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Ergänzt durch eine Vielzahl praktischer Übungen, zeigt uns dieser frische und zugängliche Wegbegleiter, dass der Weg des Bodhisattva jedem und jeder von uns offensteht. In diesem Buch lädt Pema Chödrön uns ein, auf dem Weg des "Bodhisattva-Kriegers" voranzuschreiten - in Tiefe erläuternd, wie wir die Sanftheit unserer Herzen erwecken können und wahre Zuversicht finden inmitten der Herausforderungen unseres täglichen Lebens. Es ist nie zu spät enthüllt die traditionellen buddhistischen Lehren des "Bodhicharyavatara" (Eintritt in den Weg der Erleuchtung), ein Text, geschrieben von Shantideva, einem Weisen des achten Jahrhunderts. Dieser kostbare buddhistische Schatz ist für unsere Zeit von bemerkenswerter Bedeutung. Er beschreibt die Schritte, die wir gehen können, um Furchtlosigkeit, Zugewandtheit und Freude zu kultivieren. Die Unterweisungen, die auch Pema Chödrön selbst durch das Leben geleiten, sind der Schlüssel zur Selbstheilung und zur Heilung unserer geschundenen Welt
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Seitenzahl: 443
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Pema Chödrön
Es ist nie zu spät
Pema Chödrön
Es ist nie zu spät
Ein aktueller Reiseführerfür den Weg des Bodhisattva
Herausgegeben von Helen Berliner
Aus dem Amerikanischen von Michael Schaefer
Copyright © 2005 Pema Chödrön
Copyright © der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt 2007,
published by arrangement with Shambala Publications, Inc.,
300 Massachusetts Avenue, Boston, Massachusetts 02115
English translation of The Way of the Bodhisattva (Bodhicharyavatara)
Copyright © 1997 Padmakara Translation Group, reprinted with permission
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
No time to lose
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2018
Titelfoto © 2007 Nancy Jo Johnson
Lektorat: Eva Bachmann
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-243-6
Vor meinem Lehrer,Chögyam Trungpa Rinpoche,verneige ich mich
Inhalt
Leute wie wir können etwas bewirken
1 Eine klare Intention entwickeln
2 Die Grundlagen legen
3 Das Zögern überwinden
4 Intelligent vorgehen
5 Den Geist zähmen
6 Die drei Disziplinen
7 Mit Aggression umgehen
8 Besondere Situationen, um Geduld zu üben
9 Enthusiasmus
10 Herzzerreißendes Samsara
11 Die Barrieren abbauen
12 Widmung
Dank
Anhang
Glossar
Anmerkungen
Literaturhinweise
Leute wie wirkönnen etwas bewirken
„Der Weg des Bodhisattva“ wurde vor über zwölf Jahrhunderten in Indien verfasst und hat bis heute nichts von seiner Aussagekraft verloren. Dieser klassische Text, geschrieben von dem indischen Weisen Shantideva, gibt Menschen wie Ihnen und mir überraschend aktuelle Hinweise, wie man sogar in einer sehr unruhigen Welt auf vernünftige und großmütige Weise leben kann. Es ist der unverzichtbare Reiseführer für angehende bodhisattvas, für jene spirituellen Krieger, die Leiden lindern möchten, ihr eigenes und das anderer. Damit gehört es zum Mahayana, derjenigen Schule des Buddhismus, die die Entwicklung umfassenden Mitgefühls und die Hervorbringung unseres flexiblen, vorurteilslosen Geistes der Weisheit zum Ziel hat.
Der Tradition zufolge muss man, um einen Kommentar zu einem Text wie dem „Weg des Bodhisattva“ (in Sanskrit: Bodhicharyavatara) zu schreiben, über fortgeschrittene spirituelle Erkenntnis verfügen oder in einem Traum aufgefordert worden sein, solch eine Abhandlung zu verfassen. Da ich leider keine dieser beiden Voraussetzungen erfülle, biete ich diese Lehren einfach an mit dem aufrichtigen Wunsch, dass dadurch neue Leser von Shantidevas Text genauso profitieren mögen wie ich.
Meine eigene Wertschätzung für den „Weg des Bodhisattva“ entwickelte sich langsam und erst, nachdem ich mit Patrul Rinpoche, dem großen tibetischen Wander-Yogi des 19. Jahrhunderts, vertraut geworden war. Durch seine Schriften und die unglaublichen Geschichten, die man sich über ihn erzählte, erwuchsen in mir großer Respekt und große Liebe zu diesem Mann. Er hatte keinen festen Wohnsitz, besaß nichts und war ausgesprochen ungezwungen und unkonventionell. Trotzdem war er ein eindringlicher und sehr weiser Lehrer, dessen spirituelle Erkenntnis sich in allen Lebenssituationen manifestierte. Er war äußerst mitfühlend und zärtlich zu den Menschen, aber auch rückhaltlos ehrlich.
Als ich entdeckte, dass Patrul Rinpoche diesen Text Hunderte von Malen gelehrt hatte, wurde ich hellhörig. Er wanderte also in Tibet umher und unterrichtete jeden, der zuhörte: Reiche und Arme, Nomaden und Adlige, Gelehrte und einfache Leute, die nie buddhistische Lehren studiert hatten. Als ich das hörte, dachte ich: „Wenn dieser exzentrische Mann, dieser kompromisslose Yogi den Text so geliebt hat, muss etwas dran sein.“ Also fing ich an, ihn ernsthaft zu studieren.
Manche Menschen lieben den „Weg des Bodhisattva“ von der ersten Lektüre an, aber zu denen gehörte ich nicht. Ganz ehrlich, wäre meine Bewunderung für Patrul Rinpoche nicht gewesen, hätte ich nicht durchgehalten. Als ich aber angefangen hatte, mich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen, rüttelte mich der Text aus einer zur Gewohnheit gewordenen Selbstgefälligkeit auf, und ich begann die Dringlichkeit und die Relevanz dieser Lehren zu erkennen. Unter Shantidevas Anleitung erkannte ich, dass Leute wie wir etwas bewirken können in einer Welt, die Hilfe bitter nötig hat.
Zudem verspürte ich den Wunsch nach einem Kommentar, der nicht so gelehrt sein sollte wie die bisherigen, einem Kommentar für ein breiteres Publikum, zugänglich auch für Menschen, die nichts von den buddhistischen Lehren wissen.
Aus diesen Gründen war ich durchaus neugierig, es selbst einmal zu versuchen, als ich gebeten wurde, den „Weg des Bodhisattva“ am Studieninstitut des Klosters Gampo Abbey zu unterrichten. Die Transkripte jener Vorträge bilden die Basis dieses Buches. Mein Kommentar zu Shantidevas Lehren ist über weite Strecken die Sichtweise einer Lernenden und kein abgeschlossenes Werk. Zweifellos wird sich durch die Hilfe meiner Lehrer mein Verständnis dieser Verse im Lauf der Zeit beträchtlich weiterentwickeln; dennoch freue ich mich aufrichtig, dass ich meine Begeisterung für Shantidevas Ratschläge mit anderen teilen kann.
Shantideva wurde im 8. Jahrhundert in Indien als Prinz geboren und war als ältester Sohn zum Thronfolger bestimmt. Einem der verschiedenen Berichte hierüber zufolge hatte Shantideva in der Nacht vor der Krönung einen Traum, in dem ihm Manjushri, der Bodhisattva der Weisheit, erschien und ihm riet, dem weltlichen Leben zu entsagen und die letztendliche Wahrheit zu suchen. Auf der Stelle verließ Shantideva sein Zuhause und gab für den spirituellen Weg den Thron auf, wie es auch der historische Buddha getan hatte.
Einer anderen Version zufolge nahm Shantidevas Mutter für das zeremonielle Bad am Vorabend seiner Krönung kochend heißes Wasser. Als er sie fragte, warum sie ihn mit Absicht verbrühe, antwortete sie: „Mein Sohn, dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, was du als König wirst ertragen müssen“, und noch in derselben Nacht brach er hastig auf.
Was auch immer der Auslöser war, Shantideva verschwand und begann ein Leben der Entsagung zu führen. Irgendwann kam er an die Nalanda-Universität, das größte, einflussreichste Kloster zu jener Zeit in Indien, einen Ort höchster Gelehrsamkeit, der Studenten aus der ganzen buddhistischen Welt anzog. In Nalanda wurde er zum Mönch ordiniert und bekam den Namen Shantideva, wörtlich „Friedensgottheit“.
