Erste Liebe - Alexa Hennig von Lange - E-Book

Erste Liebe E-Book

Alexa Hennig von Lange

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Beschreibung

Lelle ist ausgezogen. Direkt in Vaters Büroräume. Das hat einen Vorteil – morgens wird sie pünktlich vom Staubsauger geweckt – und viele Nachteile. Wenn Lelle nachts jemanden mit «nach Hause» bringt, lässt sie zwecks Romantik das Licht lieber aus. Und Romantik braucht sie jetzt, denn Arthur hat sie sitzen lassen. Ein lustig-nachdenkliches Buch über ängstliche Mütter, cholerische Väter, öde Freundinnen und die erste Liebe.

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Seitenzahl: 189

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Alexa Hennig von Lange

Erste Liebe

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Lelle ist ausgezogen. Direkt in Vaters Büroräume. Das hat einen Vorteil – morgens wird sie pünktlich vom Staubsauger geweckt – und viele Nachteile. Wenn Lelle nachts jemanden mit «nach Hause» bringt, lässt sie zwecks Romantik das Licht lieber aus. Und Romantik braucht sie jetzt, denn Arthur hat sie sitzen lassen.

 

Ein lustig-nachdenkliches Buch über ängstliche Mütter, cholerische Väter, öde Freundinnen und die erste Liebe.

Über Alexa Hennig von Lange

Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, zählt seit ihrem Debütroman «Relax» zu den erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten die Romane «Ich bin’s», der Lelle-Roman «Ich habe einfach Glück» und «Woher ich komme» sowie das Kinderbuch «Mira reicht’s». 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

 

www.alexahennigvonlange.de

Inhaltsübersicht

Leute, ratet mal, ...Auf der Türschwelle ...Ich schließe die ...Heute muss ich ...Raus auf die ...Nach dem Friseurbesuch ...Wir marschieren los, ...Als ich am ...In der Pause ...Als der Chor ...Als ich aus ...Leute, wir stehen ...Wir sitzen auf ...Marcel bringt mich ...Aber was ist ...In der Küche ...Es ist merkwürdig, ...Als ich mit ...Als wir mit ...Hundert Mädchen fahren ...Als der Bus ...Okay, Leute, ich ...Nach dem Abendessen ...Es ist zehn ...Mama setzt mich ...Leute, jetzt bin ...

Leute, ratet mal, wo ich neuerdings wohne! Im Hinterzimmer von Papas Geschäft. Tatsächlich! Da sitze ich jetzt, im 4. Stock auf dem Fensterbrett, rauche Zigaretten und lasse die Beine in den grünen Hinterhof baumeln. Rundherum auf den Balkonen klappern die Leute mit ihrem Geschirr für das Abendessen, die Vögel zwitschern unter mir in den Ästen, die Kirchturmglocken läuten vor dem Haus. Diese Ruhe zündet richtig rein. Vor allen Dingen, weil ich mein halbes Leben damit verbracht habe, mir das Gezeter von meiner Familie reinzuziehen und aufzupassen, dass die sich nicht gegenseitig umbringen. An diese Stille muss ich mich erst noch gewöhnen. Keiner will was von mir, niemand sitzt heulend auf meiner Bettkante. Ich bin ganz allein. Fast ist es mir ein bisschen zu still.

Im Fensterrahmen, neben meinem nackten Fuß, liegt eine tote Fliege, die sagt auch nichts mehr, und hinter den gegenüberliegenden Dächern geht langsam die Sonne unter. Das könnte Glück bedeuten. Tut es aber nicht, weil Arthur fehlt. Wäre er hier, könnte er jetzt seinen Arm um mich legen, sagen: «Ich find’s schön.» Ich würde sagen: «Ich auch.» Wir könnten raus in den Hinterhof sehen und denken: «Das gehört alles uns.» Sobald es draußen dunkler geworden ist, würden wir uns aufs Bett, unter meine Decke legen. Ich könnte flüstern: «Mir ist warm.» Mein Freund Arthur würde flüstern: «Dann zieh doch dein T-Shirt aus.»

