Familiengift - Jürgen Alberts - E-Book

Familiengift E-Book

Jürgen Alberts

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Beschreibung

Der Abschluss der großen Familiensaga über drei Generationen, die ein Bild über das Deutschland der Nachkriegszeit zeichnet. Die Hansestadt Bremen im Jahr 1993: Drei Jahre nach der deutschen Vereinigung haben auch deren Probleme die Bürger erreicht. Der bekannteste Weinhändler der Stadt hat im Osten das große Geschäft gewittert und ist kläglich gescheitert. Er zerbricht an diesem Misserfolg und es kommt zu einer Amoktat, in deren Folge vier Menschen ihr Leben verlieren. Im Prozess stehen sich wieder die beiden verfeindeten Kanzleien Huneus und van Bergen gegenüber.

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Familiengift

Eine hanseatische Justiz-Trilogie

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-071-8

MOBI ISBN 978-3-95865-072-5

 

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

TEIL 3

Die Starre

Was mit einem Kompromiss beginnt,

endet meist in einer Katastrophe.

Keine hanseatische Weisheit

Gewidmet meiner Frau Marita,

die nicht nur an hellen Tagen

- eins -

Als Emma Livingstone aus dem backsteinernen Bahnhof trat, hielt sie inne. Zwei Tage war sie unterwegs gewesen, Busse und Bahnen, die Fähre und wieder die Eisenbahn benutzend, um nach fünfundzwanzig Jahren die Stadt zu betreten, die sie für immer aus ihrem Gedächtnis hatte streichen wollen.

Alles kam ihr fremd und gleichermaßen vertraut vor. Die vierspurige Hochstraße, die den Blick auf die Innenstadt verwehrte, der leer gefegte Bahnhofsvorplatz, auf dem zwei Losbuden standen, die Sexshops und Spielsalons. Der alte Mann, der den »Wachtturm« feilbot. Eine heftige Böe trieb Abfall vor sich her.

»Versuchen Sie doch auch mal Ihr Glück! Mit nur einem Los den Haupttreffer erzielen! Eine Kreuzfahrt in die Karibik für zwei Personen im Gesamtwert von 15 000 Mark.« Die Lautsprecherstimme ließ Emma herumfahren. Solche Ansagen hatte es früher nicht gegeben.

Im braunen Lederkoffer befand sich die gesamte Habe. Soll ich wirklich ... Am besten umdrehen, Ticket lösen, schnell den Rückweg antreten. Noch kann ich umkehren.

Das Museum auf der rechten Seite des Bahnhofsvorplatzes, das sie als Schülerin einige Male aufgesucht hatte, zeigte eine Ausstellung mit asiatischen Kultgegenständen. Die ferne Welt als letzter Ort der Hoffnung.

»Kann ich Sie irgendwo hinfahren?«, fragte ein Taxifahrer, der sie von der Seite ansprach.

»No, thanks, I don't need a taxi!«

»War ja nur ne Frage!«

Der Mann in der Lederjacke ließ sie stehen.

Als Erstes muss ich diesen Koffer loswerden. Niemand sollte sie als Heimkehrerin erkennen.

Sie wechselte hundert Pfund in D-Mark, erstaunt über den günstigen Kurs, gab ihren Koffer bei der Gepäckaufbewahrung ab, only for a couple of hours, und stand wieder auf dem Bahnhofsvorplatz.

Emmas Blick fiel auf eine Bäckerei. Hastig marschierte sie los. Obwohl sie keinerlei Hunger verspürte.

Sie öffnete die Tür und fühlte sich umgehend wohler.

Emma stellte sich an, hatte genügend Zeit, den wunderbaren Duft einzuatmen, betrachtete die Auslagen an der rückwärtigen Wand. In der Mitte ein Plakat, das eine strahlende Morgensonne umringt von Weizenähren zeigte. Darunter die Zeile: Unser täglich Brot kaufen wir hier!

White bread, brown bread, rolls and scones. Emma sah nichts, was sie nicht selbst hätte backen können. Nur die Torten würden ihr nicht auf Anhieb gelingen, aber mit ein bisschen Übung ...

»Sie sind an der Reihe.« Die Verkäuferin mit der weißen Kappe zeigte auf Emma.

»Nein, ich war vorher da«, kam es von der Seite. »Geben Sie mir drei Brötchen, aber nur krosse.«

Die Verkäuferin zuckte mit den Schultern und ließ Emma stehen. Was soll ich kaufen, dachte sie. Vollkornbrot, Mischbrot, Weltmeisterbrot. Richtig, Deutschland war Weltmeister geworden, aber lag das nicht schon Jahrzehnte zurück? The Germans are always Weltmeisters, hatte sie in England häufiger zu hören bekommen. Manchmal rollten deutsche Panzer über die Titelseiten englischer Boulevardgazetten.

»So, nun aber«, forderte die Verkäuferin sie auf

»Ich hätte gerne ein Stück Butterkuchen«, sagte Emma. Mit schwerem britischem Akzent. Dabei hatte sie sich geschworen, auf keinen Fall deutsch zu reden.

»Der ist noch warm, ganz frisch. Wollen Sie ihn gleich auf die Hand?«

»No thanks. How much?«

Zu Emmas Verblüffung wurde ihr der Preis auf Englisch genannt. One Mark and ten Pfennigs.

Nun hatte sie Proviant, aber wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Hinausfahren zur Villa, zu ihrer letzten Wohnung oder zum Haus von Gabriele? Wohnte die überhaupt noch da? Drei unterschiedliche Richtungen, drei Anläufe, drei gänzlich verschiedene Lebensfahrten.

Lange studierte sie den Plan des Straßenbahnnetzes. Warum setzt du dich nicht einfach in die Tram und fährst durch die Gegend, bis du den Mut gefunden hast, jemandem zu begegnen, dachte sie.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ein Mann in dunkelblauer Uniform. An seiner Dienstmütze ein auf Hochglanz poliertes Abzeichen in Rot und Weiß.

Emma fragte, wie sie zur Marcusallee komme. Sie sprach nur den Straßennamen deutsch aus.

Der Beamte erklärte ihr in flüssigem Englisch, wie weit sie mit der Linie 4 zu fahren habe. »It's yourfirst time in ourwonderfiil city?«, fragte er freundlich.

»I was here before. Long time ago.«

»Nothing has changed, except of the Ossis.«

Emma hatte nicht ganz verstanden, was der Uniformierte damit gemeint haben könnte, bedankte sich und ging zum Schalter, um ein Ticket zu lösen. Wieder stellte sie sich in die Reihe der Wartenden. »Halten Sie das passende Kleingeld bereit!«, las sie in Druckbuchstaben über dem gläsernen Guckloch. Die Straßenbahntarife, mein Gott, die Erhöhung des Fahrpreises um 20 Pfennig, damit hatte alles seinen Lauf genommen. Ihre erste Demo. Besetzung der Schienen, Zehntausende auf dem Marktplatz, Knüppelorgien der Polizei. Bernie hatten sie einen Schädelbasisbruch verpasst, die Veröffentlichung in der Schülerzeitung, der Prozess ... Wie eine Sturzflut kamen die Erinnerungen zurück.

Emma musste sich festhalten. Ihre Rechte griff nach dem Stehtisch neben der Fahrkartenausgabe. Wie hatte diese Stadt sie damals herausgefordert. Ins Visier genommen. Zum Objekt heftigen Streites gemacht. Sie hatte sich nicht kleinkriegen lassen. Nicht von diesem hanseatischen Spießertum, von diesen kleinkarierten Juristen, nicht vom Herrgott und seinem diktatorischen Gehabe ... ob er noch lebte, der alte Herr? Emma rechnete nach, er müsste in diesem Jahr hundert werden. Hatte er nicht am 1. September Geburtstag? Noch lange hin, sehr lange. An diesem Jubelfest würde sie unter gar keinen Umständen teilnehmen.

Die Fahrt durch die Straßen. Fremd und vertraut. Die Fassaden frisch gestrichen, in altweiß, cremefarben oder grauweiß, die Straßenränder gesäumt mit Kastanien, Ahorn und Platanen, die Stadtteile wie kleine Dörfer aneinander gereiht. Die Bürgerhäuser erst drei- bis vierstöckig, je weiter sie sich vom Bahnhof entfernte, zwei- bis anderthalbstöckig. Viele Neubauten füllten die Lücken, die im Zweiten Weltkrieg entstanden waren. Hundertzweiundsiebzig Fliegerangriffe von britischen Bombern. Seltsam, dachte Emma, dass ich mich an diese Zahl noch erinnere.

Sie stieg an der Haltestelle Marcusallee aus.

Sofort erhöhte sich ihr Puls.

Ein paar hundert Meter, mehr war es nicht.

Ein paar hundert Meter, bis zum steinernen Eisschrank, der sich Familiensitz nannte.

Emma hatte sich vorgenommen, an der Auffahrt stehen zu bleiben. Keinen Fuß auf den Kiesweg setzen. Nur schauen, nur kurz einen Blick auf die herrschaftliche Villa werfen.

Schon von weitem sah sie den Baum, der noch mächtiger geworden war. Die Blutbuche thronte in der Mitte des gewaltigen, leicht abfallenden Rasenstücks und zeigte die ganze Größe der Sippe Huneus. So hatte der Herrgott immer seine Familie bezeichnet. Das Bäumchen war beim Einzug von ihrer Urgroßmutter Helene gepflanzt worden. Beinahe wäre sie hundert geworden. Die bleiche Helene in ihrem Sarg, an dem Emma über Stunden gewacht hatte, ihre pompöse Beerdigung, zu der Emma im grasgrünen Kleid erschienen war, die geheuchelten Beileidsbekundungen, der Bürgermeister, der sie wegen ihres unpassenden Aufzuges angegangen war. »Jeder sollte die Farbe seiner Trauer selbst bestimmen dürfen!«, hatte sie dem Bürgermeister damals erwidert. Ohne jeglichen Respekt vor dem hohen Amt des stiernackigen Politikers.

