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Das Ende aller Welten naht! Die große Schlacht ist vorüber, doch der Ausgang ungewiss. Es gibt keinen Sieger. Tausende Opfer sind zu beklagen, und noch weiß niemand, ob der Zusammensturz der Neun Welten auf Dauer aufgehalten werden kann. Talamh, der Sohn des Frühlingszwielichts, wird ins Reich des Presbyter Johannes entführt, um dort die Unsterblichkeit zurückkehren zu lassen. Der neue König dieses Reiches jedoch ist der Dämon Sinenomen, der Urvampir, und seine Pläne sind bedeutend weitreichender. David und Rian finden sich in Neuseeland/Puauta wieder, und ein Maori-Schamane will, dass sie etwas rückgängig machen: Sie sollen die Gebeine Mauis, des Urhelden der Maori, finden und zurückbringen, um den Menschen die Unsterblichkeit zurückzugeben ... Unterdessen tritt ein Totgeglaubter wieder in Erscheinung: Cagliostro! Er ist dem Schattenland entkommen. In Tokio streckt er die magischen Finger nach dem japanischen Elfenreich Bóya aus. Zwei umfangreiche Romane in einer Ausgabe – Spannung pur! Geh mit auf die große Reise um die Welt, lerne berühmte Städte kennen, springe von Kontinent zu Kontinent und erfahre die wahre Geschichte der vielen mythischen Helden, Götter und Schöpfer. Band 7 von 10 der größten Urban-Fantasy-Saga.
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Seitenzahl: 821
Titelseite
Die Autoren:
Impressum
Karte
Was bisher geschah
Dramatis personae
Roman 13 Im Reich des Priesterkönigs
Prolog
1. Unterwelten
2. Überlebende
3. Die Anderen
4. Wahrheit oder Pflicht
5. Wo Milch und Honig fließen
6. Die Maori
7. Artair
8. Rettungen
9. He toa taumata rau
10. Der Panther
11. Auferstehung
12. Nächtliche Gedanken
13. Feuer und Eis
14. Abgründe
15. Hilflose Helfer
16. Die Mauer
17. Reise zu den Ahnen
18. Tabu
19. Johannes
20. Die Göttin
21. sine nomen
22. Der Pfad
23. In tiefster Dunkelheit
24. Verluste
25. Rückkehr
26. Träume und Wahrheiten
Roman 14 Der Magier von Tokio
Prolog Freiheit
1. Reich der Flammen
2. Die Wahl des Kami
3. Tokio
4. Auf der Suche
5. Yuko Omote
6. Theater der Weißen Masken
7. Hinter den Kulissen
8. Ein Anruf in München
9. Die Tochter der Kaiserin
10. Lampenfieber
11. Herr der Albträume
12. Der Mut der Verzweiflung
13. Der Geist der Maske
14. Abschied
15. Die Entscheidung
Anhang – Die Länder der Anderswelt, Teil 1
Wie es weitergeht …
Die große Schlacht ist vorüber, doch der Ausgang ungewiss. Es gibt keinen Sieger. Tausende Opfer sind zu beklagen, und noch weiß niemand, ob der Zusammensturz der neun Welten auf Dauer aufgehalten werden kann.
Talamh, der Sohn des Frühlingszwielichts, wird ins Reich des Presbyter Johannes entführt, um dort die Unsterblichkeit zurückkehren zu lassen. Um ihn zu befreien, muss sich Dämonin und Muse Lan-an-Schie ihrer Vergangenheit stellen.
David und Rian finden sich in Neuseeland/Puauta wieder. Ein Maori-Schamane bittet sie, etwas rückgängig zu machen: Sie sollen die Gebeine Mauis, des Urhelden der Maori, finden, um den Menschen die Unsterblichkeit zurückzugeben …
Unterdessen tritt ein Totgeglaubter wieder in Erscheinung: Cagliostro! Er ist dem Schattenland entkommen und zum mächtigen Zauberer herangewachsen. In Tokio streckt er die magischen Finger nach dem japanischen Elfenreich Bóya aus – und will sich an Nadja Oreso rächen …
Claudia Kern hatte ihre Erstveröffentlichung 1999 und arbeitet als freiberufliche Autorin und Übersetzerin für (SF-)Bücher, Fernsehserien und Computerspiele.
Susanne Picard arbeitet als Lektorin, Redakteurin, Übersetzerin und Autorin hauptsächlich im phantastischen Bereich.
Stefanie Rafflenbeul ist seit vielen Jahren hauptsächlich für Perry Rhodan
Ragnarök ist – vorerst – abgewendet. Die Schlacht auf dem Idafeld hat viele Opfer gefordert, unter anderem haben die Innamorati, Julia und Fabio Oreso, Nadjas Eltern, ihr Leben gegeben, um Fenrir aufzuhalten. Bei der Explosion des Vatnajökull ist der Getreue, der sich innerhalb des Vulkans befand, verschwunden. Man hofft, dass er nicht überlebt hat.
Nadja hat während dieser Wirren Talamh geboren, den Sohn des Frühlingszwielichts. David durfte seinen Sohn wenigstens für ein paar Sekunden sehen, bevor es ihn in die Schlacht zwingt. Nadja flieht bei Beginn der Schlacht von Island, um ihren Sohn in Sicherheit zu bringen. Sie ahnt, dass die Katastrophe abgewendet werden konnte, da die neun Welten nicht einander gestürzt sind, aber weiß noch nicht, welches Opfer ihre Eltern dafür gebracht haben.
Bandorchu hat Fanmór offen den Krieg erklärt, unmittelbar nach der Katastrophe und noch bevor die vielen Toten auf dem Idafeld abtransportiert wurden. Die Dunkle Königin ist unversöhnlich und blind vor Hass. Der Kampf um Earrach wird nun unvermeidlich, und beide Herrscher ziehen ihre Heere zusammen.
Der Getreue hat vor seinem Verschwinden David und Rian in Sicherheit gebracht – aber nicht zum Baum der Crain.
Nadja Oreso steht weiterhin im Brennpunkt der Geschehnisse. Sie ist nun legendär, da sie dem Sohn des Frühlingszwielichts das Leben geschenkt hat. Das bedeutet aber nicht, dass sie deswegen hofiert wird.
Talamh, der Sohn des Frühlingszwielichts, ist noch ein winziges Baby und hält trotzdem schon alle in Atem.
Rhiannon/Rian Bonet steht unter einem unbekannten magischen Bann, der ihre Jungfräulichkeit garantiert. Sie ist weiterhin auf der Suche nach dem Quell der Unsterblichkeit – und sich selbst.
Dafydd/David Bonet weiß noch nicht, ob er seine Seele, die Nadja ihm geschenkt hat, weiterwachsen lassen soll oder sich angesichts des nahenden Krieges in der Anderswelt auf seine elfischen Wurzeln besinnen soll.
Pirx, der Pixie, ist zum Aufpasser für Talamh ernannt.
Der Grogoch, genannt Grog, kümmert sich um das fallende Laub des Baums der Crain.
Der Getreue ist seit Ragnarök verschwunden. Hoffnung macht sich breit, dass er endgültig vernichtet ist.
Der Kau und Cor, der Spriggans – die beiden sind im Dienst Bandorchus unterwegs, um böse Taten zu vollbringen.
Bandorchu, die Dunkle Königin, siecht ohne den Getreuen dahin, doch sie könnte gerettet werden.
Robert Waller wurde durch Annes Biss zu ihrem Gefährten – er ist nun ein Vampir mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Er ist einzigartig, genau wie Anne.
Anne Lanschie/Lan-an-Schie hat sich zum ersten Mal in ihrem langen Leben einen Gefährten erschaffen. Nun ist sie auf ihrer eigenen Reise zu ihrem Ursprung.
Tom Bernhardt, die gute Seele und Anker der Gemeinschaft, hilft, wo er kann, und entscheidet sich, nun aktiv in die Geschehnisse einzugreifen.
Maui ist der wahre Held Neuseelands – ein Halbgott und Schelm, dem meisterliche Taten gelingen, und für einen guten Schabernack ist er auch immer zu haben.
Priesterkönig Johannes
Da waren Hände, die Nadja festhielten, ein Arm um ihre Schulter, ein sanfter Druck in ihrem Rücken, der sie zwang voranzugehen. Sie spürte Talamh in ihren Armen, die Wärme seines kleinen Körpers, die durch Decke und Jacke drang. Wie alt war ihr Sohn? Ein paar Stunden, ein paar Tage oder Wochen? Sie wusste es nicht. Odins Haus, in dem sie ihn geboren hatte, war verschwunden. Geblieben waren nur Dunkelheit und Kälte.
Schwindel überkam sie. Steine knirschten unter den Sohlen ihrer Schuhe. Nadja stolperte durch die Dunkelheit, dem Licht entgegen, das vor ihren Augen tanzte.
Bin ich tot? Sind alle tot? Ihr eigener Gedanke klang ungewohnt, wie die Stimme eines Fremden. Er drang langsam zu ihr durch, so als müsste er sich den Weg erkämpfen. Es gab einen Grund für diese Frage, aber Verwirrung und Erschöpfung entzogen ihn ihr.
Nadja schüttelte den Kopf. Sie wollte stehenbleiben, hoffte, die Ruhe ihres Körpers würde sich auf das Chaos in ihrem Geist übertragen, aber die Hände ließen nicht los, schoben und zogen sie dem Licht entgegen.
