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Dies ist die dritte Episode der Romanserie "Homo Sapiens 404". Seit das Sonnensystem unter Quarantäne gestellt wurde und die Menschheit im All versprengt ist, haben sich unzählige Gruppen und Gemeinschaften gebildet, die versuchen, zu überleben und vielleicht sogar ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Auf eine dieser Gruppen - einen Flüchtlingskonvoi, der aus mehreren heruntergekommenen Schiffen besteht - trifft die T.S. Eliot. John Auckland und seine Crew haben Mitleid mit den Flüchtlingen. Sie bieten ihnen Vorräte und Geld an, wenn sie bei der Dezimierung der Untoten helfen, die immer noch ein großes Problem auf der Eliot darstellen. Die Flüchtlinge sagen zu, doch schon bald stellt sich heraus, dass es sich bei ihnen um von den Außerirdischen verfolgte Fanatiker handelt, die sich der vollständigen Ausrottung der Jockeys verschrieben haben. Dass nicht jeder an Bord ein Problem damit hat, wird zur Zerreißprobe für die Crew. Über die Serie: Einige Jahrzehnte in der Zukunft: Dank außerirdischer Technologie hat die Menschheit den Sprung zu den Sternen geschafft und das Sonnensystem kolonisiert. Doch die Reise endet in einer Katastrophe. Auf der Erde bricht ein Virus aus, der Menschen in mordgierige Zombies verwandelt. Daraufhin riegeln die Außerirdischen das Sonnensystem ab und überlassen die Menschen dort ihrem Schicksal. Die, die entkommen konnten, werden zu Nomaden in einem ihnen fremden Universum, verachtet und gedemütigt von den Außerirdischen, ohne Ziel, ohne Hoffnung.
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Seitenzahl: 97
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Claudia Kern
Digitale Originalausgabe
Homo Sapiens 404 wird herausgegeben vom Rohde Verlag
Rohde Verlag, Auf der Heide 43, 53757 Sankt Augustin
Verleger & Redaktion: Markus Rohde
Autorin: Claudia Kern
Lektorat: Peter Thannisch
Covermotiv & -gestaltung: Sebastian Lorenz
Copyright © 2013 by Rohde Verlag
ISBN 978-3-95662-003-4
www.claudia-kern.com
www.helden-in-serie.de
www.rohde-verlag.de
»Wie gehen wir eigentlich miteinander um, seit wir in diese neue, kranke Welt geschleudert wurden? Helfen wir unseren Nächsten und nicht ganz so Nächsten? Strecken wir die Hand aus, wenn einer von uns fällt, um ihm aufzuhelfen? Nein, das tun wir nicht. Wir trampeln aufeinander herum. Wir boxen unsere Nächsten zur Seite, wenn wir glauben, dass uns das einen kleinen Vorteil verschaffen könnte. Wir gehen scheiße miteinander um. Menschen im All – das sollte Star Trek sein, nicht Death Race 2000. Denkt darüber nach, wenn ihr das nächste Mal einem hungernden Flüchtling den Mittelfinger ins Gesicht streckt oder ihm das Schiff unter dem Hintern wegkapert. Seid Star Trek, Leute. Wenn ihr das nicht seid, haben die Jockeys schon gewonnen.«
- Nerdprediger Dan, ASCII-Zeichen für die Ewigkeit
#NG27 auf Platz fünf der Twitter-Trends, #JagtsieausdemZoo auf Platz sechs, über eine Million Hits des Videos, das die Ermordung von Onas’Ramun ay Sin’Dolf, Vater des Stationskommandanten Mak’Uryl zeigte, mehr als sechstausend Kommentare - das waren die Neuigkeiten, die Kipling auf dem Willkommensbildschirm seiner V-Specs sah, als er erwachte und sich die Brille aufsetzte.
Ach, du Scheiße, dachte er. In den letzten sechs Stunden war das Thema explodiert. Die Kommentare und Tweets verrieten ihm, wie die Menschen darauf reagierten. Viele nannten Onas’Ramuns Ermordung einen ersten Schritt auf dem richtigen Weg, andere fragten sich, ob die Jockeys Menschen nun ganz aus ihren Stationen aussperren würden. Eine wesentlich kleinere Gruppe zweifelte an der Echtheit des Videos und warf Kipling Propaganda vor. Und dann gab es da noch die Verschwörungstheoretiker, die das Ganze für einen Trick der Jockey-Elite hielten, die damit angeblich versuchten, ihr Volk gegen die Menschen aufzuhetzen.