Je näher sie kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Desto schneller schlug ihr Herz.

Die prachtvolle Villa im matten Mittagslicht. Achtung: Sie verlassen den demokratischen Sektor.

Emma lehnte sich an eine Kastanie, in gebührendem Abstand auf der anderen Straßenseite. Ein klassizistischer Prachtbau mit verzierten Fenstersimsen, einem säulenbewehrten Eingangsportal, zu dem eine steinerne Treppe hinaufführte, vier Stockwerke kalte Pracht. Auch Gabriele war froh gewesen, als sie diesem Eisschrank entflohen war.

Die andauernden Streitereien beim sonntäglichen Pflichtdinner, die Maßregelungen, die Anordnungen des Herrgottes, die peinlich genau zu beachten waren. Der Ohrfeigen-Schlagabtausch zwischen ihrem Vater und ihr. All das kam Emma wieder in den Sinn. Obwohl das ganze Haus voller Juristen war, hatte sie niemand verteidigt, als sie vor fünfundzwanzig Jahren wegen Verleumdung und Verbreitung pornografischer Schriften angeklagt worden war. Feiglinge, allesamt rückgratlose Feiglinge, denen die Reputation ihrer ehrwürdigen Sozietät wichtiger war als der eigene Spross.

Ein dunkelblauer Mercedes brauste den Kiesweg herunter. Die weißen Steinchen spritzten zur Seite. Ohne an der Ausfahrt anzuhalten schnellte der Wagen heraus und beschleunigte auf der baumbestandenen Allee.

Mein Bruder, dachte Emma, das muss mein Bruder gewesen sein. Sie verbarg sich schnell hinter einem Baumstamm. Wer sollte sie schon erkennen, in ihrem Tweedkostüm? Very British. Manchmal war es besser, sich auffällig zu tarnen.

Unverkennbar, das war ihr Bruder Martin Thomas. Der einzig geliebte Nachwuchs, dem alles in den Schoß fallen würde, wenn die Altvordern das Zeitliche gesegnet hatten. Hoffentlich würde sie ihm nicht begegnen. Ich muss mich in mein englisches Schneckenhaus zurückziehen. Ihn einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Dazu war der zwei Jahre ältere Martin Thomas den beiden Schwestern zu oft in den Rücken gefallen. Nicht umsonst trug er den Titel: der Verräter.

Emma trat den Rückweg an. Sie hatte genug gesehen. Ihr wäre niemals in den Sinn gekommen, die steinerne Treppe hinaufzugehen und an der Eingangspforte zu klingeln. Was hätte sie sagen sollen? Die verlorene Tochter ist wieder da. Kann sich noch jemand an mich erinnern? Oder: Eins der sechsundzwanzig Zimmer wird doch wohl für mich frei sein. Würde es überhaupt eine gemeinsame Sprache geben? Außer der Sprache der Vorwürfe. Else und Kathrin, die beiden Hausmädchen, waren gewiss schon tot.

Sie musste nicht lange auf die Straßenbahn warten. »Ausländer raus«, stand deutlich lesbar neben dem Sitz, auf den sie sich gesetzt hatte. Darunter hatte jemand mit Kugelschreiber geritzt: »Das gilt auch für dich, Ossi!«

Scheint ja nicht richtig gelungen zu sein, diese »Wieder-Vereinigung«, dachte Emma In England hatte sie jede Nachricht aus bigger Germany begierig aufgenommen. Jeden Abend saß sie vor dem Fernseher und schaute BBC, ITV, Channel four. So lange, bis ihr die Augen zufielen. Immerhin musste sie um vier Uhr schon auf den Beinen sein.

Wieder kam sie am Bahnhof vorbei. Ein Wunder, dass der nicht von englischen Bombern getroffen worden war. Ringsherum Hochhausfassaden aus den fünfziger Jahren, Beton und Glas. Allesamt architektonische Scheußlichkeiten, die den Bahnhofsvorplatz umstellt hielten wie das Grab eines entmachteten Herrschers.

Wenige Haltestellen später ein anderes Dorf, geduckt, gemütlich und hanseatisch bescheiden.

Ohne Mühe fand Emma das Haus, in dem sie seit dem Auszug aus der Huneus-Villa mit Bernie untergetaucht war. Im Obergeschoss, unauffällig. Wie hieß noch die geldgierige Vermieterin? Klingeln oder nicht klingeln, das war die Frage.

»Suchen Sie jemand?«, fragte eine ältere Dame, die von einem Kurzhaardackel an der Leine geführt wurde. Er zog sie von einer Pinkelecke zur nächsten.

»No, no, I am just looking.«

»What you look here?«

»Houses.«

»Ach so, Hauses. Da haben wir genug davon. Schönen Tag noch.«

Emma sah ihr nach.

Der Hund hatte sein Frauchen gut erzogen.

Die Haustür wurde geöffnet. »Sind Sie die neue Mieterin?«, rief die Frau über die Straße.

»No, thanks.« Emma erkannte Frau Oltmanns sofort. Sie hatte ihnen damals das Dachgeschoss mit den schrägen Wänden vermietet, ziemlich überteuert. Emma war ganz gut mit ihr ausgekommen, aber Bernie machte dauernd Probleme. Nicht zuletzt wegen seiner Aufzucht von üppigen Haschischpflanzen. Frau Oltmanns schuldete Emma noch ein halbes Jahr Miete, die sie vor ihrem plötzlichen Abtauchen im Voraus bezahlt hatte. Um kein Aufsehen zu erregen, hatte Bernie ihr geraten. Solange die Alte die Miete habe, werde sie keinen Verdacht schöpfen.

Die Haustür aus geriffeltem Glas im Aluminiumrahmen wurde wieder zugezogen.

Ob sie Bernie geschnappt hatten? Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seitdem er zum ersten Mal auf dem Fahndungsplakat der Roten-Armee-Fraktion erschienen war. Auch bei seinen Freunden in Hamburg hatte er sich nicht mehr blicken lassen.

Emma wanderte durch die Straßen dieses ruhigen Viertels. Wenn schon die Oltmanns sie nicht erkannten, würde es hier niemand tun.

Zwei Bäckereien lagen auf ihrem Weg. Jedes Mal ging sie hinein, freute sich an den wohltuenden Gerüchen, ließ sich ein Stück Butterkuchen geben und steckte es in den Leinenbeutel mit der Aufschrift: Do not feed our animals. Er stammte aus dem Zoo in York, den sie am Wochenende manchmal besucht hatte. Das Gesicht eines Schimpansen dort glich dem ihres Vaters so sehr, dass Emma in lautes Gelächter ausgebrochen war, als sie ihn zum ersten Mal erblickte. Manchmal war sie nur in den Zoo gegangen, um ihrem Vater ein paar derbe Beleidigungen zuzurufen.

Du darfst es nicht übertreiben, hatte Emma sich geschworen, nicht gleich am ersten Tag zu viel zumuten. Sie wollte zunächst ein Zimmer in einer kleinen Pension mieten und sich an die Hansestadt nach und nach erinnern. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie hier jemals wieder ihre Zelte aufschlagen wollte.

Das hing ganz von Gabriele ab.

Einige Male hatte sie daran gedacht, sie von England aus anzurufen. Vorzuwarnen. Die kleine Schwester ist im Anmarsch. Keine Angst, sie beißt nicht mehr. Alles ist verjährt, keine Sorge. Aber sooft sie auch am Telefon in der schmalen Diele gestanden hatte, sooft hatte sie der Mut verlassen. Was sollte sie ihrer Schwester sagen? Nach all den Jahren. Als sie in Hamburg lebte, hatten sie sich in unregelmäßigen Abständen getroffen. Gabriele hatte stets die nötigen Vorsichtsmaßnahmen beachtet. Seit sie sich das letzte Mal gegenübergestanden hatten, waren fünfzehn Jahre vergangen.

Der Straßenbahnfahrer erkannte sie wieder, als sie ein Ticket bis zum Bahnhof löste. »Are you an a roundtrip?«, fragte er mit einem leichten Schmunzeln.

»Nein, nein«, erwiderte Emma, »ich habe nur jemand besucht.«

»Sie sprechen aber gut deutsch!«

»Na ja, so gut auch wieder nicht.«

Du musst dich entscheiden, in welcher Sprache du mit den Leuten reden willst, dachte Emma, sonst kommt zu leicht ein Verdacht auf.

Also doch Innenstadt.

Sie sah auf die Uhr.

Wie viele Stunden dauerte bereits dieser Gang durch ein ihr vertrautes Labyrinth, das fremder nicht hätte sein können. Alles schien an seinem Platz und zugleich verändert zu sein.

Am Hauptbahnhof stieg sie aus. Fest entschlossen, den Koffer aus der Gepäckaufbewahrung zu holen und sich mit einem Taxi an den Osterdeich bringen zu lassen. Dort gab es Pensionen und kleine Hotels. Ein Zimmer mit Blick auf den Fluss. Und dann morgen einen neuen Anlauf nehmen.

Als sie an der Reihe war, den Gepäckschein abzugeben, drehte Emma ab. Ach was, entweder sie nehmen mich auf oder sie schicken mich weg. Warum es nicht gleich heute probieren? Jetzt, auf der Stelle. Emma, reiß dich zusammen. Was soll dieses Gezaudere? Du bist hierher gekommen, um ... Ja, warum eigentlich? Was wollte sie in dieser Stadt, die sie nie geliebt hatte? Bei dieser Familie, die sie ins Abseits gestellt hatte? Wollte sie ihre Mutter wirklich wieder sehen? Die Galeristin, die nachmittags mit Freunden Champagner trank und über die intimen Verhältnisse der oberen Fünfzig klatschte.