»Komm«, sagte eine weit entfernte, dumpfe Stimme. »Wir müssen weiter.«
Nadja wusste nicht, ob sie die Worte wirklich gehört hatte oder ob es ihre Gedanken waren, die sie vorantrieben. Doch sie gehorchte. Sie vertraute der Stimme.
Das Licht vor ihr wurde mit jedem stolpernden Schritt größer, war zuerst nicht mehr als ein Fingernagel, wuchs zu einer Faust heran, dann zu einem Kopf, schließlich zu einem rechteckigen, menschengroßen Umriss. Die Dunkelheit nahm Formen an. Nadja sah Mauern rechts und links vor sich, rote Ziegelsteine und aufgeplatzte, graue Kacheln. Sie war so müde, dass die Farben vor ihren Augen verschwammen.
Nur einen Moment, dachte sie. Wenn ich doch nur einen Moment ausruhen könnte.
Ihre Knie waren weich, zitterten bei jedem Schritt. Talamh lag so schwer in ihren Armen, dass sie Angst hatte, ihn fallen zu lassen. Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten, aber die Hände zogen sie weiter, trugen sie förmlich über Steine, Schutt und Geröll.
Und dann wurde es hell. Von einem Moment zum anderen drang gelbes Licht durch ihre Lider. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die Augen geschlossen hatte. Blinzelnd öffnete Nadja sie wieder. Helligkeit stach in ihren Kopf. Schemen bewegten sich darin, Stimmen sprachen miteinander, vielleicht auch mit ihr, sie war sich nicht sicher.
Die Hände drückten sie nieder. Nadja spürte etwas Weiches unter sich. Jemand bat sie, sich hinzulegen. Sie war zu müde, um zu widersprechen. Ihr Kopf berührte ein Kissen. Es war kühl und roch modrig, wie ein alter Lappen. Einen Moment lang ekelte sich Nadja, dann holten Müdigkeit und Gleichgültigkeit sie wieder ein. Sie spürte Talamh in ihren Armen und schmiegte sich an ihn. Er schmatzte leise.
Alles wird gut, sagte eine Stimme in ihrem Kopf.
Nadja ließ sich in die Dunkelheit fallen. Das Letzte, was sie sah, bevor ihre Augen sich schlossen, war ein Schild an der gegenüberliegenden Wand. Es bestand aus angerostetem hellen Metall. Ein schwarzer Pfeil war darauf zu sehen, darunter drei ebenfalls schwarze Worte:
Zum Frauen-Abort
»Sie wacht auf.«
»Nadja?«
»Lass sie doch erst mal in Ruhe, Anne.«
Eine Hand berührte Nadjas Arm. Sie war kühl und roch nach Sandelholz.
Nadja öffnete die Augen. Sie lag auf einem Feldbett. Durch Löcher in einem schmutzig-beigen Betttuch konnte sie eine fleckige Matratze erkennen. Metallfedern drückten gegen ihre Rippen. Das Gesicht eines gezeichneten, grünen Froschs lachte sie vom Kissen unter ihre Wange an. Muppet-Show stand über seinem Kopf.
Beinahe instinktiv tastete Nadja nach Talamh, der eingewickelt in eine Decke neben ihr lag. Seine tiefblauen Elfenaugen waren geöffnet und blinzelten sie an.
»Wo …«, begann Nadja, doch dann setzte sie sich ruckartig auf. Erinnerungen brachen wie eine Flutwelle durch den Damm, den Erschöpfung und Angst um ihren Geist errichtet hatten. Odins Haus, der Getreue, ihre Eltern, David. Gesichter und Ereignisse flossen an ihr vorbei, drohten sie einen Moment lang zu überwältigen.
»Der Wolf … Ragnarök!«, stieß sie hervor.
»Anscheinend nicht«, antwortete eine Stimme hinter ihr. »Obwohl es zum Humor des Universums gepasst hätte, die Welt zu vernichten, bevor mein Roman erscheint.«
Nadja drehte sich um. Robert lehnte an einer Wand des kleinen, fensterlosen Raums und drehte eine Stoffpuppe zwischen den Fingern. Das Licht einer Glühbirne, die von der Decke hing, warf lange Schatten über sein Gesicht.
»Robert!« Nadja sprang auf und umarmte ihn. Er schloss sie in die Arme, so fest, dass es beinahe schmerzte.
»Wir leben«, sagte er leise, »du, Anne, Talamh, ich … nun ja, mehr oder weniger. Wenn das Cairdeas sich nicht irrt, auch Rian.«
Erschrocken löste Nadja die Umarmung und tastete nach ihrem eigenen Cairdeas. Es war warm und weich. Sie spürte das Leben in ihm, und das bedeutete, dass David noch lebte.
»Und David«, sagte sie. Einen Moment lang wurde ihr schwindlig vor Erleichterung, doch dann kehrte die Sorge um die anderen, um ihre Eltern, Pirx und Grog, mit einem Stich des schlechten Gewissens zurück.
»Wir wissen nicht, was mit den anderen ist«, sagte Robert, als könne er ihre Gedanken lesen. »Die Welt ist nicht untergegangen, also scheint irgendjemand Fenrir aufgehalten zu haben, aber alles andere …« Er hob die Schultern. »Anne hat auch keine Informationen über Bandorchu und den Getreuen. Wir sitzen in einem schwarzen Loch der Unwissenheit.«
Nadja drehte den Kopf, als sie eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Anne trat aus den Schatten am Kopfende des Feldbetts. Sie bewegte sich elegant, aufreizend, so als sei jeder Schritt Teil einer Darbietung auf einer Bühne, die nur sie sehen konnte. Robert war ihr verfallen, und langsam begann Nadja zu verstehen, weshalb.
»Anne«, sagte sie zur Begrüßung.
»Nadja.« Anne imitierte ihren Tonfall, klang abschätzend, distanziert, ein wenig misstrauisch. Ihre Mundwinkel zuckten, als fände sie etwas daran amüsant.
Talamh gluckste. Nadja setzte sich auf die Kante des Feldbetts und nahm ihn vorsichtig hoch. Das Gefühl, ihren eigenen Sohn in den Armen zu halten, war ebenso vertraut wie fremd. Während sie ihre Bluse aufknöpfte und begann, ihn zu stillen, sah sie sich in dem Raum um. Es gab keine Regale, nur einen alten, von Zeitschriften und uralten Musikkassetten bedeckten Klapptisch, vor dem ein noch älter wirkender Holzstuhl stand. Ein Kassettenrecorder stand auf einem Hocker neben der halb geöffneten Tür. Durch das Milchglas im oberen Drittel des Metalls sah Nadja schemenhafte Bewegungen. Irgendwo vor der Tür lief Musik.
An den grau gestrichenen Wänden des Zimmers hingen Bilder aus Disney-Filmen und der Muppet-Show. Die meisten stammten aus Zeitschriften und waren sorgfältig ausgeschnitten und mit Klebeband befestigt worden. Nadja erkannte Kermit, den Frosch, Miss Piggy, Susi und Strolch, Baghira, den Panther und Balu, den Bären. In der Mitte der vorderen Wand, direkt über dem Schild, auf dem Zum Frauen-Abort stand, hing ein gerahmtes Dschungelbuch-Poster. Jemand hatte Mowgli ausgeschnitten, sodass Balu mit einem grauen Fleck mitten im Dschungel zu tanzen schien.
Sie warf einen Blick auf die restlichen Bilder. Auf keinem war ein Mensch zu sehen.
Talamh rülpste leise. Nadja klopfte ihm auf den Rücken und schloss ihre Bluse wieder. Sie bemerkte, dass Robert sich abgewandt hatte, während Anne sie aus dunklen Augen beobachtete.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Nadja.
Robert sah auf die Uhr. »Es ist zwei Uhr morgens, also nicht lange, vielleicht eine halbe Stunde.«
»Und wo sind wir?«
»Im Schutzbereich Sieben.«
Die fremde Stimme ließ Nadja zusammenzucken. Sie fuhr herum und sah ein schwarz gekleidetes Mädchen im Türrahmen stehen. Sie hielt ein Tablett mit mehreren Tassen in den Händen. Robert und Anne wirkten nicht überrascht. Sie schienen ihr bereits begegnet zu sein.
»Wollt ihr einen Kaffee?«, fragte das Mädchen. Nadja schätzte es auf achtzehn, höchstens neunzehn.
Das lange, tiefschwarz gefärbte Haar hing ihr tief ins Gesicht. Auf ihrem T-Shirt stand Wir sind die Asche von morgen.
Optimistisch, dachte Nadja.
»Wenn du nicht verrätst, wo der herkommt, gern.« Robert nahm ihr das Tablett aus den Händen und stellte es neben den Kassettenrecorder auf den Hocker.
»Das ist Emma«, sagte er, während er Nadja eine der Tassen reichte. Anne bot er keine an. »Sie fand uns, als wir durch die Tunnel irrten, und führte uns hierher.« Er nickte Emma zu. »Vielen Dank noch mal.«
»Kein Thema.« Das Mädchen hob die Schultern. »Ihr seid ja okay.«
Der Unterton, der in ihren Worten mitschwang, verriet, dass sie selbst nicht genau wusste, weshalb sie ihnen geholfen hatte. Nadja hätte es ihr erklären können. Es war Annes magische Beeinflussung, die dafür sorgte, dass Emma sich sicher fühlte und nicht zu viele Fragen stellte, weder über die Herkunft der Fremden, noch über den Säugling, der sie aus Augen anblickte, in denen es kein Weiß gab.
