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Gloria Maketta wurde von ihrer Lebensmitte spontan überrascht. Sie war ewig jung gewesen und nun plötzlich fünfzig?! So vieles hatte sie noch nicht erlebt, und manches nicht erreicht. Sie realisierte auf einmal, dass es für einiges davon sogar schon für immer zu spät war. Über die Hälfte ihres Lebens war bereits vorbeigezogen, und das Beste lag nun möglicherweise bereits hinter ihr! War sie denn mit ihren Entscheidungen überhaupt glücklich geworden?! Solche Fragen konnte doch nur eine Midlifecrisis stellen! Gloria erlebte, dass wer die Midlifecrisis wirklich ernsthaft betrieb sich flugs in einen fulminanten Midlifecrash hinein begab. Und auf einmal könnte alles auch ganz anders sein!
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Seitenzahl: 414
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Mein Name ist Gloria Maketta, ich bin 50 Jahre alt, 176 cm hoch, 57 Kilo schwer, Haare brünett, Augen grau, gebürtige Deutsche, eigentlich Friesin, wohnte aber seit zwanzig Jahren im Münchener Osten. Außerdem musste ich hier vermerken, dass ich irgendwie ziemlich im Arsch war - oder am Arsch?! Eigentlich auch egal, denn die Scheiße um die es da ging, war ja wohl dieselbe! Und warum schrieb ich das jetzt dann auch noch auf?! Das war die Schuld von Doktor Braun, meinem neuen Irrenarzt. Der sagte nämlich in unserer dritten Sitzung ich solle beginnen alles aufzuschreiben was mir zu den Themen Midlifecrisis, Burnout, Enttäuschung oder Verbitterung einfiele. Und ich solle es in einer Art innerer Distanz tun, ganz so, als schriebe ich es für einen fremden Leser, nicht für mich. Das sei ein guter Trick, um nicht vor all den ganzen schmerzhaften Dingen „die man ja sowieso schon wusste“ wieder mal auszuweichen. Wenn man alles einem Fremden erzählte, tischte man nämlich zumeist endlich mal die ganze Geschichte auf, mit den ganzen auch scheinbar unwichtigen Details. Und das sei sehr heilsam: zur Abwechslung mal alles von sich selber anzuhören! Man las das dann nämlich mit ganz anderen Augen, und sah schließlich auch besser aus einer gewissen Distanz Zusammenhänge und Schlüsse, die sich einem bisher verborgen hatten. Ich sollte mich mit Vermutungen und Interpretationen daher zurückhalten und allein an den Fakten nagen. Ehrlich, das hatte er original so gesagt: „Frau Maketta, ich will, dass sie den spekulativen und interpretativen Bereich verlassen und alleine an den Fakten nagen!“ Das einzige, was mir sonst noch erlaubt war: Gefühle, ausgerechnet! Dieser Mann wollte, dass ich lauter Fakten und Gefühle zu meinem Midlifecrash für einen Geisterleser niederschrieb … Was für ein Wahnsinnsprojekt war das denn bitte?!
Aber es stimmte ja: Ich hing nun ehrlicherweise schon länger durch und hatte keine Ahnung, wie ich da wieder rauskommen sollte! Und ich konnte ja leider auch nicht mal sagen, wann das mal angefangen hatte, wo oder warum überhaupt. Ich fühlte mich einfach schon länger so namenlos ausgebrannt, lustlos, frustriert, ohne Zuversicht und Begeisterung irgendwie. Ich hatte den Eindruck, als steckte ich in einer sich ewig wiederholenden Schleife von sich ewig wiederholenden ätzenden Ereignissen fest! Ich rannte so zum Beispiel seit Monaten einer nicht abreißenden Kette sich selbstzerstörender Dinge hinterher. Wenn ich die Kaffeemaschine ersetzt hatte, ging der Sandwichmaker in die Knie, und wenn ich den erneuert hatte, ging das Handy nicht mehr online. Nach dem neuen Handy, klopfte dann der Drucker auf die Matte, und nachdem ich diesen ersetzt hatte, verabschiedeten sich fast gleichzeitig Kaffeemühle und Wasserkocher. Zur Begrüßung der Neuen stiegen dann Tablet, Router und Funkwecker aus. Mit zum Müll nahm ich dann gleich noch zwei Paar undichte Schuhe, seitlich aufgerissene teure Stiefel, zwei ausgestiegene Funksteckdosen und einen plötzlich durchgebrochenen Wisch-Mop mit… Den Rest der Zeit nähte ich: ununterbrochen aufgeplatzte Nähte an Shirts, Handschuhen und Stiefeln, sowie sich ständig ausreißende Druckknöpfe an Hundecapes ... Was auch immer man für viel Geld kaufte, es war mittlerweile alles nur noch ein unglaublicher Schrott und Müll, war absolut zermürbend. Umso mehr, weil es einfach nicht wieder abriss und ich nach und nach meinen Hausstand ersetzen musste, um den ganzen Katastrophen hinterher zu hecheln. Es war ein Gefühl vollkommenen Stillstandes, dass jede Menge Bewegung erzeugte, aber nur wie ein Brummkreisel. Es kam nicht vom Fleck, kreiste ununterbrochen um sich selber und hatte keinerlei Sinn, außer meine Zeit, meine Freude und mein Geld zu verbrennen … Sogar die Menschen, die mir begegneten, waren im Prinzip mittlerweile immer dieselben, zumindest agierten sie ähnlich und oft sehr voraussehbar. Ihre Wirkungen auf mich waren mittlerweile leider zumeist frustrierend und enttäuschend und am Ende komischerweise fast immer irgendwie negativ! Menschen waren heutzutage in ihren Reaktionen zumeist extrem voraussehbar. Ich hatte so ein leere Gefühl in mir, das sich in einem Zitat von Ödon von Horvath wiederfand: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich ... Aber dann kehrt man zurück, mit gebrochenen Flügeln, und das Leben geht weiter, als wäre man nie dabei gewesen …“ Meine liebste Freundin Nadine hatte dieses Gefühl wahrscheinlich ganz treffend in ein Wort gefasst: Enttäuschung! Das traf es wohl tatsächlich ganz gut, denn die letzten Jahre waren tatsächlich eine ununterbrochene Kette an immer neuen Enttäuschungen gewesen, denen aber kein Trost zur Seite stand, um sie mal aufzufangen. Sie hatten mich müde gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes: lebensmüde. Was war das oft nur für eine Scheiße dieses Leben, denn es war im Endeffekt nur ein einziger Kampf, um nicht ständig alles zu verlieren, was man sich schon aufgebaut hatte! Kaum kam man mal einen kleinen Schritt weiter, knallte von hinten schon wieder der nächste Einschlag voll rein! Nadine fand meine Einstellung kritisch, destruktiv, bedenklich und auch lebensgefährlich. Zumal sie mich ja als frohsinnig, optimistisch und begeistert kannte. Irgendwo war ich abgerutscht und sie forderte mich auf es mal wieder anzupacken, mich nicht so durchhängen zu lassen und mir mal Hilfe zu suchen. Ihr Vorschlag: Gesprächstherapie. Auch das noch! Was sollte denn das bitte bringen?! Nadine sagte, das sei jetzt gar nicht die Frage, ich müsse einfach mal irgendwie den Hintern wieder auf den Deckel bekommen. Und ein Gespräch mit einem Fachmann sei da gar nicht die schlechteste Alternative! Klang soweit ganz logisch irgendwie und ich folgte dem, allerdings nur, weil Nadine das gesagt hatte ...
