürfen nicht zu laut sprechen, sonst wacht er wieder auf. Und das“ – sie deutete auf den größeren Jungen – „das ist der Markus, und dieser heißt Lukas.“

„Was für komische Namen! Hab' ich in Ostpreußen noch nie gehört. Aber nette Burschen sind sie alle drei.“

Einen Augenblick sah Joachim den Spielen der kleinen Jungen zu, dann wandte er sich wieder an Liliane: „Eigentlich hast du es gut, dass du Geschwister hast. Ich bin immer allein gewesen.“

Diesmal hatte er Lilianes mitfühlendes Herz angesprochen.

„Sie haben keine Schwester?“

„Nein!“

„Und keinen Bruder?“

„Nein, du hörst doch. Ich bin ganz allein aufgewachsen. An meinen Vater kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Der starb, als ich knapp vier Jahre alt war.“

„Ach!“ Liliane sah ihn mitfühlend an. „Dann waren Sie noch nicht einmal so alt wie Markus.“

In diesem Augenblick war es kein Geltungsbedürfnis, das den jungen Frohgemut bewog, diesem kleinen Schweizermädchen aus seinem Leben zu erzählen. Vielleicht hatte das liebliche Bild der vier Geschwister sein Herz wirklich angerührt. Vielleicht war der Gedanke, nun diesen friedlichen, kleinen Ort am Brienzer See endgültig verlassen zu müssen, daran schuld, dass er sentimental wurde. Jedenfalls begann er seiner kleinen Zuhörerin zu erzählen, wie schwer es für seine Mutter gewesen sei, den Mann im Krieg zu verlieren. Wie dann der Großvater das Geschäft wieder übernommen habe und wie er auch bald gestorben sei, ebenso die Großmutter …

Als Liliane voller Mitleid nichts anderes sagte als: „Sie sind ein Armer!“ lachte er plötzlich laut auf, nicht etwa über das Kind, sondern über sich selbst. Was fiel ihm denn ein, hier den Wehleidigen zu spielen? Das entsprach ja gar nicht seinem Charakter. Um den nicht gewollten Eindruck, den er auf das Mädchen gemacht hatte, zu verwischen, sagte er: „Aber nun darf ich endlich wieder nach Hause, nach Königsberg. Morgen fahre ich mit meiner Mutter zurück.“

„Morgen schon? Oh, das ist gut!“ Liliane vermochte den Fremden nicht zu täuschen.

Joachim Frohgemut starrte sie einen Augenblick verwundert an.

„Wieso ist das gut? Bin ich dir vielleicht lästig geworden?“ fragte er dann.

Was das bedeutete, verstand Liliane nun nicht: Lästig geworden? „Dann darf ich wieder an die Schiffsanlegestelle!“ erwiderte sie.

Joachim begriff sie wieder nicht.

Ehe er aber eine Frage stellen konnte, stand das Mädchen auf. Ihm war eingefallen, dass der Vater hier und nirgendwo eine Unterhaltung mit dem Fremden gutgeheißen hätte. Es war besser, jetzt zu gehen.

„Ich muss heim!“ sagte sie, rief die beiden Brüder zu sich und steuerte den Wagen mit dem schlafenden Ruedi in Richtung Dorf.

„Bleib doch noch ein bisschen!“ bat Joachim. „Wer weiß, ob wir uns überhaupt noch einmal Wiedersehen. Oder soll ich dir mal eine Ansichtskarte von Königsberg schicken? Eine vom Meeresstrand, damit du siehst, wie gewaltig es dort ist? Natürlich ist darauf nur ein winzig kleiner Ausschnitt des Meeres zu sehen. Da wirst du dann aber merken, welch eine Pfütze euer Brienzer See dagegen ist. Soll ich dir mal schreiben? Ja?“

„Nein!“

Plötzlich fiel Liliane wieder ein, dass er ja keinen Menschen außer seiner Mutter hatte, keine Schwester, keinen Vater, keinen Bruder. Es tat ihr leid, dass sie so abweisend gewesen war. Darum reichte sie ihm die Hand und verabschiedete sich: „Adieu!“

Wenn die Mutter Gäste verabschiedete, sagte sie gewöhnlich: „Chömmet en andersmol wieder!“ Aber das wäre in diesem Fall ja nicht ehrlich gewesen. Sicher würde der Vater ihr dann wieder verbieten, zur Ankunft und Abfahrt der Schiffe an den Steg zu gehen. Was würde dann ihr Freund, der Schiffskapitän, sagen?

So wandte sie sich von dem Fremden, ohne ihm ein gutes Wort mit auf den Weg gegeben zu haben.

Am Abend dieses Tages saß sie in der Stube am Tisch. Es wurde schon früh dunkel. Das Licht brannte bereits. Liliane las in ihrem Lesebuch. Die Buben lagen im Bett. Da hob das Mädchen plötzlich den Kopf und sagte: „Gelt, Mueti, das sind armi Chind, die kai Vatr und kaini G'schwischter händ, kai Bruederli und kai Schwöschterli!“

Frau Stucki saß an der Nähmaschine und flickte gerade an einer Bubenhose. Sie hob kaum den Kopf: „Jo, Liliane, das sind armi Chind. Zu dene mues mr ganz b'sunders liab si.“

Wer weiß, was für eine rührselige Geschichte Liliane gerade las. Vielleicht dachte sie auch an irgendein bestimmtes Kind in der Schule. Schon rasselte wieder die Nähmaschine.

Acht Jahre später.

Wieder stand Liliane am Schiffsanlegeplatz und wartete. Diesmal war es kein frohes Warten wie in all den früheren Jahren. Das Gesicht des jungen Mädchens war überschattet. Die ganze Familie hatte sie an den Steg begleitet. Der Vater im Sonntagsanzug, die Mutter, die Brüder und das vor drei Jahren noch dazugekommene Vreneli, das die Hand der großen Schwester nicht losließ.

„Lilian, wann chunnsch Widder?“ Ängstlich blickte die Kleine zu ihr empor. Sie verstand zwar noch nicht, was dieser Abschied bedeutete, aber irgendwie empfand das Kind, dass es anders war als sonst.

„Lang nit!“ erwiderte der achtjährige Ruedi anstelle der Schwester. „So wit chasch du no gar nit dänke.“

Er tat sehr erhaben.

Die Mutter streichelte der zu ihr ängstlich aufblickenden kleinen Tochter das lockige Haar aus der Stirn. „Du muesch no ne chli warte, Vreneli, bis es Lilianeli wiederchunnt. Waisch, es muss ebbis leere, dass es im Mueti hälfe cha, wenn es Widder hai chunnt.“

„Widder hai!“ nickte die Kleine. Das war ein Trost.