In Foren, auf Plattformen, in Chaträumen, überall wurde über die Ereignisse auf NG27 diskutiert. Nur die Jockeys schwiegen. Weder der Anschlag noch der Aufstand auf NG27 waren bislang offiziell bestätigt worden.
Kipling klickte auf einen Jockey-Nachrichtenkanal, der in englischer Sprache sendete. Die Hauptnachricht dort drehte sich um ein Festival der Kulturen, das auf irgendeiner Raumstation stattfand. Menschen hielten alten Schmuck in die Kameras oder selbst genähte Decken. Einer zeigte stolz ein Gemälde, auf dem mehrere Hunde Billard spielten. Ab und zu schwenkte die Kamera zu Jockeys herum, die mit gönnerhaftem Blick von den großen kulturellen Leistungen sprachen, die die Menschen hervorgebracht hatten.
Unwillkürlich fragte sich Kipling ob die Azteken, als sie vor den spanischen Conquestadores gekniet hatten, wohl das Gleiche gefühlt hatten wie er in diesem Moment: eine Mischung aus ohnmächtiger Wut, ungläubigem Staunen und Fremdschämen.
Es hätte ihn nicht gewundert.
Er blinzelte die Nachrichten weg und holte das Chatfenster nach vorn, das er in der Nacht zuvor als letztes geschlossen hatte. ›Tasha?‹ stand dort immer noch fragend. Der Cursor blinkte, doch die Finger hingen reglos über der Tastatur-Animation. Tasha hatte noch nicht geantwortet.
Niemand hat geantwortet, dachte Kipling. Obwohl Tausende die Aufständischen von NG27 baten, sich zu melden, blieb es still. Nur die üblichen Idioten und Trolle, die sich danach sehnten, im Rampenlicht zu stehen, posteten. Sie flogen immer nach nur wenigen Minuten auf und wurden unter Beschimpfungen zurück in die Anonymität gejagt.
Diese Stille gab Kipling Hoffnung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es den Jockeys trotz Lockdown gelungen war, alle Aufständischen zu töten oder gefangenzunehmen. Viel wahrscheinlicher war, dass sie das öffentliche W-Lan ausgeschaltet hatten und die Station nun über ein internes betrieben. Doch das würden sie nicht lange durchhalten. Die Geschäftsleute und andere Jockey-Zivilisten, die auf NG27 lebten, hingen vom W-Lan ebenso ab wie alle anderen. Früher oder später würden sie die Öffnung des Netzes erzwingen. Mak’Uryl hoffte wahrscheinlich, dass es ihm bis dahin gelingen würde, die Aufständischen zum Schweigen zu bringen. Die übliche Taktik der Jockeys, ihre Gegner zu diffamieren und zu isolieren, würde dieses Mal allerdings nicht aufgehen. Es waren einfach zu viele.
Eine Nachricht öffnete sich lautlos vor seinem Auge. ›Bist du wach?‹ Sie stammte von Rin.
›Ja‹, antwortete er.
›Gut. Dann komm mal rauf zur Brücke. Ich glaub, hier stimmt was nicht.‹
›Kann ich noch duschen?‹
›Ich bitte sogar darum. :) ‹
Er seufzte und schlug die Decke zurück. Mit den implantierten Chips in seinen Fingerkuppen wischte er die offenen Fenster zur Seite, bis nur das Standbild, das die Überwachungskamera in dem kleinen Café auf NG27 von Tasha aufgenommen hatte, zu sehen war.
Er schob es in die Mitte seines Sichtfeldes und ging ins Bad.