Im Gegensatz zu dem Ruf, den er später genoss, mochte man Shantideva in Nalanda nicht besonders. Anscheinend gehörte er zu der Sorte von Leuten, die sich nie blicken ließen, nicht lernten und nicht zur Praxis erschienen. Die anderen Mönche sagten über ihn, seine drei „Verwirklichungen“ seien Essen, Schlafen und Scheißen. Um ihm eine Lektion zu erteilen, luden sie ihn schließlich ein, vor der gesamten Universität einen Vortrag zu halten. Solch eine Ehre wurde nur den besten Studenten erwiesen. Man musste auf einem Thron sitzen und natürlich auch etwas zu sagen haben. Da man annahm, Shantideva wisse nichts, dachten die Mönche, er würde sich nach solch einer Demütigung beschämt von der Universität fortstehlen. Das ist die eine Geschichte.
Eine andere zeichnet ein etwas sympathischeres Bild von Nalanda. Ihr zufolge hofften die Mönche, sie könnten Shantideva durch solch eine peinliche Situation zum Lernen motivieren. Trotzdem empfanden sie wahrscheinlich, wie alle fühlenden Wesen, die jemandem eine Lektion erteilen wollen, eine gewisse Schadenfreude bei dem Gedanken, wie Shantideva sich winden würde. Es heißt auch, sie wollten ihn zusätzlich demütigen, indem sie den Thron ungewöhnlich hoch machten, aber die Treppe wegließen.
Zu ihrem Erstaunen hatte Shantideva keinerlei Schwierigkeiten, den Thron zu besteigen. Selbstsicher fragte er dann die versammelten Mönche, ob sie traditionelle Lehren hören wollten oder etwas, was sie noch nie gehört hatten. Als sie antworteten, sie wollten etwas Neues, trug er ihnen das gesamte Bodhicharyavatara vor, den „Weg des Bodhisattva“.
Diese Lehren waren nicht nur sehr persönlich, voll nützlicher Ratschläge und relevant für ihr Leben, sie waren auch sehr poetisch und frisch. Der Inhalt selbst war nicht radikal. In den allerersten Versen sagt Shantideva, dass alles, was er nun lehren werde, auf die Überlieferungslinie des Buddha zurückgehe. Nicht sein Thema war originell, sondern die direkte und zeitbezogene Art und Weise, wie er die Lehren darstellte, und dazu die Kraft und Schönheit seiner Worte.
Gegen Ende seiner Präsentation begann Shantideva, über die Leerheit zu sprechen: das nicht von Bedingungen abhängige, unaussprechliche, traumartige Wesen allen Erlebens. Während er sprach, wurden diese Lehren immer bodenloser. Es gab immer weniger, woran man sich hätte festhalten können, und das Bewusstsein der Mönche wurde immer offener. Es heißt, dass Shantideva an diesem Punkt zu schweben begann. Er levitierte so stark, dass die Mönche ihn nicht mehr sahen, sondern nur noch seine Stimme hörten. Vielleicht soll das nur besagen, wie hingerissen sein Publikum war. Wir wissen es nicht. Was wir jedoch wissen, ist, dass Shantideva nach seinem Vortrag über die Leerheit verschwand. Mittlerweile waren die Mönche wahrscheinlich eher enttäuscht deswegen, aber er kehrte nie mehr nach Nalanda zurück und blieb zeit seines Lebens ein umherwandernder Yogi.
„Der Weg des Bodhisattva“ ist in zehn Kapitel aufgeteilt. Patrul Rinpoche fasste sie in drei Hauptteilen zusammen, wobei er sich am folgenden Vers des großen buddhistischen Meisters Nagarjuna orientierte:
Möge Bodhichitta, kostbar und vortrefflich,
erscheinen, wo es noch nicht entstanden ist;
und wo es erschienen ist, möge es nicht schwinden,
sondern immer mehr wachsen und gedeihen.
Das Sanskritwort bodhichitta wird oft als „erwachtes Herz“ übersetzt und bezeichnet den intensiven Wunsch, Leiden zu lindern. Auf der relativen Ebene zeigt sich Bodhichitta als Sehnsucht. Genauer gesagt, ist es das dringende Verlangen, sich von dem Schmerz der Ignoranz und der Gewohnheitsmuster freizumachen, damit man anderen helfen kann, dasselbe zu tun. Diese Sehnsucht, das Leiden anderer zu lindern, ist der zentrale Punkt. Wir fangen vor unserer eigenen Haustür an, um denen zu helfen, die wir kennen und lieben, aber die grundsätzliche Inspiration ist global und alles umfassend. Bodhichitta ist eine Art „mission impossible“: der Wunsch, das Leiden aller Wesen zu beenden, einschließlich derer, denen wir nie begegnen werden, und auch derer, die wir verabscheuen.
Auf der absoluten Ebene ist Bodhichitta nicht-duale Weisheit, die grenzenlose, unparteiische Essenz des Geistes. Und das Wesentliche ist: Es ist unser Geist – Ihrer und meiner. Er scheint vielleicht weit weg, aber er ist es nicht. Ja, Shantideva verfasste diesen Text sogar, um sich daran zu erinnern, dass er mit diesem Geist in Berührung kommen und ihn zum Blühen bringen konnte.
Patrul Rinpoches Dreiteilung zufolge erläutern die ersten drei Kapitel von „Der Weg des Bodhisattva“ die Anfangszeilen von Nagarjunas Vers – „möge Bodhichitta, kostbar und vortrefflich, erscheinen, wo es noch nicht entstanden ist“ – und beziehen sich auf unsere ursprüngliche Sehnsucht, uns um andere zu kümmern. Wir sehnen uns danach, dass diese transformative Qualität in uns selbst und in allen Wesen ans Licht kommt, sogar in denen, die sich vorher noch nie für das Wohlergehen anderer interessiert haben. Das erste Kapitel ist eine Lobeshymne auf die Wunderdinge von Bodhichitta. Das zweite Kapitel bereitet den Geist darauf vor, diese Bodhichitta-Sehnsucht zu nähren: Wir bereiten unseren Geist vor wie ein Gartenbeet, damit der Same von Bodhichitta darin wachsen kann. Das dritte Kapitel führt uns in das Bodhisattva-Gelübde ein, die Selbstverpflichtung, das eigene Leben zu nutzen, um anderen zu helfen.
Leider sind wir normalerweise so auf unsere eigene Bequemlichkeit und Sicherheit fixiert, dass wir kaum einen Gedanken darauf verschwenden, was andere durchmachen. Während wir unsere eigene Wut und unsere Vorurteile rechtfertigen, fürchten wir diese Eigenschaften bei anderen und prangern sie an. Wir wollen nicht, dass wir oder diejenigen, an denen uns etwas liegt, leiden, aber die Rache an unseren Feinden billigen wir. Wenn wir allerdings die katastrophalen Folgen dieses „Jeder ist sich selbst der Nächste“ in den täglichen Nachrichten sehen und hören, sehnen wir uns vielleicht danach, dass in den Herzen der Menschen auf der ganzen Welt Bodhichitta entstehen möge. Statt auf Rache aus zu sein, wünschten wir dann vielleicht, dass auch unsere Feinde Frieden erfahren.
Martin Luther King jr. verkörperte diese Sehnsucht in beispielhafter Weise. Er wusste, dass Glück von der Heilung der gesamten Situation abhängt. Partei zu ergreifen – schwarz oder weiß, Täter oder Opfer – verlängert nur das Leiden. Damit ich geheilt werden kann, müssen alle geheilt werden.
Die Menschen, die in dieser Welt wirklich etwas zum Guten verändern, haben ein großes Herz. In ihrem Denken ist Bodhichitta sehr lebendig. Mit den geeigneten Mitteln, um mit einer großen Zahl von Menschen zu kommunizieren, können sie enorme Veränderungen bewirken, sogar bei denen, die vorher noch nie auf die Bedürfnisse anderer geachtet haben. Das ist das Thema der ersten drei Kapitel: das erste Aufschimmern des erwachten Herzens.
Die nächste Zeile von Nagarjunas Vers – „und wo es erschienen ist, möge es nicht schwinden“ – entspricht den nächsten drei Kapiteln im „Weg des Bodhisattva“ und betont, wie wichtig es ist, das Bodhichitta zu stärken. Wenn wir sie nicht fördern, kann unsere Sehnsucht, Leiden zu lindern, wieder einschlafen. Obwohl sie nie völlig verschwindet, kann unsere Liebes- und Empathiefähigkeit definitiv abnehmen.
Dasselbe trifft auf unsere Einsichten zu. Schon eine bloße Ahnung von der Offenheit unseres Geistes kann uns tief berühren. Sie inspiriert uns vielleicht, Bücher wie dieses hier zu lesen und ein Gefühl der Dringlichkeit zu wecken, dass wir mit unserem Leben etwas Sinnvolles anfangen sollten. Wenn wir diese Inspiration aber nicht verstärken, schwindet sie. Der Alltag gewinnt die Oberhand, und wir vergessen, dass wir das Ganze einmal aus einer größeren Perspektive gesehen haben. Deshalb müssen wir wissen, wie wir vorzugehen haben, sobald wir die Bodhichitta-Sehnsucht spüren.
