Esprit und Geisteswissenschaften - Rolf Friedrich Schuett - E-Book

Esprit und Geisteswissenschaften E-Book

Rolf Friedrich Schuett

0,0

Beschreibung

Deutsche Intellektuelle begründeten die historischen Geisteswissenschaften und eine genuin philosophische Anthropologie („moral sciences“), weil sie niemals rechten Anschluss an die Entwicklung der europäischen, vor allem der französischen Moralistik gesucht und gefunden hatten. „Wenn man vor den Deutschen Geist zeigt, … tun (sie) sich zusammen, um ein Bonmot zu verstehen.“ (Rivarol, 1753-1801) Und sie entwickelten trockene Geisteswissenschaften, um den fehlenden Witz und Esprit akademisch zu ersetzen und zu überbieten, bis der kurze Geistesblitz langweilig entschärft und „diskursiv“ zerredet ist. War der Franzose virtuos und geistreich, wurde der Deutsche pedantisch breit und gründlich, auch und gerade im Zeitalter der Aufklärung. Geistreich wäre die Abbildung eines intellektuellen Codes auf einen ganz anderen, z.B. philosophischer Gehalt in literarischer Gestalt, oder philosophische Überlegungen in psychologischen Auslegungen. Esprit entzündet sich an Widersprüchen, Antinomien und Aporien, die geisteswissenschaftlich gerade aufgelöst werden wollen, also am ewigen Konflikt zwischen Allgemeinheit und Individuum, Tradition und Revolution, Theorie und Praxis, Gefühl und Gedanke, Atmosphäre und Geistessphäre, körperlicher und geistiger Beweglichkeit, Gesetz und Liebe, Gott und Welt, Naturwissenschaften und Naturschönheiten, Bild und Begriff, untätigem Geist und geistloser Untat, Lebensreisen durch Orte oder durch Worte, etc. Dazu bietet das Buch einige Musterbeispiele und exemplarische Modellversuche. 2. erweiterte Auflage

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 164

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Rita und Maike

INHALT

Einleitung

Die Kritische Theorie auf der Couch

Schopenhauer und Freud

Zukunftsträchtigkeiten der Tradition

Philosophen, Sophisten, Philosophisten

Allgemeinheit und Besonderheit

Von der Aufklärung zum Idealismus

Vom Zeitgeist zur geistreichen Zeitlosigkeit

Protest gegen Protestantismus 2000

Hegels Naturphilosophie als Ästhetik

Sesshafte Reisebeschreibungen

„Geistige Atmosphäre“

Untätiger Geist oder geistlose Untat?

Witz und Geisteskrankheit

Moralistik oder „moral sciences“?

Geistreicher Witz und Geisteswissenschaft

Einleitung

„Wenn man vor den Deutschen Geist zeigt, so bemühen sie sich zu verstehen … Sie tun sich zusammen, um ein Bonmot zu verstehen.“ (Rivarol, 1753-1801) Und sie entwickeln trockene Geisteswissenschaften, um den fehlenden Witz und Esprit akademisch zu ersetzen und zu überbieten, bis der kurze Geistesblitz sehr langweilig entschärft und „diskursiv“ zerredet ist. War der Franzose virtuos und geistreich, wurde der Deutsche pedantisch breit und gründlich, auch und gerade im Zeitalter der Aufklärung.

Deutschland entwickelte akademische Geisteswissenschaften und eine genuin philosophische Anthropologie (moral sciences), weil es nie rechten Anschluß an die Entwicklung der europäischen, vor allem der französischen Moralistik gesucht und gefunden hatte, woran der geistreiche Kompensationsphilosoph Odo Marquard oft erinnert hat. (Auch Robert Zimmer: „Die europäischen Moralisten“, Hamburg 1999, S. → f.)

Geistreich wäre die Abbildung eines intellektuellen Codes auf einen ganz anderen, z.B. philosophischer Gehalt in literarischer Gestalt oder philosophische Überlegungen in psychologischen Auslegungen.