Ich ziehe die Knie dicht zu mir heran, zünde mir eine neue Zigarette an und habe Arthur genau vor Augen, wie er hinter der Glasscheibe kurz vor seinem Abflug steht. Nur zwei Zentimeter von mir entfernt, mit seinem geringelten T-Shirt, seinen Haaren, die ihm fast bis zur Schulter reichen, seinem sanften Lächeln, meinen Arthur-Augen. Alles an ihm war meins, ich war seins. Dann ging er den Gang hinunter und verschwand.

Natürlich hat Arthur mich nicht vergessen. Er schickt mir Fotos, auf denen er lachend vor irgendwelchen Lehmhütten steht. So glücklich habe ich ihn noch nie gesehen. Das ist jetzt sein Glück. Ich nehme es ihm nicht übel. Ich weiß, dass er mich noch liebt. Über meinem Bett hängt er: großkopiert, schlammverschmiert, mit lachenden schwarzen Kindern, die, wie er, nichts anhaben außer einem Paar kurze Hosen. Ich erinnere mich, wie es war, mit ihm zusammen auf seinem Hochbett zu sitzen, Musik zu hören, ein paar Zigaretten zu rauchen. Das war schön. Damals dachte ich: Nun ist Arthur meine Familie. Aber daraus ist nichts geworden, weil er nach Afrika geflogen ist. Zu unserer Partnergemeinde in Simbabwe, um für arme Kinder Hütten zu bauen. In meiner Vorstellung legt er seine Arme um mich, zieht mich an sich und singt leise in mein Ohr: «When you love me, dilly, dilly, I will love you.» Mein Kopf an seiner Schulter, ich schließe die Augen, und seine Hand nimmt meine.

Ich werfe den Zigarettenstummel runter in den Hinterhof, rutsche von der Fensterbank ins Zimmer. Nicht noch einmal zu der Arthur-Kopie sehen! Darum gehe ich raus, in den dunklen Flur, gehe weiter, weil alles weitergeht. Das habe ich von Arthur, der schon früh ohne seine Eltern zurechtkommen musste. Die sind nämlich gestorben, als er noch ein Kind war. Trotzdem weiß ich nicht so richtig, was ich anfangen soll, ich meine, eigentlich habe ich viel zu tun: Haare waschen, Musik hören, in den Chor gehen, mich mit meiner Freundin Tessi treffen, bisschen Schule, Hausaufgaben. Aber der Sinn ist verloren gegangen, ich habe niemanden, mit dem ich mein neues Zuhause teilen könnte, so eine Art Ehemann. Ich meine, ich will nicht heiraten, das meine ich nicht, eher jemanden, der weiß, wer ich bin. So, wie Mama. Die kennt mich ganz genau, aber ich will ja nicht, bis ich neunzig bin, an Mama kleben. Irgendwann im Leben verspürt man eben das Verlangen, die alte Familie gegen eine neue auszutauschen.

Ich gehe weiter, durch die dämmrigen Büroräume, vorbei an den verlassenen Arbeitstischen, den Regalen voller gelber Aktenordner, Papas Pflanzen. Das Parkett knarrt, es riecht nach aufgelöstem Würfelzucker in warmer Milch. So hat es hier schon immer gerochen. Wahrscheinlich, weil Papa bei der Arbeit gerne in süßer Milch gequollenes Müsli isst.

Im vordersten Raum öffne ich die angekippte Balkontür, trete hinaus. Zwischen Papas Pflanzenkübeln bleibe ich stehen und sehe hinüber zur Kirche. Dahinter liegt der Stadtwald im Abenddämmer. Früher, als meine Schwester und ich klein waren, sind wir mit Mama oft hinübergegangen, haben auf dem Abenteuerspielplatz mitten im Wald gespielt. Zwischen den Bäumen würde ich jetzt gerne mit Arthur spazieren gehen.