»Was ist Schutzbereich Sieben?«, fragte Nadja. Die Tasse in ihrer Hand war heiß. Die dunkle Flüssigkeit darin dampfte. Sie roch ein wenig nach Kaffee. Kalkreste bildeten einen weißen Ring am Rand der Tasse.
Das Mädchen lächelte. »Ein Ort unter der Stadt, wo es die hinzieht, die oben nicht mehr klarkommen.«
»Unter welcher Stadt?«
»Berlin«, sagte Robert. »Anne und ich sprachen gerade darüber.«
»Also nicht mehr auf Island.« Nadja stellte die Tasse neben sich auf den Betonboden. Das Portal hätte sie überallhin führen können, aber sie waren in einer Stadt angekommen, die keine sechshundert Kilometer von ihrem Zuhause entfernt war. »Wir haben Glück gehabt.«
Emma sah von ihr zu Robert und wieder zurück. »Ich weiß ja nicht, worauf ihr gerade seid, aber ihr solltet weniger davon nehmen. Ganz ehrlich.« Sie klang nicht unfreundlich. »Schon allein wegen …«
»Emma?«, unterbrach sie eine dunkle Männerstimme hinter der Tür. »Würdest du uns deine Freunde vorstellen?«
»Ja, Moment.« Das Mädchen verdrehte die Augen. »Das ist Krone. Er will euch kennenlernen.«
Anne ging auf die Tür zu und sah durch den Spalt. Ihre Schritte waren geschmeidig, jede Bewegung kontrolliert. Neben ihr wirkte Emma trotz ihrer schweren Lederjacke und den Springerstiefeln klein und verletzlich.
Wie Beute, dachte Nadja mit einem Schaudern.
»Ist das euer Anführer?«, fragte Anne.
»Ja … nein.« Emma seufzte. »Er war als Erster hier, hat das alles gefunden. Deshalb hält er sich für den Chef. Tobias hat ihm mal gesagt, das interessiere ihn nicht, Krone sei kein Chef. Darauf ist Krone mit dem Kopf gegen die Wand vom Klo gelaufen, bis er kotzen musste. Seitdem tun wir alle so, als sei er Chef. Tut keinem weh.« Sie grinste. »Vor allem nicht Krone.«
»Emma?« Krones Stimme klang ungeduldig.
»Kommt.« Emma zog die Tür auf. Der Raum dahinter lag im Halbdunkel. Ein kleines Lagerfeuer tauchte die gekachelten Wände in ein orangefarbenes Licht. Nadja sah Gestalten, die um das Feuer saßen und die Köpfe hoben, als Emma die Tür öffnete. Es waren mindestens dreißig, vielleicht mehr. Hunde liefen zwischen ihnen umher, Flaschen klirrten. Aus einem Handy schallte blecherner deutscher Rap.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, sagte Robert mit einem Blick nach draußen. »Kannst du die alle beeinflussen?«
Anne ging an ihm vorbei, dem Lagerfeuer entgegen. Mit einer Hand strich sie über seine Wange. »Wovor hast du Angst?«
Es war keine Frage, sondern eine Provokation. Robert antwortete darauf, indem er das Gesicht verzog. Nadja überlegte bei sich, was der Austausch zu bedeuten hatte.
»Kennst du den Weg nach draußen?«, fragte sie Robert, als sie ihm, Talamh in den Armen haltend, folgte.
Er schüttelte den Kopf, zögerte und drehte sich zu ihr um. »Ich muss dir was sagen«, begann er, doch im gleichen Moment wurde eine Kuhglocke geschlagen. Er unterbrach sich. Die Menschen rund um das Feuer unterhielten sich ungerührt weiter, aber einige beobachteten Nadja und die anderen Neuankömmlinge verstohlen.
Schlurfende Schritte auf Beton, dann trat ein Mann ins Licht des Feuers. Er war nicht mehr jung, das sah Nadja an den von breiten grauen Strähnen durchzogenen Dreadlocks, die er zu einem Zopf hinter dem Kopf zusammengebunden hatte, und an dem ebenso grau durchzogenen Vollbart. Er trug einen schweren Norweger-Pullover und darüber einen alten, ehemals weißen Bademantel. Seine Hose bestand aus Cord und steckte in grünen Anglerstiefeln. In einer Hand hielt er eine Stange, von deren Spitze eine Kuhglocke hing.
»Ich bin Krone«, sagte er.
»Das sind Nadja, Anne und Robert.« Emma zeigte nacheinander auf die drei. »Das Kind heißt keine Ahnung, Tim, Tom …«
»Talamh«, sagte Nadja. Krone sah sie an. Seine Stirn war vernarbt, in seinen Augen wechselten sich Trauer und Verwirrung ab.
»Was heißt das?«, fragte er.
»Erde.«
Er nickte. Die Kuhglocke schien auf jede seiner Bewegungen mit einem Läuten zu antworten.
»Dann ist er am rechten Ort. Und ihr auch.« Krone drehte sich um und schlurfte aus dem Licht des Feuers. Rauch, der durch Tunnel in den Wänden abzog, vermischte sich mit dem Grau seines Bademantels, bis Mann und Rauch ineinanderzufließen schienen.
»Das war’s«, sagte Emma. »Prüfung bestanden. Kommt ans Feuer.«
Erst als Nadja die Wärme der Flammen spürte, bemerkte sie, wie kalt es an diesem Ort war. Alle Menschen, die sie sah, trugen Pullover oder Jacken, einige hatten sich in Decken eingehüllt.
Sie sah sich um. Schilder hingen zwischen aufgeplatzten Kacheln. Die Zahlen- und Buchstabenkombinationen darauf sagten Nadja nichts. Tunnel und Türen führten in weitere Bereiche. Schlafsaal Eins stand auf einer Tür, Bereitschaft auf einer anderen.
»Das ist ein Bunker, oder?«, fragte Nadja, als zwei Jugendliche Platz machten, um die Neuankömmlinge ans Feuer zu lassen. Der Boden war mit alten aufgerissenen Kartons bedeckt. Nadja setzte sich auf einen, Robert auf einen anderen. Anne zögerte sichtlich, bevor sie sich zwischen Emma und Nadja niederließ, auf den letzten freien Platz.
»Ja, eines der letzten großen Berliner Geheimnisse, sagt Krone. Und der Ort, an den die kommen, denen oben alles zu viel wird.« Emma nahm eine Flasche Bier an, die ihr jemand reichte und trank einen Schluck. »Über uns ist Ostberlin. Krone hat den Bunker entdeckt, als er kurz vor der Wende versuchte, in den Westen abzuhauen. Die Räume hier stammen aus dem Zweiten Weltkrieg, aber es gibt Verbindungen zu anderen Gangsystemen, die viel älter sind, zu U-Bahnstationen und Gleisen, die nie ans Netz angeschlossen wurden und zu noch seltsamerem Zeug. Krone denkt, tief unten gäbe es eine ganze Stadt, irgendwas Irres aus der Steinzeit oder so, aber danach gesucht hat er nie.«
»Warum nicht?« Nadja sah am Feuer vorbei in einen der dunklen Gänge hinein. Die Schwärze waberte, schien sie zu locken.
»Wegen der Anderen«, sagte der Jugendliche, der neben Emma saß. Er war vielleicht vierzehn Jahre alt, pummlig und kahlgeschoren.
»Hör auf mit dem Schwachsinn, Mike«, widersprach sein Nachbar, der ihm ähnlich wie ein Bruder sah. »Es gibt keine Anderen.«
»Klar gibt’s die. Frag mal Krone.«
»Glaubst du jeden Scheiß, den der erzählt?«
Mike schüttelte den Kopf und seufzte. Er schien die gleiche Diskussion schon einige Male geführt zu haben.
»Was sind das für andere?«, fragte Anne. Sie sprach nicht laut, aber alle wandten sich ihr zu, als sie ihre Stimme hörten.
»Hirngespinste«, antwortete Emma, bevor Mike etwas sagen konnte. »Krones Entschuldigung dafür, dass er nie den Mut hatte, seine Stadt zu suchen.«
»Das stimmt nicht.« Mike beugte sich vor. »Ich hab sie auch gesehen, und ich war nicht bekifft.«
»Ausnahmsweise«, sagte jemand auf der anderen Seite des Feuers. Alle lachten, sogar Mike.
»Sie leben tief in den Tunneln«, fuhr er fort, »und kommen nie nach oben. Nie. Ich bin ihnen begegnet, als ich mich mal verlaufen habe. Ich war tief unten, da war überall Schutt. Ich konnte die U-Acht über mir hören und dachte, wenn ich der Linie folge, komme ich schon irgendwann wieder nach oben. Und auf einmal standen sie da. Hab mich voll erschrocken und fast die Taschenlampe fallen lassen. Sie haben nichts gesagt. Die sahen krass aus, so wie die Typen in dem Horrorfilm, wo der Würfel am Anfang den einen Typen durchhaut.«
»Cube«, sagte eine junge Frau.
»Hellraiser«, widersprach Robert.
Mike nickte. »Ja, genau, Hellraiser. War ein heftiger Film.«
»Was geschah dann?« Nadja spürte, wie die Journalistin in ihr erwachte.