Emma ging zu Fuß. Mitten hinein in das Viertel, in dem Gabriele wohnte. Den Blick hielt sie gesenkt. Wagte es nicht, die vorbeigehenden Passanten anzuschauen. Die Angst erkannt zu werden, hielt sie in Schach. Sind Sie eine aus dem Hause ...? Jeden Moment erwartete sie diese Frage. Erkannt, ertappt, dingfest gemacht. Ob der Haftbefehl gegen sie wirklich verjährt war?

Diese Angst war es gewesen, die sie aus dem Land getrieben hatte, die nicht mehr beherrschbaren Ängste, plötzlich aufzufliegen, die ständige Furcht vor den Verfolgungsbehörden, die ihr dicht auf den Fersen waren. Ein falsches Wort und ihre Tarnung wäre zerrissen. Nach jedem Besuch ihrer Schwester in Hamburg wurde dieser Verfolgungswahn stärker. Tagelang war sie wie gelähmt gewesen. Dabei hätte Gabriele sie niemals verraten.

Da: die Ecke, an der Bernie immer den Stoffgekauft hatte, dort: das Kino, in dem die politischen Diskussionen stattfanden. Auf der Dachterrasse dieses Hauses hatten sie nackt getanzt, als ein Feuer in einer benachbarten Schreinerei ausgebrochen war. Eine Menge türkischer Läden. Die gab es damals noch nicht, stellte Emma fest. Ob auch die Ossis hier Läden aufgemacht hatten?

Die Straßenbahn fuhr vorbei. Hatte der Fahrer ihr zugewunken? Sie fiel in ihrem Tweedkostüm in diesem Viertel nicht besonders auf Keiner drehte sich nach der verrückten Tussi um, die auf Englisch zu machen schien.

»Want some White horses?«, fragte ein dunkelfarbiger Wuschelkopf und klopfte Emma auf die Schulter.

Erschreckt wich sie zurück.

Die Straße, die sie suchte, ging nach links ab. Emma blieb stehen. Ihr Puls heftig beschleunigt. In ihrem Kopf schnelle Wirbel. Es wird nicht dadurch besser, wenn du es auf morgen verschiebst, dachte sie. Auch morgen wirst du alle Kraft zusammennehmen müssen.

Emma bog nach rechts ab.

Noch eine Runde. Nur zur Beruhigung.

Sie studierte die Anschläge für Konzerte von Punkbands, die auf den Holztüren zwischen den Häusern geklebt waren. Zentimeterdick die Plakate übereinander. Dorthin hatten sie damals auch ihre Flugblätter gepappt.

Heraus zur Demonstration gegen die Tariferhöhung der Straßenbahn AG!

Nehmt der Polizei die Knüppel weg!

Draufhauen! Draufhauen! Nachsetzen!

Das Haus lag im Schatten.

Eine enge Seitenstraße, die in einer leichten Biegung verlief.

Emma blickte auf das glänzende Messingschild. Als sie näher kam, konnte sie erkennen, dass ein Name mit schwarzem Band überklebt war. Betrieb Wolfgang die Kanzlei inzwischen alleine?

Sie schaute hinauf Dort oben lag das Dachzimmer. Wolfgangs geheime Stube. Von hier unten war es nicht auszumachen. Dort hatten sie sich geliebt. Schnell, heftig wie ein D-Zug, waren sie übereinander hergefallen. Der Verteidiger und seine Mandantin. Ob Gabriele jemals von diesem one-night-stand erfahren hatte?

Nun schlug ihr Puls bis zum Hals.

Zögerlich ging sie die fünf Treppenstufen hinauf. Klingelte.

Wich sofort zurück.

Noch kannst du umkehren. Emma, schnell. Was hast du hier überhaupt zu suchen?

Nichts rührte sich.

Von der kleinen Terrasse konnte sie durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge in die Kanzlei schauen.

Niemand da.

Emma hielt sich eine Zeit lang am Geländer fest.

Dann drehte sie sich rasch um, eilte die Treppenstufen wieder hinunter.

»Hey, was soll das?«, kam eine helle Stimme hinter ihr her. »Biste nich zu alt für solche Klingelnummern?«

»Does Gabriele still live here?« Emma stand am Treppenabsatz. Das Mädchen trug ein Hundehalsband mit silbernen Spitzen, durchlöcherte Jeans, über die erst ein weißes, dann ein froschgrünes T-Shirt gezogen waren, ein breiter Metallgürtel mit verschiedenen Ketten baumelte um die Taille.

»Yes, she lives here. But ... die kommt erst heute Abend spät zurück, wenn überhaupt.«

»And Wolfgang?«

»Der ist unterwegs, wie immer. Ich bin die Hannah, vorne und hinten mit h. And who are you?«

Emma spürte, wie sich ihre Augen mit Wasser füllten. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie war nicht in der Lage, auch nur ein Wort herauszubringen.

Mit verschliertem Blick schaute sie auf das Mädchen. Wie alt mochte es sein?

»Can I help you?«, fragte die Punkerin. Ihre halbhohen Turnschuhe waren feuerwehrrot. Die Schnürsenkel bestanden aus dünnen Elektrokabeln.

Emma schüttelte den Kopf. Hatte ihre Schwester ... Hannah sprang die Treppen hinunter. Baute sich ihr gegenüber auf. »In der Kostümierung kommste nicht weit. Also, was willst du?«

»Ich bin Hannah. Gabrieles jüngere Schwester«, brachte Emma stockend hervor. Ihr Gesicht in Tränen. Sie hatte keine Kraft, sie wegzuwischen.

»Ich denk, du lebst im Osten!? Haben die mir irgendwann mal gesagt. Ma wollte schon lange nach dir forschen, war aber immer zu beschäftigt. Komm rein, was stehste hier noch rum? Schließlich sind wir doch verwandt, irgendwie. Oder?«

Die beiden Hannahs umarmten sich.

Dann ging das ungleiche Paar die Treppen hinauf Eine Hannah stützte die andere.

»Du musst mir alles erzählen!«, sagte Hannah van Bergen. »Warum hast du dich nicht gleich gemeldet? Ihr konntet doch überall hinreisen, nachdem die Mauer eingerissen wurde.«

»Ich habe in England gelebt«, erwiderte ihre Tante. Wie kam Hannah darauf, sie habe in der DDR gewohnt? Wer hat denn solche Märchen in die Welt gesetzt?

»Na ja, ist ja egal, wo du warst. Jetzt biste hier. Auch wenn die Alten noch nicht da sind, ich nehm dich schon mal auf. Platz haben wir genug. Hier hat früher mal ne WG gehaust. Jetzt ist nur noch der olle Kuno da. Aber der pennt um diese Zeit immer.«

Hannah führte sie in die geräumige Gemeinschaftsküche im ersten Stock. Hier hatten sie gekifft, sich heiß geredet und wild gekichert, hier gab es eiskalten Vanillepudding mit Bananen und Schokoladenstückchen. Auf dem abgebeizten Schrank, dessen Glastüren herausgenommen waren, standen noch immer die vier geklauten Bierkrüge aus dem Münchner Hofbräuhaus. Eintrittskarte der männlichen Mitglieder der Wohngemeinschaft.

»So wie du aussiehst, willst du sicher einen Tee.« Sie setzte Wasser in einem glänzenden Kessel auf

Ihre Tante saß am Küchentisch.

Sie klammerte sich an der Tischplatte fest.

Ihre Augen weit aufgerissen. Ein nervöser Tick, den sie nicht stoppen konnte. Ein Zucken, das durch den ganzen Kopf ging. Bis hinunter in die Schultern. Ein Krampf, der den ganzen Körper erfassen konnte. Manchmal dauerte dieser Zustand eine Viertelstunde.

Hannah van Bergen drehte sich um. »Was hast du? Brauchste einen Arzt?« Schon hielt sie den Telefonhörer in der Hand.

»No, please, wait ...« Mehr brachte sie nicht heraus.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder zu sich kam. Tiefes Einatmen, am besten durch die Nase, langsam, immer tiefer werdend, nur auf das Atmen konzentrieren, alles andere wegdrängen, so hatte ihr es ein Arzt in Wetherby beigebracht.

Sie hielt sich am Küchentisch fest. Mit beiden Händen. Der Rücken kerzengerade, angespannt.

Minutenlanges Schweigen.

Langsam, ganz langsam löste sich der Krampf

»It's over!«

Sie blickte ihre Nichte an. »Das hatte ich schon lange nicht mehr so heftig. Nur noch ein Nachspiel ... du bist vom gleichen Schlag, aus der gleichen Sippe, wie dein Urgroßvater uns zu nennen pflegte.«

Hannah stellte das sprudelnde Wasser ab. »Oder brauchste was Stärkeres? Ich weiß, wo Paps die spirits stehen hat.« Paps, hat meine Nichte Paps gesagt?, dachte sie. So wie ich meinen Vater nannte. Solange er noch auf meiner Seite stand. »Ein Tee wäre besser.«

Dann fragte sie nach ihrem Bruder, Martin Thomas. »Den Arsch sehen wir nur von hinten.« Nach ihrer Mutter Karoline. »Die steigt bald aus dem Kunsthandel aus. Macht noch ne letzte Party und dann isses vorbei. Ein paar Festtagskontakte, zu den hohen Feiertagen, sonst sehen wir uns nicht mehr.« Nach ihrem Vater Thomas Anton. »Der Gebückte sitzt meistens stumm rum. Ich hab mal die Worte gezählt, die er zu mir beim letzten Besuch gesagt hat, es waren genau: drei. Guten Tag und Wiedersehen. Einmal bin ich bei diesem Sonntagsdinner gewesen. Ich kann dir sagen, das war die reine Tierquälerei.« Sie fragte nach ihrem Großvater, dem Herrgott: »Der ist gestorben. Genau an dem Tag, als ich geboren wurde. Wassen Zufall, nich?«

Noch zweimal musste Hannah van Bergen neues Teewasser aufsetzen. Ihre Tante hatte so viele Fragen.