Ich steige auf einen umgedrehten Eimer, beuge mich über die Brüstung mit den orangen Blumen, unten holpert ein Auto übers Kopfsteinpflaster. Ich versuche zu spüren, wie es wäre, da unten zu liegen. Vor dem Hauseingang, auf dem Bauch, ein paar Büsche um mich herum. Schön wäre das. Dann wüsste Arthur, wie sehr ich ihn vermisse. Trotzdem springe ich nicht. Lohnt ja nicht. Arthur würde es sowieso nicht im entscheidenden Moment mitkriegen. Vielleicht in fünf Wochen, wenn so eine Karte mit schwarzer Umrandung bei ihm in der Lehmhütte eintrifft. Zu diesem Zeitpunkt wäre ich dann schon fast vergammelt. Also wieder runter vom Eimer, ich taumle rückwärts über die Türschwelle nach drinnen. Da stehe ich, sehe mich um im kühlen Raum. Große Arbeitstische, bedeckt mit Aktenordnern. Alle sind gegangen: Mama, Papa, Frau Mus. Haben mich hier gelassen, damit ich weiß, wie es ist, allein zu wohnen. Mit Arthur wäre es schöner. Ich mache einen Schritt, sehe meine nackten Füße auf dem Parkett, über das ich schon als kleines Mädchen mit den Bürostühlen gerollt bin.

Morgens kommen sie alle wieder: Mama, Papa und ihre Angestellten. Die meisten von ihnen halten nicht mal die Probezeit durch, weil Papa ständig rumschreit: «Sie sind eine Null!» Einmal hat Frau Mus deswegen sogar geweint: «Noch nie ist jemand so schlecht mit mir umgegangen wie Ihr Mann.» Und Mama musste sie heimlich in der Küche trösten: «Wir sind trotzdem dankbar, dass Sie für uns arbeiten.» Frau Mus ist die Einzige, die es in Papas Geschäft schon seit Jahren aushält. Zum Ausgleich raucht sie Kette auf dem Balkon. Mama muss aber auch ganz schön die Zähne zusammenbeißen, weil Papa sie gerne mal vor den Probezeitlern als «dumme Nuss» bezeichnet.

Ich mache noch einen Schritt, gehe durch alle Räume, zurück ins Hinterzimmer, wo nur mein Bett steht, ein paar Kartons als Ablagefläche und ein Strauß Strohblumen in so einer selbst getöpferten Vase von Mama. An der Wand hängt Arthur, lächelt fröhlich auf mich herunter. Und ich sage: «Ich vermisse dich.»

Heute Abend veranstaltet meine Freundin Tessi eine Party im Wohnzimmer ihrer Mutter, wo dieses große Aquarium steht. Lila beleuchtet, dazu geklöppelte Deckchen auf den Tischen, Zinnteller an den Wänden und so weiter. Das wird richtig langweilig. Mit Tessi ist nichts los, außer dass sie gewaltige Brüste hat. Mein lieber Schwan! Ich kann nicht begreifen, wie man so brav sein kann, vor allen Dingen, wenn man aus so wirren Verhältnissen kommt. An ihrer Stelle würde ich richtig randalieren, ihre Mutter war nämlich schon zweimal verheiratet und ihr Vater auch. Trotzdem mag ich Tessi gerne, weil sie immer freundlich ist und ich ihr alles erzählen kann, was familiär gerade wieder schief läuft. Tessi wundert nichts mehr, die kennt das alles von ihrem Zuhause. Darum weiß Tessi alles über mich, und ich weiß alles über sie. Besonders über ihren Vater. Der hat gerade eine heimliche Affäre mit der besten Freundin ihrer Mutter laufen. Das hat mir Tessi letztes Mal im Chor gesteckt, wo wir nebeneinander sitzen. Bei diesem Spießer-Verein haben wir uns übrigens auch kennen gelernt. Und genauso spießig wird ihre Party: mit klassischer Musik, Schnittchen und moralisch einwandfreien Leuten, die keine Zigaretten rauchen, sich über ihre Schulaufgaben unterhalten und gebügelte Blüschen anhaben. Das ist nicht mein Feld. Ich will das Leben spüren! Ich sage nur: Live fast, die young! Den Spruch hat jemand unten an Papas Garagentor gesprüht. Na ja. Trotzdem gehe ich hin, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll.