Nun hatte ich tatsächlich schon meine erste Therapie-Stunde absolviert, aber vorher tausend und einen Kotzanfall gehabt: Ich beim Irrenarzt! Das markierte für mich das soziale Ende! Dann war es aber doch gar nicht so übel gewesen, eigentlich gar nicht. Herr Doktor Braun lachte über das ganze Gesicht, als ich ihm kritisch unterbreitete, dass ich ehrlich gesagt nicht wüsste, warum ich hier war, sondern dass ich geschickt worden sei. Er sagte: „Das geht den meisten so, machen Sie sich keine Sorgen, wir finden das gemeinsam heraus!“ Das gefiel mir, und ich nahm Platz. Die Praxis war hell und weiträumig, sehr edel und mit Wohlfühlcharakter. Exotische Pflanzen standen in den Ecken und an den Wänden hingen unaufdringliche Bilder aus starken Farbfeldern mit Silber, Kupfer, Messing und Gold … sehr tröstlich irgendwie und sehr heil. Herr Doktor Braun machte seinem Namen alle Ehre: Braun. Dunkelbraunes Haar, dunkelbraune Brille, dunkelbraune Augen, braune Haut, rosa Lippen und blitzende Zähne. Ein schöner Mann, der wie seine ungewöhnlichen Bilder wirkte: stark, lebendig, klar und heil. Ich mochte ihn sofort. Mit absoluter Unaufdringlichkeit und einem gewinnenden Lachen, das in seinen dunklen Augen Funken schlug, fragte er mich, warum ich denn nun nicht hier sei …?! Wir kamen also ins Reden … Es war erstaunlich, wie schnell ich dann doch auf den Punkt kam, den ich ja eigentlich gar nicht hatte, und er nickte lächelnd aber ernst. Er stimmte mir zu, dass ich an einer fortgeschrittenen Enttäuschung litt und schlug vor, wir würden diese einmal ausloten, um zu prüfen, ob ich bereits unter depressiven Verstimmungen litte. Das klang so herrlich wissenschaftlich und unheimlich zielgerichtet, dass ich sofort zustimmte. Dann war er sehr ernst und äußerte einen Verdacht, den er mir zur Begutachtung rüberreichte: „Es gibt etwas, das nennen wir ‚Verbitterungsstörung‘. Dafür gibt es noch keine Ziffer, keine Lobby und keine anerkannte Therapie. Wer aber darunter leidet, erkennt sich in aller Regel fast sofort darin wieder. Wollen Sie es versuchen?“ Ich wollte. Und so erklärte er mir dieses Krankheitsbild: Eine Verbitterungsstörung konnte nach außergewöhnlich stark erlebten, jedoch lebensüblichen, Belastungen entstehen. Sie umfasste irgendwann alle Lebensbereiche, weil die sie unterhaltenden Gefühle alles durchdrangen. Sie war immer die Folge einer oder mehrerer tiefer und nicht ausgeheilter Kränkungen, gegen die man sich noch immer hilflos fühlte. Wenn man Schmerz nicht auflösen konnte, erfuhr man keine Heilung und dann verbitterte die Seele irgendwann daran. Im Vordergrund stand eine anhaltende, namenlose Traurigkeit, das Gefühl von Enttäuschung und Verbitterung, verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit, auch Vorwürfe sich selbst und anderen gegenüber waren häufig. Auffallend waren die Symptome: Konzentrationsprobleme, emotionale Verflachung, Schlafprobleme, Libidoverlust und Impotenz, Antriebsblockaden, Unruhe, somatoforme Störungen, sozialer Rückzug und Depressionen. Ich erkannte mich darin aber mal sofort wieder! Ich fragte ihn, wie er mir jetzt so dermaßen schnell auf die Schliche gekommen sei? Er sagte ruhig: „Ich habe Sie in ihren kurzen Schilderungen immer nur als Opfer wahrgenommen. Ich habe gehört, dass Sie mittlerweile die Welt als sehr ungerecht empfinden. Sie berichten von einem teilweise auch stark angehobenen Aggressionspegel und schmerzlich herabgesetzter Frustrationstoleranz. Sie sind nicht mehr begeistert aber dafür enttäuscht. Ihre Symptome bestehen bereits länger als sechs Monate. All das, und noch mehr, gehört zu den Diagnosekriterien einer Verbitterungsstörung.“ Dann wusste ich jetzt wenigstens, wozu ich überhaupt herkam – und dass es auch gut war! Herr Doktor Braun sagte ruhig: „Zu sogar schweren Verbitterungsreaktionen kommt es immer dann, wenn durch andere Personen wichtige Grundannahmen und Grundwerte verletzt, ignoriert oder sogar absichtlich missachtet werden. Das geschieht zumeist über Prozesse psychologischer oder emotionaler Attacken. Dazu gehören Dinge wie: Kränkungen, Ungerechtigkeit, Gefühlskälte, Missachtung, Zurückweisung, Missbrauch, Betrug, und jede denkbare Form von Gewalt …“ Ich ließ das nachsinken, das kannte ich ja zur Genüge, das kannte ich alles doch nur zu gut, viel zu gut! „Haben Sie schon viel Gewalt erleiden müssen?“, fragte Doktor Braun ruhig und ich schluckte: „Ja. In jeder Form. Und auch immer wieder. Psychisch und emotional schon von Kind auf an, später insbesondere durch Partner - und dann sogar durch meinen Verlobten auch einmal physisch. Er wollte mich in seinem Rausch umbringen …“ Herr Braun lächelte jetzt nicht mehr. „Würden Sie sich selber als sensibel einschätzen?“, fragte er. Ich sagte leise: „Leider nicht. Ich leide erwiesenermaßen unter ADHS mit sogar massiver Hochsensibilität …“ Herr Braun sah mich lange an und nickte dann langsam. „Die Menschen, die unter Enttäuschungen als Erste einknicken und sich dann möglicherweise in einer Verbitterung verlaufen, sind immer die Sensiblen ...“ Ich sah ihn traurig an, das klang ja wahrer, als mir lieb war! Er sagte: „Die Verbitterung tritt immer dann ein, wenn sich der Enttäuschung nicht genügend Positives zum Trost und zur Heilung entgegenstellt. Wenn nur die Einschläge immer einander folgen und kein Sonnenstrahl mehr die Seele wärmt, verkriecht sich diese irgendwann, weil sie nicht mehr mag – und auch nicht mehr kann. Verbitterung ist immer eine über schon längere Zeit ertragene negative emotionale Bilanz. Und dabei ist es nicht bedeutend, ob das subjektiv oder objektiv gerechnet wird, es ist nur wichtig, was für den Betroffenen unter dem Strich zurückbleibt. Auch die subjektive oder objektive Härte von einwirkenden Ereignissen ist nicht entscheidend. Wir, manchmal auch überforderte Außenstehende, neigen dazu uns zu beschwichtigen und seelisch auszuschalten. Es werden dann mitleidlose Dinge gesagt wie: „Es gibt aber echt schlimmeres!“ Doch der Betroffene fühlt sich in seinem Selbstverständnis, seiner Würde und manchmal sogar in seiner Ehre so dermaßen verletzt, weil seine innersten Überzeugungen und Wertvorstellungen, an denen er sich ausgerichtet hatte, zutiefst erschüttert, marodiert oder sogar ausgehebelt wurden. Nichts galt mehr von dem, an dem er sich immer orientiert hatte! Das ist psychisch wirklich kein Klacks …“ Nein, das war kein Klacks, das war eine manifeste Erschütterung. Und vielleicht war es tatsächlich auch endlich mal Zeit das vollkommen anzuerkennen, anstatt immer die Starke geben zu wollen …
Wir besprachen in der nächsten Sitzung dann die zersetzende Kraft von Enttäuschungen, die ja im Prinzip nichts als die Folge falscher Einschätzung von Tatsachen, Wirklichkeit, anderer Menschen und derer Motive waren. Herr Doktor Braun äußerte eine gewagte These: Nach seiner Einschätzung war die Verbitterung ein Trick der Seele, um etwas zu verhindern, zu dem wir nicht bereit waren: Trauerarbeit. Er fragte mich etwas völlig verrücktes: „Vertragen Sie Zwiebeln?“ Ich stutzte: „Nein. Komischerweise irgendwie nicht mehr seit einiger Zeit! Ich bekomme unkontrollierbare Durchfälle davon!“ Er nickte ruhig und sagte: „Lachen Sie jetzt nicht, nehmen Sie es bitte einfach mal mit nach Hause – nur zur Begutachtung… Die Unverträglichkeit von Zwiebel ist ein Leitsyndrom des ‚Colon irritable‘, dem sogenannten ‚Reizdarmsyndrom‘. Ich bin ein absoluter Verfechter der psychosomatischen Medizin und sage klar: Wessen Darm nicht richtig tickt, der kann etwas nicht verdauen! Und die Zwiebel arbeitet, wie wir ja wissen, schon auf der physischen Ebene massiv mit Tränen. Diese Tränen sind oft in Menschen eingesperrt, wurden nicht rausgelassen, also: nicht verdaut! Und da sind wir dann auch wieder bei der bisher vermiedenen Trauerarbeit … Die ist im Dickdarm steckengeblieben, zwischen all der anderen Scheiße da! Das heißt nun nicht, dass man nicht traurig wäre, gottbewahre, aber Trauer hat eine ganz andere Qualität, sie ist absolut kompromisslos und hat etwas endgültiges. Wer trauert, der muss etwas für immer begraben und hergeben! Es geht nie mehr weiter, es wird nie mehr besser! Menschen, die nicht trauern wollen, haben ihren Schmerz festgehalten, weil er manchmal das Einzige ist, was ihnen überhaupt noch von der ganzen tragischen Sache geblieben ist. Nur der Schmerz zeigt noch, dass es wirklich passiert ist, dass sich alles in echt zugetragen hat. Sie halten dann den Schmerz fest, um diese Wirklichkeit nicht auch noch zu verlieren! Zumeist handelt es sich hierbei um Opfer von Missbrauch, denn das ist dadurch gekennzeichnet, dass die Täter sich vollkommen von jeder Schuld separieren und die Geschehnisse auch gerne vollkommen verleugnen. Das Opfer ist mit Erleben, Erinnerungen, Interpretationen und Schmerz vollkommen allein, weil alle anderen frech behaupten, das sei alles so niemals passiert. Nehmen sie das doch bitte einfach mal zum Spielen mit …“ Ich schluckte trocken und sah ihn groß an. Er sagte mit festem Blick in meine Augen: „Wann haben Sie das letzte Mal geweint, Frau Maketta …?“, und ich hob überfordert die Schultern, das konnte jetzt schon Jahre her sein! Er nickte langsam und sagte: „Und jetzt weint stellvertretend die Zwiebel in ihrem Gedärm …“ Ich schaute fragend und er sagte: „Menschen, die nicht trauern können, sind blockiert. Aber die Trauer ist ja trotzdem da! Und die Traurigkeit gleich dreimal. Aber alles ist eingesperrt, unterdrückt und blockiert - es will aber raus, muss raus! Und wenn sie das nicht bewerkstelligen können, helfen sich Seele und Körper eben irgendwann selber. Durchfälle sind der Klassiker: Die Scheiße verlässt den Schauplatz einfach irgendwann alleine …!“ Ich schluckte erschrocken und er beugte sich vor und tippte mit dem Bleistift auf mein Knie: „Oder vielleicht haben Sie auch ganz einfach Schiss, Frau Maketta?“