»Nichts. Ich hab mich umgedreht und bin abgehauen. Irgendwann ging’s wieder nach oben und ich kam am Gesundbrunnen raus. Aber die Typen waren da, ehrlich, Krücke. Ich hab mir die nicht eingebildet.«
»Ja, klar.« Der Junge neben ihm, den er als Krücke angesprochen hatte, hob die Schultern. »Bau mal einen. Vielleicht sehe ich sie dann ja auch.«
Gelächter antwortete ihm. Mike presste die Lippen aufeinander, dann griff er in die Innentasche seiner Lederjacke und zog ein Päckchen mit Tabak und eine kleine Tüte heraus. Mit gesenktem Kopf machte er sich an die Arbeit.
Nadja hätte ihn gern noch mehr gefragt, aber sie ahnte, dass er nichts weiter sagen würde, nicht, während die anderen dabei waren. Sie bedauerte das, denn eine weitere Gelegenheit würde sie wohl nicht bekommen.
»Wie seid ihr eigentlich aus Island in die Tunnel gekommen?«, fragte Emma.
»Island?«, fragte eine Frauenstimme jenseits des Feuers. »Da ist doch ein Vulkan ausgebrochen.«
»Was weißt du darüber?« Annes Worte klangen nicht wie eine Frage, eher wie ein Befehl.
Die Frau schien das nicht zu stören. Der Rauch verbarg ihr Gesicht. »Ich war eben oben«, sagte sie. »Da lief das in den Nachrichten. Ein Vulkanausbruch auf Island, bei dem aber nicht viel passiert ist und irgendwas mit einem Nebel, der aufgeklart ist.«
»Teil der Klimakatastrophe«, sagte eine andere Stimme. »Irgendwann werden alle hier unten leben, weil es oben zu abgefuckt ist.«
Zustimmendes Gemurmel antwortete ihm.
Nadja achtete nicht darauf. Das waren gute Nachrichten. »Sie haben es geschafft«, sagte sie leise.
»Jemand hat etwas geschafft.« Anne klang nachdenklich. Nadja fragte sich, ob sie mehr wusste, als sie preisgab.
»Wir sollten gehen«, sagte sie zu Robert.
»Darüber sprachen Anne und ich schon. Wir sind nur …« Er zögerte. »… nicht ganz einer Meinung.«
»Dann reden wir jetzt alle darüber.« Nadja sah Emma an. »Könnten wir noch mal dein Zimmer haben?«
Das Mädchen hob die Schultern. »Ist nicht mein Zimmer, sondern das von Toby. Aber der kommt nicht wieder.«
»Und ob der wiederkommt«, sagte Krücke. »Seine Crew erzählt oben überall rum, dass er uns fertigmachen wird.«
Nadja stand auf. Talamh schlief weiter in ihren Armen. Noch war er so leicht, dass sie ihn problemlos tragen konnte.
Robert und Anne standen ebenfalls auf. Die Menschen rund um das Feuer hatten die Frage nach der Herkunft der Fremden bereits vergessen. Sie diskutierten lautstark über Toby, der, den Wortfetzen zufolge, die Nadja hörte, eine Weile bei ihnen gelebt hatte, aber rausgeflogen war, als er begann, Drogen im Bunker zu verkaufen.
Anne betrat das Zimmer als Erste und blieb an der Tür stehen.
Als wolle sie den Ausgang bewachen, dachte Nadja, als sie hinter ihr eintrat und sich auf das Feldbett setzte. Robert folgte ihr. Er stellte das Tablett mit den Tassen und den Kassettenrecorder beiseite, dann zog er den Hocker heran.
»Anne und ich«, sagte er, »haben kurz darüber gesprochen, was wir als Nächstes tun sollten. Ich will zurück nach München. Das klingt jetzt vielleicht egoistisch.« Er fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Nein, es klingt sogar ganz bestimmt egoistisch, aber mein Roman erscheint bald, und die Vorabrezensionen sind so gut, dass der Verlag eine Reihe von Presseterminen angesetzt hat, die ich wahrnehmen sollte. Mein Pseudonym wird dabei gewahrt, was das Interesse auf die Spitze treibt.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ihr wisst schon: mein geheimnisvoller Schattenriss in allen Feuilletons, der Roman besprochen auf 3SAT, ganze fünf Leser, aber der neue Stern am Literaturhimmel.«
Nadja lächelte. »Ich freue mich wirklich für dich. Du hast hart dafür gearbeitet.«
»Anne hat hart dafür gearbeitet. Als meine Muse führt man bestimmt kein einfaches …« Er schien Leben sagen zu wollen, unterbrach sich jedoch. »Dasein«, sagte er dann.
Anne sah ihn an. Nadja fiel es schwer, die Gefühle in ihrem Blick zu lesen. Sie hatte sie und Robert noch nie zusammen erlebt, kannte Anne nur aus seinen Erzählungen. Sie hatte geglaubt, sie führten eine einseitige Beziehung, in der Robert liebte und Anne ihm nach und nach alles nahm – eines Tages wohl auch sein Leben –, aber das schien nicht ganz zu stimmen, das sah Nadja bereits nach dieser kurzen Zeit. Etwas verband die beiden, auch wenn sie noch nicht verstand, was es war.
»Ich will ebenfalls nach Hause«, sagte sie. Das Cairdeas an ihrem Handgelenk gab ihr Hoffnung. »David ist bestimmt schon auf dem Weg, und Talamh wird dort in Sicherheit sein.«
»Wieso glaubst du das?«, fragte Anne. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper. »Viele Mächte wollen das Kind, jeder verspricht sich etwas von ihm. Du und David werdet es allein nicht beschützen können.«
»Anne denkt«, sagte Robert, »dass es eine andere Lösung geben könnte. Hör ihr wenigstens zu, auch wenn es etwas gewagt klingt.«
»Tara.« Anne ließ das Wort unvermittelt fallen. Nadja blinzelte überrascht. Einen Moment lang glaubte sie, sich verhört zu haben, doch dann sah sie Roberts gequält wirkenden Gesichtsausdruck.
»Tara?«, wiederholte sie.
»Bandorchu hat dort ihre neue Residenz aufgeschlagen«, erklärte Robert schnell.
»Du willst meinen Sohn an einen Ort bringen, den Bandorchu beherrscht?« Mit jedem Wort empörte sie sich mehr darüber. »Hast du den Verstand verloren?«
Die Beleidigung schien an Anne abzuprallen. »Bandorchu versucht, die Welten zu retten«, sagte sie. »Niemand außer ihr vermag das. Dein Kind spielt vielleicht eine wichtige Rolle dabei. Bandorchu …«
»… wird Talamh nicht anfassen!« Nadja stand auf. Ihre Stimme klang gepresst. Der Gedanke, ihr Sohn könne der Dunklen Frau in die Hände fallen, entsetzte sie. »Niemals, verstehst du? Niemals!«
Robert hob die Hände. »Beruhige dich. Anne meint es nicht so, wie es klingt. Lass uns in Ruhe darüber reden.«
Anne trat neben ihn. Nadja fühlte sich bedroht von der Front, die beide bildeten. Ihr Blick glitt zur offenstehenden Tür und dem flackernden Feuerschein dahinter.
»Nein«, sagte sie, während sie die Arme fester um Talamh schloss. »Wir werden nicht darüber reden. Ich kenne Anne nicht. Ich weiß nicht, was sie plant, aber ich dachte, ich kenne dich, Robert. Stimmt das? Kenne ich dich noch?«
Bei der letzten Frage zuckte er zusammen. Emotionen glitten in schnellem Wechsel über sein Gesicht. Nadja sah Scham und Schuldgefühle. Er sah aus wie ein Dieb in der Nacht, der plötzlich in gleißendes Licht getaucht wurde und wusste, dass er nicht mehr fliehen konnte.
»Also nicht«, sagte sie. Die Worte schmeckten bitter.
»Nein, du missverstehst das. Es geht um etwas, dass ich dir schon eben sagen wollte.« Robert stand auf. Es sah aus, als wolle er zur Tür gehen, aber Nadja ließ ihn nicht so weit kommen. Mit der Schulter stieß sie ihn zurück, dann drückte sie Talamh gegen ihre Brust und lief los. Aus dem Augenwinkel sah sie ihn gegen Anne prallen, dann hatte sie den Raum auch schon verlassen.
»Nadja! Warte!«, rief Robert ihr nach, aber sie blieb nicht stehen.
Emma drehte den Kopf, als Nadja sich dem Feuer näherte. »Was ist los?«, fragte sie.
»Wo geht es raus?«
Mike zeigte wortlos auf einen breiten Gang. Nadja griff nach einer Taschenlampe, die auf einem Hocker lag, und lief weiter. Emma stand auf, versuchte aber nicht, sie aufzuhalten.
»Was ist denn nur los?«, rief sie ihr nach.
Nadja tauchte in die Dunkelheit des Gangs ein. Der Lichtkegel der Taschenlampe glitt über Scherben und Müll. Nadja lief, bis Talamh in ihren Armen zu weinen begann. Dann blieb sie schwer atmend stehen, schaltete die Taschenlampe aus und lauschte in die Dunkelheit. Formen tanzten vor ihren Augen. Irgendwo tropfte Wasser. Schritte hörte sie keine.
Sie war allein.
Nadja wiegte Talamh in ihren Armen. Nach nur wenigen Minuten hörte er auf zu schreien. Die sanft schimmernde Aura, die ihn in der Dunkelheit stets umgab, reichte aus, um zu sehen, dass ihm die Augen zufielen. Nadja wartete, bis er eingeschlafen war, dann leuchtete sie in den Gang hinein. Er endete einige Meter entfernt in einer Wendeltreppe aus Metall. Daneben hing ein Schild mit einem schräg nach oben deutenden Pfeil und der Aufschrift Ausgang.