In den Kapiteln vier, fünf und sechs beschreibt Shantideva, wie man mit emotionaler Impulsivität und der Wildheit unseres Denkens geschickt umgeht. Dies sind zentrale Instruktionen, damit wir uns von unserer Ichbezogenheit freimachen können, von diesem engstirnigen Bezugspunkt, den mein Lehrer Chögyam Trungpa Rinpoche den „Kokon“ nannte.
In diesen Kapiteln werden uns auch die sechs paramitas vorgestellt. Das sind sechs grundlegende Methoden, wie man die falsche Sicherheit der Gewohnheitsmuster hinter sich lässt und sich mit der fundamentalen Bodenlosigkeit und Unberechenbarkeit des Lebens anfreundet. Das Wort paramita bedeutet wörtlich „das andere Ufer erreichen“, die üblichen vorgefassten Meinungen hinter sich lassen, die einen für das unmittelbare Erleben blind machen.
Im fünften Kapitel präsentiert Shantideva die Paramita der Disziplin, in Kapitel sechs die Paramita der Geduld. Es handelt sich aber nicht um Disziplin und Geduld in der gewöhnlichen Bedeutung von Selbstbeherrschung und Nachsicht; es geht um die Disziplin und die Geduld, die unser Herz aufwecken, indem sie unseren eingefleischten Negativismus und Egoismus auflösen.
Die Kapitel sieben, acht und neun beleuchten die letzte Zeile in Nagarjunas Vers und enthalten Lehren, die Bodhichitta unterstützen, damit es „immer mehr wächst und gedeiht“. Das siebte Kapitel befasst sich mit der Paramita des Enthusiasmus, das achte mit der Paramita der Meditation und das neunte mit der Weisheit der Leerheit.
In diesem dritten Abschnitt zeigt uns Shantideva, wie Bodhichitta zu einer Lebenseinstellung werden kann. Mit seiner Unterstützung könnten wir uns auf Situationen einlassen, die uns aufs Äußerste herausfordern, ohne unser Verständnis oder unser Mitgefühl zu verlieren. Das ist natürlich ein schrittweiser Lernprozess, in dem es auch Rückschritte geben kann. Aber auf unserem Weg von der Angst in die Furchtlosigkeit hat Shantideva immer Weisheit und Ermutigung für uns, wenn wir sie brauchen.
Nach reiflicher Überlegung bin ich der Meinung, dass ein Kommentar zum neunten Kapitel ein eigenes Buch erfordert. Zwar sind diese Lehren über die Paramita der Weisheit wichtig im Gesamtzusammenhang des Werkes, aber sie sind im Vergleich zum restlichen Text geradezu furchteinflößend anspruchsvoll. Sie präsentieren eine philosophische Debatte zwischen Shantidevas „Mittelweg“-Auffassung von der Leerheit und den Auffassungen anderer buddhistischer und nicht-buddhistischer Schulen. Wegen der Komplexität dieser Thematik halte ich es für besser, sie separat und zu einem späteren Zeitpunkt zu präsentieren. Für den Moment verweise ich auf die hervorragende Erläuterung, die sich in der Einleitung zur Padmakara-Übersetzung von Shantidevas Text findet, und auf das Buch Transcendent Wisdom von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama.1
Im zehnten und letzten Kapitel widmet Shantideva den Nutzen seiner Lehren – mit großem Nachdruck und aus tiefstem Herzen – allen leidenden Wesen, wer sie und wo sie auch immer sein mögen.
Ich betrachte diesen Text als ein Handbuch, wie man sich für andere öffnet, eine Anleitung für mitfühlendes Handeln. Wir können es lesen, um uns von Verwirrung zu befreien und von Gewohnheiten, die uns deformieren. Wir können es lesen, um damit unsere Weisheit und unser Mitgefühl zum Wachsen zu ermutigen. Und wir können es mit der Motivation lesen, den daraus entstehenden Nutzen mit jedem zu teilen, dem wir begegnen.
Das ist die richtige Einstellung: Lesen Sie den „Weg des Bodhisattva“ mit der Absicht, all das anzunehmen und zu verarbeiten, was sich richtig anhört. Nicht alles wird Sie inspirieren. Vielleicht finden Sie die Sprache gewöhnungsbedürftig, und manchmal fühlen Sie sich vielleicht provoziert oder angegriffen. Aber denken Sie daran, dass es Shantidevas beharrliche Absicht ist, uns Mut zu machen. Er zweifelt nie daran, dass wir die Kraft und das grundlegend Gute in uns haben, um anderen zu helfen, und wie man das macht, darüber sagt er uns alles, was er gelernt hat. Und dann liegt es natürlich an uns, diese Informationen zu nutzen und sie umzusetzen.
Persönlich fühle ich mich Shantideva für seine Entschlossenheit zu Dank verpflichtet, mit der er diese Botschaft vermittelt: Menschen wie Sie und ich können unser Leben ändern, indem wir die Sehnsucht des Bodhichitta wachrufen. Und ich bin ihm tief dankbar, dass er unaufhörlich ausspricht, dass das dringend, sehr dringend ist. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn ich mir den heutigen Zustand der Welt anschaue, weiß ich, dass es keine aktuellere Botschaft geben könnte.
Und nun, solange der Weltraum besteht,
solange es irgendwo Lebewesen gibt,
solange möge auch ich bei ihnen sein,
um den Kummer der Welt zu vertreiben.
Der Weg des Bodhisattva, Strophe 10.55
1
Eine klare Intention entwickeln
Das unübertreffliche Bodhichitta
Das erste Kapitel des Bodhicharyavatara ist ein ausführliches Loblied auf Bodhichitta. Shantideva beginnt mit etwas Positivem: Wir können mit dem Allerbesten in uns anfangen und anderen helfen, das Gleiche zu tun. Bodhichitta ist eine fundamentale menschliche Weisheit, die den Kummer der Welt vertreiben kann.
Bodhi heißt „erwacht“: frei von gewöhnlichem verwirrtem Denken, frei von der Illusion, dass wir voneinander getrennt seien. Chitta heißt „Herz“ oder „Geist“. Shantideva sowie dem Buddha, der vor ihm kam, zufolge liegt im unparteiischen Geist2 und im guten Herzen von Bodhi der Schlüssel zu Glück und Frieden.
Shantideva beginnt seine Unterweisung mit einer traditionellen vierteiligen Eröffnung. Zuerst drückt er seine Dankbarkeit und seinen Respekt aus. Zweitens verpflichtet er sich, seine Präsentation auch zu Ende zu bringen. Drittens bekennt er sich zur Demut, und in Strophe 3 ermuntert er zur Zuversicht. Dieser formelle Beginn war den Mönchen in Nalanda sehr vertraut, aber seine persönliche Note und seine Frische machten ihn einzigartig.
1.1
Vor denen, die im Glück verweilen, dem Dharma, den sie gemeistert haben, und vor all ihren Erben,
vor all denen, die Verehrung verdienen, verneige ich mich.
gemäß der Tradition will ich nun in Kürze beschreiben,
wie man in die Disziplin eines Bodhisattva eintritt.
Diese Anfangszeilen zollen den „Drei Juwelen“ Tribut: dem Buddha, dem Dharma und dem Sangha. In der klassischen Formel wird der historische Buddha als Beispiel oder Vorbild betrachtet. Der Dharma bezeichnet seine Lehre und der Sangha die praktizierenden Mönche und fortgeschrittenen Bodhisattvas. Shantideva vertieft hier jedoch unser Verständnis davon ein wenig.
Die, „die im Glück verweilen“ schließt natürlich die Buddhas ein, aber es bezieht sich auch auf unser Potential. Auch wir können uns von den Hoffnungen und Ängsten unserer Ichbezogenheit freimachen. Das Glück, die Wirklichkeit ohne diese Begrenzungen wahrzunehmen, ist unser Geburtsrecht. Somit verneigt sich Shantideva nicht vor irgendetwas außerhalb Liegendem, sondern vor seiner eigenen Fähigkeit zur Erleuchtung. Er verehrt diejenigen, die verwirklicht haben, was für uns alle möglich bleibt.
Der „Dharma, den sie gemeistert haben“, bezieht sich nicht nur auf schriftliche und mündliche Unterweisungen, sondern auch auf die Wahrheit direkter Erfahrung, auf das unmittelbare, unzensierte Leben, wie es ist. Was immer wir erleben – gut, schlecht, glücklich, traurig –, kann uns aus unserer Ichbezogenheit befreien. Wenn wir diese sich ständig bietenden Gelegenheiten nutzen, dann ist alles, was uns begegnet, Dharma.
„All ihre Erben“ bezieht sich auf den gereiften Sangha voll großer Vernunft3 und großem Mitgefühl, aber es schließt auch Bodhisattvas in spe ein. Jede(r) von uns, der bereit ist, die eigene Selbstherrlichkeit hintanzustellen und Wege zu finden, sich um andere zu kümmern, wird als Buddhas Erbe betrachtet.