Als die französische Moralistik mit Joubert und Jouffroy langsam auslief, entstanden mit Schlegel und Novalis in Deutschland gleichzeitig die historischen Geisteswissenschaften (engl. „moral sciences“) und die frühromantischen Fragmente, um unliebsame Nebenwirkungen der naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsbeschleunigung abzufedern und überzukompensieren. Heute drohen technologisch profitable Naturwissenschaften die „weichen“ Kulturwissenschaften wieder zu verdrängen und die moralistische Virtuosität als bloß subjektivistisch zu marginalisieren. Der wissenschaftliche Forschungsaphorismus und der literarische Salon-Aphorismus sind nicht mehr anerkannt als kompetente Einsprüche gegen Ideologien und andere generalisierten Vorurteilsstrukturen, sondern zählen jenseits von Physik und Logik nur zu Wittgensteins Privatsprach(spiel)en. Hippokrates und Heraklit, Bacon und Larochefoucauld : Die Sentenz geisterte stets in beiden Kulturen als Spurenelement herum, in Natur- wie in Kulturwissenschaften. Hegels Dialektik war der wohl letzte Versuch, Philosophie als Geisteswissenschaft des Geistreichen systematisch zu begründen und zugleich historisch zu entwickeln, indem sie Geist als paradoxe „Einheit des Entgegengesetzten“ bestimmte. Der Frühromantiker Schlegel emanzipierte diese Phänomenologie des Geistreichen wieder aus der zu systematisch vergeistigten Geistesphilosophie und begründete dagegen die historischen Geisteswissenschaften aus dem Geiste Gottes und der begriffsstutzigen Fragmente. Esprit entzündet sich an Widersprüchen, Antinomien und Aporien, die geisteswissenschaftlich gerade aufgelöst werden wollen, also am ewigen Konflikt zwischen Theorie und Praxis, Allgemeinheit und Individuum, körperlicher und geistiger Beweglichkeit, Tradition und Revolution, Bild und Begriff, biblischem Gesetz und christlicher Liebe, Atmosphäre und Geistessphäre, Naturwissenschaften und Naturschönheiten, untätigem Geist und geistloser Tat, Lebensreisen durch Orte oder durch Worte, etc. Dazu bietet dieses Buch einige Musterbespiele und charakteristische Modellversuche.

Vorschrift : Wissenschaftliche Geistesblitzableiter gehören auf alle Gedankengebäude!

Die Kritische Theorie auf der Couch

Die theoretischen Köpfe der sogenannten Frankfurter Schule der Sozialphilosophie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, waren neben dem Heideggerschüler Herbert Marcuse, der später in den USA einer der Hauptideologen der Neuen studentischen Linken wurde, die ersten und bisher einzigen namhaften Philosophen, die der Freudschen Psychoanalyse, nicht ohne sie zugleich massiv zu kritisieren, einen wichtigen Platz in ihrem Denken einräumten. Die drei Denker spielen die vergleichsweise heroische Frühphase Freuds gegen den revisionistischen Neofreudianisrnus vor allem angelsächsischer Observanz aus, in dem sie eine herrschaftsstabilisierende Ideologie der therapeutischen Anpassung leidender Menschen an unmenschliche gesellschaftliche Zustände ablehnen. Was Marcuse betrifft, ist sein Aufruf zur Großen Verweigerung des Mitmachens und seine Kritik der Psychoanalyse in "Eros and Civilisation“ bereits selbst durchpsychoanalysiert worden von Gerard Mendel in "La crise de générations", kritisiert als folgenreiche Unterschätzung der ödipalen Problematik heute. Kurz gesagt, wirft Mendel Marcuse vor, regressive Kollektiv-Phantasien der Studentenbewegung der Sechzigerjähre nur eben rationalisiert zu haben, als er in ihnen die fällige Revolte der Söhne gegen den imperialistischen Monopolismus der Väter begrüßte und gleichzeitig der Versuchung erlag, nicht die Vergesellschaftung der erzphallischen Produktionsmittel dieses Vaters, die Aufteilung seiner technologischen Potenz unter die aufmüpfigen Söhne, zu fordern, sondern die „Überwindung“ der technischen Welt im Namen einer verschandelten Natur. Hinter der vatermörderischen Attitüde derer, die sich auf Marcuse berufen, will G. Mendel einen maschinenstürmenden Aufstand gegen die sadistische Übermacht entdeckt haben, die von dem verabsolutierten technologischen Machtarsenal der Väter über die Natur selbst ausgeht. Nicht mehr nur der Vater erscheint dem Sohn als bedrohlich, nicht mehr nur seine private Aneignung des technisch Erreichbaren, sondern die fetischisierte Eigengewalt seines phallischen Instrumentariums der Naturbeherrschung. Die Potenz der technischen Apparaturen erscheint dem Sohn nicht mehr als Potenz eines starken, gerechten, freien und gütigen Vaters, der vor der grausamen Seite der unwirtlichen Natur beschützt, sondern als archaische Omnipotenz einer sadistischen, „phallischen Mutter“ selbst. Kurzum: Kultur droht selbst als jene Übermacht der Natur, von der sie befreien sollte, sie wird zur "zweiten Natur". Das Instrument der Naturbeherrschung, die Rationalität des Vaterbildes, wird selbst zu einem Stück blinder Natur, fällt zurück in die Irrationalität der Natur, die sie überwinden sollte. Im Angriff auf die böse Mutterimago der kulturellen Institutionen droht nach G. Mendel nun aber das einzige Werkzeug mitzerschlagen zu werden, das Hilfe gegen die Stiefmutter Natur verspreche : Die rationalen Waffen des bewunderten Vaters, der mit der Mutter fertig wird. Der ödipale Kampf des Sohnes gegen den bösen Vater um die begehrte Mutter Erde ist ja in ein und derselben Bewegung immer auch der präödipale Kampf gegen eine Rabenmutter Natur mit Hilfe eines guten und starken Vaters. Nolens volens ist also der Kampf gegen den bösen Vater um die gute Mutter immer schon implizite ein Kampf gewesen gegen einen guten Vater, der allein gegen die böse Mutter abschirmen konnte. Man kennt Freuds Vorstellung vom gelungenen Auflassen dieses Komplexes: Dieser Hass auf den Besitzer der Mutter und die Liebe zum bewunderten Bezwinger der Mutter Natur verbinden sich zum Wunsch, recht bald wie er zu werden.