Dann kam er in der dritten Sitzung auf das Burnout-Syndrom zu sprechen. Ursache hatte dieses in einem Spannungsfeld zwischen dauerhaft verleugneten Bedürfnissen und falsch erlernten Bewältigungsstrategien. Das Ergebnis: Unser Wirken und Wollen verlief erfolglos -und enttäuschte uns fortgesetzt. Burnout war der Verbitterungsstörung auffallend ähnlich, und auch hier herrschte eine grundlegende Täuschung. Was jedenfalls immer vorhanden war, bestand in einem Irrtum über die wahre Beschaffenheit dessen, was man überhaupt zu ertragen in der Lage und was noch zumutbar war. Menschen mit einem grundlegenden Burnout konnten in einen Zustand geraten, in dem sie nicht mehr glaubten, mit auch nur noch einer einzigen negativen Erfahrung oder weiteren Enttäuschung fertig werden zu können! Herr Braun sagte, seiner Meinung nach könnte eine Verbitterungsstörung sehr gut ein Burn-out mit halber Kraft sein, der bei nicht verarbeiteter Enttäuschung hängengeblieben war. Er nannte als Arbeitstitel die Verbitterungsstörung einen „Enttäuschungs-Burnout“. Positiv genutzt hatte Enttäuschung den unschlagbaren Vorteil, dass die Täuschungen endlich weg waren und man mal wieder klar sah! Wenn die Enttäuschung jedoch bezeichnend für das Lebensgefühl oder sogar den Lebensweg eines Menschen wurde, konnte dieser das irgendwann weder weiterhin wegstecken, noch es sich schön reden. Dann wurde auch noch etwas sehr Erschreckendes deutlich: Ein Großteil seiner Hinwendung hatte offenbar auf Täuschung beruht, er hatte sich irgendwie gar nicht in der Realität bewegt!
Was im Rahmen einer Verbitterungsstörung auch noch mitspielte, war nicht selten die Herkunft aus einem destruktiven Elternhaus. Menschen, die schon in schlechten Energien aufwachsen mussten, liefen nicht selten ihr ganzes Leben unbewusst der Reparatur ihrer geschädigten Grunderfahrungen von Akzeptanz, Zugehörigkeit und Wertschätzung hinterher. Außerdem trugen sie ein unerfülltes Defizit nach Liebe und Glück in sich. Und alles was bedürftig war, stand natürlich stets in Gefahr auch enttäuscht zu werden! Insbesondere Strategien, die darauf ausgerichtet waren sich seine Liebe doch endlich noch zu verdienen, waren von einem hohen Enttäuschungsfaktor beschattet. In diesem Stream lief auch das Bewusstsein nicht beantworteter, verlorener oder zurückgewiesener Liebe mit, was eine die Psyche massiv zersetzende Kraft darstellte. Es handelte sich hierbei um einen Verlustschmerz, und diese psychischen oder auch sozialen Schmerzen waren die stärksten, die Menschen ertragen konnten, weil sie einen alten Reflexbogen in unserem steinzeitlichen Schmerzzentrum auslösten. Zurückweisung aktivierte im Gehirn die gleiche Lokation, wie körperlicher Schmerz. Mehr noch: Eine enttäuschte Liebe war energetisch für Menschen das größte Verlustgeschäft, denn sie kostete immer auch etwas von uns selber, und man war hinterher nie mehr derselbe Mensch! Der Verlust wurde noch umso dramatischer, je unbeteiligter und gefühlloser der Ausgestiegene sich gab. Sich nicht nur enttäuscht, sondern auch noch betrogen zu fühlen, schickte einen Menschen nicht selten in eine tiefe Depression…
Dann sprach Herr Doktor Braun das für mich möglicherweise wichtigste Thema überhaupt an: Vertrauen. Er sagte, dass immer da, wo unsere kostbarsten Werte versammelt waren, man uns am leichtesten packen konnte, weil dort der sogenannte „blinde Fleck“ wirkte: Nicht sein konnte, was nicht sein durfte! „Vertrauen ist das Grundbedürfnis Nummer eins aller Lebensformen“, sagte er ruhig „Ohne ein Minimum an Vertrauen ist keinerlei soziale Interaktion denkbar! Wir sind psychisch davon abhängig den Menschen und der Welt in einem bestimmten Rahmen irgendwie vertrauen zu müssen. Die ganze Geschichte ist voll von betrogenen, geblendeten und genasführten Menschen, die alles andere als dumm gewesen sind. Und damit ist die Enttäuschung dann natürlich auch Programm, denn sie basiert auch auf enttäuschtem Vertrauen! Wenn wir vertrauen, ist das auch eine genetische Reaktion, wir wollten das gerne dürfen, weil sonst einfach alles sinnlos wird! Aber der Kopf schaltet sich hier mit ein: Ist das klug? Vertrauen ist also immer eine bewusste, geistige Verhandlungssache. Und es fällt insbesondere Menschen mit ADHS und Hochsensibilität schwer das richtige Maß an Vertrauen zu finden. Zumeist sind sie zu impulsiv, zu gefühlvoll und damit dann zu vertrauensselig. Das kriegen viele Leute unheimlich schnell spitz und wissen das dann weidlich für sich auszunutzen! ADHS und Hochsensibilität brennen dann spätestens in der Lebensmitte aus und sind zumeist auch tief verbittert! Gerade diese schlecht bis manchmal fast gar nicht abgegrenzten Menschen machen sich in Beziehungen in denen es um Emotionen geht, gerne freiwillig abhängig von den Taten, Worten, Gefühlen, Aktionen oder Reaktionen anderer Menschen. Insbesondere in Liebesbeziehungen fallen die Grenzen dann leider sehr schnell und auch auf breiter Fläche. Die Grenze zwischen ‚Du‘ und ‚Ich‘ verwischt ausversehen wegen der ganzen Nähe, und irgendwie wird alles schnell zu ‚wir‘ und zu von ‚uns‘ getragen. Solche Menschen sind vertrauensselig und erlauben dann auch anderen, eigentlich ja fremden Menschen gerne, dass ihr Bewusstsein emotional von ihnen kontrolliert, und sogar manipuliert wird. Diese Person kann dann, wenn sie erst einmal im inneren Kreis ist, am fremden Schaltpult nach Belieben alle Hebel in Bewegung setzen, um Glück oder Terror zu verbreiten, denn wir vertrauten ihr ja! Natürlich erhofften Menschen sich immer eine ausschließlich positive Beeinflussung durch Personen, die sie in ihre Schaltzentrale gelassen haben, aber dieses Vertrauen ist so blind wie auch leider dumm. Man kann und darf nicht erwarten, und es tritt auch nur selten ein, dass eine Person sich vollkommen hasenrein verhält, wenn man ihr die Macht gibt an unserem Befinden herumzuschustern. Es gehört ins Reich der Wunschvorstellungen und Märchen, auch wenn es natürlich schade ist!“
Er fragte mich dann auch noch nach meiner Begeisterungsfähigkeit und meinem Idealismus, die beide starke psychische Antreiber waren, und bei allen Menschen mit Enttäuschung, Verbitterung und Burnout zu finden seien. Viele Menschen mit späterem Enttäuschungs-Schaden beschrieben ihre Begeisterung als ihren gewesenen Motor Nummer eins. Mit diesem gingen sie dann allerdings leider oft um, wie mit einem unerzogenen Hund: Er brachte sie immer dahin, wo er gerade hin wollte! Doch wenn das Feuer der Begeisterung immer wieder mutwillig gelöscht, ausgetreten, heimlich fortgetragen, zerstreut und erstickt wurde, war irgendwann der Ofen dann mal aus! Motor kaputt mit emotionalem Kolbenfresser! Dann wurde die Bitterkeit zu einer Art Schutzreaktion gegen wieder zu schnell und hoch aufsteigende Hoffnungen, und Begeisterung allgemein, und leider auch oft gegen echte Berührungen. So ein Mensch war, nach Barbara Scheer, „Ein Mensch, der auf einem Strand mit lauter zerbrochenen Ruderbooten lebte“. Seine Wirkungen, seine Lebenskraft, seine Visionen und schließlich auch sein Leben verpuffte ... Seine Ressourcen waren im Kampf um unerreichbare Dinge verbraucht worden, und nun war er weit ärmer als vorher, ohne einen Wert errungen zu haben. Wenn so ein Zustand länger anhielt, wirkte er wie eine Art erworbene seelische Invalidität, die wahrscheinlich ohne therapeutische Begleitung gar nicht mehr aufgelöst werden konnte. Unsere Fähigkeit uns zu begeistern, uns begeistern zu lassen, etwas wirklich zu wollen war tief, möglicherweise lebensgefährlich, verletzt! Wir waren ab irgendeinem Punkt, den wir höchstwahrscheinlich gar nicht benennen konnten, nicht mehr in der Lage uns an Ideen oder Menschen zu binden. Wir waren nicht mehr willig oder fähig etwas wirklich zu begehren ...