Um seine Dankbarkeit auszudrücken, verneigt er sich zum Schluss vor den Lehrern und Freunden, die ihm auf seinem Weg geholfen haben.
Als zweiten Schritt in seiner traditionellen Eröffnung präsentiert Shantideva sein Thema und verpflichtet sich, es vollständig und ohne Unterbrechungen abzuhandeln. Außerdem will er das „gemäß der Tradition“ tun und präsentieren, was er vom Buddha, dem Dharma und dem Sangha und auch seinen anderen Lehrern gelernt und verstanden hat.
Die Kraft solcher Selbstverpflichtung ist kaum zu überschätzen. Bis wir uns definitiv entschließen, eine Aufgabe anzugehen und sie auch zu Ende zu bringen, ist immer Zögern und Zaudern im Spiel. Erinnern wir uns, dass Shantideva zu seinem Vortrag von Mönchen eingeladen worden war, die ihn demütigen wollten. In Anbetracht dieses Publikums war ihm wahrscheinlich ein wenig mulmig. Deshalb ruft er einen nicht vom Ego abhängigen Mut zu Hilfe, der sich nicht so leicht einschüchtern lässt, sondern nach vorn schaut.
1.2
Was ich zu sagen habe, ist alles schon einmal gesagt worden,
und ich bin nicht sehr gebildet oder rhetorisch gewandt.
Ich meine deshalb nicht, anderen damit nützen zu können;
ich schreibe es nur, um mein Verständnis zu stabilisieren.
Indem er eine Bescheidenheit beschwört, die gleichfalls traditionell ist, bringt Shantideva klar zum Ausdruck, dass er sich der Gefahr der Arroganz bewusst ist. Er weiß: Hätte er nur seinen Stolz im Kopf, würde es ihm nicht einmal etwas nützen, wenn der Buddha persönlich vor ihm säße.
Bescheidenheit sollte allerdings nicht mit mangelndem Selbstwertgefühl verwechselt werden. Wenn Shantideva sagt, er sei „nicht sehr gebildet oder rhetorisch gewandt“, dann ist das keine Selbsterniedrigung. Das mangelnde Selbstwertgefühl, das im Westen so weit verbreitet ist, beruht auf einer festen Vorstellung individueller Unfähigkeit. Shantideva ist fest entschlossen, solch einengenden Identitäten nicht in die Falle zu gehen. Er ist einfach bescheiden genug zu wissen, wo er selber nicht weiterkommt, und intelligent genug zu erkennen, dass er die Mittel zu seiner Befreiung selber besitzt.
In den letzten Versen dieser Strophe erläutert Shantideva, dass er dieses Werk ursprünglich zur persönlichen Ermutigung verfasst habe und sich nie hätte träumen lassen, es mit anderen zu teilen.
1.3
So wird meine Zuversicht für kurze Zeit gestärkt,
damit ich mich an diesen Pfad der Tugend gewöhne.
Wenn aber andere nun zufällig auf meine Worte stoßen,
mögen sie, vom Glück begünstigt wie ich, davon ebenfalls profitieren.
In Strophe 3 vervollständigt Shantideva die traditionelle Eröffnung, indem er Zuversicht weckt. Diesen Text zu verfassen und ihm gemäß zu leben macht ihm große Freude. Der Gedanke, dass nun auch andere von seiner Selbstreflexion profitieren könnten, macht ihn noch glücklicher.
In diesem Geist der Freude und Dankbarkeit beginnt Shantideva dann mit dem Hauptteil seiner Präsentation.
1.4
So schwer zu finden, diese Annehmlichkeiten, dieser Reichtum,
die uns helfen, dem Dasein als Mensch Sinn zu geben!
Wenn ich es jetzt nicht schaffe, daraus Nutzen zu ziehen,
wie soll ich jemals eine zweite Chance dazu bekommen?
Vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen ist das menschliche Leben sehr wertvoll. Shantideva geht davon aus, dass wir den hohen Wert dieser vergleichsweise großen „Annehmlichkeiten“ und dieses „Reichtums“ verstehen. Er drängt uns, uns unsere gute Situation vor Augen zu führen und die Gelegenheit, etwas Sinnvolles mit dem Leben anzufangen, nicht zu verpassen.
Dieses Leben ist jedoch nur ein momentanes und dann wieder entschwindendes Fenster der Möglichkeiten. Keiner von uns weiß, was kommt. Während ich mit meinen Sangha-Brüdern und -Schwestern älter geworden bin, habe ich viele Freunde sterben sehen oder erlebt, wie sich ihre Gesundheit oder ihre seelische Stabilität dramatisch verschlechterte. Genau jetzt, im Moment, ist unsere Situation exzellent, auch wenn wir unser Leben bei weitem nicht als vollkommen empfinden. Wir sind intelligent, wir haben Lehrer und die Lehren zur Verfügung und zumindest eine gewisse Neigung, zu studieren und zu meditieren. Aber einige von uns werden sterben, noch bevor dieses Jahr um ist; und in den nächsten fünf Jahren werden einige von uns zu krank oder zu schmerzgeplagt sein, um sich auf einen buddhistischen Text zu konzentrieren, geschweige denn danach zu leben.
Außerdem werden viele von uns sich von weltlichen Angelegenheiten ablenken lassen – zwei, zehn, zwanzig Jahre lang oder den Rest des Lebens – und keinen Freiraum mehr haben, sich von den Zwängen der Ichbezogenheit freizumachen.
In der Zukunft könnten auch äußere Umstände wie Krieg oder Gewalt so allgegenwärtig werden, dass wir keine Zeit mehr haben, uns selbst ehrlich zu hinterfragen. Das könnte sehr leicht passieren. Oder wir gehen in die Bequemlichkeitsfalle: Wenn das Leben sehr angenehm, so luxuriös und behaglich ist, ist der Leidensdruck zu gering, um uns von weltlichen Ablenkungen abzubringen. Wir lassen uns selbstgefällig einlullen und werden gleichgültig gegenüber dem Leiden unserer Mitwesen.
Der Buddha versichert uns, dass unsere menschliche Geburt ideal ist, mit genau der richtigen Mischung aus Freude und Schmerz. Wichtig ist, dass wir diese günstige Gelegenheit nicht vertun.
1.5
Wie wenn ein Blitz das Dunkel der Nacht zerreißt
und in gleißendem Licht enthüllt, was düstere Wolken verbargen,
genauso steigen manchmal, durch die Macht der Buddhas,
heilsame Gedanken auf in der Welt, kurzlebig und flüchtig.
1.6
Sieh doch diese ohnmächtige Schwäche des Guten!
Gäbe es nicht das vollkommene Bodhichitta,
so könnte nichts auf der Welt der großen
und überwältigenden Macht des Bösen standhalten.
In Strophe 5 und 6 wird das anfängliche Aufschimmern von Bodhichitta als flüchtig und zerbrechlich geschildert. Normalerweise heißt es in den Mahayana-Lehren, dass die Neurose flüchtig und substanzlos ist, wie Wolken im klaren blauen Himmel. Wenn unsere Emotionen mit uns durchgehen, betrachten uns die Buddhas nicht als dumm oder als hoffnungslosen Fall; sie sehen unsere Verwirrung einfach als Turbulenz an, kurzlebig und flüchtig, die durch unseren himmelsgleichen Geist zieht.
Aber die Strophen 5 und 6 sprechen nicht aus der Sicht der Buddhas und Bodhisattvas; sie sprechen von unserem Standpunkt aus. Wir sind diejenigen, die sich unter den Wolken gefangen fühlen: Vielleicht sind wir der ganzen Sache nicht gewachsen, vielleicht sind wir zu schwach. Obwohl wir ab und zu schon mal einen Lichtblick gehabt haben, kommt uns doch alles zu schwierig, zu qualvoll vor. Aus unserem Mund und aus dem Mund anderer hören wir oft solche Reden.
Statt unsere Macken als real und dauerhaft zu erleben, statt wahrhaftig zu glauben, das seien „wir“, könnten wir auch sagen: „Das ist einfach nur die momentane Wetterlage, das geht vorbei. Das ist nicht der Grundzustand.“ Aus Shantidevas Perspektive haben diese Lichtblicke erwachten Geistes große Kraft. Jeder weiß, wie es ist, wenn die Wolken sich verziehen, sei es auch nur kurz, und wenn man ein gewisses Potential und gewisse Möglichkeiten ahnt. Ohne dieses erste oder kontinuierliche Aufblitzen hätten wir nie die Inspiration, diesen Weg auszuprobieren.
1.7
Die mächtigen Buddhas, jahrhundertelang alles durchdenkend,
haben verstanden, dass dies und nur dies
die zahllosen Heerscharen retten und ihnen
mit Leichtigkeit die höchste Freude bringen wird.