Zwei Stunden später war Kuno völlig verpennt in die Küche gekommen. Hatte gefragt, wer die elegante Dame sei, und umarmte sie sofort, als er erfuhr, wer ihnen da ins Haus gekommen war. »Ei, Hannahche, des isch des noch erlebe derf. Wie lang hammer uns nich gedrückt.«

Kuno war auf dem Weg zu seiner Kneipe, die er inzwischen verpachtet hatte. Aber es verging kein Tag, ohne ihr einen Besuch abzustatten. Trotz seiner achtzig Jahre. »Ei, isch muss doch de junge Mensche uff de Finger schaue, sonst ruiniern die mir noch mei Rent.« Und an Hannah gewandt: »Un mir redde morge miteinander, gell!« Dann hatte er sich davongemacht. Sein Pferdeschwanz war ein bisschen schütter geworden. In der Rechten hielt er einen Spazierstock mit silbernem Knauf.

Gegen vierzehn Uhr erschien Gabriele van Bergen. Wie immer zog sie als Erstes ihre Kostümjacke aus und warf sie über den Stuhl. Die Aktentasche stellte sie an der Garderobe ab, die für die Klienten von Wolfgangs Kanzlei bestimmt war.

»Wir haben Besuch!«, rief Hannah vom Treppenabsatz hinunter. »Wenn du rätst, wer es ist, Ma, geh ich morgen in die Schule.«

»Das wüsste ich aber«, schallte es von unten herauf

Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre Mutter in der Küche stand. »Nun sag schon, wer es ist.« Gabriele schaute die Absender der Briefe durch, die sich auf der Ablage unterm Spiegel stapelten.

»Sie schläft.«

»Wer ... schläft ... hier? Komm, mach es nicht so spannend, ich hatte heute einen Scheißtag.«

»Wird nicht verraten, Ma. Du wirst es morgen erfahren. Lass se pennen, die ist völlig fertig.«

»Sag mal, spinnst du, Hannah? Du lässt hier fremde Leute übernachten, wo kommen wir denn da hin? Und wenn es jemand ist, der uns beklauen will ...«

»Die nicht.«

»Schluss jetzt, wo ist sie?«

»Im Gästezimmer.« Hannah stemmte die Arme in die Hüften, die Ketten klingelten am Gürtel.

Mit schnellen Schritten eilte Gabriele in den zweiten Stock. Riss die Tür auf Machte das Licht an.

Die Schlafende schlug sofort die Augen auf und setzte sich im Bett aufrecht hin.

»Hannah?«, rief Gabriele aus. Und wieder: »Hannah?« Ungläubig wiederholte sie den Namen. »Hannah!« Bis sie Gewissheit verspürte. »Hannah!!«

»Kann ich ein paar Tage bei euch unterkommen?« Gabriele setzte sich aufs Bett, umarmte ihre Schwester, strich ihr über das kurze Haar.

»Ein paar Tage?«, rief Gabriele aus. »Ein paar Jahre! Meinetwegen für immer. Mein Gott, Hannah, ich fass es nicht. Du bist zurück. Endlich!«

Ihre Tochter tauchte in der Tür auf

»Das muss gefeiert werden«, rief sie aus. »Die Schule sieht mich jedenfalls morgen nicht!«

»Shit«, entfuhr es Hannah, »ich hab meinen Koffer am Bahnhof vergessen.«

- zwei -

Im Gerichtssaal roch es nach Lysol. Wolfgangs Nase brauchte Minuten, um sich daran zu gewöhnen. Anfangs hatte Wolfgang van Bergen gedacht, Bohnerwachs und menschliche Ausdünstungen würden alle anderen Gerüche überdecken.

Jeder Gerichtssaal roch anders. Wolfgang konnte am Geruch ausmachen, ob es sich um eine Zivilsache oder ein Strafverfahren handelte. Gerichtssäle im Rheinland rochen anders als ihre Brüder in der Hansestadt. Schwurgerichtssäle hatten stets einen besonderen Geruch. Dieser in Rostock, in dem Wolfgangs erster Prozess in den neuen Ländern stattfand, roch nach Lysol. Wie die Grenzstationen früher gerochen hatten, die er passieren musste, um in den anderen Teil Deutschlands zu kommen. Die DDR schien ein riesiges Vorratslager dieses Desinfektionsmittels angeschafft zu haben. Wenn auch die behördlichen Putzkolonnen nicht mehr darauf zurückgriffen, der Geruch blieb. Es würde noch eine oder zwei Generationen dauern, bis andere Gerüche in den Gerichtssälen auszumachen waren.

Am Morgen des vierten Verhandlungstages hatte ihm der hagere Gerichtsbeamte einen Brief überreicht, auf dem sein Name in Blockbuchstaben geschrieben war. Wolfgang hatte ihn in seine Aktentasche gesteckt und sogleich vergessen.

Er sah zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr. Wenn Fischbach nicht bald vertagt, kann ich den 17-Uhr-Zug vergessen, dachte er. In der Mittagspause hatte er den Vorsitzenden Richter eindringlich gebeten, heute rechtzeitig Schluss zu machen. Fischbach hatte es ihm zugesagt.

Den ganzen Tag musste sich Wolfgang Lügen anhören. In immer neuen Varianten. Lügen, die dazu herhalten sollten, seinen vietnamesischen Mandanten zu belasten. Lügen von Rostocker Glatzen, die sich für ihren Auftritt vor Gericht fein gemacht hatten. Sogar die Springerstiefel hatten sie sich geputzt. Van Than Trie sei ein Schläger. »Der ist gefährlicher als eine Handfeuerwaffe.« Der Gelbe hätte wahllos um sich gehauen. »Der ist auf uns los wie eine Rakete.« Sie seien zu dritt ganz harmlos an seiner Zigarettenbude vorbeigegangen, und da wäre er herausgestürzt und hätte mit der Hauerei angefangen.

Wolfgang notierte sich die Widersprüche, in die sie sich verstrickten, um sie in seinem Plädoyer zu benutzen. Die drei an der Schlägerei beteiligten Jugendlichen, keiner über zwanzig, hatte er nach allen Regeln der juristischen Kunst auseinander genommen. Sie hatten sich zwar eine Variante für den ihnen äußerst peinlichen Vorgang zurechtgelegt, aber waren zu blöd dazu gewesen, sich die Details zu merken. Mal war dieser, mal jener der Erste gewesen, der zu Boden gegangen sein wollte.

Schwere Körperverletzung in drei Fällen, so lautete die Anklage des Oberstaatsanwaltes gegen den Vietnamesen.

Die Glatzen waren an den Falschen geraten. Van Than Trie hatte, bevor er nach Rostock kam, als Karatelehrer gearbeitet. Den Angriff der drei jungen Männer hatte er fachgerecht abgewehrt und ihnen eine Lektion erteilt. Aber es fand sich nicht ein einziger Zeuge. Dabei gab es jede Menge Zuschauer, wie sein Mandant ihm versichert hatte. »Die haben seelenruhig zugeschaut. Als ich die drei am Boden hatte, haben sie die Polizei gerufen.« An diesem Prozesstag tauchten bestellte Lügner auf, die ihren drei Kumpels vor Gericht beistehen wollten, die erlittene Schmach auf juristischem Wege zu tilgen.

»Herr Vorsitzender, wie lange ...«

»Ich weiß, Herr van Bergen, Ihnen drängt die Zeit«, unterbrach ihn Fischbach umgehend, »aber wir müssen heute die Beweisaufnahme abschließen.«

Wolfgang ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen. Den Fünf-Uhr-Zug kann ich vergessen.

Der Vorsitzende Richter Fischbach kam aus Hamburg. Der Oberstaatsanwalt aus Köln. Drei Wessis saßen zu Gericht über einen Vietnamesen, den drei Ossis verprügeln wollten. Die beamteten Prozessbeteiligten erhielten »Buschzulage«, so nannte man die Besoldungserhöhung, die denen winkte, die in den Jahren nach der Wende bereit waren, in die ehemalige DDR zu gehen. Für die meisten bedeutete der Umzug in den Osten zudem einen Karrieresprung.

Am ersten Verhandlungstag musste sich Wolfgang seinen Weg durch ein Spalier von Glatzen bahnen. Sie pfiffen ihn aus, als er das Gerichtsgebäude betrat. Nach den gewalttätigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, bei denen Rechtsradikale Ausländerwohnheime anzündeten, war die braune Szene in die Schlagzeilen geraten. Der Oberbürgermeister sagte, die Bilder in den Medien würden großen Imageschaden anrichten und die kostspielige PR im Bemühen um mehr Touristen zunichte machen.

Van Than Trie bekam ebenfalls die feindliche Stimmung zu spüren. Es fand sich kein Verteidiger für ihn. Wolfgang wurde von einem Bekannten aus Rostock angerufen, ob er nicht das Mandat übernehmen könne. Er war sofort bereit dazu. Das war ein Fall, wie er ihn liebte. »Wollte der gelbe Schläger unsere Jungen töten?«, fragte eine Zeitung in zentimeterhohen Balkenüberschriften. Einer gegen drei, das war immer ein Thema, besonders in der Boulevardpresse.