Nach Mendel schüttet Marcuse das Kind mit dem Bad aus, den guten Vater (der vor der Rabenmutter Natur schützt) mit dem bösen Vater (der die inzestuösen Regungen des Sohnes mit Kastration bedroht) – und mit der bösen Mutter, die in der sadistischen Übermacht einer zur "zweiten Natur" gewordenen technischen Potenz des Vaters wiederauferstanden ist, statt davon ganz besiegt zu werden. Mendel wünscht sich ebenfalls eine "Revolte gegen den Vater", aber eine Revolte gegen den Vater, der sich kast-rationsdrohend zwischen den inzestuösen Sohn und die begehrte Mutter Natur stellt, im Namen jenes selben Vaters, der allein die Macht hat und an den Sohn weitergeben kann, mit der bösen Imago derselben Natur gut fertig zu werden. Diese Revolte gegen den Vater in Namen des Vaters wagt die Identifikation mit dem Vater, die Aneignung all jener Fähigkeiten, die nötig sind, sich der Umklammerung durch die Natur endlich zu entziehen.

Nach Mendel erweist Marcuse der Jugendbewegung einen Bärendienst, wenn er sich herbeilässt, die Angst des Heranwachsenden davor, dem Vater die phallische Armatur zu entwinden, ein philosophisches Mäntelchen umzuhängen und aus der Not des Adoleszenten, der ödipalen Probe auszuweichen, die Tugend einer Rebellion zu machen, die in Wirklichkeit eine schizoide Regression sei auf die Ebene frühkindlicher Versorgungsphantasien. Hinter Marcuses Vision eines befriedeten Daseins in Schlaraffia, wo Leu und Lamm einträchtig nebeneinander leben, entdeckt Mendel regressive Wünsche nach symbiotischer Verschmelzung mit einer reinen und guten Mutter Natur, aus der alle Destruktivität einfach nur verdrängt sei, statt durch Teilidentifikation mit einem gleichzeitig idealisierten und gehassten Vater besiegt zu werden. Nicht umsonst sei in "Eros and Civilization" der Mythos des Orpheus und des Narziss, also die Propagierung des verlorenen primärnarzisstischen Paradieses, gegen den Prometheus-Mythos ausgespielt worden.