Sie alle schliefen zu den unterschiedlichsten Zeiten, Tag und Nacht waren Konzepte, die in der ewigen Dunkelheit des Alls längst ihre Bedeutung verloren hatten. Anfangs hatte Rin noch versucht, sich selbst einen Rhythmus aufzuerlegen, aber das Leben auf der Mishima war zu chaotisch und unvorhersehbar gewesen. Irgendwann hatte sie resigniert. Seitdem schlief sie so wie die anderen auch: Ein paar Stunden, wann immer sie konnte. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass sie nach spätestens vier Stunden aufwachte, selbst wenn sie ein wenig verkatert war wie an diesem – sie nannte es trotzdem Morgen.
Arnest lachte leise vor sich hin. Er saß an einer der ausgeschalteten Arbeitsstationen und hatte die Füße hochgelegt. Grinsend sah er den Cartoons zu, die lautlos über die gewaltige Wand aus Bildschirmen flackerten. Coyote jagte den Roadrunner, so wie jedes Mal, aber der war zu schlau, um sich fangen zu lassen. Arnest schien die Boshaftigkeiten zu genießen, die der Roadrunner sich ausdachte, während Rin Mitleid mit dem Koyoten hatte. Er würde sein Ziel nie erreichen, aber egal, wie oft er auch scheiterte, er versuchte es doch immer wieder.
Er ist ein Don Quichote, dachte sie und gähnte. Arnest schlug sich auf die Schenkel, als der Koyote unter einem riesigen Amboss begraben wurde. Sie waren allein auf der Brücke. Auckland und Lanzo hatten sich in ihre Kabinen zurückgezogen. Wenn man nicht darüber nachdachte, wirkte es wie ein Vertrauensbeweis, dass Auckland ihnen die Brücke überließ, aber sie befanden sich im Hyperraum, wodurch das Schiff praktisch mit Autopilot flog. Rin war sich sicher, dass Auckland seine Kabine verlassen würde, bevor sie in den Normalraum zurückkehrten.
Sie drehte den Pilotensessel, in dem sie saß, als sich hinter ihr die Tür zur Brücke zischend öffnete und Kipling eintrat. Er trug ausgewaschene Jeans und ein blaues T-Shirt, das ihm zu groß war. Seine nassen Haare hinterließen dunkle Tropfen auf dem Stoff.
»Was ist los?«, fragte er.
»Ich bin mir nicht sicher.« Rin schwang den Sessel wieder herum und drückte auf einen Knopf. Roadrunner und Coyote verschwanden von den Bildschirmen, an ihre Stelle trat eine lange Reihe von Zahlen und einige Diagramme.
»Hey«, sagte Arnest mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich wollte das sehen.«
»Später.« Rin zeigte auf eines der Diagramme. »Sehen diese Energiewerte nicht irgendwie seltsam aus?«
Kipling trat an eine der Arbeitsstationen und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. Die Augen hinter den V-Specs glitten über Diagramme und Zahlen. Rin bemerkte, dass er die Finger bewegte, so als gäbe er etwas auf einer nur für ihn erkennbaren Tastatur ein. Dann nickte er. »Die sind zu hoch. Zeig mir mal das Sprunglog.«
Rin brauchte einige Sekunden, um sich in dem fremden System zu orientieren. »Hier ist es.«
Neben den Diagrammen erschien eine endlos wirkende, mit einem Zeitstempel versehene Auflistung von Befehlen. Die Logdateien zeichneten die Kommunikation zwischen allen Systemen auf, die an der Vorbereitung und der Ausführung eines Hyperraumsprungs beteiligt waren. Tausende Befehle, Abfragen und Berechnungen glitten in rascher Folge durch das Terminalfenster. Ab und zu blitzte das Wort ›Warnung‹ zwischen ihnen auf.
Arnest gähnte und streckte sich. »Dauert das noch lange?«
Kipling ignorierte ihn. Normalerweise hätte er mit einem Spruch geantwortet, und dass er das nicht tat, verriet Rin, dass zwischen den beiden wirklich etwas nicht in Ordnung war. Sie hatte das schon vorher vermutet.
Ich sollte Kipling darauf ansprechen, dachte sie. Lanzo lachte oft über das, was er als ihr übersteigertes Harmoniebedürfnis bezeichnete. Sobald sie Spannungen wahrnahm, griff sie ein. Sie empfand das als logisch, denn nur Leute, die sich verstanden, konnten sich auch aufeinander verlassen.