Auf der Türschwelle vor Tessis Haus hockt ein Junge mit langen Haaren, offenem Hemd und Zigarette. Ich würde sagen, so eine Art Rock-’n’-Roll-Freak! Also genau mein Typ. Darum wäre es gut, wenn er mich wahrnehmen würde, bevor ich es mir oben mit den Langweilern gemütlich mache. Mehr will ich gar nicht. Nur, dass er mich sieht und weiß, dass es mich gibt. Keine Ahnung, was mir das bringt, denn ich bin ja schon an Arthur vergeben. Vielleicht, dass meine Jugend nicht verschenkt ist. Ich meine, ein Kunstwerk hängt man ja auch an die Wand, damit die Leute es bestaunen können. Also bleibe ich vor ihm stehen, und er blinzelt zu mir nach oben.

«Hi.»

Ich gucke ihm gleich mal in die Augen, um zu prüfen, ob sich seine Pupillen weiten. Ich habe nämlich irgendwo gelesen, dass das passiert, wenn man jemanden erregend findet. Leider hängen ihm zu viele Haare vor dem Gesicht, sodass der Test missglückt. Auch sonst deutet an seinem Verhalten nichts darauf hin, dass er mich umwerfend findet. Er rückt stumpf zur Seite, und mir bleibt nichts anderes übrig, als an ihm vorbei ins dunkle Treppenhaus zu gehen, bis in den zweiten Stock. Mann, mit dem hätte ich gerne den Abend verbracht. Der sah so richtig verrucht und gefährlich aus. Aber was soll ich machen? Ich kann ihn ja nicht einfach ansprechen und sagen: «Na, heute schon was vor?» Eins ist auf jeden Fall schon mal klar: So einen Typen treffe ich nie wieder. Der war eine echte Rarität.

Oben steht die Wohnungstür offen, und Tessis Mutter lehnt mit einer Zigarette zwischen den Fingern und knallrotem Lippenstift im Rahmen. Ich nehme an, sie hat schon ordentlich was getrunken. Eigentlich ist sie immer betrunken.

«Lelle, schön, dich zu sehen. Tessi wartet schon auf dich.»

«Guten Abend, Frau Jäger.»

«Geh rein, und nimm dir was zu trinken.»

Gerade als sie mich umarmen will, wird sie von einem zweiten Jungen mit langen Haaren zur Seite gedrückt. Sie stolpert rückwärts ins Badezimmer rein, und hier scheinen echt alle Jungs lange Haare zu haben. Wahnsinn! Der reinste Axl-Rose-Kongress ist das. Solche Männer habe ich Tessi gar nicht zugetraut, weil die eigentlich eher auf Piefköpfe mit Seitenscheitel und Brille steht. Eben so milchige Typen wie ihr Freund. Total unbelasteter Charakter. Der Junge mit den langen Haaren rennt an mir vorbei, die Treppen runter, und von drinnen ruft jemand: «Barry! Barry!» Aber der Junge rennt weiter und brüllt: «Jetzt nicht.»

In der Wohnung ist es voll. Überall stehen Leute mit langen Haaren und Bierflaschen in den Händen. Besonders im Wohnzimmer. Leute, das ist der Hammer! Hier ist kaum jemand, den ich kenne. Ich dachte, die ganze Chorbelegschaft rückt an. Von wegen! Höchstens zwei, drei Mädchen sind anwesend, der Rest sind harte Jungs mit Zigarettenpäckchen im T-Shirt-Ärmel. Leute, ich bin in Rock-City gelandet! Durch dieses Gerammel kommt mir Tessi entgegen, und ich muss sagen, sie sieht schlimm aus: Rotes Samtkleid mit goldener Stickerei über die Brust. So was würde ich nicht mal zu Fasching anziehen. Sie drückt mich fest an sich, ich drücke zurück, und dabei glotze ich direkt auf die goldene Stickerei, die sich über die Schulter nach hinten auf den Rücken ausweitet, und das Ganze riecht nach Mottenkugel.