Ich will mich an dieser Stelle beschränken auf den Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit der Kritik Adornos an der Psychoanalyse, der er nur unter gravierenden Vorbehalten eine allerdings entscheidende Vermittlerrolle zugestehen mag zwischen den sprachlosen Leiden unterdrückter Individuen und einer umfassenden Theorie gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen der Möglichkeit psychotischer und neurotischer Fehlentwicklungen. Adornos Philosophie, sieht man einmal vom Vorwurf der Studenten ab, sie liefere keine direkte Aktionsstrategie zur politpraktischen Veränderung verhärteter gesellschaftlicher Strukturen, galt weithin als avancierteste Reflexionsform moderner Aufklärung über falsches Bewusstsein in der verwalteten Welt. Wie der Marxismus das patriarchale kapitalistische Realitätsprinzip aufheben will, soll Psychoanalyse das Überich, also dessen Internalisat im Einzelnen, wegtherapieren. Kulminiert Adornos Kritik an der Psychoanalyse in dem Vorwurf, sie arbeite nicht an der Abschaffung des Überich, jener intrapsychischen Instanz, in der die repressive Autorität des Vaters als Agenten des versagenden gesellschaftlichen Prinzips verinnerlicht ist, dann hat er in "The Authoritarian Personality" unter anderem zu zeigen versucht, daß es die Dominanz des rigiden, autoritätsgebundenen Charakters ja ist, die notwendige gesellschaftliche Veränderungen auch dort verhindert, wo sie real möglich wären. Wo es keine realen Hindernisse mehr gibt, das Leben ichgemäßer zu gestalten, stehen den Menschen ihre eigenen Überichstrukturen in Wege, die verinnerte Macht des Bestehenden, in die das tradierte Überich des Vaters projiziert wird. Jeder auch nur reformistische Versuch werde so sehr als kastrationsgefährdete Usurpation väterlicher Privilegien phantasiert, daß die Menschen schließlich sich mehr homosexuell mit ihren Unterdrückern identifizieren als mit ihren ursprünglichen inzestuösen Zielen. Für Freud war der Sohn erst dann erwachsen, wenn die inzestuös-patrizidalen Wünsche nicht länger verdrängt wurden oder in neurotischen Symptomen sein Verhalten hinterrücks infantilisierten, sondern in vollem resignativem Bewusstsein ihre realunmögliche Erfüllung aufgegeben, also um die Mutter getrauert wurde, die für den Sohn an den Vater unwiederbringlich verloren ist. Nach Freud gewinnt der Sohn seine Arbeits- und Genussfähigkeit erst ganz dadurch, daß er sich endgültig über den Verlust der Mutter mit einer anderen Frau hinwegtröstet, in der er getrost die Mutter lieben darf und für deren Erhaltung er dann arbeiten muß. Hier beginnt Adornos Kritik am psychoanalytischen Normalitätsideal eines glücklich aufgelassenen Ödipuskomplexes, aber immer auf das männliche Kind hin betrachtet. Alles, was für Adorno emanzipatorisch den derzeitigen historischen Stand gesellschaftlicher Verhältnisse transzendiert, ist die "Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte“. Hier versteckt sich das ebenso psychologische wie materialistische Motiv seines von Marx wie von Freud inspirierten Denkens. Die Liebe dieser Mutter erkennt Adorno aber nicht in der oralen Fülle der materiellen Konsumgüter der kapitalistischen Tauschgesellschaft. In der Flut der Waren sieht er eher eine Abfindung für einen fundamentalen Triebverzicht, eine Abschlagszahlung für Inzestverzicht. In diesem Tausch, Materielles gegen die Mater, sieht Adorno, Sohn eines Kaufmanns und einer korsischen Sängerin, das Erzübel alles ökonomischen Denkens noch unterhalb der Entscheidung zwischen kapitalistischer und kommunistischer Spielart. Über die Utopie, die Liebe der Mater-ie, hat Adorno das biblische Bilderverbot verhängt, Liebe der Mutter genitivus subiectivus und obiectivus. Sein Vater war Kaufmann und betrieb den von Adorno perhorreszierten Äquivalententausch von Arbeits(Er-zeugungs)kraft und verzehrbarer Ware.