Das alles sollte ich nun in mir suchen, bewegen und vor allem mal detailliert aufschreiben. Er sagte, ich solle einfach alles wichtig finden, was mir einfiele, es sorgfältig ausarbeiten und die Ereignisse, wie bei einer Revue in Las Vegas, oder wie in einem Theaterstück, einander lose aber sinnhaft verbunden folgen lassen. Als Stilmittel sollte mir Leichtigkeit gelten, Humor, Sarkasmus, Ironie, … Nur Zynismus nicht, weil dieser zumeist in sich sehr bitter sei. Ich solle mich in die Übertreibung begeben, wenn es der Komik oder Erkenntnis diente und jeden Ansatz einer Absurdität auch noch überspitzen. Nicht verändern oder verbiegen, einfach nur durch reine Detailbesessenheit hochtreiben. Alle scheinbar noch so lächerlichen Aspekte gegeneinander antreten zu lassen, erzeuge schon in sich eine überzeugende und oft sehr überraschende Dynamik, versprach mir Doktor Braun zwinkernd. Sinn und Nutzen all dieser Erlebnisse würde sich fast wie von selber erklären, es würde außerdem einen riesigen Spaß machen. Und sich am Ende dann weit leichter entschlüsseln lassen, als bisher, wo man alles zumeist aus einer sehr erwachsenen und rationalen Warte aus gesehen hatte, und alles sich irgendwie geistig verklumpt hatte, weil man es ja nie mehr detailliert durchdachte ...
Auch wenn ich es scheiße fand beim Irrenarzt gelandet zu sein, hatte mir Herr Doktor Braun dennoch sehr, sehr gut getan. Okay, der Mann konnte aber nun auch wirklich was, und er hatte mich sofort gepackt, Glück gehabt! Enttäuschtes Vertrauen, das war tatsächlich die dunkle Melodie meines Lebens. Nicht immer, obwohl ich sicherlich schon als Kind genügend Grund gehabt hatte psychisch auf die Matte zu rotzen. Ich staunte nun im Rückblick ehrlich, und sogar schockiert, mit wieviel Kraft ich mir meinen Optimismus und meine positive Zuversicht über 40 Jahre lang hinweg über all die Tiefschläge und Attacken hatte retten können! Menschen waren ein echter Albtraum, das stand mir plötzlich klarer denn je vor Augen. Und dennoch hatte ich immer wieder unbeeindruckt beschlossen, dass einige Leute wohl sicherlich manchmal auch ein nackter Albtraum sein konnten, unter schlechten Voraussetzungen, aber dass der Rest der Meute eigentlich schwer OK war - und daher natürlich auch immer wieder mein vollstes Vertrauen verdiente. Die hatten es mir allesamt aber dann mal richtig sauber eingeschenkt! Mein Gott, wie konnte man denn, trotz Schulabschluss und Studium so dermaßen bescheuert sein - und das ganz allein?! Für so viel Blödheit und Naivität brauchte man doch eigentlich wirklich mindestens drei von meiner Sorte?! Nein, ich hatte das ganz allein geschafft, nie geübt, und gleich gekonnt! Ich wollte lieber unbedingt im Takka-Tukka-Land bleiben, unangefochten von Wahrheit und Realität, einfach weil ich mir das wert war mich ständig zu bescheißen! Und nun saß ich da, nicht nur enttäuscht, sondern auch noch verbittert und mit einem Vertrauensschaden. Wie kam man da denn nun wieder raus?! „Langsam“, hatte Herr Dr. Braun gesagt „Langsam ernährt sich das Eichhörnchen!“ Und er hatte außerdem gemeint, dass ich zuerst mal einen Arbeitstitel bräuchte: Wollte ich denn da überhaupt wieder raus?! Da es sich um eine, nicht von heute auf morgen, erlernte Schutzreaktion der Seele handelte, musste ich ihr zuerst einmal mit einem Entschluss zu Leibe rücken, hatte er gesagt. „Man kann auch verbittert glücklich werden, quasi … Eben nicht so oft und nicht so intensiv, aber zufrieden auch irgendwie ...“ Verbitterung, so hatte er mir eindringlich nahe gebracht, und ich glaubte das spontan sofort, hatte auch sehr viel mit Vorwürfen zu tun, und zwar zumeist mit den unhörbaren. Wir Verbitterten machten denen Vorwürfe, die uns in die Verbitterung brachten, aber insbesondere auch uns selber, dass wir das mit uns machen hatten lassen. Wir glaubten, so Doktor Braun, dass wir es einfach besser hätten wissen müssen, als wir es wussten und als wir es hätten wissen können. Nicht selten stilisierten wir im Rückblick unsere großartigen Charakterzüge und wundervollen Werte zu Charakterdefiziten und Blödheit, weil andere diese eben ausgenutzt oder mit Füßen getreten hatten. Man musste lernen das alles zu entzerren: Da war das, was man selber mal gewollt hatte - und da war das, was andere eben daraus gemacht haben. Das gehörte aber nur auf einer ganz bestimmten Ebene zusammen. Und auf einer anderen, wo man selber nämlich keinerlei Kontrolle gehabt hatte, überhaupt nicht. Motive blieben edel, Werte blieben nachhaltig und Liebe blieb heilig, auch wenn irgendein degeneriertes Arschloch das alles ignorant vollgerotzt und zerstört hatte. Das war ein erfrischend heiler Gedanke und er gab mir schon Trost, als ich ihn das erste Mal kostete. Verbitterung habe viel mit Trauer zu tun, sagte Doktor Braun, aber auch mit dem, zu was Trauer werden konnte, wenn man sie nicht artgerecht behandelte: mit Groll, mit altem und unaufgelöstem Groll. Und das war nun die Hausaufgabe: Herauszufinden, wo ich stand, was mich antrieb und wo ich hin wollte. Die große Schreibaufgabe sollte mir dabei helfen den alten Weg in die Verbitterung nachzuzeichnen und auch mich endlich zu versöhnen: mit mir, meinen falschen Einschätzungen und Fehlentscheidungen. Und dann auch mit den anderen und deren Fehlentscheidungen - wenn die Möglichkeit bestand. Wenn es diese nicht gab, und das gab es oft, sollte ich lernen vollkommen überzeugt zu sagen: „Das kann ich nicht verzeihen, aber ich löse nun meinen alten Groll, denn es ist für immer vorbei und nicht mehr zu ändern, ich dulde nicht länger, dass dies mein Leben weiterhin negativ beeinflusst!“ Und dann sollte ich versuchen es anders zu betrachten, friedvoll oder auch absurd und komisch. Na, dann mal los …
Ich erinnerte mich an eine „kleine Situation“, ganz alltäglich, die ein ganz ungutes Gefühlsdurcheinander in mir ausgelöst hatte. Eines, das sehr kennzeichnend werden sollte. „Ja – und was machen wir nun …?“, fragte ich in das hartnäckige Schweigen hinein, in das sich alleine das Brabbeln des Fernsehers mischte. Ermattet und irgendwie tief ermüdet ließ ich den tomatigen Holzlöffel sinken und stützte mich mit beiden Händen auf dem Umlauf vor dem Herd ab. Rotbraune Sprenkel säumten den schmalen Metallrand und ich war genervt, weil Kochen, auch die kleinsten Einheiten, generell nie ohne Dreck und Geklecker von statten gehen konnte. Das musste wohl ein universelles Gesetz sein, dachte ich mit dem Blick auf die harmlos leise vor sich hin blubbernde Tomatensauce. Es erschien mir in diesem Moment erstaunlich, dass ich noch nie bemerkt hatte, wie es eigentlich zu den immer gleichen braunroten Sprenkeln rund um den verdammten Topf kam, obwohl die Sauce stets nur ganz leise köchelte. Sanft hoben sich da, immer wieder an anderen Stellen, kleine Blasen, wölbten sich glasig auf, und zerplatzten zu an den Rändern zackigen Kratern, die wieder in die Lava zusammenfielen. Aber ungefähr jede zehnte dieser Blasen schmiss beim Zerplatzen ein kleines Tröpfchen gezielt über den Rand des Topfes. Dabei war es, wie mir nun plötzlich klar wurde, wahrscheinlich vollkommen egal, wieviel Sauce sich darin befand … die wollten das ganz offenbar einfach so! Genauso wie auch Kaffeepulver ausnahmslos immer türmte, sobald es aus der Dose draußen war. Es war nicht möglich mit dem Zeug zu hantieren, ohne eine Halo zu schmeißen! Je länger ich diese sonderbaren Phänomen bedachte, umso mehr kam mir, keine Ahnung warum gerade jetzt, ein weiteres Rätsel in den Sinn: Warum kamen auf einer völlig verlassenen Landstraße eigentlich fast immer zwei Autos nacheinander?! Das Auftreten dieses Phänomens war seit vielen Jahren so dermaßen hartnäckig, da musste doch einfach irgendein höheres Konzept dahinterstecken?! Und es war scheinbar der gleiche Umstand, dass kaum dass ich die Auffahrt verlassen hatte, fast immer ein Auto kam! Sehr wahrscheinlich danach den ganzen Weg keines mehr, aber immer in dem Moment, wo ich den verdammten Fuß auf der Straße hatte, ging die Fahrerei los, und zwar fast zu jeder Tages- und Nachtzeit! Es war verrückt, denn es passierte, wie das mit der Tomatensauce und dem Kaffeepulver, wirklich immer wieder!