«Wer sind diese Leute?»

«Keine Ahnung. Die sind mit der Band mitgekommen.»

«Welche Band?»

«Blockshock. Die spielen gleich.»

«Aha.»

«Die bauen nur noch schnell auf.»

Dann lässt sie mich wieder stehen, weil noch mehr Leute ankommen, ihr auf die Stickerei klopfen und sagen: «Barry hat gemeint, wir sollen kommen.» Um nicht albern rumzustehen, verdrücke ich mich in die hinterste Zimmerecke, gucke zu, wie die Jungs mit den langen Haaren ein Schlagzeug am Aquarium vorbeischleppen und im Erker zwischen den Palmen aufbauen. Danach kommen die Verstärker, Kabel werden über den Teppich geworfen, und dabei fliegt auch schon die erste Bierflasche um. Barry gibt ihr einen Tritt, stöpselt seine Gitarre ein, spielt gleich mal ein paar Akkorde. Die angeschlagenen Töne wummern um unsere Köpfe, in der Anrichte klirren die Gläser, und ich weiß: Meine Schwester Cotsch würde alles dafür geben, hier zu sein. Ich sage euch, hier vibriert die Luft. Leute, das ist Leben! Barry wirft seine Haare nach hinten, auf dem Oberarm hat er eine große grüne Tätowierung: ein Drache. Oh Mann, das zündet richtig rein! Aber das Beste ist: Der Junge von draußen sitzt am Schlagzeug, die Trommelstöcke im Anschlag. Er hat mich im Blick, ich habe ihn im Blick, also winke ich ihm zu, und genau in diesem Moment stellt sich der Sänger mit dem Jack-Daniels-T-Shirt und den langen Locken zwischen uns. Er brüllt in sein Mikrophon: «You are in the jungle, Baby!» Und dann geht es richtig los. Alle bis auf mich und ein paar Trantüten schleudern ihre Köpfe im Kreis, stampfen mit den Füßen auf, springen hoch bis zur gläsernen Hängelampe. Tessi quetscht sich zu mir durch, und ich schreie in ihr Ohr:

«Darf man hier rauchen?»

«Klar.»

«Woher kennst du Blockshock?»

«Aus meiner Klasse.»

«Alle?»

«Bis auf den Sänger, der ist eine drunter.»

Ich lasse mir die Ohren von langhaarigen Jungs mit Gitarren und Jack-Daniels-T-Shirts wegdröhnen. Das tut gut. Um mich herum schubsen sich die Gäste in die Regale, gegen das Aquarium, und mein Freund, mit dem ich noch nie geschlafen habe, matscht in Afrika mit Lehm rum. Das kotzt mich so was von an, doch zum Ausgleich finde ich den Schlagzeuger ziemlich attraktiv. Irgendwie erinnert er mich an Arthur, vielleicht wegen seiner Frisur. Aber auch sonst ist er mir sympathisch. Die Blätter der Topfpalme hängen ihm ins Gesicht, und er drischt trotzdem weiter auf seine Trommeln ein. Zauberhaft, wirklich ganz zauberhaft!

«Wie heißt der Schlagzeuger?»

«Marcel … ist schon zweimal sitzen geblieben.»

«Aha.»

Leider gesellt sich Tessis langweiliger Freund «Brille» zu uns, sodass ich nicht mehr weiterfragen kann. Gleich legt er besitzergreifend den Arm um sie und schmust so Dirty-Dancing-mäßig mit ihr rum. Tessi kichert verlegen, und ich frage mich, ob Brille das nicht auf später verschieben kann. Der Typ ist richtig daneben. Trotzdem hat sich Tessi letztes Wochenende mit ihm bei Tortellini und einem Glas Rotwein «verlobt». Das hätte sie sich echt sparen können. Speziell bei diesem Piefkopf. Sobald ich den sehe, werde ich richtig müde. Aber Tessi behauptet: «Der Sex ist granatenmäßig.» Wenn sie meint. Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie Brille an ihren großen Brüsten rummacht. Der ist bestimmt pervers. Solche Typen sind immer pervers. Das weiß ich von Cotsch. Die hat auch schon ihre Erfahrungen mit solchen Piefköpfen gemacht. Na ja. Ist zum Glück nicht meine Sache.