Das Ich stehe niemals harmonisch vermittelnd zwischen Es, Realität und Überich, sondern nur im Zwangsbund mit Überichinstanz und Realitätsprinzip gegen das Es, Agent aggressiver Selbsterhaltung und Selbstbeherrschung, versagend, unterdrückend und esdyston, Aber Adorno sieht auch die Gefahren, die in der Versuchung liegen, die geschichtlich mühsam errungene, relative Autonomie des Ich wieder rückgängig zu machen, als Subjekt abzudanken und in einer symbiotischen Einheit mit der inneren Natur sich aufzulösen. Historisch ist das Ich hervorgegangen aus dem immer erfolgreicheren Kampf gegen eine übermächtige Rabenmutter Natur, als Abgrenzung gegen sie hat es sich aus ihr herausdifferenziert als Partialsubsystem: Selbsterhaltungstrieb par excellence gegen die innere und jene äußere Natur, in der das Realitätsprinzip, die entwöhnende Stiefmutter Natur und die verbietenden patriarchalen gesellschaftlichen Mächte sich für die Phantasie amalgamieren. Die Rationalität dieses Ich, die eine Rationalisierung ist, will Adorno abgeschafft sehen – durch noch mehr statt weniger Rationalität. Das Ich soll wirklich rational werden/statt bloß zu rationalisieren; es soll einfach Herr werden über seine Herrschaft über innere und äußere Natur. Vielleicht habe das Überich dem Ich geholfen, sich aus der prä-ödipalen Naturverstrickung freizustrampeln, also selbständig zu werden, der maternalen Natur- und Todesverfallenheit zu entgehen. Dabei sei aber inzwischen das eigentliche Ziel der Befreiung vom Naturzwang vergessen worden über der anal kontrollierten Abgrenzung gegen die einst dominante Natur : die inzestuöse Wiedervereinigung eines erstarkten, gegen die Naturzwänge gefeiten Ich mit eben dieser Mutter Natur; befreit sich das Ich doch nur von der Umklammerung durch die Natur, um wieder mit ihr sich zu vereinigen, ohne verschlungen zu werden, wie es vor der Lösung drohte. Das metaphysische Ziel bestehe doch darin, sich an die Natur verlieren und aufgeben zu können, Naturwesen zu sein, ohne nun von dieser Natur zermalmt zu werden.

Adorno will dieses Ich zusammen mit dem Überich abgeschafft wissen. Dazu repristiniert er die Scheidung von beiden : Das Ich ist sein eigenes Überich nicht anders, als der Sohn sein eigener Vater werden will. Die Identifikation mit dem Vater ist dabei zweideutig: Identifikation auch mit seinem Verbot, sich mit ihm schon jetzt identisch zu fühlen. Der Sohn wird abgefunden mit einer Frau, die nicht seine Mutter ist, die ihr gleichen darf, ohne dieselbe zu sein, und Adornos Philosophieren wird zum Insistieren auf dieser spezifischen Differenz zwischen der Mutter und den späteren Liebesobjekten des Kindes. Die verhaßte Ideologie des Vaters, die zur Indoktrination des Sohnes erfunden ist, lautet dann: “Deine Mutter ist meine Gattin und gehört mir. Aber tröste dich. Wenn du erst so groß bist wie ich, bekommst du eine eben solche Frau wie Mama. Frau ist Frau. Du bekommst eine andere, und diese andere ist so gut wie diese eine." Das einzige, was die Mutter vor dem Vater von allen anderen Frauen unterscheidet, ist die Tatsache, daß sie ihm gehört, und damit basta. Die Argumentation des Vaters ist also zutiefst widersprüchlich : Beharrt der Sohn darauf, daß er diese Frau, die Mutter, und keine andere will, wird ihm von oben bedeutet, eine Frau sei so wie die andere und er werde ja auch eine bekommen – sofern er nur dem Vater folge. Das aber kann der Sohn, gerade sofern er die väterliche Logik akzeptiert hat, nicht einsehen : Wenn für den Vater eine Frau so gut ist wie die andere, gibt es keinen vernünftigen Grund, warum der Sohn nicht ebenso gut die Frau behalten dürfe, aus der er, anders als der Vater, gekommen ist und in die er zurück will. Dieser innere Widerspruch der väterlichen Philosophie treibt den Sohn in Widerspruch zum Vater.