»Aha«, sagte Kipling auf einmal. Es beeindruckte Rin, dass er in der Logdatei mehr sah als ein Wirrwarr aus Buchstaben und Zahlen. »Ich weiß, was los ist.«
Über ihnen öffnete sich eine Tür. »Und das wäre?«
Rin sah auf. Auckland ging langsam die Treppe zur Brücke hinunter. Er war vollständig angezogen und wirkte nicht so, als habe er geschlafen.
»Hast du uns etwa zugehört?«, fragte Arnest.
»Natürlich. Ihr seid auf meiner Brücke. Alles, was hier gesprochen wird, geht mich etwas an.«
»Und was ist mit dem Rest des Schiffs?«, fragte Rin.
Er hob die Schultern und blieb hinter einer der Arbeitsstationen stehen. »Hängt davon ab.«
Bevor Rin nachhaken konnte, fuhr er fort. »Also, was ist los?«
»Sieh dir mal die Energiewerte in dem Diagramm links oben an«, sagte Kipling. »Achte nur auf die rote Linie. Was fällt dir auf?«
»Sie sind zu hoch.«
»Genau. Und achte jetzt mal in der Logdatei rechts im Terminal auf alles, was hinter dem Wort ›Warnung‹ steht.«
Es wurde still auf der Brücke. Auckland betrachtete die Befehle und runzelte die Stirn. »Das sind Berechnungen, die Sekunden vor dem Sprung neu erstellt werden mussten. Das erklärt den gestiegenen Energieverbrauch, aber ich verstehe nicht, was daran so bemerkenswert ist.«
Kipling rückte seine Brille zurecht und erhob sich. Rin konnte sehen, dass er in das ging, was sie seinen Wikipedia-Modus nannte. Das kann eine Weile dauern.
»Ihr wisst ja ungefähr, was kurz vor einem Sprung passiert«, sagte Kipling. »Position und Kurs werden anhand der Sprungtore berechnet, ebenso die Dauer des Hyperraumaufenthalts. Das passiert bei jedem Sprung aufs Neue, selbst wenn man, nachdem man von A nach B geflogen ist, zurück nach A will. Das Weltall ist nicht statisch, alles ist in ständiger Bewegung. Das gilt besonders für den Hyperraum, den niemand von uns – und da schließe ich die Jockeys mit ein – wirklich versteht. Würde man mit den Berechnungen des Flugs von A nach B von B nach A reisen wollen, könnte niemand sagen, wo man herauskäme. Vielleicht mitten im Nichts, außerhalb der Reichweite der Sprungtore, vielleicht auch in einer Sonne oder einem Planeten. Deshalb-«
Arnest schnarchte theatralisch laut.
Kipling fuhr herum. »Wenn du dich nicht benehmen kannst, dann verlass die Brücke. Du findest im Frachtraum bestimmt einen Kauknochen, mit dem du spielen kannst.«
Die Wut, die in seiner Stimme mitschwang, schockierte Rin. Noch nie zuvor hatte er so mit einem anderen Crewmitglied gesprochen. Arnests Augen weiteten sich. Er sprang so rasch aus seinem Sessel auf, dass die Armlehnen knirschten. »Was hast du gesagt?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Auckland griff nicht ein, aber sein Blick glitt von einem der beiden Männer zum anderen. Die linke Hand hatte er in die Hosentasche gesteckt. Darin befand sich wahrscheinlich das zusammengeklappte Headset, mit dem er jederzeit die alleinige Kontrolle über das Schiff wiedererlangen konnte.
Sie stand auf. »Würdest du deinen Bruder holen, Arnest?«, fragte sie freundlich. »Das, was hier besprochen wird, betrifft ihn auch.«
»Ich will, dass er sich entschuldigt.«
»Darüber reden wir, wenn Lanzo hier ist, okay? Kipling hat es bestimmt nicht so gemeint.«
Sie sah Kipling von der Seite an. Die Wut wich aus seinem Gesicht, und er wirkte auf einmal nervös, so als würde ihm langsam klar, dass er zu weit gegangen war.
Er räusperte sich. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei den Berechnungen, die bei jedem Sprung aufs Neue ausgeführt werden müssen. Aber es gibt auch Konstanten, Dinge, die das System einmal berechnet und dann nie wieder.«