Als die Jungs mit ihrem ersten Lied fertig sind, klatscht Tessis Mutter hysterisch in die Hände und stürzt sich auf den geschockten Sänger, um ihm einen Kuss ins Gesicht zu drücken. Die Lady hat Mut, das kann man sagen. Tessi meint: «Sie ist eben Alkoholikerin.» Und als Nächstes redet Tessi schon wieder von ihren Hochzeitsplänen und zeigt mir ihren zweifelhaften Verlobungsring. Ich nicke nur und sage: «Toll!» Ich will ihr ja nicht die Freude nehmen. Ist doch schön, wenn jemand an die ewige Liebe glaubt. Seit ich denken kann, sagt meine Mutter zu mir und meiner Schwester: «Heiratet bloß nicht, Kinder!» Und wenn ich mir meine Eltern so ansehe, ist das ein guter Tipp. Außerdem weiß ich sowieso nicht, wen ich heiraten sollte. Arthur ist in Afrika, und in seinen Briefen steht, dass er noch tausend Brunnen und Hütten bauen will. Ich freue mich echt für ihn, dass er etwas gefunden hat, was ihn ausfüllt. Das ist das Beste, was einem passieren kann. Mama sieht das genauso, darum hat sie mir neulich braune Wolle mitgebracht und gemeint: «Häkel doch mal wieder. In der Grundschule hat dir das doch so viel Freude gemacht.» Also habe ich ihr zuliebe ein paar Maschen aufgenommen und losgehäkelt. Das ist richtig was für Vollidioten, aber Mama war ganz glücklich: «Siehst du, nun hast du etwas, was dir Spaß macht.» Der Scheiß liegt jetzt irgendwo in einer Plastiktüte in der Zimmerecke. Wenn ich echt nicht mehr weiterweiß, kann ich mir ja die Nadel nehmen.

Gerade als ich so richtig in meinen Todesgedanken aufgehen will, passiert die Sache mit dem Aquarium. Ein Klumpen von Leuten fliegt dagegen, und das Ding kippt vom Gestell. Eine riesige Welle mitsamt den Fischen schwappt direkt ins Bücherregal, alles ist voller Wasser, besonders unsere Schuhe. Manche Gäste kriegen es trotzdem nicht mit, weil sie so wild am Rumtanzen sind. Die Band merkt auch nichts. Die spielen weiter «Knocking on Heaven’s Door», bis Frau Jäger den Stecker zieht und mit heiserer Stimme schreit: «Die Fische ertrinken! Äh, ersticken!» Da schnallen sogar die Jungs von Blockshock, dass was nicht in Ordnung ist, und lassen ihre Klampfen sinken. Das Licht geht an, und alle, bis auf mich und ein paar Trantüten, verpissen sich in Windeseile, so als hätten sie sich abgesprochen. Weg sind sie. Da stehen wir, die Übriggebliebenen, knöcheltief in der Algensauce: Tessi, ihre Mutter, ihr Verlobter, ich und die Trantüten. Um unsere Füße zappeln die Fische, und als ich einen Schritt zurück mache, trete ich leider auf einen kleinen drauf. Live fast, die young, sage ich nur.