Es gibt wenigstens zwei Stränge in Adornos Argumentation : 1.) Der Sohn schiebt und gibt den Mutterinzest auf. Er unterwirft sich einem Vater, der nicht nur gefürchtet und bewundert, sondern am Ende mehr geliebt wird als jenes Wesen, von dem er den Sohn ausschließt. Das ist der psychologische point d'honneur von Adornos These von den falschen Bedürfnissen durch falsches Bewußtsein. Die inzestuösen werden von homosexuellen Regungen, die selbst der Verdrängung unterliegen, verdrängt und abgelöst. Der effeminierte Sohn will dem versagenden Prinzip(al) gefallen, läßt sich aus Liebe ausbeuten und mit Tand abspeisen, der keinen Gegenwert zum abgeschöpften Mehrwert darstellen kann.

2.) Die "Dialektik der Aufklärung" besteht darin, daß die bewunderte Herrschaft des Vaters über Mutter Natur für den nacheifernden Sohn zur zweiten (Mutter) Natur wird. Der Mensch unterdrückt seine eigene Natur, um die übermächtige archaische Umweltnatur unterwerfen zu können, wie biblisch gefordert. Er beherrscht die ganze Natur, außer seiner Naturbeherrschung selbst. Im phallischen Instrumentarium naturbeherrschender Technik ersteht die unterworfene Natur als zweite wieder auf : Die sogenannte phallische Mutter taucht drohend hinter dem männlichen Penis auf, der sie in Schach halten sollte.

Die Liebe zur Mutter als Haß auf den Vater pervertiert sich in Liebe zum Vater als Haß gegen die Mutter, deren Imago allerdings ambivalent im vergötterten Waffenpenis der Homosexuellen drohend wiederkehrt, so daß nach Mendel die Revolte gegen den Vater die Revolte gegen eine Mutter involviert, die vom väterlichen Geist kaum noch trennbar ist. Zu Recht löst sich also nach Adorno der Geist aus der erstickenden Umarmung der Naturverfallenheit durch Herrschaft über ihre Übermacht. Aber dieser Geist als Kind der Mutter Natur verabsolutiert sich und seine aus der Lösung von ihr errungene Selbstidentität zum Fetisch, solange er in der analsadistischen Phase seiner Stellung zur Natur sich vertrotzt. Das Ich wird wie die archaische phallische Mutter, wenn es sein eigenes Überich wird, das das Es beherrscht. Der Sohn rutscht in Identität mit der gefürchteten frühen Mutter, wenn es als sein eigener Vater die Mutter so zu beherrschen trachtet, wie er einst von der phallischen Mutter um seine Unabhängigkeit und Autonomie sich gebracht fürchtete. Aber die entwöhnende Mutter wird ja vom Kind nicht nur gefürchtet und gehaßt, sondern auch geliebt, und derselbe Vater, der gut genug war, daß das Kind sich mit seiner Hilfe aus der bösen Imago seiner Abhängigkeit von ihr befreite, verkehrt sich zum bösen Rivalen im gleichen Augenblick, in dem der Sohn sich mit der geliebten Frau des Vaters ganz wiederzuvereinigen sucht. In den primärnarzißtischen Phasen der psychosexuellen Entwicklung wird der Vater als Modifikation der Nichtmutter, seine Anwesenheit als Variante mütterlicher Abwesenheit erlebt.

Er spürt, daß ihm die Erinnerung ausgetrieben werden soll daran, daß seine Mutter keine beliebige Frau unter anderen ist. Das qualitativ Andere, Nichtidentische, an der Mutter gegenüber dem Heer aller weiblichen Wesen ist die Tatsache, daß es seine Mutter ist, aber eben gerade deshalb die Frau des Vaters. Er soll den Besitz der Mutter erst aufschieben und dann aufgeben und sie in einer anderen Frau lieben, d.h. schon jetzt eine beliebig andere in seiner Mutter lieben, d.h. ihr und seinen ursprünglichsten Sehnsüchten untreu werden. Bekanntlich will Adorno dieses „Nichtidentische“ und unaustauschbar Besondere vor dem vergleichgültigenden Zugriff des identifizierenden Allgemeinbegriffs retten, die geliebte Mutter vor der ablenkenden Gleichschaltung mit dem, womit der Sohn für seinen Inzestverzicht abgefunden werden soll. Identifikation mit dem Vater als Installation eines Überich in den Sohn läßt alle Frauen gleich werden vor dem väterlichen Blick, den der Sohn auf sie werfen soll. Wie der Vater werden heißt eine Frau wie die Mutter so erkennen, wie der Vater die Mutter erkennt.