Das Gesabbel aus dem Fernseher trat nun wieder in mein Bewusstsein und auch, dass ich das Gespräch vorhin ganz offensichtlich wieder mal völlig alleine geführt hatte. Resigniert ging ich zur Tür und schaute auf die vor mir liegende Szene. Es war draußen mittlerweile vollkommen dunkel geworden, aber zum Lichtschalter hatte der Herr es nicht geschafft. Kai war ein 1.92cm großer, athletisch gebauter Mann mit langen wohl geformten Gliedmaßen, dichtem honigblondem Haar und bernsteinfarbenen Augen. Er besaß eine süße Stupsnase und einen schönen, vollen Mund mit herrlichen Raubtierzähnen. Er gehörte wohl zu den Menschen, die zu hoch aufgeschossen waren und wirkte immer etwas, als stecke er in einem zu großen Anzug. Innerlich fühlte er sich garantiert wesentlich kleiner. Im völlig verdunkelten Raum flackerte nun der Fernseher und auf dem Sofa davor hockte Kai. Was hieß hockte: hing traf es noch viel besser. Er trug „die Unsägliche“ wie ich das gehasste Teil nannte, das war eine gräulich verwaschene, ehemals schleim-beigefarbene Jogginghose mit Wollmäusen, tief hängendem Schritt und ausgeleierten Bündchen. Wie die meisten Männer war auch Kai vollkommen taub für Anfragen nach häuslicher Ästhetik und stets nur darauf aus seine Komfortzone zu schützen: „Die ist halt bequem und in der Oper zieh ich dann ja die Bügelfalten an!“, war die übliche dumme Antwort auf dementsprechende Anfragen. Keine Frau, die ich kannte, würde sich so dermaßen gehen lassen und ihrem Mann einen solch ignoranten Anblick bieten. Männerlogik war aber einfach: Er trug beulige, schleimfarbige Jogginghosen, die faltig seinen Hintern umflatterten, sie wurde aber trotzdem geil auf ihn! Wenn nicht, war der Fall klar, dann stimmte wohl etwas nicht mit ihr! Seine Beine waren weit gespreizt, der linke Fuß mit der fusseligen, leicht aufgebrauchten Socke war, wie leider so oft, gegen den Rand vom Couchtisch gestemmt. Er sah nicht auf: „Sag mal, wie lange dauert das Bisschen Nudelsauce da eigentlich noch …?“, fragte er beim erneuten Umschalten. Ich sagte freundlich: „Warum hebst Du nicht Deinen Hintern aus dem Sofa und guckst mal nach?“ Sein Kopf ruckte herum, er sah mich zwei Sekunden lang wirklich fassungslos an. Dann schüttelte er sich, lachte, mit dem Blick erneut in den Fernseher: „Ja schon klar, Du schaffst das nicht mehr alleine …“ Ich sagte ruhig: „Es ist weniger der Umstand, dass nur ich für unser Essen sorge, als dass Du Dich irgendwie überhaupt nicht angesprochen fühlst Dich auch mal zu beteiligen …“ Er schaltete ungerührt um und sagte: „Sag mal, willst Du hier jetzt ‘ne Beziehungsdiskussion anfangen, oder was? Du klingst schon original wie meine Mutter!“ Ich sagte leise: „Und das gibt Dir jetzt nicht vielleicht irgendwie auch mal zu denken …“ Er trompetete froh: „Nee, mit leerem Magen konnte ich noch nie denken, das war schon in der Schule so!“ Wie süß. Ich drehte mich nach ein paar Sekunden des wortlosen Schauens ab und sagte leise: „Game over, Nigger …“ Da war es schon wieder, dieses resignierte, irgendwie so tief hoffnungslose Gefühl, dass mich nun schon seit einiger Zeit fast ununterbrochen begleitete. Was war das eigentlich für eine Beziehung, in der ich da steckte?! Hatte ich das mal genauso angepeilt?! Ich konnte mich an nichts entsprechendes erinnern! „Stillstand …!“, flüsterte da eine leise, bösartige Stimme in meinem Hinterkopf. Das hatte die jetzt schon öfter mal gemacht! Einmal, als ich mit dem Papierstau am Kopierer im Büro kämpfte … Dann, als mir der Becher mit den ganzen Schaschlik-Stäbchen runterfiel und ich eine Runde Mikado spielen musste ... Und auch, als ich nach ca. 20 Minuten in der Warteschlange bei der Post feststellte, dass ich das Portemonnaie im Auto liegen hatte ... „Stiiiillllstaaandddd ….!!!“ Aber immer wenn ich versuchte diese bösartige Stimme mal anzuschauen, um zu ergründen, wer da eigentlich sprach, war sie auch schon wieder abgetaucht. Das Gefühl war mir zwar nicht ganz neu, aber in dieser, jetzt seit einiger Zeit gehäuft auftretenden Form, echt unangenehm. Es war etwas treibendes, drängendes, eiliges … dahinter: mach, mach, mach! Ja, toll: mach! Aber was machen?! Und warum - in welche Richtung überhaupt?! Grummeln. Unruhe. Unzufriedene Getriebenheit. Aber unzufrieden mit welchen Umständen genau?! Es war eine verfahrene innere Lage, irgendwie ein Stellungskrieg, bei dem ich den Gegner nicht kannte, keine Ahnung hatte wie ich da reingeraten war und auch überhaupt nicht wusste, worum es hier eigentlich ging. Ich hasste das! Es fühlte sich teilweise an, wie ein ekelhafter freier Fall. Ein haltloser, plötzlicher Sturz irgendwo runter, mit keiner Richtung, aber das stark beschleunigt … wirklich extrem ätzend!