Shantideva weiß, dass wir diesen Lichtblicken von Bodhichitta vertrauen können und dass sie wachsen werden, wenn wir sie erkennen und fördern. Die erwachten Wesen, „jahrhundertelang alles durchdenkend“, haben verstanden, dass nur das gute Herz von Bodhi uns davon abhalten kann, in unseren alten, egozentrischen Gewohnheiten verstrickt zu bleiben.
An diesem Punkt könnten wir uns natürlich fragen, warum Bodhichitta solche Kraft hat. Die einfachste Antwort ist vielleicht, dass es uns aus unserer Ichbezogenheit heraushebt und uns die Chance gibt, dysfunktionale Gewohnheiten hinter uns zu lassen. Außerdem wird alles, was uns begegnet, zu einer Gelegenheit, den unkonventionellen Mut des Bodhi-Herzens zu entwickeln.
Wenn etwas uns schwer trifft, dann schauen wir uns um und sehen, dass andere Leute es auch schwer haben. Wenn wir einsam oder wütend oder deprimiert sind, lassen wir aus diesen düsteren Stimmungen eine Brücke zum Kummer der anderen werden.
Wir teilen alle dieselbe Impulsivität, dasselbe gierige Greifen und Abwehren. Indem wir wünschen, dass alle Wesen von ihrem Leiden frei sein mögen, befreien wir uns von unseren eigenen Kokons, und das Leben wird größer als „ich“. Egal, wie dunkel und düster oder fröhlich und erhebend unser Leben ist, wir können eine gewisse Menschlichkeit miteinander teilen.
Das erweitert unsere gesamte Perspektive. Trungpa Rinpoche sagte immer: „Die Essenz des Mahayana ist, seinen Horizont zu erweitern.“ Shantideva präsentiert uns diese Essenz. Seine Lehren führen zu einem mitfühlenden Leben und einem erweiterten Horizont.
1.8
Wer wünscht, den Kummer im eigenen Leben zu überwinden
und Schmerz und Leid der Wesen in die Flucht zu schlagen,
wer solch große Seligkeit gewinnen möchte,
sollte sich nie von Bodhichitta abwenden.
Mit „den Kummer im eigenen Leben überwinden“ spricht Shantideva die Grundlehren des Buddhismus an, die sich um die Beendigung des individuellen Leidens drehen. Wenn er davon spricht, „Schmerz und Leid der Wesen in die Flucht zu schlagen“, deutet er auf die Zielsetzung des Mahayana, ausnahmslos jeden vom Schmerz zu befreien.
Natürlich sagt er nicht: „Ich kümmere mich bloß um andere. Es ist egal, dass ich selber unglücklich bin und mir dauernd Sorgen mache oder dass ich mich selber hasse und mein Temperament nicht in den Griff kriege.“ Es steht außer Frage, dass wir unser eigenes Leiden beenden wollen. Aber im Mahayana-Buddhismus findet eine Verschiebung statt: Wir wollen unser persönliches Leiden beenden, damit wir anderen helfen können, das Gleiche zu tun. Das ist Shantidevas deutlichste Botschaft und die Essenz von Bodhichitta.
Wir wollen fast alle das, was wir verstanden haben, mit anderen teilen. Aber indem wir das versuchen, sehen wir die Arbeit, die wir an uns selber noch zu leisten haben, viel klarer. Irgendwann erkennen wir, dass anderen nützt, was wir für uns selber tun, und dass uns selber nützt, was wir für andere tun. Das meint Shantideva, wenn er sagt, dass die, welche großes Glück gewinnen möchten, „sich nie von Bodhichitta abwenden sollten“.
1.9
Sogar, wenn Bodhichitta geboren wird
in einem, der in den Verliesen des Samsara schmachtet,
dann heißt er in diesem Moment Buddhas Erbe,
verehrungswürdig für Götter und Menschen zugleich.
Eine treffende Erläuterung des Sanskritwortes samsara ist Albert Einsteins Definition für Wahnsinn: „Immer wieder das Gleiche tun und meinen, es kommt etwas anderes dabei heraus.“ Shantideva beschreibt das als Gefangenschaft in den „Verliesen des Samsara“. Und dennoch, selbst wenn wir uns in Wiederholungszwängen gefangen fühlen, können wir Güte und Empathie für andere empfinden. Selbst wenn nur einen Moment lang Bodhichitta aufblitzt, werden wir in diesem Moment ein Kind der Buddhas und verdienen universellen Respekt.
Dzongsar Khyentse Rinpoche zufolge ist diese Strophe vielleicht eine Kritik an der hinduistischen Gesellschaftsordnung. Shantideva sagt, dass wir keiner bestimmten Kaste angehören müssen, um Bodhichitta zu erleben; sogar die als „unberührbar“ Geltenden sind Buddhas Erben.
Bodhichitta ist keine elitäre Theorie für feine oder hochgebildete Leute. Es ist für alle. Nie brauchen wir zu denken, es sei hoffnungslos, uns Bodhichitta zuzuwenden; wir können aber auch nicht auf andere herabschauen und urteilen, sie seien zu oberflächlich oder arrogant, um in Frage zu kommen. Jeder in den Verliesen von Samsara ist ein Kandidat für die Erweckung eines mitfühlenden Herzens.
1.10
Denn wie der Stein der Weisen der Alchemisten
nimmt es die unreine Form menschlichen Fleisches an
und macht daraus den unschätzbaren Körper eines Buddha.
So ist es mit Bodhichitta: Wir sollten es entschlossen festhalten!
1.11
Wenn die vollkommenen Führer aller wandernden Wesen
mit grenzenloser Weisheit seinen unschätzbaren Wert erkannt haben,
dann sollten wir, die wir unser Nomadendasein aufgeben wollen,
gut an diesem kostbaren Bodhichitta festhalten.
1.12
Alle anderen Tugenden tragen so wie der Bananenbaum
einmal ihre Frucht, doch dann sind sie erschöpft.
Allein der wundersame Baum des Bodhichitta
wächst und trägt Früchte unaufhörlich.
1.13
Als wenn sie Todesgefahren überstünden, weil ein Held sie beschützt,
werden sogar die, auf denen die Schuld furchtbarer Bösartigkeit lastet,
auf der Stelle erlöst, wenn sie Bodhichitta haben.
Kann es da noch jemanden geben, der ihm nicht vertraut?
1.14
Wie im Weltenbrand am Ende der Zeiten
werden große Sünden durch Bodhichitta vollständig vernichtet.
Darum ist sein Nutzen grenzenlos,
wie es auch der weise und liebevolle Herr dem Sudhana erklärte.
In diesem Abschnitt gibt uns Shantideva sechs Vergleiche für Bodhichitta. Der erste, in Strophe 10, stammt aus der Alchemie. Bodhichitta kann alles nutzen – normale Gedanken, Handlungen oder Worte –, um frischen Wind in unsere Ichbezogenheit zu bringen. In Strophe 11 bis 14 wird es mit einem kostbaren Edelstein, einem wunscherfüllenden Baum, einem Helden und dem Feuer am Ende der Zeiten verglichen. Der sechste Vergleich ist eine Art „ferner liefen“ und bezieht sich auf eine buddhistische Schrift, in der viele weitere Vergleiche aufgeführt werden.
Die „vollkommenen Führer“ in Strophe 11 sind die Buddhas und Bodhisattvas. Wie erfahrene Schiffskapitäne, die auf Perlensuche gehen, erkennen sie den „unschätzbaren Wert“ eines guten Edelsteins, wenn sie ihn sehen. Die Seeleute vertrauen solchen Kapitänen und bringen sie mit Reichtum in Verbindung; mit ihrer Hilfe können sie reich werden und ihr „Nomadendasein“ aufgeben. Shantideva sagt uns, dass wir dasselbe Vertrauen haben können. Wie Seeleute, die dem Wissen ihres Kapitäns vertrauen, können wir Buddhas Einschätzung des „kostbaren Bodhichitta“ vertrauen.
In Strophe 12 wird Bodhichitta mit einem wunscherfüllenden Baum verglichen, der ewig Früchte trägt. Im Gegensatz dazu trägt der Bananenbaum nur einmal Früchte und geht dann ein. Im gleichen Sinne ist es immer gut, jemandem zu helfen, und es wird auf eine begrenzte Art Frucht tragen. Wenn unsere Hilfe jedoch von der Sehnsucht motiviert ist, diesen Menschen völlig von Verwirrung zu befreien, wird sie Früchte tragen, bis er oder sie Erleuchtung erlangt. Eine ganz einfache gute Tat in Bodhichitta-Absicht kann uns diese weitreichenden Möglichkeiten eröffnen.
In Strophe 13 wird der Vergleich mit einem Helden herangezogen, vergleichbar einem guten Freund, der uns Probleme vom Leib hält. Die „Todesgefahren“ beziehen sich auf die Reifung unserer negativen karmischen Samen. Wenn wir diese schwierigen Situationen nutzen, um uns zu öffnen statt zu verschließen, dann ist das so, als hätten wir einen Beschützer an unserer Seite.
