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Dies ist die vierte Episode der Romanserie "Homo Sapiens 404". Die Ereignisse auf NG27 schlagen hohe Wellen. Kipling drängt John, dorthin zurückzukehren, doch der hat andere Pläne, die er vor seiner Crew verbirgt. Ein unvorhergesehenes Ereignis zwingt ihn schließlich dazu, Kipling nachzugeben. Sie treffen auf NG27 ein und werden mit einer Situation konfrontiert, die das Überleben der gesamten Menschheit bedrohen könnte. Über die Serie: Einige Jahrzehnte in der Zukunft: Dank außerirdischer Technologie hat die Menschheit den Sprung zu den Sternen geschafft und das Sonnensystem kolonisiert. Doch die Reise endet in einer Katastrophe. Auf der Erde bricht ein Virus aus, der Menschen in mordgierige Zombies verwandelt. Daraufhin riegeln die Außerirdischen das Sonnensystem ab und überlassen die Menschen dort ihrem Schicksal. Die, die entkommen konnten, werden zu Nomaden in einem ihnen fremden Universum, verachtet und gedemütigt von den Außerirdischen, ohne Ziel, ohne Hoffnung.
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Seitenzahl: 103
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Nur eine Kugel
Claudia Kern
Digitale Originalausgabe
Homo Sapiens 404 wird herausgegeben vom Rohde Verlag Rohde Verlag, Auf der Heide 43, 53757 Sankt Augustin
Verleger & Redaktion: Markus Rohde
Autorin: Claudia Kern
Lektorat: Peter Thannisch
Covermotiv & -gestaltung: Sebastian Lorenz
Copyright © 2013 by Rohde Verlag
ISBN 978-3-95662-004-1
www.claudia-kern.com
www.helden-in-serie.de
www.rohde-verlag.de
»Erinnert ihr euch an Planet der Affen? Ihr wisst ja, wie der ausgeht. Charlton Heston stellt fest, dass er sich nicht auf einem anderen Planeten befindet, sondern auf seinem eigenen, nur so weit in der Zukunft, dass er kaum noch wiederzuerkennen ist. So geht es mir manchmal, wenn ich durch die YouTube-Kanäle zappe und mir all die Videos von diesen Jockey-Kids ansehe. Es gibt mittlerweile mehr Jockeys im Netz als Menschen. Sie sind die neuen Affen. Das ist jetzt ihre Welt, nicht mehr die unsere, und meine größte Angst ist, dass sie uns eines Tages ganz daraus aussperren werden.«
– Nerdprediger Dan, ASCII-Zeichen für die Ewigkeit
»Auf NG27 sind Zombies.«
Kipling nahm seine V-Specs ab und drehte sie zwischen den Fingern. Rin hatte ihn selten so nervös erlebt.
Sie saßen in Aucklands Kabine, nur Trevor Reilly und Ama’Ru, den Country-Sänger und die Jockey, die sie aus der Atlantis-Siedlung befreit hatten, fehlten.
»Woher weißt du das?«, fragte Lanzo. Der Schatten eines Barts bedeckte seine Wangen, und er wirkte unausgeschlafen, aber im Gegensatz zu Arnest, der nur bunt gestreifte Shorts und ein ausgebleichtes T-Shirt trug, war er vollständig angezogen.
»Als Rin und ich in dem Raum mit dem Computerschrott eingesperrt waren, habe ich aus Langeweile alle Daten gezogen, die ich finden konnte. Dabei waren auch Logs der Chats zwischen Che und seiner Mutter. Er hat damit angegeben, dass er Zombies auf der Station versteckt habe.«
»Könnte es sein, dass es nichts weiter als Angeberei war?«, fragte Auckland. Auch er wirkte verschlafen. Sein Haar war zerzaust, und das Hemd steckte nicht richtig in der Hose. »Wieso sollte er ein so großes Risiko eingehen?«
»Weil er nicht wusste, ob der Protest als Ablenkung ausreichen würde«, sagte Kipling. »Ich habe mir alle Logs angesehen. Mariana und Che wollten nicht Ama’Ru entführen, sondern Onas’Ramun.«
Lanzo beugte sich vor. »Den Vater des Stationskommandanten? Mit dem hätten sie eine Menge Geld erpressen können.«
»Vor allem Jockey-Geld, nicht unsere Monopoly-Währung.« Kipling legte die V-Specs vor sich auf den Tisch, ließ sie aber nicht los. »Doch dann wurde er ermordet.«
Rin sah den Ablauf vor ihrem geistigen Auge. »Sie mussten improvisieren, und da sie nicht auf der Station bleiben konnten, griffen sie sich eine Jockey, deren Name wichtig klang. Sie entführten sie und ließen die Zombies zurück.«
Kipling nickte und sah Auckland an. »Wir sollten Ama’Ru das sagen.«
»Später. Diese Angelegenheit geht erst mal nur uns etwas an.«
Uns. Das Wort überraschte Rin. Es suggerierte, dass Auckland in ihnen eine Crew sah und die anderen nicht nur als ein paar Streuner, die er aufgelesen hatte und nun nicht mehr loswurde.