Tessis Mutter gibt uns Plastikschüsseln, gefüllt mit Wasser, damit krabbeln wir über den überschwemmten Boden. Die Stimmung ist angespannt, hier geht es um Sekunden! Überall zappeln Fische, und wenn man endlich einen hat, glitscht er einem sofort wieder weg. Schade, dass nicht wenigstens der Schlagzeuger geblieben ist, Arthur hätte auf jeden Fall geholfen. Ganz hinten, unterm Sofa, bewegt sich auch noch ein kleiner Freund. Den will ich retten, um den Tod des anderen zu sühnen. Obwohl der Teppich nass ist, lege ich mich darauf, strecke den Arm aus, mein Kopf ist auch schon unter dem Sofa, da kommt noch das Gesicht vom Schlagzeuger dazu. Genial!

«Soll ich dir helfen?»

«Äh, ja … Dahinten an der Wand ist noch ein Fisch.»

«Rutsch mal zur Seite.»

Das mache ich. Wir stecken beide unter dem Sofa und retten einen Fisch. Leute, das ist großartig! Marcel kriegt ihn zu fassen, schließt die Faust und draußen, vor dem Sofa kniend, schenken wir ihm in meiner rosa Schüssel das Leben.

«Danke.»

«Wie heißt du?»

«Lelle.»

«Ich bin Marcel.»

«Ich weiß.»

Dieses Sich-gegenseitig-die-Namen-Sagen kommt mir vor, als würden sich Dschungel-Bewohner das Sprechen beibringen: Ich: Lelle. Du: Marcel. Und wie im Dschungel robben wir weiter durch den Morast und fangen Fische mit den Händen. Das hat echt was von so einer Art Überlebenskampf. Zum Schluss, als wir keinen Fisch mehr finden, stellen wir unsere Rührschüsseln mit den Geretteten vor das Klavier, und Tessis Mutter zählt die Übriggebliebenen. Einige fehlen noch, aber wir wissen alle, dass die unter den Sohlen der verschwundenen Partygäste kleben. Da kann man nichts machen. Unter dem Bücherregal liegt auch noch einer, den habe ich da drunter geschubst. Es ist der, auf den ich vorhin getreten bin. Das verrate ich besser nicht, weil Marcel neben mir auf dem Teppich kniet und mich für seine Heldin hält. Bin ich ja auch, schließlich habe ich mindestens zehn Fische wieder belebt. Das soll mir erst mal einer nachmachen. Weil ich gerade so gut in Schwung bin, helfe ich noch mit, Handtücher auf dem Boden auszubreiten, um die Feuchtigkeit aufzusaugen. Dabei müssen wir uns auch beeilen, die Nachbarn sind nämlich schon von unten hochgekommen, weil bei ihnen das Wasser von der Decke auf die Möbel tropft. Das ist natürlich richtig ärgerlich. Papa würde ausflippen, wenn das seinen Möbeln passieren würde. Die sind nämlich sein Heiligtum und stehen in einem Museum für Möbel aus der Kolonialzeit. Bei allem, was sich bei meinen Eltern im Haus befindet, behauptet Papa, dass es in einem Museum für Möbel aus der Kolonialzeit steht. Darum dürfen meine Schwester Cotsch und ich uns nirgendwo ohne Überdecke draufsetzen. Papa sagt: «Ihr macht nur Flecken auf die Ledersitze.» Na ja. Marcel nimmt mir die feuchten Tücher ab, schleppt sie ins Bad und wringt sie über der Badewanne aus. Danach breite ich sie wieder über den Teppich und sauge auf. Alle machen das so, und es ist eine sehr stille Arbeit. Niemand redet. Alle saugen und wringen, und als nichts mehr zu saugen ist, stellen Marcel und Brille die Reste vom Aquarium raus auf den Balkon. Dabei wedelt Tessis Mutter mit ihren Händen in der Luft rum und ruft: «Schneidet euch bloß nicht, Männer!» Aber da ist es auch schon passiert. An Marcels Arm rinnt das Blut herunter und tropft auf den nassen Teppich. Sofort soll ein Krankenwagen gerufen werden, doch Marcel schüttelt den Kopf und meint: «Nee, danke. Ist nicht nötig.» Tessis Mutter will trotzdem, darum nehmen Marcel und ich uns schnell bei der Hand und sagen:

«Tschüs, wir gehen.»