In Strophe 14 wird ein großes Feuer zum Vergleich herangezogen, das negative Tendenzen verbrennt. Normalerweise nehmen wir unsere negativen Gewohnheiten für bare Münze, agieren sie aus oder wenden sie gegen uns selbst. Auf beide Arten verstärken wir sie.
Bodhisattvas praktizieren „mitten im Feuer“. Das heißt, sie lassen sich auf das Leiden der Welt ein; es heißt auch, dass sie mitten im Feuer ihrer eigenen schmerzhaften Emotionen ruhig bleiben. Sie agieren sie nicht aus, aber sie unterdrücken sie auch nicht. Sie sind bereit, sich „nicht zu rühren“ und die ungreifbaren Eigenschaften und fließenden Energien einer Emotion zu untersuchen – und diese Erfahrung zur Brücke werden zu lassen, die sie mit dem Schmerz und dem Mut von anderen verbindet.
Der sechste Vergleich bezieht sich auf eine buddhistische Schrift, in der ein zukünftiger Buddha namens Maitreya seinem Schüler namens Sudhana zweihundertunddreißig weitere Beispiele für Bodhichitta gibt.
1.15
Von Bodhichitta, dem erwachenden Geist,
heißt es, er habe, kurz gesagt, zwei Aspekte:
erstens die Sehnsucht, Bodhichitta in der Intention;
und dann aktives Bodhichitta, praktisches Engagement.
1.16
Man wünscht zu reisen und macht dann sich auf den Weg,
so kann man sich den Unterschied vorstellen.
Der Weise und Gebildete sollte diesen Unterschied,
wie eins hier auf dem anderen beruht, genau so verstehen.
Shantideva präsentiert uns hier die beiden Aspekte des relativen Bodhichitta: die Sehnsucht und das Handeln. Die Sehnsucht oder die Intention des Bodhichitta ist wie der Wunsch, eine Reise zu machen; aktives Bodhichitta heißt, tatsächlich aufzubrechen. Zuerst sehnen wir uns danach, Erleuchtung zu erreichen und anderen eine Hilfe zu sein, dann tun wir alles Notwendige, um es Wirklichkeit werden zu lassen.
Ich gebe Ihnen ein ganz alltägliches Beispiel: Nehmen wir an, Sie stecken in einem gierigen Verlangen fest; Sie wissen selbst, dass Sie sammeln und horten, dass Sie Panik bekommen, wenn Ihnen etwas weggenommen wird oder Sie es aufgeben müssen. Wie arbeitet man mit so einer irrationalen Besitzgier, im eigenen Interesse und zur Freude anderer?
Ein Weg wäre, Großzügigkeit zu kultivieren. Auf der Ebene der Bodhichitta-Sehnsucht würden Sie sich zum Beispiel in Ihrem Zimmer etwas aussuchen, was Sie lieben. Dann würden Sie visualisieren, wie Sie es verschenken: Ihren schönen roten Pullover, dieses eine ganz besondere Buch oder die Schokolade, die Sie unter dem Bett horten. Sie müssen es nicht wirklich weggeben, visualisieren Sie es einfach nur. Dann erweitern Sie Ihr Geschenk, dass es Millionen von Pullovern, Büchern oder Schokoladentafeln umfasst. Sie schicken sie an bestimmte Menschen oder einfach so ins Universum, dass jeder sich bedienen kann.
Auf diese Weise erreicht das Bodhichitta der Sehnsucht zwei Dinge: Es erfüllt uns den Wunsch, unter unserer Ichbezogenheit weniger zu leiden, und den Wunsch, anderen eine Hilfe zu sein. Wenn wir uns außerdem wünschen, dass andere nicht nur unsere Geschenke erhalten, sondern auch die Freude eines unbehinderten Geistes, dann weitet sich unsere Intention noch weiter aus.
Das Bodhichitta der Intention ist ein kraftvoller Weg, mit Situationen zu arbeiten, denen wir uns noch nicht gewachsen fühlen. Indem wir zum Beispiel einfach versuchen, etwas zu verschenken, an dem wir hängen, trainieren wir unseren furchtsamen Geist, wie man loslässt. Dann wird sich das aktive Bodhichitta – in diesem Fall die Fähigkeit, konkret zu geben – irgendwann einstellen.
Wenn wir „geben“ mit „Freisein von Gier“ gleichsetzen, verspüren wir, auch wenn es vielleicht ein wenig wehtut, mehr Lust, zu handeln.
1.17
Bodhichitta in der Intention trägt reiche Früchte
für die, die immer noch in Samsara umherirren.
Und doch fließt daraus kein endloser Strom des Verdienstes;
denn dieser erwächst allein aus aktivem Bodhichitta.
1.18
Wenn nämlich, aufgrund unumstößlicher Absicht,
der Geist sich Bodhichitta zu eigen macht,
willens, die endlosen Heerscharen der Wesen zu befreien,
in diesem Augenblick, von diesem Moment an
1.19
Quillt ein großer und nie versiegender Strom auf,
eine starke Kraft heilsamen Verdienstes,
dem grenzenlosen Himmel gleich,
sogar im Schlaf und in der Achtlosigkeit.
Das Bodhichitta der Sehnsucht bringt enormen Nutzen. Für diejenigen von uns, die in Samsara umherirren, trägt es „reiche Früchte“. Es ist leicht einzusehen, warum das die Folge ist. Auf der Ebene der Intention beginnen wir mit dem, was wir bewältigen können, und lassen unser Verständnis sich entwickeln. Wenn wir dann fähig sind, unsere Intention praktisch umzusetzen, haben wir etwas Tiefgründiges erkannt: Wir haben verstanden, dass selbstloses Handeln uns von Angst und Kummer befreit.
In Strophe 18 und 19 erläutert Shantideva, dass unsere Intention, alle Wesen vom Leiden zu befreien, irreversibel werden kann und Nutzen bringt, der „dem grenzenlosen Himmel gleich“ ist. Das passiert, wenn wir nicht länger in Frage stellen, dass an andere zu denken weise ist; wir haben wirklich erkannt, dass es die Quelle unzerstörbaren Glücks ist. Im Innersten unseres Wesens verändert sich etwas, und wenn das passiert, erleben wir, wie uns in unaufhörlichem Fließen etwas zugute kommt, „sogar im Schlaf und in der Achtlosigkeit“.
Das ist die Freude der Egolosigkeit. Es ist die Freude, erkannt zu haben, dass es kein Gefängnis gibt; es gibt nur sehr starke Gewohnheiten und keinen vernünftigen Grund, sie weiter zu verstärken. Im Grunde sind diese Gewohnheiten ohne jede Substanz. Des Weiteren gibt es keine feststehende Eigenständigkeit oder Identität des Selbst4. Wir haben das alles nur erfunden. Es ist diese Einsicht, die wir den „endlosen Heerscharen der Wesen“ wünschen.
1.20
Dies sagte der Tathagata,
in dem Sutra, das Subahu erbat,
und belehrte so in durchdachter Erläuterung
die, die den minderen Wegen zuneigten.
Hier sagt uns Shantideva, dass der Buddha seine Lehren über die Vorzüge von Bodhichitta an die richtete, die „den minderen Wegen zuneigten“, denen, die primär Befreiung von ihrem eigenen Leiden suchten. In diesem Sutra auf Bitte seines Schülers Subahu inspirierte der Buddha sie dazu, den nächsten Schritt zu machen und Bodhichitta wachzurufen.
Seine Überlegung lautet folgendermaßen: Fühlende Wesen sind so zahllos wie Sandkörner im Ganges. Weil es mehr gibt, als der Geist erfassen kann, ist der Wunsch, sie alle zu retten, genauso unvorstellbar. Indem man solch einen Wunsch hegt, dehnt sich unser gewöhnlicher verwirrter Geist weit über die Grenzen seinen normalen Fassungsvermögens hinaus aus; er dehnt sich grenzenlos aus. Wenn wir unsere persönliche Sehnsucht nach Befreiung auf unermesslich große Zahlen von Wesen ausdehnen, ist der Nutzen, den wir dadurch erhalten, genauso unermesslich.
Kurz gesagt, je mehr wir mit der unvorstellbaren, unbeschreiblichen Weite des Geistes in Berührung kommen, desto froher werden wir.
1.21
Wenn in Großzügigkeit und Güte
einer lediglich wünscht, zu lindern
die Kopfschmerzen anderer Wesen,
so ist das von grenzenlosem Verdienst.
1.22
Unnötig also, von dem Wunsch zu sprechen,
den endlosen Schmerz zu vertreiben
jedes einzigen Lebewesens
und ihnen grenzenlose Tugenden zu bringen.