»Hast du versucht, jemanden auf NG27 zu kontaktieren?«, fragte sie.
»Das war das Erste, was ich versucht habe«, antwortete Kipling, »aber ich kann Tasha nicht erreichen.«
»Wer ist Tasha?« Die Frage kam von Auckland. Er war bei dem Protest auf der Station nicht dabei gewesen.
Arnest grinste. »So eine kleine Niedliche, der Kipling an die Wäsche will.«
Rin schloss resignierend die Augen. Sie kannte niemanden, der mit solcher Treffsicherheit wie Arnest das Falsche zum falschen Zeitpunkt sagte.
»Halt die Fresse«, hörte sie Kipling erwartungsgemäß sagen. »Sie ist eine Freundin, und ich will ihr helfen.«
Als sie die Augen wieder öffnete, setzte Kipling gerade seine V-Specs auf. Mit ihnen erschien er ihr vertrauter als ohne.
»Du willst, dass wir nach NG27 fliegen?« Lanzo stieß den Atem aus. »Wir sind gerade noch da rausgekommen, und ich hatte nicht den Eindruck, dass es für deine Freundin und ihren Aufstand so gut lief.«
Kipling schien den Einwand vorhergesehen zu haben, denn er antwortete, ohne zu zögern. »Das stimmt, aber du hast nicht verfolgt, was seitdem passiert. NG27 ist der meistbenutzte Hashtag auf Twitter, es gibt Chaträume und Channel, die sich mit nichts anderem befassen. In den offiziellen Nachrichten wird darüber geschwiegen, aber ein Jockey hat erzählt, dass sein Vater mit seinem Frachter an NG27 angedockt hat und automatisch betankt und entladen wurde. Aber auf die Station hat man ihn wegen ›technischer Probleme‹ nicht gelassen. Wenn ihr mich fragt, ist dieser Aufstand noch längst nicht beendet.«
»Oder er besteht jetzt aus Zombies«, sagte Arnest.
»Nein. Das hätten die Jockeys ausgeschlachtet. Was auch immer auf NG27 geschieht, passt ihnen nicht.«
»Das macht es nicht ungefährlicher, dorthin zu fliegen«, sagte Lanzo. Er strich sich mit der Hand über die Bartstoppeln an seinem Kinn, dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin dagegen. Wir würden uns auf ein unüberschaubares Risiko einlassen, nur weil du hoffst, einer Person helfen zu können, die vielleicht schon längst tot ist.«
»Wir sind nach Atlantis geflogen, damit Arnest den Sänger seines Lieblingssongs treffen konnte. Auf NG27 werden wir tatsächlich gebraucht.« Kipling sah Auckland an, als er das sagte, nicht Lanzo.
Arnest kratzte sich am Arm. »Wo er recht hat …«
Es wurde still in der Kabine. Die Eliot war Aucklands Schiff, und sie alle hatten akzeptiert, dass er das letzte Wort hatte. Na ja, dachte Rin, wir akzeptieren das meistens.
Auckland rieb sich mit Daumen und Zeigefinger müde die Augen, dann seufzte er. »Ich werde es nie schaffen, dieses Schiff zu reparieren.«
Kipling sprang auf. »Heißt das, wir fliegen hin?«
»Ja.«
»Okay. Cool. Danke. Wir sollten nicht mehr als zwei Tage brauchen, um dorthin zu gelangen. Ich geb den Kurs ein, in Ordnung?«
Die Tür schloss sich bereits hinter ihm, als er die Frage beendete. Die Antwort wartete er nicht ab.