Erleichtert atmete Nadja auf. Sie hatte sich also nicht verlaufen. Den Lichtkegel zu Boden gerichtet, ging sie weiter. Die Betonplatten waren uneben und zum Teil zerbrochen. Darunter sah Nadja Steine. Anscheinend war der Tunnel älter als der Bunker, zu dem er führte. Es roch nach Rauch und Urin.
Im Geiste sah Nadja sich bereits in den Straßen Berlins stehen, umgeben von kühler Nachtluft, auf der Suche nach einem Telefon. Tom, ihr »Wohnungssitter«, würde ihr Geld zukommen lassen müssen, damit sie den nächsten Zug nach München nehmen konnte. Dort würde sich alles weitere schon ergeben.
»Du kennst ja noch nicht einmal dein Zuhause«, flüsterte sie dem schlafenden Talamh zu.
Der Gedanke an München brachte ungewollt auch den an Robert zurück. Etwas stimmte nicht mit ihm, das spürte Nadja deutlich. Sie wusste nicht, ob das allein an Anne lag oder ob es noch etwas anderes gab, etwas, das ihn verändert hatte. Es wirkte jedenfalls so.
Sie schob den Gedanken zur Seite, als sie die Wendeltreppe erreichte, und leuchtete nach oben. Der Lichtkegel traf durch die Gitter der Stufen hinweg auf eine gewölbte Decke. Jemand hatte einen gelben Smiley auf den Stein geklebt. Nadja lächelte unwillkürlich und setzte einen Fuß auf die unterste Stufe.
Es knirschte.
Nadja zog erschrocken den Fuß zurück, glaubte im ersten Moment, die Treppe würde aus der Wand gerissen, doch dann verwandelte sich das Knirschen in das Quietschen einer sich öffnenden Tür. Rasch nahm Nadja die Taschenlampe herunter und schaltete sie aus. Das Geräusch kam von oben.
»Sind wir hier richtig?«, fragte eine Männerstimme.
»Ja klar«, antwortete eine zweite. Ein Lichtkegel zuckte über die Decke und blieb an dem gelben Smiley hängen. »Der markiert den Eingang.«
»Und wie weit ist es dann noch?«, mischte sich eine dritte Stimme ein.
»Nicht weit. Und es lohnt sich, das werdet ihr schon sehen.«
Der Lichtkegel löste sich von der Decke und traf ein rundes, in der Helligkeit bleich wirkendes Jungengesicht.
»Das will ich für dich hoffen, Toby«, sagte der Träger der Taschenlampe. »Wir haben echt Besseres zu tun, als durch diesen Scheiß zu laufen und ein paar Punks zu klatschen.«
Toby. Nadja wich zurück. Das war der Name des Drogendealers, von dem Emma gesprochen hatte.
Schwere Stiefel knallten auf die Metallstufen. Stimmen sprachen durcheinander. Lichtkegel strichen über Decken und Wände. Nadja unterschied mindestens ein Dutzend Stimmen, alles männliche. Sie hörte Ketten rasseln und drehte sich um. Toby hatte wohl doch nicht so einfach aufgegeben.
Der Lärm der Eindringlinge weckte Talamh. Er begann sich zu regen. Nadja drückte ihn gegen ihre Brust und lief durch die Dunkelheit zurück. Ihr Fuß stieß gegen eine Dose, die scheppernd über den Boden rollte.
»Was war das?«, rief eine noch nicht gehörte Stimme hinter ihr. Die Geräusche verstummten. Lichter zuckten über den Boden. Nadja hielt den Atem an, als einer keinen Meter von ihr entfernt den Beton anstrahlte.
»Hier unten gibt’s Ratten und Fledermäuse«, sagte Toby. »Da hört man immer irgendwas.«
»Okay«, sagte die dritte Stimme. Sie schien dem Anführer zu gehören. »Felix, Mehmet, ihr bleibt am Eingang, falls sich einer verpissen will.«
»Geht klar, Vic.«
Nadja wartete, bis sie erneut Schritte hörte, dann ging auch sie weiter. Sie spürte ihren Herzschlag bis in die Schläfen, zwang sich jedoch, nicht zu rennen. Sie trug Talamh. Wenn sie über eine der zertrümmerten Betonplatten stolperte, konnte er sich verletzen.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Nadja den rötlichen Feuerschein am Ende des Gangs sah. Sie drehte den Kopf. Die Lichtkegel der Taschenlampen waren weit hinter ihr. Die lange Wendeltreppe hatte die Eindringlinge aufgehalten.
Nadja ging schneller. Nach einem Moment sah sie die Menschen, die rund um das Feuer saßen, dann Anne und Robert, die abseits standen und mit Emma sprachen. Robert breitete gerade die Arme aus, so als beteure er seine Unschuld.
»Da ist sie«, sagte Anne, als Nadja ins Licht des Feuers trat.
Robert wirkte erleichtert. »Du hast das alles missverstanden«, begann er, aber Nadja ließ ihn nicht ausreden, wandte sich stattdessen an Emma.
»Toby ist zurück mit mindestens einem Dutzend anderer«, sagte sie leise. »Ich glaube, sie sind bewaffnet.«
Emma blinzelte. Nadja hatte sie für die eigentliche Anführerin der Gruppe gehalten, doch als sie in das hilflos wirkende Mädchengesicht blickte, begann sie an ihrer Einschätzung zu zweifeln.
»Gibt es einen anderen Weg nach draußen?«, fragte sie mit einem Blick auf den dunklen Gang.
»Was ist los?«, wollte Robert wissen.
Nadja schüttelte nur den Kopf. »Emma«, drängte sie. »Wir müssen hier raus.«
»Ja, ich weiß.« Das Mädchen zögerte, schien dann jedoch eine Entscheidung zu treffen. »Leute?«
Die Menschen am Feuer sahen auf.
»Toby und seine Gang sind hier. Schnappt euch, was …«
Weiter kam sie nicht. Hektisch sprangen die ersten auf, zogen andere mit sich. Stimmen riefen durcheinander. Eine Frau griff nach einem brennenden Holzscheit und fuchtelte wie mit einem Schwert herum.
»Wer ist Toby?«, fragte Robert, doch im gleichen Moment tanzten Lichtkegel durch den Gang. Nadja fuhr herum, sah einen dunkel gekleideten Jugendlichen mit rundem, hassverzerrtem Gesicht und hoch erhobenem Baseballschläger in den Bunker stürmen. Mit einem Schlag zertrümmerte er einige Flaschen, die auf einem Tisch standen.
»Das ist Toby«, stellte Nadja ihn vor.
»Scheiße.« Robert zog sie zurück, als weitere Eindringlinge in den Raum stürmten. Die meisten hielten Knüppel oder lange Ketten in den Händen, einer hatte Stacheldraht um ein Brett gewickelt. Sie schlugen und traten um sich, schienen sich nicht dafür zu interessieren, wen oder was sie trafen.
Die Menschen am Feuer stoben auseinander wie Laub, in das der Wind fuhr. Planlos stolperten sie auf die Gänge zu, kaum einer ließ sich auf einen Kampf ein.
»Wir könnten sie besiegen«, sagte Anne. Nadja war sich nicht sicher, wen sie mit wir meinte, und sie fragte auch nicht nach. Stattdessen ergriff sie Emmas Arm. »Komm.«
»Wohin?« Nicht Emma stellte die Frage, sondern Mike. Er stand neben ihr, eine abgeschlagene Bierflasche in der Hand.
»Tiefer in die Gänge hinein«, antwortete Robert. »So wie du, als du dich verlaufen hast und an einem anderen Ausgang heraus kamst.«
»Ich hab keine Ahnung, wo der ist.« Mike schrie über den Lärm und die Schreie hinweg, ließ sich aber mitziehen. Feuerschein tanzte in seinen großen, schwarzen Pupillen.
»Passt auf die Hunde auf«, rief Toby nahe dem Feuer. »Macht mit den Losern hier, was ihr wollt, aber rührt die Hunde nicht an, okay?«
»Ja, schon gut«, rief Vic zurück. »Wie oft willst du das noch sagen?«
Nadja schob Emma mit einer Hand vor sich her, während sie mit der anderen Talamh festhielt. Ihr Sohn hatte die Augen geöffnet und betrachtete das Chaos. Er wirkte unbeteiligt, nicht ängstlich.
»Wo müssen wir hin?«, fragte Anne. Sie schloss zu Robert auf, aber ihr Blick war zurück gerichtet, auf den Kampf und die Flüchtenden.
Mike zeigte auf einen Gang, in den bereits einige Menschen liefen, unter ihnen auch der stark hinkende Krücke. »Dorthin.«
Rauch und Feuer gaben ihnen Deckung. Einige Pappkartons glimmten. Die Frau mit dem brennenden Holzscheit hatte sie in Brand gesetzt.
»Nichts werdet ihr kriegen!«, schrie sie, während sie mit dem Scheit um sich schlug. »Nichts!«
Toby und die anderen schienen die Gefahr zu erkennen, die von ihr ausging. Sie umzingelten die Frau, trieben sie von den Kartons, einer Wand entgegen. Immer wieder sprangen sie zurück, wenn das brennende Holzscheit in ihre Richtung gestoßen wurde, lachten jedoch dabei. Es war ein Spiel, und im Gegensatz zu der Frau hatten sie längst begriffen, wer es gewinnen würde.