Beim Vorgespräch mit dem Vietnamesen, der seit mehr als zehn Jahren einen kleinen Zigarettenkiosk in Rostocks Innenstadt betrieb, wurde Wolfgang schnell klar, wie es zu der körperlichen Auseinandersetzung gekommen war. »Ich wollte mich nicht mit denen schlagen. Ich habe gesagt, hört doch auf mit dem Scheiß. Ich habe sie mehrfach gewarnt. Als sie anfingen, den Kiosk zu demolieren, wurde es mir zu bunt.« Wolfgang war erstaunt über das völlig akzentfreie Deutsch des Van Than Trie.

»Damit ist die Beweisaufnahme beendet«, sagte Fischbach unvermittelt, »wenn Sie sich beeilen, Herr van Bergen ...« der Vorsitzende zeigte mit großzügiger Geste auf seine Armbanduhr. »Ich erwarte Ihre Plädoyers beim nächsten Verhandlungstag am kommenden Mittwoch.«

Wolfgang zog die schwarze Robe aus, verabschiedete sich schnell von seinem Mandanten und verließ eilig den Gerichtssaal

Hoffentlich steht ein Taxi am Stand, dachte er, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend.

»Herr Verteidiger«, hörte er eine helle Stimme rufen. Wolfgang drehte sich um.

Das Gesicht der Frau erschreckte ihn. Eine grobe Narbe lief von der Nase bis zum Ohr. Die linke Wange war völlig eingedrückt.

»Ich muss rennen«, sagte Wolfgang, »mein Zug ...« »Ich hatte Ihnen geschrieben. Bitte, Sie müssen ...« »Kommen Sie einfach mit«, sagte Wolfgang, »wir können

im Auto reden.«

Seitdem Hermann, sein langjähriger Sozius, mit seiner Familie nach Süddeutschland gezogen war, kam er mit der Arbeit nicht mehr nach. Absaufen in Akten, so nannte er diesen chaotischen Zustand. Ungelesene Briefe stapelten sich, Fristen drängten, Anrufe über Anrufe. Am schlimmsten war diese ständige Angst, Fristen zu versäumen, nicht mal den eiligsten Sachen konnte er hinterherhecheln. Seine Sekretärin war seit Tagen krank. Er hatte einfach zu viele Mandate, zu viele Termine, zu viele Prozesstage. Aber was das Schlimmste für Wolfgang war, er kam nicht mehr dazu, in seiner Dachkammer seine Juristengeschichten zu schreiben. »Fälle und Todesfälle«, hatte er seine unveröffentlichte Sammlung genannt. Sein literarischer Ausgleich, seine seit Jahren gewohnte Schreiberei, die ihn immer wieder ins Gleichgewicht brachte, ganz gleich, mit welchen Widrigkeiten er in seinem Beruf auch zu kämpfen hatte.

Als sie im Taxi saßen, wiederholte die Frau mit leiser Stimme, sie habe ihm einen langen Brief geschrieben.

Der Verteidiger entschuldigte sich, er sei nicht dazugekommen, ihn zu lesen.

»Worum geht's?«, fragte er.

»Das ist eine längere Geschichte.«

»Wir haben acht Minuten Zeit.« Wolfgang konnte den Blick nicht von diesem Gesicht nehmen. Stammte die Narbe von einer Krankheit oder war sie Folge eines tätlichen Angriffs?

Die Frau zeigte auf den Taxifahrer, kam ganz nah an Wolfgang heran.

»Nicht hier, bitte.«

Wolfgang öffnete die Aktentasche, holte den Brief heraus. Dann lese ich eben erst, dachte er.

Die Frau rückte wieder von ihm weg. Starrte geradeaus. Biss sich auf die Lippen.

Mit dem rechten Zeigefinger schlitzte Wolfgang das hellblaue Kuvert auf.

Auf einem linierten Blatt standen nur zwei Zeilen. In Blockbuchstaben, mit der Maschine geschrieben.

DAS IST NICHT IHR GELD

UND DAS WISSEN SIE GENAU

Keine Unterschrift, kein weiterer Hinweis. Auch kein Absender.

Wolfgang hielt der Frau das Blatt hin.

»Das ist nicht mein Brief, erwiderte sie, »ich habe meinen Brief an Ihre Kanzlei geschickt. Vor einigen Wochen schon.«

Wolfgang faltete den Zettel zusammen und steckte ihn zurück.

»Frau ...«

»Hörmann, ich bin Frau Hörmann.«

»Frau Hörmann, ich muss Sie vertrösten. Momentan wächst mir die Arbeit über den Kopf Wenn ich zu Hause bin, werde ich Ihren Brief heraussuchen und dann, wenn ich das nächste Mal zum Prozess komme, werde ich mich bei Ihnen melden, dann können wir ... «

Wolfgang unterbrach sich, fixierte das verletzte Gesicht. Eine eheliche Auseinandersetzung, ein nächtlicher Angriff, ein ärztlicher Kunstfehler? Dass diese Frau im Taxi nicht mit ihm reden wollte, war leicht zu verstehen.

Bei seinen Aufenthalten in der DDR hatte es immer wieder solche Situationen gegeben. Stumm wies jemand mit dem Kopf zur Seite. Hilflos zog er seine Schultern hoch. Augenbrauen wurden gehoben, ein Finger auf die Lippen gelegt. Können wir mal kurz um die Ecke gehen, um ohne Mithörer zu reden?

»Nehmen Sie doch einen Zug später!«, bat Frau Hörmann. »Sie würden mir wirklich helfen.«

Sie kamen am Rostocker Hauptbahnhof an. Wolfgang zahlte, stieg aus. Sofort war die Frau an seiner Seite.

»Es tut mir wirklich leid, ich lese und dann ... melde ich mich.«

Nur weg hier, dachte Wolfgang, nicht noch eine weitere Sache aufgebürdet bekommen. Er wollte nichts anderes, als sich in den Zug setzen, die Kopfhörer auf, den CD-Player an, Bartôks Klavierstücken lauschen und dann versinken. Einfach in der Musik untertauchen und erst in der Hansestadt wieder einen Gedanken fassen müssen.

Wolfgang rannte los.

Die Stufen hinunter, durch den hell erleuchteten Gang. Am Treppenaufgang stoppte der Verteidiger. Er sah, wie sich der IC in Bewegung setzte.

Zu spät, verdammt. Mal wieder zu spät. Er würde sich Gabrieles Vorhaltungen anhören müssen. Schon hier, in dem nach Exkrementen riechenden Tunnel, der zu den Bahnsteigen führte, glaubte er, sie vernehmen zu können.

Keuchend kam die Frau an. »Nicht meine Schuld, oder?« Wolfgang lachte.

»Pech gehabt.«

»Oder Glück, ganz wie man es nimmt«

Wolfgang lud die Frau auf einen Kaffee ein. »Dann können wir reden.« Und er setzte hinzu: »Hoffentlich!«

»Danke«, erwiderte sie.

Der Imbiss war frisch renoviert. Helle Holzbänke, polierte Tische, helle Regale, westliches Kaffee-Design.

Wolfgang bestellte sich ein belegtes Brötchen, fragte Frau Hörmann, ob sie auch etwas essen wolle. Sie lehnte ab.

Der Verteidiger sah, wie sie ihre Hände knetete. Jetzt waren sie ungestört, keine weitere Kundschaft im Imbiss. Die Angestellte las hinter dem Tresen Zeitung.

Wolfgang biss in das Brötchen. Mit einer Handbewegung forderte er Frau Hörmann auf anzufangen.

»Wie ich Ihnen geschrieben habe«, flüsterte sie, »mein Mann hat sich selbst umgebracht. Er wusste keinen anderen Ausweg. Er hat unsere drei Kinder getötet. Er hat auch versucht, mich umzubringen. Sehen Sie ...« Frau Hörmann hielt inne, zeigte auf die grobe Gesichtsnarbe. »Streifschuss, musste genäht werden. Die Kugel in der Brust war leichter herauszuoperieren.«

Nun versagte ihr die Stimme.

Weinte sie?

Wolfgang sah keine Tränen. Ihre Augen waren hellwach. Sie schluckte ein paarmal.

Er hätte ihr gerne eine Frage wegen der Narbe gestellt, aber fühlte nicht genügend Kraft dazu. Der Prozesstag hatte ihn ermüdet, ausgelaugt. Wie so oft, wenn er nach der langen Sitzerei nicht mehr wusste, was ihn jemals dazu getrieben hatte, Strafverteidiger zu werden. Ein reisender Strafverteidiger zudem, sein Ruf war weit über die Hansestadt hinausgedrungen. Wenn Wolfgang van Bergen ein Mandat übernahm, gab es stets gehobenes Medieninteresse.

»Dabei hatte alles so gut angefangen. Wir hatten solche Hoffnungen. Peter war wieder voller Schwung. Die ersten Läden waren eröffnet, es sollte zügig weitergehen. Gildemeister war ein richtiger Freund der Familie geworden. Er hat uns ein paarmal besucht. Er war sogar bei uns auf der Datsche im Fischland.«

Wolfgang legte sein Brötchen weg. »Welcher Gildemeister?« Obwohl er kaum verstand, was die Frau ihm vortrug, die Nennung dieses Namens elektrisierte ihn.