Die anderen standen ebenfalls auf. »Ich halte das für keine gute Idee«, sagte Lanzo. »Das ist leichtsinnig, gefährlich und wahrscheinlich sehr dumm.«
»Ach, Quatsch.« Arnest grinste und schob seinen Bruder zur Tür hinaus. »Wir werden schon klarkommen, so wie immer.«
Rin fragte sich unwillkürlich, ob er den Verlust der Mishima und Jourdains Tod bereits vergessen hatte oder ob das bei ihm unter ›klarkommen‹ fiel. Ein Teil von ihr beneidete ihn um die Fähigkeit, manche Dinge einfach abzuschütteln.
»Warte«, sagte Auckland, als sie Arnest und Lanzo nach draußen folgen wollte. Sie drehte sich um. Die Tür schloss sich.
»Du hast nicht gesagt, was du davon hältst.«
Sie hob die Schultern. »Du hattest deine Entscheidung schon getroffen. Ich wollte die Diskussion nicht unnötig in die Länge ziehen.«
»Ich möchte deine Meinung trotzdem hören.« Er lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
Rin dachte einen Moment über ihre Antwort nach. »Lanzo hat recht«, sagte sie schließlich. »Es ist gefährlich, leichtsinnig und dumm, nach NG27 zu fliegen. Wir haben keine Ahnung, was uns dort erwartet.«
»Du bist also dagegen?«
»Nein.« Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken in Worte zu fassen. »Wir haben alle so viel verloren, dass es uns manchmal fast um den Verstand bringt. Aber Kipling hat etwas gefunden. Das ist … bemerkenswert und wichtig. Ich halte es für unsere Pflicht, ihm dabei zu helfen, es zu bewahren.«
»Tasha.«
Sie nickte.
»Ich verstehe.« Er hielt ihren Blick einen Moment fest. »Was hast du verloren?«
Er hatte noch nie eine persönliche Frage gestellt, keinem von ihnen. Bisher schien es ihm genügt zu haben, ihre Namen zu kennen.
»Was ich verloren habe?«
»Ja.«
Rin lächelte bitter. »Tokio.«
Ein Jahr zuvor
Die Presse nannte sie den ›Schwarm‹. Zu Hunderttausenden stolperten, taumelten, schlurften und krochen die Toten der Stadt entgegen. Aus dem Cockpitfenster des Bombers sahen sie aus wie eine gewaltige Masse aus fauligem Fleisch, die sich durch kleine Orte und Felder wälzte.
»Bleiben Sie in Warteposition«, sagte General Shichiro Wakahisa in Rins Helmfunk. Er klang unsicher und nervös. Eine Woche zuvor war er noch Hauptmann gewesen, doch der Virus verschonte auch das Oberkommando der japanischen Streitkräfte nicht. Massenbeförderungen hatten dazu geführt, dass Wakahisa auf einmal die Sterne eines Generals auf den Schultern trug und Rin Takahashi einen alten amerikanischen Bomber flog.
»Verstanden«, sagte sie und wandte sich an ihren Waffenoffizier. »Es ist noch nichts entschieden.«
Takumi Ueda nickte. Er war gerade mal zwanzig Jahre alt, klein und dünn. Der Helm saß locker auf seinem Kopf, so als müsse er erst noch hineinwachsen. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er war ebenso nervös wie Wakahisa. »Sie werden sich bald entscheiden müssen.«
Ja, dachte Rin. In der Ferne sah sie die grauen Hochhäuser von Tokios Vorstädten. Ihre Umrisse flimmerten und waberten. Die Rauchsäule eines ungelöschten Feuers stieg zwischen ihnen empor. Es war ein heißer Sommertag, feucht und ein wenig diesig.
Die Mauer, die hinter den Vorstädten entstand, konnte Rin aus dieser Entfernung nicht ausmachen. Das Militär, das seit der Auflösung des Parlaments Japan regierte, bezeichnete sie als ›Operation Burgwall‹. Tausende Freiwillige halfen bei ihrem Bau. Ursprünglich hatte man Soldaten dafür abgestellt, doch die wurden inzwischen eingesetzt, um die Bewohner der Vorstädte davon abzuhalten, in die völlig überfüllte Schutzzone zu fliehen.
Und der Schwarm wälzte sich weiter auf sie zu.
Er war in den Kleinstädten des Nordens entstanden. Die ersten Aufnahmen, die Flüchtlinge mit V-Specs und Pads gemacht hatten, zeigten einige hundert Tote, die eine Straße entlangstolperten. Einen Tag später waren daraus Tausende geworden. Es war ein Phänomen, das man nirgendwo sonst auf der Welt beobachtete. Wissenschaftler sprachen von einem perfekten Sturm, einer Mischung aus dem instinktiven Verhalten der Toten, die auf Geräusche und Bewegungen reagierten, und der tief verankerten japanischen Sehnsucht nach einem Platz in der Gruppe.