»Pass auf, Marie«, rief Toby grinsend. »Ich krieg dich!«
Sie fuhr herum. Vic nutzte die Gelegenheit und schlug ihr mit dem Baseballschläger gegen die Schulter. Mit einem Aufschrei ließ Marie das Holzscheit fallen. Toby stieß es mit dem Fuß beiseite und holte mit seinem Knüppel aus.
»Schluss!«
Die Stimme hallte durch den Bunker. Das Läuten einer Kuhglocke begleitete sie. Nadja sah, wie Krone ins Licht des Feuers trat. Er reckte das Kinn vor und trug den Stab mit der Glocke wie ein Zepter.
»Toby«, sagte er. »Wieso störst du unseren Frieden?«
Die Eindringlinge drehten sich zu ihm um. Rauchschwaden umgaben sie, nahmen Nadja die Sicht auf das, was vor ihr geschah. In ihren Armen begann Talamh zu husten. Das Geräusch riss sie aus ihrer Erstarrung.
»Wir müssen ihnen helfen«, sagte sie.
Robert schüttelte den Kopf. »Es sind zu viele. Denk an deinen Sohn.«
Er ergriff Nadjas Arm und zog sie in den Gang hinein. Widerwillig folgte sie ihm, wohl wissend, dass er Recht hatte, aber trotzdem voller Schuldgefühle. Sie warf einen letzten Blick hinter sich. Durch die Rauchschwaden sah sie Toby, der den Baseballschläger senkte und langsam auf Krone zuging. Marie erkannte ihre Chance und lief geduckt auf Nadja und die anderen zu. Niemand versuchte sie aufzuhalten.
»Weshalb ich euren Frieden störe?« Toby spuckte das Wort aus wie einen Fluch. Er blieb vor Krone stehen. Rauch hüllte ihn ein.
»Wir müssen weg, so lange sie abgelenkt sind.« Anne klang ungeduldig.
Nadja drehte sich zögernd um.
»Weil ich es kann«, sagte Toby hinter ihr. Sie hörte ein nasses, klatschendes Geräusch, dann Gelächter.
Marie tauchte neben ihr auf. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt und verzerrt.
»Helft mir!«, stieß sie hervor.
Nadja verdrängte den Gedanken an Krone und ergriff Maries Hand. »Komm.«
Die Dunkelheit nahm sie auf.
Der Donner war ohrenbetäubend.
Rian glaubte, dass ihr Kopf platzen müsse. Der Lärm war so gewaltig, dass er nicht nur ihr Gehör beeinträchtigte, sondern überall in ihrem Körper Echos zu erzeugen schien. Sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war und ob sie das dem infernalischen Kampf auf dem Idafeld zuzuschreiben hatte, oder ob es nicht bereits an dem Weltentor lag, in das sie gerade recht unsanft hineingeschubst worden war.
Sie hörte ihren Bruder rufen, verstand aber kein Wort. Wieder bebte der Boden unter Rians Füßen, das Donnern der aufbrechenden Erde erschütterte ihr ganzes Sein bis ins tiefste Innere.
Ragnarök, schoss es ihr durch den Kopf. Die Welt geht unter.
Nichts wird mehr so sein, wie es war.
Doch bevor sie um die Welt trauern konnte, die gerade zerbrach, wurde Rian auf einmal am Arm gepackt und mitgezerrt, gleichzeitig erhielt sie erneut einen Stoß von hinten. Die Hitze eines Vulkanausbruchs fegte über sie hinweg.
Das Feuer, das alles verschlingt! Nadja! Das Kind! Die anderen! Sie wusste kaum, wie ihr geschah, sie fühlte nur, dass jemand sie festhielt und nicht loslassen wollte. Sie wurde mitgerissen, wirbelte herum und versuchte, das, was sie hielt, zu umklammern. Das vertraute Rauschen eines Portals umgab sie, in das sie immer tiefer hineingezogen wurde und das sie mit sich fortriss. Die Sekundenbruchteile, in denen sie durch diesen Tornado wirbelte, dehnten sich zu einer Ewigkeit, doch schließlich ließ der Schwindel nach und sie fiel.
… und fiel.
»Au!« Rhiannon, Prinzessin der Sidhe Crain, tat die gesamte rechte Seite weh, einschließlich der Schläfe. Außerdem war es kalt.
Sie war unsanft zu Boden gestürzt. Einem harten, mit kurzem Gras bewachsenen Boden, soweit sie ertasten konnte. Immerhin schien sie noch zu leben. War sie bewusstlos gewesen? Wahrscheinlich. Sie erinnerte sich an einen schier endlosen Fall, totale Dunkelheit und eine ebenso vollständige Orientierungslosigkeit, bevor alles wie ausgelöscht war.
Sie blieb ruhig liegen und versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war. Der Kampf! Das Heulen des Fenriswolfs. Schmerz, Schreie, Nadja, ihr Kind Talamh, Pirx, Grog, ihr Vater … und all die anderen. Wie war der Kampf wohl ausgegangen?
Warum war sie überhaupt durch das Tor … oh. Richtig. Der Getreue. Er hatte David und sie durch ein Portal gestoßen, um … sie in Sicherheit zu bringen? Warum? Bisher hatte er versucht, Rian und ihren Bruder entweder zu töten oder zu fangen. Woher kam auf einmal dieser Wandel?
Die Welt ist wohl nicht untergegangen, dachte Rian. Denn ich lebe noch. Aber wo bin ich?
Sie musste zu sich kommen, die Benommenheit abschütteln. Die Schmerzen machten ihr bewusst, dass sie nicht auf feinen Linnen gebettet lag und von Dienern versorgt wurde. Wo auch immer der Getreue sie hingeschickt hatte – die Heimat war es nicht.
Die Lider gehorchten ihr noch nicht, waren zu schwer. Sie stöhnte und versuchte, sich mit geschlossenen Augen zu orientieren. Der Boden war hart und eben, wie bereits festgestellt, drückte auf ihren Hüftknochen. Ihre Finger griffen in trockene Grasbüschel. Die Geräusche um sich herum konnte sie nicht richtig wahrnehmen, in ihren Ohren lag immer noch ein Nachhall, ein Rauschen und Summen dessen, was sie hinter sich gelassen hatte.
Sie sog die Luft tief durch die Nase ein. Es roch frisch und ein wenig salzig, als wäre ein Meer in der Nähe. Daher das Brausen in ihren Ohren! In regelmäßigen Rhythmen klatschten Wellen an den Strand, nicht allzu weit entfernt.
Ihre Lider zuckten, und blinzelnd konnte sie sie jetzt langsam öffnen. Sie richtete sich ein wenig auf und sah sich verschwommen um.
Wie erwartet, befand sie sich nicht in der Anderswelt – derart klare, sonnige Tage gab es nur im Reich der Menschen. Wenn sie aufstand, würde sie vermutlich den Boden unter den Füßen verlieren und einen knappen Zentimeter darüber schweben. Das war eine der seltsamen magischen Sachen, die nicht erklärt werden konnten.
Rian staunte. Ein nicht endenwollender, weißer Strand lag nicht weit entfernt von ihr, bis zum Horizont erstreckte sich ein blaues Meer, das in größeren und kleineren Wellen heranbrandete. Ein blauer, weiß durchsetzter Himmel, an dem hoch eine strahlende Sonne stand. In der Ferne waren Möwen zu hören, ihre sonst schrillen, klagenden Laute klangen noch ein wenig dumpf. Rians Gehör würde eine Weile brauchen, bis es sich endgültig erholt hatte.
Sie versuchte aufzustehen. Doch kaum war sie halb hochgekommen, gaben ihre Beine wieder unter ihr nach. Mist. Offenbar hatte sie sich den linken Knöchel verstaucht, und das rechte Knie hatte eine Prellung davongetragen.
Wütend saß Rian wieder auf dem grasig-sandigen Boden. Das kurze Gras sah aus, als sei es von Tieren abgeweidet worden. Kühe? Pferde? Lebten Menschen in der Nähe?
Rian unternahm einen neuen Versuch, sich hochzurappeln. Vorsichtig. Diesmal gelang es, sie stand, wenn auch etwas wacklig, auf beiden Beinen und stakste wie ein Storch im Salat ein paar Schritte auf eine kleinere Erhebung zu, die einen besseren Überblick über die Landschaft versprach. Sie musste wissen, wo sie war.
Es fiel ihr schwer, den sandigen Hügel hinaufzukommen, der linke Knöchel schmerzte und das rechte Knie ließ sich kaum anwinkeln. Der Arm war durch den Sturz ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden, er war aufgeschürft und brannte.
Rian seufzte befreit, als sie es geschafft hatte; als wäre es eine großartige Heldentat, dachte sie ironisch bei sich. In der Ferne sah sie weiße Watteflöckchen, und der Wind wehte leises Blöken herüber. Rian stand auf dem höchsten Punkt der weiten Schafweide. Dahinter erhoben sich unverkennbar Palmen.
Bis vor kurzem war sie auch in der Nähe eines Meeres gewesen, mit Schafweiden … und einem riesigen Gletscher. Island. Doch im Gegensatz zu dort war es hier warm, die Farben intensiv. Alles, was recht war – der Getreue hatte sie tatsächlich in Sicherheit gebracht, und außerdem an einen anheimelnden Ort. Aber warum nicht nach Hause, zum Baum der Crain? Hatte er etwa schon wieder etwas mit ihnen vor?