Das ist die Logik des Mahayana. Wenn es wunderbar ist, dass die Kopfschmerzen eines einzigen Menschen gelindert werden, dann wäre es natürlich noch viel besser, wenn die Kopfschmerzen von allen gelindert werden könnten.
Wenn unser Wunsch grenzenlos wird, könnte er natürlich ein Dilemma erzeugen. Bodhisattvas in spe, die die Lehren zu wörtlich nehmen, sagen vielleicht: „Das schafft man doch gar nicht, die Kopfschmerzen aller Wesen zu beseitigen! Wie sollen wir das denn machen? Jedem ein Aspirin schicken?“
Andererseits ist da die Reaktion von Bernard Glassman Roshi, der in Yonkers im US-Staat New York mit Obdachlosen arbeitete. Er sagte, er sei sich bewusst, dass man Obdachlosigkeit nicht beseitigen könne, aber er wolle sein Leben dem Versuch widmen. Das ist das Streben und Wünschen eines Bodhisattva. Denk nicht über die Ergebnisse nach; öffne einfach dein Herz auf eine unvorstellbar große Weise, in dieser grenzenlosen Art und Weise, die jedem nützt, der dir begegnet. Kümmere dich nicht darum, ob es machbar ist oder nicht. Die Intention ist riesig: Mögen die körperlichen Schmerzen von allen gelindert werden und, was die Sache noch mehr trifft, mögen alle Erleuchtung erlangen.
1.23
Könnten unsere Väter oder Mütter
jemals diesen großmütigen Wunsch hegen?
Hegen die Götter, die Rishis, ja Brahma selbst
solch ein Wohlwollen wie dieses?
1.24
Niemals in all den vergangenen Tagen,
nicht einmal im Traum, konnten sie sich
auch nur für sich allein so großen Gewinn vorstellen.
Wie hätten sie dies Ziel zugunsten von anderen haben können?
Unsere Mütter und Väter sind vielleicht sehr gütig. Aber obwohl sie uns aufziehen und das Beste für uns wollen, können sie uns von unseren Gewohnheitsmustern befreien? Noch wichtiger: Haben sie die Sehnsucht, dass alle Lebewesen ohne Ausnahme gleichermaßen frei sind? In Strophe 23 spielt Shantideva nochmals auf die Hindu-Religion an, indem er fragt, ob auch die Rishis (hochverehrten Weisen) oder Brahma selbst (der Schöpfer des Universums) sich solch ein Ziel gesteckt hätten.
In diesen Strophen bezieht sich Shantideva indirekt auf das Kastensystem, in dem manche Menschen des Erwachens würdig sind und andere wegen ihres schlechten Karma dagegen nicht. Wenn sogar die Götter und die Rishis so denken, wie sollen sie den Wunsch haben, dass andere von diesem voreingenommenen Denken frei sein mögen?
1.25
Denn die Wesen wünschen sich nicht, was für sie wirklich das Beste ist,
wie sollten sie es dann im Interesse anderer anstreben?
Diese geistige Einstellung, so kostbar und so selten,
ist ohne Beispiel, entsteht auf wahrhaft wundersame Weise.
Wenn Shantideva über die spricht, die „nicht wünschen, was für sie wirklich das Beste ist“, dann meint er die meisten von uns. Die Arbeit an Gewohnheitsmustern hat bei uns meistens keine Priorität. Die meisten von uns sind nicht leidenschaftlich darum bemüht, ihre Emotionen und Vorurteile zu entschärfen oder Bodhichitta zum Leben zu erwecken. Unser „wirklich Bestes“ ist für uns nicht die Hauptsache. Wir möchten einfach nur den Tag ohne größere Missgeschicke hinter uns bringen, und wir möchten absolut nichts mit denen zu tun haben, die uns Kummer bereiten. Wie sollen wir aber anderen Freiheit wünschen, wenn wir selbst nicht das Verlangen nach ihr haben? Wir können ihnen nur wünschen, was uns selber etwas wert ist.
Diese Gelegenheit, Bodhichitta zu erwecken, ist „so kostbar und so selten“. Etwas zu erleben, was uns von der Engstirnigkeit unserer Einseitigkeit und unserer Vorurteile befreit, ist, wie Shantideva sagt, „wahrhaft wundersam“. Mehr noch: Es gibt keinen, der das nicht erleben könnte, wenn er oder sie dem eine Chance gibt.
1.26
Der schmerzstillende Trank,
dieser Grund zur Freude für die, die die Welt durchwandern –
diese kostbare Einstellung, dieses Juwel des Geistes,
wie soll man es messen oder quantifizieren?
Was ist diesem „schmerzstillenden Trank“ vergleichbar? Diese exzellente Medizin namens Bodhichitta befreit uns von Egozentrik und bringt uns Erleichterung und ein liebevolles Herz.
Diesen „Grund zur Freude“ finden die, „die die Welt durchwandern“. Auch wir Bodhisattva-Babys richten unser Leben nicht so aus, dass wir dem Chaos der Welt entkommen; wir stürzen uns mitten ins Getümmel und arbeiten mit dem, was wir vorfinden. Samsara wird unser Übungsplatz, sozusagen unser Ausbildungslager. Wenn wir entdecken, dass wir uns immer wieder in das Drama verstricken, dann ziehen wir uns für eine Weile zurück, um an uns zu arbeiten. Aber unser Herzensanliegen ist es, immer tieferes Leiden zu lindern und immer größeren Herausforderungen mit Gleichmut zu begegnen.
1.27
Denn wenn schon der simple Gedanke, anderen eine Hilfe zu sein,
wertvoller ist als jede Anbetung der Buddhas,
wozu noch über echte Taten sprechen,
die Wohl und Nutzen der Wesen mit sich bringen?
1.28
Denn die Wesen sehnen sich nach Befreiung vom Elend,
und doch sind sie genau hinter diesem Elend her.
Sie sehnen sich nach Freude, doch in ihrem Unwissen
zerstören sie sie wie einen verhassten Feind.
Wiederum lobt Shantideva den Nutzen eines gewöhnlichen altruistischen Gedankens, fügt aber hinzu, um wie viel großartiger es ist, die Sache bis zum Ende zu verfolgen. Um anderen auf der wichtigsten Ebene zu helfen, kümmern wir uns zunächst jedoch um unsere eigene Verwirrtheit.
Wie Shantideva uns erläutert, sind wir „genau hinter diesem Elend her“. Wir meinen vielleicht, wir tun verrückte Dinge mit Absicht, aber in Wirklichkeit geschehen diese Dinge nicht immer bewusst. Unsere Konditionierung reicht manchmal so tief, dass wir Schaden anrichten, ohne es zu merken. Wir sehnen uns nach Freude und tun genau die Dinge, die unseren Seelenfrieden zerstören. Immer wieder machen wir alles nur noch schlimmer, ohne es zu merken. Wenn wir anderen Menschen auf dem Weg zur Freiheit helfen wollen, müssen wir auf mitfühlende Weise mit unseren eigenen unangenehmen Tendenzen arbeiten. Shantideva ist, wie sich bald herausstellen wird, Experte im Auseinandernehmen dieser sich wiederholenden Muster.
1.29
Die aber, die mit Wonne erfüllen
alle Wesen, die freudlos sind,
die allen Schmerz und alles Leiden beseitigen
von denen, die niedergeschlagen sind von ihrem Elend,
1.30
Die die Dunkelheit ihres Unwissens vertreiben –
welche Tugend könnte sich mit ihrer messen?
Welcher Freund ließe sich mit ihnen vergleichen?
Welches Verdienst kommt diesem gleich?
Strophe 29 und 30 beziehen sich indirekt auf die Paramita der Großzügigkeit, die Großzügigkeit, die uns von Stress und Egoismus befreit. Den Lehren zufolge gibt es drei Arten von Großzügigkeit, drei Wege, anderen zu helfen, indem man von sich etwas gibt.
Die erste Art Großzügigkeit liegt im Geben von materiellen Dingen, wie etwa Essen und Unterkunft.
Die zweite ist „das Geschenk der Furchtlosigkeit“. Wir helfen denen, die Angst haben. Wenn ein Mensch im Dunkeln Angst hat, geben wir ihm eine Taschenlampe; wenn er gerade eine angstvolle Phase durchmacht, trösten wir ihn; wenn er Alpträume hat, schlafen wir bei ihm. Das klingt einfach, aber es kostet Zeit, Mühe und Fürsorge.
Die dritte Art Großzügigkeit vertreibt das Dunkel der Unwissenheit. Das ist „das Geschenk des Dharma“ und wird als die tiefgreifendste Form angesehen. Obwohl nur wir selbst unsere Unwissenheit beseitigen können, können wir dennoch durch die Lehren und indem wir ein Vorbild sind, uns gegenseitig inspirieren und unterstützen.