»Arnold Gildemeister. Wir haben uns geduzt. Arnold Gilde-

meister, der jüngere Sohn des verstorbenen Firmeninhabers.« »Meinen Sie etwa den hanseatischen Weinhandel?«

»Ja.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Frau Hörmann der Geschichte einen Zusammenhang gegeben hatte. Ihr Mann war Geschäftsführer des Weinkontors Gildemeister Ost GmbH & Co. KG gewesen. Die alteingesessene hanseatische Firma hatte nach der Wende expandieren wollen. Arnold Gildemeister, der Zweitgeborene, als treibende Kraft. Jetzt war die Firma bankrott, und gegen Gildemeister wurde ein Verfahren eingeleitet.

»Mein Mann hat seinen Augen nicht getraut, als er eine Vorladung von der Staatsanwaltschaft in Rostock bekam. Plötzlich hieß es, ihm werde der Prozess gemacht.«

»Er war der Geschäftsführer«, wandte Wolfgang ein.

»Aber er hat doch keinerlei Schuld an dem Bankrott.«

Wolfgang konnte sich an die Gerüchte erinnern, die in der Hansestadt umgingen. Warum musste die Traditionsfirma plötzlich dichtmachen? Nicht nur die mehr als hundert Angestellten in den neuen Ländern wurden entlassen, sondern auch die bewährten Kräfte in der Zentrale. Spottverse machten die Runde. »Der Osten wird rot - weinrot.« »Gildemeister macht die ganze DDR besoffen!« Die Geschäftsidee war simpel: In einem Land, in dem es so gut wie keine Weinläden gegeben hatte, wollte Gildemeister in jeder mittleren und größeren Stadt ein eigenes Geschäft eröffnen. Hochpreisige Weine aus Frankreich, Spanien und Italien, Accessoires, teure Korkenzieher und Weinkühler, sowie preiswerte Schnäppchen, nicht zuletzt, um die hauseigenen Lager gründlich zu leeren.

»Das Konzept war völlig in Ordnung«, sagte Frau Hörmann, die ihren Kaffee nicht angerührt hatte, »auch mein Mann glaubte daran, dass so eine Kette von Weinläden ein Erfolg werden würde. Er war sich so sicher. Und der Gildemeister hat ihm das auch immer bestätigt. Es gab sogar einen Artikel in irgendeinem Wirtschaftsmagazin. Norddeutscher Unternehmer des Jahres: Arnold Gildemeister.«

Der hanseatische Weingroßhändler hatte sich übernommen, zu viele Kredite, zu viele Schulden. Plötzlich spielte die Hausbank nicht mehr mit. Crash. Der Schuldige war schnell gefunden. Peter Hörmann, der erfahrene Ossi, der hochgelobte Spezialist mit den guten Kontakten. Er hatte Betriebswirtschaft studiert und in der HO-Kette Karriere gemacht. Er kannte die Marktsituation in der DDR aus persönlicher Erfahrung. Er bestimmte die ersten zehn Städte für die Eröffnung der Weinläden, suchte die Mitarbeiter aus. Unterschrieb die Miet- und Arbeitsverträge, beantragte als Geschäftsführer die weiteren Kredite, obwohl er bei den Verhandlungen nicht zugegen war. Arnold Gildemeister hatte ihm gesagt, das gehe alles in Ordnung.

»Peter hatte den Gildemeister rechtzeitig gewarnt«, flüsterte Frau Hörmann. »Er hat ihn angefleht, war sogar zweimal in der Zentrale deswegen. Langsamer, hat er immer gesagt, machen wir es doch langsamer. Das Geschäft läuft erst an. Aber nein, es musste ja immer schneller gehen. Bis gar nichts mehr ging. Mein Mann wurde einvernommen. Bei der Staatsanwaltschaft. Wegen Veruntreuung und Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuerhinterziehung.«

»Hat er denn die Beiträge nicht ordnungsgemäß abgeführt?«, fragte Wolfgang. Langsam wurde ihm das Schema klar. Es war nicht der erste Crash eines Unternehmens, das im Osten riesige Summen investiert hatte.

»Der Gildemeister hat ihm gesagt, das machen alle so. Wenn der Aufschwung erst da ist, wird das schnell nachgezahlt.«

»Kam es denn zum Prozess gegen Ihren Mann?«

»Vorher hat Peter uns alle auszulöschen versucht. Er konnte diese Schmach nicht ertragen.«

Frau Hörmann griff nach der Tasse Kaffee, trank sie in einem Zug aus. Die starre Miene, die eingedrückte Wange, die zusammengepressten Lippen, die grobe Narbe.

»Was kann ich denn für Sie tun?«, fragte Wolfgang nach einer Weile. Wollte sie Schadensersatzansprüche anmelden? Auf welcher rechtlichen Grundlage? Da würde gewiss nichts rauskommen.

»Ich möchte bei dem Prozess dabei sein!«

»Bei welchem Prozess?« Wolfgang fuhr sich mit der Hand an die Stirn. Schon wieder Fieber?, dachte er.

»Ich habe doch gesagt, dass Arnold Gildemeister demnächst vor Gericht stehen wird.«

Konzentrier dich, verdammt noch mal, dachte Wolfgang. Die Frau ist in großen Nöten, und du stellst Fragen, als sei sie eine Zeugin der Gegenseite.

Aufgrund der umfangreichen Aussage des Peter Hörmann bei der Rostocker Staatsanwaltschaft waren Tatbestände aufgetaucht, die den hanseatischen Kollegen übermittelt wurden. Relativ schnell stellten sie fest, wer der Urheber der ganzen Transaktionen war, der hanseatische Weingroßhändler persönlich, er hatte sogar Kredite, die für den Aufbau der Weinläden im Osten beantragt worden waren, in sein Unternehmen im Westen umgeleitet, um dort finanzielle Engpässe zu überbrücken.

»Das sei alles ganz normal, hat der Gildemeister zu meinem Mann gesagt« Frau Hörmann flüsterte wieder, als gebe es im Stehimbiss zu viele Ohren an der Wand.

Dann wurde Anklage gegen Arnold Gildemeister erhoben: Wegen Betrug und Beihilfe zum Bankrott § 263 StGB und § 283 StGB. Die beiden Paragrafen kannte Wolfgang mit Namen.

»Aber Sie können den Prozess doch auch als Zuhörerin verfolgen. Soll ich mich erkundigen, wann er terminiert ist?«

»Nein, nein«, fuhr Frau Hörmann ihn an, »ich will als Nebenklägerin auftreten, damit er nicht ungeschoren davonkommt. Solche Leute kommen doch immer ungeschoren davon!«

Wolfgang van Bergen spürte, wie aufgeregt sie plötzlich wurde.

»Für eine Nebenklage brauchen wir einen Grund. Ich sehe noch keinen.«

»Dieser Gildemeister hat meine Familie zerstört. Ist das nicht Grund genug?«

Die Verkäuferin hinter der Theke sah von ihrer Zeitung auf. Hatte sie die ganze Zeit gelauscht?

»Sicher, das ist Grund genug, aber Selbstmord ist nicht justiziabel. Wir werden schwerlich nachweisen können, dass Ihrem Mann kein anderer Ausweg geblieben ist. Er hätte seinerseits Klage gegen Gildemeister erheben können, seinen Prozess abwarten, dann wäre das auf juristischem Wege ...«

Frau Hörmann stieß einen verzweifelten Laut aus, der Wolfgang umgehend verstummen ließ.

»Lesen Sie, was ich Ihnen geschrieben habe«, sagte sie, jetzt wieder äußerst leise. »Lesen Sie. Lassen Sie sich die Akten des Verfahrens gegen diesen Verbrecher kommen und finden Sie heraus, welche juristischen Möglichkeiten ich als Nebenklägerin habe. Schließlich sind Sie ein gewiefter Jurist und ein berühmter dazu. Ich brauche vor Gericht Ihren Beistand. Ganz gleich, was mich das kostet«

Frau Hörmann stand auf. Ging an die Theke. Zahlte ihren Kaffee und verschwand aus dem Stehimbiss.

Wolfgang schaute auf die Uhr.

Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.

Sie hatte ihn sitzen lassen. Grußlos war sie davongegangen. Die Pleite des renommierten Weinhandels Gildemeister hatte in der Hansestadt eine Zeit lang die Artikel auf den Wirtschaftsseiten dominiert. Als die Staatsanwaltschaft tätig wurde, wanderten die Berichte sogar auf die erste Lokalseite. Aufmerksamkeit für diesen Prozess gab es sicher genügend. Nicht zuletzt wegen des riskanten Spiels mit den Krediten. Über zweihundert Arbeitsplätze waren koppheister gegangen. Norddeutscher Unternehmer des Jahres, tolle Geschäftsidee. Kaum ein Jahr später kam die Pleite. Ein Bankrott mit Symbolcharakter.

»Da ist ja die Drecksau, die das Eigelb verteidigt!«, schrie jemand in den Imbiss. »Hau bloß ab, sonst machen wir kurzen Prozess mit dir!«

Wolfgang sah, wie sich ein paar Glatzen an der Glastür drängten.

Er nahm seine Aktentasche, zahlte und ging. Spießrutenlaufen.

Einer schubste ihn an der Schulter.

Ein anderer schlug ihm in den Nacken.

Ein Dritter stellte ihm ein Bein.

Wolfgang stolperte, fiel aber nicht hin.

Dann rannte er los. Wie schon vor knapp einer Stunde. Hinter sich das höhnische Gelächter.

Glatzengelächter. Braunes, bösartiges Glatzengelächter.

Als er außer Atem den Bahnsteig erreichte, lief der Intercity gerade ein. Die krächzende Durchsage beruhigte ihn ein wenig.

Erst als er auf dem rot gepolsterten Sitz in der 1. Klasse Platz genommen hatte, musste er wieder an diese Frau denken. Ihr Leben war verpfuscht, Mann und Kinder waren tot. So einen Schock würde sie nie wieder loswerden. Ob sie zusehen musste, als der Mann ihre Kinder erschossen hatte?