»Was für ein seltsamer Landstrich«, murmelte sie stirnrunzelnd. »Eine Schafweide mit Palmen. Wo gibt es so etwas wohl in der Menschenwelt?«
»Was weiß ich«, knurrte es auf einmal unterhalb von ihr, hinter einer Düne vor dem Strand. Rian stieß einen erschrockenen Laut aus, verlor den Halt und sank zu Boden. Ihr Herz raste. »David! Bist du das?«
»Wer denn sonst?«, ließ sich die Stimme erneut vernehmen, jetzt schon näher. Dann stolperte er um die Düne, stapfte mit erschöpftem Gesicht zu ihr hoch und ließ sich neben ihr hinplumpsen. »Schön, dass du dich wieder an mich erinnerst.«
Rian hob die Augenbrauen. »Ich konnte spüren, dass du lebst, und hätte mich als Nächstes nach dir auf die Suche gemacht – aber zuerst mal musste ich selbst zu mir kommen und mich orientieren«, erwiderte sie.
David warf ihr einen ungnädigen Blick zu. »Dafür, dass du erst letzthin noch rumgejammert hast, dass du mich an Nadja und meinen Sohn verlierst, bist du jetzt ziemlich gelassen.«
Rian schwieg. Eine Weile sagte keiner von beiden ein Wort.
»Ich habe wirklich Angst. Ich spüre, dass du mir entgleitest, David«, offenbarte sie schließlich. »Das gilt immer noch. Aber als ich aufgewacht bin, hatte ich nicht dieses Gefühl. Ich wusste, du bist in der Nähe und ich muss keine Sorge haben.« Sie machte eine Pause und suchte wieder nach Worten, die sie nicht fand. Es hilft nichts. Ich kann nicht andauernd darüber nachdenken, ob ich David irgendwann einmal verliere. Was auch immer mit ihm passiert, weil es Nadja in seinem Leben gibt, das Band zwischen uns wird nie zerreißen. Aber jetzt und hier ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken.
Sie spürte Davids fragenden Blick auf sich. Trotzdem – sie hatte keine Lust, ihm Rede und Antwort zu stehen. Sie hatten wichtigere Probleme. Wo sie sich befanden, was mit Nadja und den anderen war, was überhaupt auf Island geschehen war. Die Welt existierte noch, also musste irgendjemand Fenrir und Ragnarök aufgehalten haben. Sie sollten daher zusehen, dass sie so schnell wie möglich nach Hause kamen. Doch dazu mussten sie erst einmal ein Portal finden …
»Also, was meinst du, wo wir sind?«, fragte Rian scheinbar leichthin.
»Ich weiß es nicht«, antwortete David. »Ich habe so eine Landschaft noch nie gesehen. Es ist nicht im Entferntesten wie zu Hause, oder Island, auch wenn es Schafe gibt. Aber die Palmen da hinten …«
»Ich glaube, wir sind gar nicht mehr in Europa«, murmelte sie. »Schafe und Palmen … das muss weit weg sein, vielleicht in Indien …«
»Da gibt’s Dschungel.«
»Keine Palmen?«
Er zuckte die Achseln.
»Was dann? Amerika?«
»Nee. Darüber hat mir Robert so manches erzählt.«
»Du bist nicht sehr hilfreich!«, beschwerte Rian sich.
David grinste leicht. »Ich vermute, wir sind auf einem anderen Kontinent, aber nicht Amerika. Sondern wieder eine Insel. Irgendwo in der Südsee, oder Afrika …«
»Australien?«
Sie sahen sich an und prusteten los, steigerten sich in hysterisches Gelächter.
»Wir sind also gestrandet«, fing Rian schließlich wieder von vorn an. »Der Getreue hat uns gerettet und wie üblich keine Wegbeschreibung mitgegeben.«
David nickte, seine Miene verfinsterte sich. »Ich wollte, dass er Nadja und meinen Sohn rettet! Aber ich hätte wissen müssen, dass er sich nicht daran hält!«
»Du denkst, er hat Nadja und Talamh nicht …«
»Ich weiß nicht, was er getan hat. Wann weiß man das schon je bei ihm! Nichts passt mehr zusammen.«
Sie legte die Hand auf seinen Arm. »David, der Getreue hat seine Königin verraten, als er Nadja von Irland wegbrachte. Er will nicht, dass ihr etwas geschieht, aus welchem eigennützigen Grund auch immer. Doch er will Nadja und Talamh lebend. Also hat er sie bestimmt wieder rechtzeitig in Sicherheit gebracht.«
»Aber wohin diesmal?« Er schlug auf den Boden und riss Grasbüschel aus. »Seit Monaten bin ich von ihr getrennt, Rian! Ich habe meinen Sohn noch nicht einmal im Arm gehalten und ihn weniger als zwei Minuten gesehen! Ich ertrage das bald nicht mehr!« Er sprang auf, wandte sich von ihr ab und starrte aufs Meer hinaus.
Rian blieb einen Moment sitzen, versuchte zu verstehen, was ihn so sehr bewegte. Die Liebe war ihr fremd, nach wie vor, und dass David auf einmal so ungeduldig war … es musste an der Zeit liegen, am Bewusstsein, dass er sterblich war und eine Seele in ihm heranwuchs. Ihr Bruder glich sich immer mehr den Menschen an, hatte Zeitnöte, Sorge, dass er nicht mehr hinterherkam …
Aber was konnte sie für ihn tun?
Doch, da gab es etwas. Sie stand auf. »Pass auf, David. Der Elfenkanal ist durchlässiger geworden, seit Bandorchu den Stab beim Ätna gesetzt hat. Ich werde versuchen, etwas herauszufinden. Vielleicht erfahren wir so, ob Nadja und Talamh in Ordnung sind.«
David schwieg, aber er warf seiner Schwester einen dankbaren Blick zu. Rian wandte sich ab und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich und blendete die strahlende Sonne, das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen aus.
Ihre Sinne dehnten sich aus. Doch sie konnte keinen Kontakt herstellen. »Kannst du denn deinen Sohn nicht spüren?«, fragte sie leise.
»Natürlich«, antwortete er. »Er ist überall. Lausche in dich hinein, du kannst ihn auch wahrnehmen. Doch das ist sein Geist. Ich weiß nicht, ob sein Körper unversehrt ist, und ich kann Nadja nirgends finden. Du warst in diesen Dingen sowieso immer besser als ich.«
Daraufhin dehnte sie ihre Sinne erneut aus. Vielleicht konnte sie erfassen, wie die Schlacht ausgegangen war. Verluste – es hatte Verluste gegeben. »Schlimme Verluste«, murmelte sie kaum hörbar. »Ich weiß nicht, ob es unsere Seite oder die der anderen betrifft.«
»Alle Seiten«, erwiderte David. »Zuletzt mussten alle gegen Fenrir antreten, und wer weiß, wie viele Opfer er gefordert hat.«
Rian verzog das Gesicht und rieb ihr lädiertes Knie. »Das nächste Problem ist – in erreichbarer Nähe gibt es kein Portal.«
»Jede Wette, der Getreue hat es genau darauf angelegt, um uns so lange wie möglich hierzubehalten. So weit wie möglich weg von allem Geschehen.«
»Also dann, gehen wir einfach los und finden heraus, wo wir sind, und wie wir von hier wegkommen. Eins nach dem anderen.«
Ihre Knieverletzung machte das Gehen schwer, sie war kaum in der Lage, es abzuknicken und es schwoll zusehends an. Aber auch die tiefe Schnittwunde an Davids Arm, die sie ebenfalls spürte, begann jetzt stärker zu schmerzen. Sie hörte ihren Bruder hinter sich leise vor sich hinfluchen, aber sie achtete nicht darauf. Ihrer Erfahrung nach würde es besser sein, über etwas Unwichtiges zu plaudern, damit er abgelenkt wurde. Sie schwelgte in Erinnerungen über Paris und ihren Job als Model dort, wie umschwärmt sie gewesen war von allen bedeutenden Modeschöpfern dieser Welt, hatte immer die angesagtesten Klamotten tragen können, Nougat und Glitzerschmuck kaufen … »Sie lagen mir alle zu Füßen.«
Erwartungsgemäß ließ David einige gepfefferte Sätze über Pariser In-Modeschöpfer fallen, die sowieso alle dekadent seien und immer genau das Falsche für wirklich schön hielten und überhaupt nie in der Lage seien, sowohl funktionale als auch schöne und zeitlose Mode zu kreieren.
Als ob er etwas davon verstünde!, dachte Rian amüsiert. Vor allem das mit der Dekadenz gefiel ihr – darin waren schließlich die Elfen absolute Meister. Jedenfalls hatte der Trick mit der Ablenkung funktioniert, und sowohl David als auch sie selbst wurden zusehends munterer. Irgendwann konnte ihr Bruder sogar mitlachen. Das war gut, denn seit seine Seele wuchs, war er viel zu häufig mürrisch und verschlossen. Wenig elfentypisch.
Rian blieb stehen und warf einen intensiven Blick über die sonnenbeschienene Landschaft. Sie hätte angenommen, dass Menschen, die Schafe hielten, nicht allzu weit entfernt lebten. Doch die Weide zog sich scheinbar endlos über die grünen Hügel, die sich wiederum, nur unterbrochen von kleinen Wäldchen mit Palmen und anderen exotischen Gewächsen, bis zum Horizont zogen, der an einen nach wie vor blauweißen Himmel stieß.
Plötzlich blieb sie stehen, und David, der nicht aufgepasst hatte, lief auf sie auf.