Es war ein guter Platz, vielleicht sogar der Beste im ganzen Café, fand ich tief befriedigt, nachdem ich mich an dem kleinen Tisch im Erker installiert hatte. Von hier aus war ich abgeschnitten vom Trubel im Lokal, saß wie in einer kleinen, geheimen Wabe, und hatte das gesamte Panorama des Ludwigplatzes vor mir. Die Wände waren in der „Schwämmchen-Technik“ gearbeitet und changierten elegant in karamell, creme und weiß. Die honigfarbenen, hochglanzpolierten Tische und weinroten Kunstlederstühle mit der hohen Lehne passten perfekt dazu. Nun, Mitte November, hatte sich das trübe Tageslicht schon vollkommen verabschiedet und die Stadt strahlte und funkelte nächtlich. Die Straßen waren nass von üblichen Dauerregen und reflektierten das Licht in vielfältigen Spektren, Farben und Formen. Auf dem Dach vom Kaufhof links an der Ecke konnte ich den riesigen, und alljährlich immer wieder neu verspannten, grün-roten Tannenbaum blinken sehen. Irgendwann mochte der sicherlich mal sehr amerikanisch und modern gewirkt haben … dieser Effekt hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren allerdings deutlich verbraucht. Nicht nur, dass er von wesentlich auffälligeren und attraktiveren Illuminationen schlicht in seiner Zeit überholt worden war, auch das jährliche Wiedererscheinen hatte zu seiner Abnutzung beigetragen. Bei dem erneuten Blick auf das blinkende Relikt, musste ich plötzlich an die alten Figuren auf einigen Geisterbahnen denken. Deren trübe Glühbirnenaugen in den sich geräuschvoll zäh hin und her bewegenden Köpfen versuchten ja auch die Vorüberziehenden zum Hereinkommen zu animieren ... Der Geschäftsführer hatte sich vielleicht damals gedacht, er nähme lieber was klassisches und nicht so einen modernen Schnickschnack, den man dann, wie das orange Plastik-Wählscheiben-Telefon der Achtziger, nach zehn Jahren eventuell nicht mehr sehen konnte! Mittlerweile wirkte der Dachschmuck unfreiwillig nostalgisch mit seinen abwechselnd rot und grün aufblinkenden Glühbirnen am tannenförmigen Stahlgerüst. Noch stärker entstand der Kontrast in all der blendenden LED-Halo, die gewisse Schlitten mit Rentieren verbreiteten, deren Fahrgäste in Minutenabständen „Ho, ho, ho!“ riefen. Ich hatte seit ca. 40 Jahren immer wieder gefragt, warum das adipöse Mistviech mit den Sado-Maso-Stiefeln und dem affigen Zwergen-Mützchen eigentlich nichts Besseres rausbrachte als immer nur: „Ho, ho, ho!“ Möglicherweise traf dies den kleinsten gemeinsamen Nenner?! Oder er war einfach nur total durchbescheuert! Allerdings hatten die Australier dem fetten Typen verboten weiterhin klassisch zu trompeten, weil es die Winzlinge zu sehr gruseln könnte. Australische Weihnachtsmänner plärrten daher nur noch: „Ha, ha, ha!“, was sicherlich dann viel besser rüberkam … Damit hatte ich allerdings endlich die überfällige Antwort: „Ho, ho, ho!“ war auf arktisch drei Mal kurz gelacht! Irgendwie hatte sich dann wohl im Laufe der Jahrzehnte aus einem jovial-froh-dumpfen Lachen ein gruseliges “HO! HO! HO!“ gebildet.
Überhaupt war die ganze Weihnachtssache doch logisch schon von Grund auf faul und starb dennoch nicht aus! Wie konnte jemand in nur einer Nacht Millionen Kinder besuchen?! Die Theorie besagte: Der Dicke hielt die Zeit an! Okay, aber wie lange dann bitte?! Alterten wir dann weiter, und warum fragte uns keiner, ob wir das überhaupt wollten? Wie kam ein so dermaßen fetter Knecht überhaupt durch den Schornstein?! Angeblich mit Zauberpulver, aber das dauerte doch trotzdem ewig, und außerdem war es danach mit Rot-Weiß auch vorbei! Es sei denn, das Zauberpulver war außerdem schmutzabweisend, dann hätte ich auch gerne mal ein Tütchen davon. Und was machte der nun auf einem Hochhaus, da da hing er doch sofort im Heizungskessel fest! Oder flutschte er, Zauberpulver sei Dank, von da aus dann durch die Entlüftungsventile wie ein kleiner Furz?! Mein Vater war damals wieder mal nur genervt von meiner ganzen Fragerei, ihm war das alles zu abstrakt und zu anstrengend. Warum ich das bitte nicht einfach so hinnehmen könnte, „wie es alle andern Kinder auch täten“ War halt einfach nicht drin! Ich sagte mir daher, er wüsste es wohl auch nicht, und knobelte weiter. Schon wenn man nur etwas rechnen konnte, erkannte man, dass der Weihnachtsmann mitnichten alle Kinder der ganzen Welt beschenkte. Denn Ali in Istanbul würde dem dicken Stinker aus dem Abendland schnell eine geschmeidige Portion türkischen Schrot in seinen christlichen Hintern geballert haben, wenn er ihn auf seinem Dach herumfuhrwerken hörte! Somit blieben ja sowieso nur neunzehn Prozent aller Kinder übrig, weil der Rest ja gar nicht an Jesus und seinen Geburtstag glaubte. Und von denen wurden sowieso nur die Braven besucht. Es sei denn, die Bösen kriegten wirklich eine Tüte Kohlen und ein Arschvoll …?! Andererseits wäre in heutigen Zeiten ein Kanister Erdöl wohl sinnvoller, und von der Prügelei hätte man sicherlich auch schon mal gehört, weil der Kinderschutzbund dem Dicken längst in die Parade gefahren wäre. Das durchschnittliche Kind wusste immerhin in vierundzwanzig Prozent der Fälle zu berichten, „dass Jesus der Mann von Maria war“. Ich für meinen Teil fand die ganze Geschichte schon seit Kindertagen mehr als sonderbar, damals wusste ich aber auch noch nicht, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung des Coca-Cola-Konzerns der dreißiger Jahre war. Schon der Übertritt vom Jesuskind im Stall unter Wüstenpalmen zum Jesuskind unter beschneiten Tannen, war in sich nun schon mehr als zweifelhaft, wenn man nur mal bedachte, dass Jesus ein Jude war und sicherlich keine Bahncard hatte. Und es verwunderte noch mehr, wenn man das trotzdem so in angestaubten und trüb beleuchteten Dioramen von Gotteshäusern bewundern konnte. Gerade die Kirche und der Weihnachtsbrauch! Wirklich jeder wusste mittlerweile, dass der mit Kerzen besteckte Tannenbaum ein Überbleibsel der keltischen „Lichtmess“ war, welche die Wiederkehr der Helligkeit in der Natur feierte. Und Jesus Geburtstag hatte nicht am 24. Dezember, sondern irgendwann im März stattgefunden, außerdem nicht mal im Jahre Null, sondern wohl irgendwann in den dreissigern. Solche Kleinigkeiten störten aber ja nun die Kirche nicht! Wir hatten ein völlig sinnfreies Bild dieses Festes: Ein europäischer Jesus im Schnee, gekoppelt mit dem Symbol eines heidnischen Festes, und dann sauste auch noch dämlich lachend Coca-Colas Frontman mittels fliegender Rentiere durchs Bild - auf dem Weg in den nächsten Schornstein… Ho, ho, ho! Wie sich der fette Fliegenpilz nun so dermaßen hartnäckig mit ins sowieso schon völlig schiefe Bild gemischt hatte, konnte man historisch nicht mehr ermitteln. Es musste der gleiche Grund sein, warum bei Jesus Kreuzigung in Golgota der Feldhase Nester baute und darin bunt angemalte Hühnereier versteckte …
Genauso strittig war für mich schon als Kind die Frage: Wie kamen fliegende lappländische Rentiere vor die Kutsche?! Hirschen ließe man sich hierorts zur Not vielleicht gerade noch eingehen, und fliegend, naja, Zauberpulver halt … Aber es blieb dann die Frage: Wie kam der Hirsch an den Nordpol - mit Air Berlin …?! Die Forschung besagte: Arme Lappländer fraßen sich in damaligen Tagen ganz gerne mal einen Rausch mit Fliegenpilzen an. Da seien rot-weiß-Visionen und fliegende Dinge dann nicht selten (siehe: Fliege-npilz), und das Rentier war ja auch nicht weit … Wenn der Dicke allerdings nicht bestoned von Lappland, sondern aus der Arktis herflog, könnte er korrekterweise eigentlich nur Eisbären oder Robben als Außenborder haben. Doch wie würde das wieder aussehen, wenn auch figürlich alles zusammenpasste. Die Aerodynamik von acht fettgefressenen Arktisrobben in der Linkskurve über Manhattan … ich weiß jetzt nicht. Es musste also irgendetwas anderes dahinterstecken als Logik, und zwar etwas, das sich leicht und gerne austricksen ließ, einfach weil es gar nicht logisch sein wollte. Vielleicht sowas wie eine Sehnsucht oder ein Traum? Machte der Auftritt des Weihnachtsmannes die Erwachsenen wieder ein Bisschen zu Kindern? Dieses Fest, so unlogisch, unreligiös, stilistisch abgedreht und eigentlich völlig undeutsch, erzeugte wohl ein Gefühl, dass auf geheimnisvolle Weise ein kleines bisschen besser war, als die restlichen elf Monate. Was möglicherweise erklären könnte, warum es am fünfzehnten September bei Aldi bereits mit der Auslage von Dominosteinen und Spekulatius begann.