Wolfgang holte den CD-Player aus seiner Aktentasche.

Musik, alles was ich jetzt brauche, ist Musik. Bartóks Kinderstücke, die immer gleichen melancholischen Melodien, die getragenen Weisen, die ihn seine Gedanken abschalten ließen.

Wie eine Droge, der er seit langem verfallen war.

Klagelied. Trauer um den toten Soldaten. Der Gefangene. Der Vielfraß.

Und zum Schluss das virtuose Allegro Barbara

Der Schaffner kontrollierte den Fahrschein und wünschte Gute Reise.

Jahrelang hatte es Wolfgang vorgezogen, in der 2. Klasse zu fahren, aber jetzt gönnte er sich diesen Luxus. Meistens blieb er im Abteil allein. Erst wenn der Zug Mecklenburg-Vorpommern verließ, stiegen weitere Fahrgäste zu.

Seitdem sich seine Reputation als Strafverteidiger so stetig vermehrt hatte, dass er Anfragen aus der ganzen Republik bekam, war er zu einem Reisejuristen geworden. Mindestens drei Tage in der Woche saß er auf der Bahn. Gabriele hatte ihn ein ums andere Mal deswegen attackiert, obwohl sie selbst häufig für ihre Gutachten unterwegs sein musste. Sie gaben sich die Klinke in die Hand, wie zwei Angestellte mit unterschiedlichen Schichtplänen.

Bad Kleinen. Der erste Halt. Wolfgang musste stets an seinen Namensvetter Wolfgang Grams denken. Er wurde von Terroristenfahndern auf die Gleise gehetzt und dort erschossen. Gar nicht so lange her. Es gab eine Initiative, die eine Gedenktafel auf dem Bahnsteig anbringen wollte. Wolfgang gehörte dem Komitee an, das die Sache vorantrieb.

Schon vor der Wende war er häufiger in der DDR gewesen, auch einige Male in Rostock. Auf der Suche nach Unterlagen für einige seiner Mandanten: polnische Zwangsarbeiter, die auf Wiedergutmachung klagten. Auf nicht gezahlte Löhne deutscher Unternehmer im Zweiten Weltkrieg. Wolfgang war in den Archiven der DDR fündig geworden. Sie hatten einen anderen Blickwinkel auf die vergangenen tausend Jahre. Es gab dort versierte Archivare und Historiker, die sich um Wolfgangs Anliegen kümmerten.

Fünf Stunden später erreichte er die Hansestadt, nahm ein Taxi und ließ sich nach Hause bringen.

Er war so erledigt, dass er sofort in seinem Schlafzimmer verschwinden wollte. Mit niemandem mehr reden. Schon gar nicht, sich Gabrieles Vorwürfe anhören müssen. Als er die Haustür aufschloss, kam sie ihm entgegen. Sie fiel ihm um den Hals, küsste ihn.

»Wir haben Besuch. Was heißt Besuch? Wir haben Zuwachs bekommen!«, rief sie aus.

»Du sprichst in Rätseln!«, erwiderte Wolfgang. »Und Besuch kann ich heute gar nicht mehr ab. Ich muss sofort ins Bett. Ein paar Stunden Schlaf, wenn du wüsstest, was heute bei mir los war.«

»Hannah ist da!«

»Das will ich doch hoffen«, sagte Wolfgang, der seine Tochter am oberen Treppenabsatz erblickte.

»Nicht die Hannah, meine Hannah.«

»Das ist doch deine Hannah«, Wolfgang zeigte mit dem Zeigefinger nach oben. »Oder stammt sie gar nicht von dir?« »Hannah, meine Schwester, ist gekommen.«

»Aus dem Osten?«

Wolfgang warf die Aktentasche auf den Stuhl.

»Nein, aus England. Sie ist jetzt eine Engländerin.« »How nice! How very nice!«

»Aber sie schläft jetzt. Morgen kannst du selbst mit ihr reden. Lassen wir sie schlafen.«

»0 ja, lasst mich schlafen«, bat Wolfgang, »nur noch schlafen. Bitte, bitte.«

Er ging langsam die Treppe hinauf. In den zweiten Stock, wo die Schlafzimmer lagen.

Vor der Tür des Gästezimmers blieb er stehen.

Da lag also Hannah.

Seine allererste Mandantin. Die wilde Hannah, die ihm solche Kopfschmerzen bereitet hatte. Aber er hatte einen Freispruch für sie erwirkt. Erster Prozess, erster Freispruch. Wenn auch nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war.

Ohne den Anzug auszuziehen, legte sich Wolfgang aufs Bett.

Er schloss die Augen.

Die Glatzen, Frau Hörmann, das Spießrutenlaufen. Die Lügen, die Vorwürfe, die Gewalt.

Die Eisenbahnfahrt hatte ihn kaum ruhiger gemacht. Es schien gerade so, als würden die Turbulenzen täglich zunehmen. Als würde das Tollhaus nur immer noch toller. Oder war es die Erschöpfung, die er jenseits der fünfzig immer stärker spürte?

Hannah war da. Wie schön. Das würde vielleicht Gabriele wieder etwas zugänglicher machen. Vielleicht würde sie auch die Leine, an der sie ihre Tochter führte, sehr eng führte, etwas lockern.

Dann fiel ihm ein, dass er mit Gabrieles Schwester geschlafen hatte. Damals. Wie lange war das her? Sie hatten ihren Sieg im Gerichtssaal gefeiert, den überraschenden Freispruch gevögelt. Am nächsten Morgen war Hannah zum ersten Mal abgetaucht. Wolfgang hatte sich denken können, warum, aber eisern geschwiegen. Tagelang hatte Gabriele ihre Schwester in der Stadt gesucht. Wieso war sie in England? Hatte es in der Huneus-Familie nicht immer geheißen, sie sei im Osten untergetaucht? Auch das würde sich klären lassen. Erst war sie entführt worden, dann plötzlich kein Zeichen der Entführer mehr, und Wochen später ...

Schlaf endlich, verdammt noch mal, Wolfgang. Lass doch die alten Geschichten ...

Wie immer, wenn er nicht einschlafen konnte, sehnte er sich danach, in seine Dachstube hinaufzusteigen, eine Kladde aus dem Wäscheschrank zu nehmen und eine Geschichte zu schreiben.

Eine Geschichte über den Totschlag. Wie ein ganzes Land totgeschlagen wird. Wie ein allmächtiger König seine Untertanen totschlagen lässt. Wie die Vergangenheit totgeprügelt wird.

Wolfgang konnte die gewalttätigen Bilder nicht fassen. Nicht in Worte bringen, schon gar nicht auf Papier festhalten.

Dann fiel ihm das blassblaue Kuvert ein.

Der Brief, den ihm der hagere Gerichtsbeamte am Morgen überreicht hatte. Mit einer kleinen Verbeugung. »Post für Sie, Herr van Bergen!«

Minuten später klopfte es an seiner Tür.

»Schläfst du schon, Wolfgang?«

»Ja, ich schlafe. Bis ins nächste Jahrtausend«, antwortete er. Ziemlich unwirsch.

- drei -

Sie wachte erst kurz nach elf auf. Schweißgebadet. Starr am ganzen Körper. Mal wieder hatte sie einen Albtraum gehabt, der sie in Bann schlug. Ein später Nachmittag in einer unbekannten Gegend. Du musst nach Hause, schnell nach Hause laufen. Schon geht die Sonne unter. Du läufst. Da steht ein Fahrrad. Es ist nicht abgeschlossen. Spring auf, fahr los. Die Strecke ist erst flach, dann geht es stetig abwärts. Immer steiler. Du genießt die Fahrt. Immer schneller. Gerade als du abbremsen willst, springt ein Tier auf deinen Rücken und krallt sich ins Fleisch. Mit scharfem Schnabel verbeißt es sich in deinem Genick. Da war sie aufgewacht. Allen. Mal wieder. Ihr englisches Sonntagnachmittagsvergnügen war es gewesen, ins Kino zu gehen. Double Feature. Zwei Filme zum Preis von einem. Ein altmodisches Kino, in dem es verschlissene Polstersessel gab. Sie hatte den Film von Ridley Scott nur aus Versehen erwischt. Im Beiprogramm. Eigentlich hatte sie das Kino verlassen wollen, war aber dann so gebannt gewesen, dass sie sich im Sessel festgekrallt hatte. Als sie wieder auf der Straße stand und auf den Bus wartete, erschreckte sie ein prall gefüllter, schwarzer Müllsack, der an einer Hauswand abgelegt worden war. Seitdem war sie nie wieder in einen Horrorstreifen gegangen. Ihr Leben hielt genügend Albträume bereit.

Hannah Huneus stand auf, ging ins Badezimmer. Besah sich im Spiegel.

Bis dahin hast du es also gebracht, dachte sie, mit 42 Jahren und leeren Händen wieder in der Stadt, in die du nie zurückkehren wolltest.

Der Koffer, dachte sie, ich muss den Koffer abholen. Sie ging in Gabrieles Nachthemd aus dem Bad.

Es war ganz still im Haus. Irgendwo hörte sie Tippgeräusche.

Ob sie mal hinaufsteigen sollte? In Wolfgangs Dachkammer. Das Tippen kam nicht von oben.

Hinter einer Schlafzimmertür schnarchte jemand ziemlich eruptiv. Auf hessisch, dachte Hannah.