Der unvorstellbare Wunsch, allen fühlenden Wesen zu helfen, beginnt bei einem selbst. Unser eigenes Erleben ist das Einzige, was wir teilen können. Ansonsten können wir nicht so tun, als wären wir wacher oder mitfühlender, als wir es tatsächlich sind. Ein großer Teil unserer Erkenntnis rührt aus ehrlicher Einsicht in unsere Schwächen her. Es macht definitiv bescheiden, wenn wir unseren eigenen Maßstäben nicht genügen. Das erlaubt uns, auf die Schwierigkeiten und Fehler anderer mit Empathie zu reagieren.
Kurz gesagt, der beste Freund ist der, der unser aller Gleichheit erkennt und es versteht, uns Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
1.31
Wenn die, die ein bisschen Gutes tun,
für einmal erwiesene Hilfe dankbar gelobt werden,
müssen wir dann von den Bodhisattvas sprechen –
von denen, die aus freien Stücken der Welt von Nutzen sind?
1.32
Diejenigen, die voller Verachtung und herablassend
ein einziges Mal jemandem zu essen gegeben haben –
Essen, das einen halben Tag lang vorhält –
werden von der Welt als tugendhaft geehrt.
1.33
Müssen wir da von denen sprechen,
die ständig den zahllosen Heerscharen
die makellose Freude des frohen Buddha-Seins bescheren,
die endgültige Erfüllung aller Hoffnungen?
Strophe 32 bezieht sich auf den indischen Brauch des formellen Gebens. Wenn man einmal am Tag, in der Woche, im Monat einem Bettler etwas zu essen gibt, wird man als ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft angesehen. Das heißt, Shantideva spricht hier über ein Geben mit Hintergedanken.
Die meisten von uns, die in Städten mit vielen Obdachlosen leben, tun das. Wir haben eine Art Plan – zum Beispiel, dass wir dem Erstbesten, der uns darum bittet, etwas geben –, und wir hoffen, dass wir dann keine Schuldgefühle mehr haben. Natürlich bringt es etwas, auf diese Weise zu geben, aber wir könnten die Sache definitiv ein wenig ausweiten. Wenn wir obdachlosen Frauen und Männern etwas geben, könnten wir ihnen wünschen, dass sie von all ihren Schmerzen frei sein sollen. Wir könnten danach streben, unseren eigenen Komfort und unsere Zufriedenheit auf sie und auf Obdachlose überall auszuweiten. Was die Sache noch mehr treffen würde: Wir könnten erkennen, wie viel wir gemeinsam haben, und freimütig und ohne Groll oder Herablassung etwas geben.
Sogar in den ganz frühen Phasen der Praxis des Sehnsuchts-Bodhichitta können wir alle Wesen mit einschließen. Wenn es für Sie ein bisschen viel verlangt ist, „den zahllosen Heerscharen die makellose Freude des frohen Buddha-Seins zu bescheren“, bleiben Sie einfach ganz pragmatisch. Wenn wir zum Beispiel krank werden, denken wir normalerweise nicht an die Krankheit anderer. Aber diese Hinwendung kann stattfinden: Wenn Sie krank werden, könnten Sie an die anderen im selben Boot denken. Sie könnten zu einem entspannenden Bad in die Wanne ein- und dadurch aus Ihrem Kokon aussteigen. Unzählige Menschen haben diesen Komfort nicht: Menschen, die frieren und sich nach Wärme sehnen, Menschen, die erschöpft sind und sich nicht erholen können. Wir können wünschen, dass alle Wesen von ihrem Leiden frei sein und die Annehmlichkeiten genießen sollen, die auch wir genießen.
Die letzten drei Strophen behandeln das angemessene Verhalten gegenüber einem Bodhisattva.
1.34
Und diejenigen, die Böses im Schilde führen
gegenüber solchen Meistern der Großmut, den Erben der Buddhas,
sie werden in der Hölle bleiben, so hat der Mächtige gesagt,
so viele Zeitalter, wie es in ihnen bösartige Momente gab.
1.35
Im Gegensatz dazu werden gute und tugendhafte Gedanken
in größerem Maße reichlich Früchte tragen.
Selbst unter widrigen Umständen bringen die Bodhisattvas
nie Böses hervor – nur einen stetig schwellenden Strom des
Guten.
1.36
Vor ihnen, in denen dieser kostbare heilige Geist
geboren wurde – vor ihnen verneige ich mich!
Ich suche Zuflucht bei dieser Quelle des Glücks,
die sogar ihre Feinde zu reinster Wonne führt.
In Strophe 34 ist zum ersten Mal die Hölle erwähnt. Als Kind wurde mir beigebracht, dass die Hölle die endgültige Strafe ist. Da kam man nach dem Tod hin, wenn man wirklich ganz, ganz böse war. Ich bin froh, Ihnen mitteilen zu können, dass das hier nicht gemeint ist. Um diese Aussage aus buddhistischer Sicht zu verstehen, betrachten wir Ursache und Wirkung und die Art und Weise, wie wir unser Bewusstsein ständig beeinflussen. Die Keime unserer zukünftigen Höllen oder unseres Glücks legen wir jetzt, dadurch, wie wir jetzt im Moment unser Denken öffnen oder abschotten.
Diese alles verzehrenden Höllen, die in vielen tibetischen Texten sehr anschaulich beschrieben werden, existieren nicht außerhalb des Bewusstseins der Wesen, die sie erleben. In seiner abschließenden Widmung spricht Shantideva zum Beispiel von denen, deren „Hölle es ist, zu kämpfen und zu verwunden“. Es geht darum, dass wir, wenn wir absichtlich jemanden verletzen – vor allem jemanden, der es sich zum Ziel gesetzt hat, anderen zu helfen –, die langfristigen Konsequenzen unserer Grausamkeit als höllische äußere Bedingungen erleben werden. Es ist unsere eigene Aggression, die uns verletzt. Es ist nicht so, dass wir bestraft und in die Hölle geschickt werden; die Hölle ist die Manifestation eines rachsüchtigen Denkens.
Wichtig ist auch, zu verstehen, was Shantideva mit „diejenigen, die Böses im Schilde führen“ meint. Das Stichwort hier ist „im Schilde führen“, also Groll zu hegen. Das führt zu einem verkrampften Geisteszustand. In diesem höllischen Zustand verbleiben wir „so viele Zeitalter, wie es in uns“ Momente der Wut gab – mit anderen Worten, so lange, wie wir an unserem Hass festhalten, statt ihn loszulassen.
„Tugendhafte Gedanken“ andererseits bringen uns Zufriedenheit. Statt uns zu isolieren und uns noch mehr Gefühle der Angst und der Entfremdung zu bringen, bringen sie uns anderen näher.
In Strophe 35 sagt Shantideva, dass Bodhisattvas „selbst unter widrigen Umständen“ nur Gutes hervorbringen. Unter widrigen Umständen bekommen wir oft Angst, teilen wütend aus oder flüchten uns in Suchtverhalten, um unserem Schmerz zu entkommen. Shantideva sagt, dass Bodhisattvas sich von dem Leiden unter widrigen Umständen sanfter und freundlicher machen lassen und dass wir danach streben könnten, es auch so zu machen.
Dieser Bodhisattva-Weg erfordert ein bisschen Arbeit. Unsere Gewohnheitsmuster sind tief verwurzelt. Und dennoch, wenn die Zeiten hart sind und wir uns egoistisch abkapseln, könnten wir darin den Moment der Wahrheit sehen. Genau an diesem schmerzhaften Punkt kann Transformation geschehen. Statt des „Bösen“ von Neurose und Härte können widrige Umstände Bescheidenheit und Empathie mit sich bringen. Indem sie uns sozusagen auf die Knie zwingen, können sie uns zartfühlender machen und fähiger, auf andere zuzugehen.
In der letzten Strophe verneigt sich Shantideva vor allen von uns, die gewillt sind, Bodhichitta wachzurufen; und er verneigt sich vor Bodhichitta selbst, der „Quelle des Glücks, die sogar ihre Feinde zu reinster Wonne führt“.
Diese abschließenden Worte scheinen im Widerspruch zu Strophe 34 mit ihren höllischen Konsequenzen aggressiven Handelns zu stehen. Vom Standpunkt der Erleuchteten aus aber kann das Glück sogar zu denen kommen, „die Böses im Schilde führen“. Als Ergebnis unserer mitfühlenden Absichten können sogar unsere „Feinde“ von ihrer Ichbezogenheit frei werden und so Erleuchtung erreichen.
Indem wir wissen, wo Glück zu finden ist, ersparen wir uns mehr und mehr zunehmenden Schmerz. Wenn zum Beispiel jemand Sie beleidigt, würden Sie vielleicht gern zurückschlagen, aber Sie wissen, dass das nichts bringt. Stattdessen können Sie, bereits fest in den Klauen des Drangs nach Vergeltung, sich sagen: „Möge die Wut, die ich jetzt auf diesen Menschen habe, dazu führen, dass wir beide befreit werden.“