Ich seufzte geräuschvoll, es war also wieder mal soweit! In knapp sechs Wochen schlug die Welle des sich nun langsam aufzuschaukeln beginnenden Konsum-Wahnsinns wieder um. Wenn es nach mir ginge, müsste dieses Freudenfest der Wirtschaftstreibenden mittlerweile höchstens noch alle zwei Jahre stattfinden, oder alle drei … Dann hätte es zumindest wieder etwas Besonderes, wenigstens ein Bisschen. Früher, ja da schmeckte Weihnachten noch nach Pfeffernüsschen, Zimt und Hoffnung. Aber je älter ich geworden war, umso abgeklärter und trauriger schaute ich auf dieses bekloppte Ereignis. Die Magie, die es damals enthalten hatte, war schon lange verschwunden und ließ sich auch nicht wieder herstellen. Und je mehr sich die Welt in dieser Art negativ veränderte, umso weniger erfüllte sich das darin innewohnende Versprechen. Vielmehr verkam alles mehr und mehr zu einer bizarren Konsum-Blase. Natürlich: Ganz viele Deutsche konnten heutzutage bei Bedarf täglich Braten, Knödel und Pudding verspachteln - Aldi und Norma machten es möglich. Der Zauber des Besonderen, des Festes, des bewusst gelebten Überflusses, hatte sich jedoch seit dem Wirtschaftswunder der Fünfziger Jahre schon längst verbraucht. Selbst die Lebensmittelkonzerne waren verzweifelt ob der Langeweile ihrer Kunden und überschlugen sich allesamt in den Tiefkühltruhen mit Strauß, Hirsch, Goldbrasse, Wildschwein und Samtkrabbe. Insbesondere was Deutschland anging, war vom eigentlichen emotionalen und sozialen Grundgedanken dieses Festes nichts mehr zu fühlen. In einer weltweiten Umfrage zu „Familienzusammengehörigkeit“ hatte Lettland unter fünfzig Ländern „Platz Eins“ und Deutschland „Platz neunundvierzig“ geholt. Das war möglicherweise einer der Gründe für den sich von Jahr zu Jahr immer weiter steigernden Konsumrausch: Es fehlte etwas wichtiges, und das wurde dann versucht hinzuzuaddieren! Nur, wenn man dazu das Falsche nahm, war es eben nie richtig! Und immer noch mehr von der schon falschen Lösung anzuwenden, erzeugte dann in aller Regel nur noch mehr Probleme. Die meisten Menschen schienen vergessen zu haben, was sie eigentlich mal in diesem Fest gesucht hatten. Ich kannte niemanden, der Weihnachten so feierte, wie es sich für den ursprünglichen Gedanken, den Geist der Weihnacht, der ja nichts als Gemeinschaftlichkeit und Liebe beinhalten wollte, eigentlich geziemte. Alle flimmerten in einem unglaublichen Wahn von kopflosem Stress, blinder Action, Konsum und völliger Selbstbezogenheit. Die meisten dachten beim „Geist der Weihnacht“ fast nur sofort daran, wie alles um Weihnachten herum ihnen mächtig auf den Geist ging: Planung, Stress, Arbeit, Geldausgeben, Shoppingkoller, Kochen, Fressen - und dann noch ungeliebte und besoffene Verwandte! Andere dachten beim „Geist der Weihnacht“ an Charles Dickens und den durch die drei Erscheinungen geläuterten Miesepeter Scrooge. Aber ach, schon der gute, alte Charles hatte sich den Geist der Weihnacht auf den meisten Seiten auch nur unter brutzelnden Gänsen in goldener Butter vorgestellt! Er wurde gar nicht fertig mit der Aufzählung all der zu erwartenden Köstlichkeiten und erwähnte nur mal ganz am Rande, hoch oben in einem Leuchtturm, und tief unten in einem Schacht, wie sich kaputte Männer die kaputten Hände reichten und ein Liedchen zusammen anstimmten …
Ich bedankte mich für den servierten Cappuccino, die logen hier nicht, wenn sie behaupteten er sei groß! Der fluffige Milchschaum wies einen kunstvollen Tannenbaum aus dunklem Kakao auf und ich runzelte unwillig die Stirn. Auch schon wieder so ein falsch importierter Mist diese Schokolade auf dem Kaffee! Ein Kaffeekenner wusste, dass jede Art von dunklem Staub immer nur Gewürze sein konnten: In Italien Zimt, in Arabien Kardamom und in Persien aromatische Mischungen mit Rosen. Die Deutschen fuhren jedoch irgendwohin, sahen dunklen Staub auf der Milch, ergo: Das konnte dann ja nur Schokolade sein! Das war eine ähnlich taube Nuss, wie das allgegenwärtige Sushi, das man hierzulande bekloppter weise mit Stäbchen aß, was natürlich keinem Japaner je einfallen würde! Dieser benutzte für die trockenen Häppchen logischerweise die Finger. Irgendein deutscher Vollhorst hatte damit angefangen japanisches Fingerfood auf Stäbchen zu spießen, denn sein begrenzter Horizont hatte ihm eingeflüstert: Kommt aus Asien, muss natürlich mit Stäbchen gefressen werden! Klar, sonst kapieren die ganzen Idioten ja wieder nicht, dass es echt exotisch ist. Und für kalte, deutsche Reishäppchen mit winzigen Läppchen von rohem Fisch, und das auch noch ohne Besteck, würde schließlich kein Mensch solche Unsummen bezahlen! Sollte man es nun einmal wagen Sushi in der Öffentlichkeit original japanisch zu essen, würde man wahrscheinlich mit hochgezogener Nase und steifer Oberlippe als „kulturell völlig ungebildetes Schwein ohne Tischmanieren“ betitelt werden. Interessanterweise nahmen nicht mal bekennende Stäbchenkrüppel die Finger, sondern aßen dann ihr Sushi, kulturell stilecht, eben mit der Gabel. Ich war komischerweise stets die Einzige, die solche Dinge bemerkte und den dahinter schlummernden Irrsinn überhaupt zu benennen wusste. Dies hatte mir den Ruf eingebracht „oft schon auch mal etwas anstrengend“ zu sein. Insbesondere Männer, die sich intellektuell gerne adelten, sahen müde amüsiert aus, während sie dozierten, dass „man“ (nicht wahr, wen meinen wir wohl jetzt damit?!) sich auch nicht immerzu so dermaßen bierernst nehmen sollte, täten sie ja auch nicht, gell …! Kurz: Alle anderen um mich herum konsumierten stumpf und widerstandslos alles, was ihnen vorgesetzt wurde - und ahmten es dann als „moderne Lebensart“ nach. Ermüdend irgendwie.