»Nimm dir, was du brauchst«, sagte Gabriele, die kurz die Kopfhörer absetzte, als Hannah ins Zimmer trat, »es dauert nur noch ein Viertelstündchen. Ich muss das hier gerade schnell fertig machen. Schön, dass du da bist, Schwesterherz.«

So hatte Gabriele sie immer genannt. Sie war und ist meine große Schwester, dachte Hannah. Die hat immer gewusst, wo es langgeht. Die ist zu Hause ausgezogen, hat ihren Willen gegen jeden noch so großen Druck der Altvordern durchgesetzt. Wenn auch nach schweren Kämpfen. Sie hat Psychologie studiert, obwohl man es ihr verboten hatte. Sie hat sich mit Wolfgang zusammengetan, obwohl es ihr strikt untersagt worden war. Sie ist sogar in eine Wohngemeinschaft gezogen, damals der Gipfel der Unbotmäßigkeit.

Langsam stieg Hannah wieder die Treppe hinauf.

Sie duschte ausführlich, wählte aus Gabrieles Kleiderschrank eine bequeme Hose und eine Seidenbluse aus, alles ein bisschen zu groß für sie, aber was machte das schon.

Dann ging sie in die Küche.

»Mach die Schränke auf«, kam es aus dem Nebenzimmer, »im Eisschrank findest du alles fürs Frühstück. Ich komme gleich zu dir.«

Hannah setzte Teewasser auf, öffnete den metallenen Brotbehälter. Abgepacktes Toastbrot, igitt. Knäckebrot, na ja. Sie nahm eine Scheibe und holte Quark und Marmelade aus dem Eisschrank. Leider keine orange marmelade, die sie so gerne mochte, thick cut oranges from Seville.

»Mach mir einen Tee mit«, rief Gabriele, »dauert nur noch ein Minütchen.«

Hannah sah aus dem Fenster. In die rückwärtigen Gärten der anderen Häuser. Alles gepflegt, alles bereit für den Frühling. Die ersten Knospen an den Bäumen. Die Natur war weiter als in Yorkshire.

»Einen guten Geschmack hast du, Hannah.« Gabriele fasste an die Seidenbluse, bevor sie ihre Schwester umarmte.

»Das ist mein bestes Stück.«

»Soll ich ...«

»Quatsch, die behältst du so lange an, wie du willst.« Gabriele schenkte sich eine Tasse Tee ein.

»Wie sollen wir dich denn jetzt nennen, Emma oder Hannah?«

Ihre Schwester schaute sie an. Überrascht und ein wenig irritiert.

»Für dich war ich doch immer Hannah, oder?«, gab sie zurück.

»In Hamburg wolltest du Karla genannt werden. Schon vergessen?«

Hamburg, mein Gott, wie lange ist das her? Das ist kaum noch wahr. Die Filmemacherin beim NDR, die unbequeme Filmemacherin, die unter falschem Namen ... jeden Tag in der Angst aufzufliegen.

»Wie kamst du denn auf den Namen Emma Livingstone?«, fragte Gabriele, die sich ebenfalls ein Knäckebrot mit Quark und Marmelade bestrich.

»Ich hab mir den Namen ausgesucht. Klingt doch gut, oder?«

»Wie, ausgesucht?«

»So wie ich es sage. Ich habe mich nach fünf Jahren darum beworben, mich einbürgern zu lassen. Vorher ging das nicht. Und irgendwann hat es geklappt.«

»Und warum nicht unter deinem eigenen Namen? Hannah Huneus? Hast du dich dafür geschämt?«

»Den habe ich niemandem gesagt. Das wäre zu gefährlich gewesen. Auch für euch.«

Und dann musste Hannah erzählen. Wie sie über die grüne Grenze nach Holland, dann mit den falschen Papieren nach England ausgereist war. »Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, Gabi. Jeden Tag diese Verfolgungen. Ich wusste doch selber nicht mehr, wie ich meine Ängste loswerden konnte.« Wie sie einfach so lange gefahren war, bis sie sich in Sicherheit fühlte. »London kam nicht infrage. Weiter nach Norden. Irgendwo in die Provinz. Nur weit genug weg. In Deckung gehen. In einen Unterstand. Boston Spa, so heißt das kleine Nest, in dem ich mich versteckt habe.« Wie sie Bäckerin geworden war, ohne jemals vorher einen Teig gerührt zu haben. »Da hing ein Schild an einem Schaufenster in der Oak Street: Helping hand wanted. Corne in please. Ich brauchte ja einen job, das Geld, was ich dabeihatte, war meine eiserne Reserve, falls ich noch weiter weg fliehen musste. Das ältere Ehepaar war sehr freundlich. Die haben keine Fragen gestellt. Die Frau hat mir alles gezeigt. Gleich am nächsten Morgen ging es los. Ich liebe das Backen von Brot, es ist ein wunderbarer Beruf« Wie sie sich im neuen Leben eingerichtet hatte, ohne dass ihr jemand auf die Schliche kam. »Ich glaube, die beiden Alten haben irgendwas geahnt. Die waren so lieb zu mir, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Die haben mich beschützt, haben den Kunden Märchen erzählt, wenn die gefragt haben, was denn das für ein silentforeigner in ihrer Backstube sei. Und am Wochenende haben sie mir sogar noch die Gegend gezeigt. Die Yorkshire Dales, da musst du mal hin, einmalig schön. Auch wenn ich nachts davon Albträume.«

Das Telefon ging.

Hannah zuckte zusammen.

»Lass es klingeln«, sagte Gabriele, »wird sowieso für Wolfgang sein.«

»Wo ist ...«

»Bei Gericht. Vielleicht haben wir Glück und können zusammen abendessen. Aber warum gerade England? Hattest du da ein bestimmtes Ziel?«, fragte die ältere Schwester.

»Ich konnte die Sprache ganz gut. Und England ist eine Insel, auch wenn sie riesig ist. Da hat man viele Möglichkeiten auszuweichen. Hast du den Film Thirty-nineSteps von Hitchcock gesehen?«

Gabriele schüttelte den Kopf

»Das war schon früher einer meiner Lieblingsfilme. Die Flucht in den schottischen Bergen. Wer sollte einen da schon finden? Die deutschen Polypen ganz gewiss nicht«

Gabriele lachte: »Den Ausdruck hast du ja wohl nie verlernt« »Wieso? Benutzt du ihn nicht mehr, Gabi?«

Polypen, das waren immer die Gegner gewesen. Polypen, die Hannah aus dem Unterricht heraus verhaftet hatten. Polypen, die ihrem Bernie bei der Straßenbahnbesetzung einen Schädelbasisbruch verpasst hatten. Und dann dieser Oberpolyp, der Polizeipräsident, der dafür gesorgt hatte, dass sie wegen übler Nachrede vor Gericht gestellt wurde.

»Hab ich was verpasst?« Hannah van Bergen riss die Küchentür auf Sie ging auf ihre Namenskusine zu, drückte ihren Kopf an deren Schulter, setzte sich neben sie auf die Küchenbank und nahm ihre Hand: »Schule aus. Jetzt kommt das Beste des Tages.«

»Mich begrüßt du wohl gar nicht?«, sagte Gabriele.

»Sei nicht eingeschnappt, Ma, dich habe ich doch schon fünfzehn Jahre Tag und Nacht genießen dürfen. Da wird man doch wohl ein Mal fremdgehen können, oder nich?«

Hannah stellte fast die gleichen Fragen wie ihre Mutter. »Aber Emma nenn' ich dich nicht. So heißt die Möwe in diesem langweiligen Wangerooge, wo wir jeden Sommer Urlaub machen ... müssen. Na ja, ist ja sowieso bald vorbei.«

»Was ist bald vorbei?«, fragte ihre Mutter.

»Nächstes Jahr fahr ich mit Kevin. Wir wollen an die Côte d'Azur. Da haben seine Eltern ein Haus.«

»Das wüsste ich aber. Hast du denn schon mit Wolfgang darüber gesprochen?«

»Ich hab mit dem einen Vertrag gemacht«, sagte Hannah. »Soll ich den holen?«

»Einen Vertrag?«, mischte sich ihre Tante ein.

»Das hier ist ein Juristenhaushalt, da macht man Verträge. Es gibt einen Vertrag über Nichtrauchen. Keine Zigaretten, dafür mehr Taschengeld. Das ist ein guter Deal für mich. Ich find Rauchen blöd. Es gibt einen Vertrag über Schulnoten. Bei einem Schnitt von 2 kriege ich einen eigenen Videorecorder. Und es gibt einen Vertrag, dass ich nach dem Erreichen des 1G. Lebensjahres im Sommer alleine wegfahren darf, wenn ich vorher nicht ständig herummaule. Daran hab ich mich gehalten. Schweren Herzens. Wangerooge im Sommer ist echt öde.«

»Und es gibt einen Vertrag: kein Tattoo!«, fügte Gabriele an. »Dafür gibt's zu Weihnachten ein Paar Skier«

»Alles geregelt«, sagte Hannah, »obwohl ich auf die Skier wohl doch lieber verzichten möchte. Alle in der Klasse haben ein Tattoo.«

»Komm, Hannah, das hatten wir so vereinbart«, bat ihre Mutter.

»Aber ich hab mich nicht dran gehalten! Kann ja auch mal vorkommen, dass man einen Vertrag bricht, oder nich?« »Zeig mal!«, sagte ihre Tante.

Hannah hob ein T-Shirt hoch, dann ein zweites, das froschgrün war, und dann drehte sie sich um Über den Pobacken spreizte sich ein mehrfarbiger Adler, nicht besonders groß. »Das hat Kevin auch. An der gleichen Stelle. Aber Paps nichts davon sagen. Das ist noch geheim.«

Die beiden Frauen sahen sich an.

»Findest du das etwa schön?«, fragte Gabriele, die sich die Tätowierung genauer ansah.

»Hat schweinewehgetan, war aber echt notwendig. Nicht nur wegen Kevin.«