Es dauerte fast drei Tage, bis die Bedrohung, die der Schwarm darstellte, offensichtlich wurde. Man bombardierte ihn, überschüttete ihn aus Flugzeugen mit Benzin und zündete ihn an, schickte ihm Tausende Soldaten entgegen, doch es war alles umsonst. Für jeden Toten, den man vernichtete, wurden zwei neue von dem Schlurfen und Stöhnen des Schwarms angelockt.
Nun waren die Bomben aufgebraucht, die meisten Soldaten tot und Benzin zu wertvoll, um bei weiteren sinnlosen Angriffen verschwendet zu werden. Geblieben waren die längst noch nicht abgeschlossene ›Operation Burgwall‹ und der Grund dafür, dass Rin Kreise über dem Schwarm zog.
›Operation Brandrodung‹. Sie wusste nicht, wer auf den Namen gekommen war, nur was er beinhaltete: eine einzelne russische Wasserstoffbombe, angebracht unter dem Rumpf eines Bombers, den die Amerikaner bei der Flucht aus ihrer Basis zurückgelassen hatten. Die Sprengkraft von vier Millionen Tonnen TNT gegen einen Schwarm von vierzig-, vielleicht fünfzigtausend Toten. Rin wusste nicht, ob das reichen würde.
»Worauf warten die denn noch?«, fragte Ueda. »Der Schwarm kommt immer näher.«
Die Masse der Toten wälzte sich durch eine Kleinstadt, keine zwanzig Kilometer von Tokios Stadtrand entfernt. Rin hatte zu den Piloten gehört, die die Bewohner über Megafone zur Evakuierung aufgerufen hatten, auch wenn sie nicht gewusst hatten, ob es dort überhaupt noch jemanden gab, der ihre Worte hätte verstehen können. Die Straßen waren verlassen gewesen, die Fenster und Türen der Häuser geschlossen und teilweise mit Brettern vernagelt. Nur einige Tote waren aus Geschäften und Hauseingängen auf den Gehsteigen aufgetaucht und hatten ungeschickt nach den hoch über ihnen kreisenden Hubschraubern geschlagen. Auf Rin hatten sie wie wütende Pantomimen gewirkt.
Sie überprüfte ihre Instrumente. »Der Wind steht günstig. Er sollte die Strahlung über das Land, nicht über die Stadt wehen.«
»Wenn der Schwarm noch ein paar Kilometer näher kommt, wird das keine Rolle mehr spielen. Dann liegen die Vorstädte auf dieser Seite Tokios im Explosionsradius.« Ueda wischte sich die Hände an seiner Hose trocken. Sie waren so verschwitzt, dass sie dunkle Flecke auf dem olivgrünen Stoff hinterließen. »Das Oberkommando muss die Entscheidung bald fällen.«
Es knackte in Rins Kopfhörern. Ueda zuckte zusammen. »Hier spricht General Wakahisa. Antworten Sie mit ›Ja‹, wenn Sie mich laut und deutlich verstehen, Leutnant Takahashi.«
»Ja, ich verstehe Sie, General.«
»Sie haben grünes Licht für ›Operation Brandrodung‹. Ich wiederhole: Sie haben grünes Licht. Bitte bestätigen.«
Rin spürte ihren Herzschlag bis in die Kehle. »Bestätigt. Erbitte Zielkoordinaten für Gojira.«
Der Codename, den das Oberkommando der Wasserstoffbombe gegeben hatte, erschien ihr passend: eine schreckliche Macht, die nach Zerstörung strebte, sie aber dennoch vielleicht retten würde.
Oder das Unvermeidliche zumindest etwas aufschiebt, fügte sie in Gedanken hinzu. Ein gelbes Licht blinkte in ihrem HUD. Die Zielkoordinaten waren übermittelt. Rin leitete die Datei an Ueda weiter und lud sie in ihren Zielcomputer.
»Das kann nicht sein«, sagte Ueda plötzlich an seinem Platz schräg hinter ihr.
Rin betrachtete die Karte. Die Koordinaten lagen mitten in Chofu, einer der Vorstädte, die sie durch ihr Cockpitfenster sehen konnte.