»Was ist jetzt schon wieder?«
Rian verdrehte die Augen. »Streng deine Elfenaugen mal ein bisschen an. Zwischen den beiden Hügeln dort vorn steht nämlich etwas, das uns vielleicht weiterhelfen könnte.«
David kniff die Augen zusammen, dann glättete sich seine Stirn: Die Ecke eines Dachgiebels, der braunglänzend in einer Senke zwischen den mit graugrünem Gras bewachsenen Bodenwellen hervorlugte.
»Das ist ein Haus. Oder sowas in der Art jedenfalls. Nichts wie hin!«
Auf einmal war er wieder ganz er selbst, energiegeladen und nach vorn drängend. Mit langen Schritten steuerte er auf das Haus zu, und Rian sah zu, dass sie humpelnd hinterherkam.
Es gab kein Licht in den Gängen jenseits des Bunkers. Robert führte die Gruppe zusammen mit Anne an. Mit der Taschenlampe, die Nadja ihm gegeben hatte, leuchtete er den Boden und die Wände ab, warnte die Nachfolgenden vor Unebenheiten oder Unrat. Anne beachtete den Lichtstrahl kaum. Ihre magischen Sinne führten sie sicher durch das Labyrinth.
Nur vor Sackgassen bewahrten diese Sinne sie nicht, das stellte Robert frustriert fest, als die dritte Abzweigung in Folge in einer Wand aus Schutt und Mauerresten endete.
»Sackgasse«, sagte er. Leise Flüche und Seufzer antworteten ihm, dann drückten sich die Menschen an die Wände, um ihn, Anne und Nadja vorbei zu lassen. Sie waren zu den Anführern der Obdachlosen geworden, vielleicht, weil sie als einzige nicht die Nerven verloren hatten.
Wir haben Ragnarök überlebt, dachte Robert, wir schaffen auch Toby.
»Und jetzt?«, fragte Mike.
»Wenn du das nicht weißt«, sagte Krücke neben ihm schlecht gelaunt. Das Licht der Taschenlampe glitt kurz über sein Gesicht. Eine Ader pulsierte in seinem Hals. Robert hörte, wie das Blut durch seinen Körper rauschte und sein Herz schlug. Er roch Marihuana und Angst in Krückes Schweiß.
Mit jedem Tag verstand Robert seinen neuen Körper besser. Er fühlte sich, als habe er sein Leben in einem Fiat Panda verbracht und führe auf einmal Rolls Royce. Es gab so vieles zu entdecken, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.
Doch, dachte er im gleichen Moment. Ich sollte damit anfangen, es Nadja zu erzählen.
Er hatte es versucht, als sie aufgewacht war, und seither hatte sich keine Gelegenheit mehr ergeben. Enttäuscht war er darüber nicht. So lange sie es nicht wusste, konnte er so tun, als sei alles beim Alten, als würde sein Herz noch schlagen und sein Blut noch fließen. So, als wäre sein Körper mehr als nur ein zeitloses Grabmal, mehr als ein Stein, der noch hoch aufragen würde, wenn alles Lebendige um ihn herum längst verfallen war.
Robert schüttelte die Vorstellung ab. Er genoss seinen neuen Körper, seine Stärke, seine Empfindungen, seine erwachenden Sinne. Nur die Stille darin störte ihn. Sie verging, wenn er Blut trank. Dann begann sein Herz zu schlagen, schwach wie das eines Sterbenden, aber stark genug, dass er es hören konnte, wenn er die Augen schloss.
»Rechts oder links?«, fragte Anne neben ihm. Robert zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass sie in den Hauptgang zurückgekehrt waren. Von ihm zweigten sternförmig fünf Gänge ab. Da Mike sich nur an die Kreuzung erinnern konnte, aber nicht daran, welchen Gang er genommen hatte, waren sie die Möglichkeiten im Uhrzeigersinn abgegangen. Die ersten drei hatten sich als unpassierbar erwiesen.
»Rechts«, sagte Robert, während er in den Tunnel leuchtete, aus dem sie gekommen waren. Außer den mehr als zwanzig Obdachlosen, denen die Flucht in die Gänge gelungen war, sah er niemanden. Anfangs hatten sie die Verfolger noch gehört, doch irgendwann mussten die eine falsche Abzweigung erwischt haben. Seitdem hatte er sie weder wahrgenommen noch gerochen.
Gerochen. Wieder etwas, an das er früher nie gedacht hätte.
Anne ging vor. Robert folgte ihr, Nadja schloss zu ihm auf. Sie hielt den in eine Decke gewickelten Talamh im Arm.
»Geht es ihm gut?«, fragte Robert.
Sie nickte. »Er schläft.«
Der Streit, der sie dazu gebracht hatte wegzulaufen, stand zwischen ihnen, das spürte Robert. Es war dumm von ihm gewesen, den Vermittler zwischen Anne und Nadja spielen zu wollen. Er liebte Anne und hätte alles für sie getan, aber ihr Vorschlag, den Jungen nach Tara zu bringen, war alles andere als feinfühlig gewesen. Manchmal vergaß er, dass sie kein Mensch war. Ha, ha. Er war ja auch keiner mehr.
Schweigend gingen sie weiter. Die Obdachlosen folgten ihnen, verwirrt und verängstigt. Emma und Krücke schienen den Angriff als einzige verarbeitet zu haben. Krücke achtete darauf, dass die Menschen zusammenblieben, während Emma immer wieder andere tröstete.
»Schon mal daran gedacht, einen Artikel über die Tunnel zu schreiben?«, fragte er Nadja nach einer Weile.
»Nein, aber es wäre eine tolle Geschichte.« Sie schien froh zu sein, dass er sie von ihren Gedanken ablenkte. »Eine Subkultur unter der Hauptstadt. Menschen, die sich vollständig aus der Gesellschaft zurückziehen, weil sie mit dem Leben darin überfordert sind. Das könnte ich glatt an Die Zeit verkaufen.«
Robert schüttelte den Kopf. »Nein, zu intellektuell. Nimm RTLTV. Drogen und Gewalt hast du schon gefunden, und Sex gibt es hier bestimmt auch.«
Sie stieß die Luft aus, ein halbes Lachen, das ihn freute.
Anne drehte sich um. »Robert? Würdest du zu mir kommen und den Gang ausleuchten?«
Der Tunnel war so schmal, dass nicht mehr als zwei Leute nebeneinander gehen konnten. Robert war schon oft aufgefallen, dass es Anne nicht gefiel, wenn er mit Nadja sprach. Er fragte sich, ob sie eifersüchtig war oder ob er ihr erneut eine Menschlichkeit unterstellte, die sie nicht besaß.
»Was ist los?«, fragte er, als er neben Anne trat.
»Unsere Stimmen klingen anders.«
Robert leuchtete in den Tunnel hinein. Der Lichtstrahl glitt über unebenen, kahlen Stein, dann in einen Raum, der so groß war, dass er sich darin verlor.
Anne blieb stehen. »Etwas …« Sie zögerte und schüttelte den Kopf. »Zu viel Lärm. Ich kann nichts hören.«
Sie meinte die Menschen hinter ihr, deren Kleidung raschelte, die husteten, atmeten, sich manchmal flüsternd unterhielten.
»Was seht ihr?«, fragte Nadja.
Im gleichen Moment wurde es gleißend hell. Robert riss den Arm hoch, um seine Augen zu schützen. Menschen schrien, Anne duckte sich, Nadja wich zurück. Ein Hund begann zu bellen.
»Buh«, sagte Toby.
Robert blinzelte in die Helligkeit. Ein Dutzend Taschenlampen erleuchteten den Tunnel. Die Gestalten dahinter konnte er nur schemenhaft ausmachen.
»Wir dachten, wir hätten uns verlaufen«, fuhr Toby fort. Er leuchtete sein Gesicht von unten an, als wolle er eine Geistergeschichte erzählen. »Wir wollten uns in dem Raum nur ausruhen, eine rauchen und so, aber dann hörten wir euch. Ihr seid wohl woanders abgebogen als wir.«
Er grinste. Im Strahl der Taschenlampe wirkten die Schatten in seinem Gesicht wie tiefe Wunden. »Aber alle Wege führen zu Toby.«
»Mann, Alter«, sagte Vics Stimme. »Hör auf zu labern.«
Robert sah Anne an. »Schaffen wir die?«, fragte er leise und hoffte dabei, dass Nadja ihn nicht hörte.
»Der Gang ist schmal. Sie können uns nicht umzingeln.« Sie erwiderte seinen Blick. »Ich denke schon.«
Er hörte Unsicherheit in ihrer Stimme. Ihre eigenen Fähigkeiten konnte sie einschätzen, seine jedoch nicht.
Wir werden sehen, dachte er.
Einige Obdachlose flohen zurück in den Tunnel, doch die meisten blieben stehen. Sie hatten die Angst satt, das spürte Robert.
»Komm doch her, Arschloch«, rief Krücke aus ihrer Mitte.
»Einer nach dem anderen«, sagte Toby. Er legte sich den Baseballschläger über die Schulter. Die Taschenlampe richtete er immer noch auf sein Gesicht. »Jeder kommt dran.«
Robert zuckte zusammen, als eine Hand plötzlich vor Tobys Gesicht auftauchte. Sie bedeckte seinen Mund und seine Nase, grub ihre Finger in seine Wangen – und zog.
Es knackte. Toby ließ die Taschenlampe fallen. Sie rollte über den Boden, riss Schuhe und Hosenbeine aus der Dunkelheit, dann Tobys verzerrtes, bleiches Gesicht.
Er war tot.