„Und überhaupt!“ dachte ich schon wieder genervt: „Dieser bescheuerte Milchschaum überall!“ Wer in aller Welt war auf die bekloppte Idee gekommen die Milch aus einem logischen Getränk wie Milchkaffee zu ziehen und zu schaumiger Masse aufzuschlagen? Insbesondere in solchen Massen, wie der Cappuccino ja nun nie erfunden war, wo er sich dann prompt nicht mehr problemlos trinken ließ. Der Gerätepark, der dazu in den Technikkaufhäusern und Einbauküchen betrieben wurde, um einen steifen, fluffigen Milchschaum herzustellen, enthielt für mich stets schon den gebündelten Wahnsinn der heutigen Gesellschaft: Luft, Blasen, Schaum! Es ging mal wieder, wie so oft mit immensem Aufwand, um überhaupt nichts! Zumal der blöde Schaum meine innere Welten stets empfindlich störte. Denn immer, wenn ich eine große weiße Tasse voll mit Milchkaffee sah, tauchte darin fast sofort eine dicke, ältliche Frau, mit einem breit rot-weiß gestreiften altmodischen Schwimmring und einer weißen, mit Plastikblumen übersäten, großen Badekappe auf. Sie sah mit ihrer runden, knolligen Nase ein wenig aus, wie die Männchen von Loriot und schwamm unbeeindruckt, mit stets geschlossenen Augen, entspannt in der Tasse ihre Kreise. In dem blöden Milchschaum bräuchte Elfriede prompt einen Schnorchel. Und das würde wiederrum bedeuten, dass ein schnaufender, gelber Plastik-Wurm sich durch den Schaum pflügte … nicht sehr inspirierend! Ich konnte gar nicht mehr sagen, wann Elfriede zum ersten Mal aufgetaucht war, auf einmal war sie da und ging nicht mehr weg. Sie korrespondierte auf beunruhigende Art mit den komischen Gefühlen in meinem Inneren, denn wenn man sie vom Rand her anfeuern würde mal schneller zu schwimmen, ergäbe das genauso wenig Sinn, wie „Mach! Mach! Mach!“ Elfriede schwamm gemütlich einmal im Kreis, vom Henkel bis zum Henkel, dann drehte sie um und schwamm zurück, vom Henkel bis zum Henkel. Sie tat das mit einer so tiefen Ernsthaftigkeit, als hätte all das irgendeinen Nutzen. Doch der einzige Sinn lag ganz offensichtlich allein darin, dass sie es eben einfach tat. Irgendwie also buddhistisch und irgendwie auch total bescheuert. Mir gefiel es jedenfalls nicht, auch deswegen, weil ich schon wieder die leise Stimme raunen hörte: „Stiiiillllstaaannndddd …!“
Ich schaute melancholisch zu dem alten Relikt auf dem Kaufhofdach hinüber, es erinnerte mich plötzlich massiv an meine kindlichen Weihnachten damals bei Oma! Alles war da noch so überschaubar gewesen irgendwie. Meine Großmutter erinnerte ich als eine sehnige, hochgewachsene Frau mit kastanienbraunem dünnen Haar, blauen Augen und einer scharfen Adlernase. Ich kannte sie nur gutgelaunt, liebevoll und optimistisch. Bereits als Schulkind fragte ich mich, wie ihre Tochter eine so dermaßen negative, freudlose und unfreundliche Person geworden sein konnte! Eigentlich hatte meine Oma wirklich genügend Mist erlebt, um nicht dauernd zu lachen, aber sie tat es dennoch. Sie wuchs ohne Vater auf, und hatte als junge Frau vor dem Krieg eine Tochter gehabt, die Marion hieß. Dieses bedauernswerte Geschöpf litt an etwas, das man damals „Wasserkopf“ nannte, das hieß: Im Gehirn sammelte sich Flüssigkeit an. Dieses arme Würmchen lag nun Tag und Nacht vor Schmerzen schreiend in den Armen ihrer Mutter und niemand konnte ihm helfen. Meine Oma investierte daraufhin jeden einzelnen Pfennig in gute Wolle und häkelte ihrer zerquälten Tochter ein unglaubliches Volant-Kleid. In jeder Masche steckte Liebe und die Hoffnung auf ein spätes Wunder. Mein Opa war so tief beeindruckt von diesem Stück Handwerkskunst, dass er ebenfalls zu sparen begann und ihr versprach, dass auch sie ein schönes Kleid bekam, wenn dieses Meisterwerk fertiggestellt wurde. Als man das prachtvolle Kleid anprobierte, war die kleine Marion bereits von ihren furchtbaren Schmerzen erlöst und wurde mit nur knapp drei Jahren darin beerdigt. Das ersehnte neue Gewand meiner Großmutter war tiefschwarz und sie trug es am Grab ihrer kleinen Tochter … Ein paar Jahre später wurde ihr Mann in den Krieg nach Russland eingezogen, verlor dort ein Bein, worüber er vollkommen verbitterte. Meine Oma wurde mit ihrer zweiten kleinen Tochter, meiner Mutter, 1943 in Barmbek komplett ausgebombt und musste in eine Gartenlaube ziehen. Sie nähte dort nachts mit der Hand Lampenschirme beim Schein von Kerzen, um sich und die kleine Friedl zu ernähren. Anfang der Siebziger wurde ihr Mann dann schwer krank und siechte lange unter schrecklichen Schmerzen dahin, man nannte es damals „Blutkrebs“, also Leukämie. Oma pflegte ihn zuhause bis zu seinem Tode und verwitwete schließlich mit nur zweiundsechzig Jahren. Dennoch beklagte sie sich nie. Sie muss hochintelligent gewesen sein, ob sie aber unter der Blödheit ihrer Tochter gelitten hatte, war mir nicht bekannt. Ich fand in einem Buch einmal ihr Kaufmanns-Zeugnis, dass vor Auszeichnungen und Einsen nur so wimmelte und auch die Abschrift eines Zeugnisses meiner Mutter auf einem Kneipenzettel: Alles voller Vieren und Fünfen, dazu zynische Bemerkungen über ihre stürmische, unkonzentrierte und unreif-alberne Art. Meine Mutter kam nach ihrem lügnerischen Opa und hatte immer erzählt, sie habe die Realschule sehr gut abgeschlossen. Hier aber nun zeigte sich, dass sie ja nicht mal die Hauptschule einigermaßen geschafft hatte. Sie druckste beschämt herum, dass sie uns halt nicht demotivieren hatte wollen … Verstehe. Das meine Mutter unzweifelhaft ADHS hatte, war sogar schon auf den alten Fotos ersichtlich: Es gab nicht eines, auf dem sie keinen Gips trug! In jedem Jahr stand sie breit grinsend neben einem Weihnachtsmann, immer wieder anders geschient! Dennoch erkannte ich sie nicht wieder: heiter, unschuldig, offen und schalkhaft wirkte dieses Mädchen auf den Fotos, so hatte ich meine bittere und böse Mutter nie erlebt! Auch ihr Körper wies einige heftige Unfallnarben auf: Ein in der Jugend abgerissener und völlig deformierter Fingernagel. Außerdem ein riesiger, bläulicher Risskrater im äußeren Oberschenkel. Da sei sie beim Sturz aus einem Apfelbaum an einem abgesplitterten Ast aufgespießt worden. Möglicherweise hatte sie ihrem Vater auch ein Sohn sein wollen, weil er so sehr um die verlorene Tochter trauerte und sie diesen Platz niemals würde einnehmen können …? In jedem Fall war es die typische Hyperaktivität eines jugendlichen ADHS-lers. Mein Bruder hatte das so geerbt und sah schon alleine nach einer Runde Dreirad auf dem Parkplatz aus, wie Cassius Clay nach einem acht-Runden-Kampf … Keiner konnte je nachvollziehen, wie ein Vierjähriger es auf ebener Straße geschafft hatte sich innerhalb von zwölf Minuten eine fette Achtundachtzig ins Fahrzeug zu falten, und dazu noch zwei aufgeschlagene Knie und ein blaues Auge mitzubringen ... Rückblickend wunderte ich mich, dass er die Pubertät überhaupt erreicht hatte. Sein Schutzengel trug einen Pieper, Spikes und musste stets gut deodoriert sein! Er war eigentlich immer irgendwie grün und blau, total verschwollen, und zog leicht das eine oder andere Bein nach. Das Ganze wurde auch geliefert mit blutverkrusteten Abschürfungen, in denen noch etwas Rollsplitt steckte. Er hatte auch in späteren Jahren gerne mal ein verbogenes Vehikel unter dem Arm, an dem noch leise quietschend ein Rad langsam eierte … Meine Mutter nannte es schlicht „Wahnsinn“, meine Oma sprach von „Pech“. Mit zwei bis drei zugekniffenen Augen könnte man das natürlich auch als Pech bezeichnen! Pech beim Mit-dem-Gokart-schräg-den-Kantstein-Rauffahren … Pech beim Mit-dem-Bollerwagen-einen-steinigen-Abhang-runterrasen … Pech beim Herumrennen auf der Bullenwiese im roten Trainingsanzug … Pech allgemein immer mal wieder beim Vollbremsen in der Kurve, auf wechselnden Gefährten … Pech mit dem alten Staubsauger beim Downhill … Pech beim Turmspringen ins Planschbecken … Pech beim Weitsprung auf Stelzen … Wobei er gewonnen hätte, wenn Olli nicht in der Sandkiste stecken geblieben wäre und ihm im Umfallen dann die Nase gebrochen hätte! Sie einigten sich daher auf „unentschieden“ und verabredeten Satisfaktion … Pech halt.
So war das damals bei uns und wir alle, bis auf meinen Vater, der nur jähzornig war, arbeiteten unerkannt im Untergrund des Wahnsinns. Mein Bruder und ich hatten es also von unserer Mutter geerbt. Und diese hatte es ebenfalls von ihrer Mutter, meiner Oma, welche das noch im höheren Alter unter anderem durch eine nicht abreißende Kette von Haushaltsunfällen demonstrierte. In ihrer ständigen Hektik schmiss sie alles um, warf es runter oder zerschlug es gleich ganz. Jeder einzelne Teller ihres Haushaltes war angeschlagen, und alle Tassen, Gläser und Schüsseln hatten irgendwo einen Becker. Die Tischdecken waren komplett mit Flecken-Schatten voll, die sich auch nicht mehr auskochen ließen, wahrscheinlich Sauce. Sie schaffte es aber auch „zufällig nebenbei“ mal kurz eine ganze Tafel komplett abzuräumen. Und zwar, indem sie den Knopf ihrer Hose beim Sitzen irgendwie in die Spitzendecke einfädelte und dann plötzlich aufsprang und losrannte … Tja. Das hatte auch ich auf jeden Fall geerbt! Wann immer mir damals jemand ein Glas Milch in die Hand gab, dauerte es generell genau zwölf Sekunden, dann machte es vernehmlich „Blunk!“ Immer auf den guten Teppich runter damit! Auf dem Weg vom Wohnzimmer in die Küche begleitete einen somit ein undefinierbar säuerlich-vergorenes Aroma. Tja. Wie zumindest ich