Felix Mendelssohn Bartholdy - Martin Geck - E-Book

Felix Mendelssohn Bartholdy E-Book

Martin Geck

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) bezauberte als Wunderkind den alten Goethe durch sein Klavierspiel; als Siebzehnjähriger eroberte er die Musikwelt mit seiner genialen Ouvertüre zu Shakespeares «Sommernachtstraum». Die weiteren Werke machten ihn bald zum Liebling seiner Epoche. Doch in der Wagner-Ära sank sein Stern; die Judenfeindlichkeit des Nationalsozialismus machte ihn gar zur Unperson. Nunmehr entdeckt man ihn neu. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Martin Geck

Felix Mendelssohn Bartholdy

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Über dieses Buch

Rowohlt E-Book Monographie

 

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) bezauberte als Wunderkind den alten Goethe durch sein Klavierspiel; als Siebzehnjähriger eroberte er die Musikwelt mit seiner genialen Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum. Die weiteren Werke machten ihn bald zum Liebling seiner Epoche. Doch in der Wagner-Ära sank sein Stern; die Judenfeindlichkeit des Nationalsozialismus machte ihn gar zur Unperson. Nunmehr entdeckt man ihn neu.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Martin Geck

Martin Geck, geboren am 19. März 1936. Studium der Musikwissenschaft, Theologie und Philosophie in Münster, Berlin und Kiel. 1962 Dr. phil., 1966 Gründungsredakteur der Richard-Wagner-Gesamtausgabe, 1970 Lektor in einem Schulbuchverlag, nachfolgend Autor zahlreicher Musiklehrwerke, 1974 Privatdozent, 1976 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund. Seit 1996 Leiter der Internationalen Dortmunder Bach-Symposien.

2001 mit dem Gleim-Literaturpreis ausgezeichnet. Zahlreiche, in 15 Sprachen übersetzte Bücher zur deutschen Musik- und Kulturgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts. Im Rowohlt Verlag sind außerdem von ihm erschienen: «Bach. Leben und Werk» (2000); «Von Beethoven bis Mahler. Leben und Werk der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts» (2000, rororo 60891); «Johann Sebastian Bach» (2000, rm 50637); «Ludwig van Beethoven» (2001, rm 50645); «Die Bach-Söhne» (2003, rm 50654); «Richard Wagner» (2004, rm 50661); «Mozart. Eine Biographie» (2005); «Wenn Papageno für Elise einen Feuervogel fängt» (2007); «Johannes Brahms» (2013, rm 50686). Ferner erschienen im Siedler Verlag: «Robert Schumann. Mensch und Musiker der Romantik» (2010); «Wagner. Biographie» (2012); «Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen» (2014).

Inhaltsübersicht

Kindheit 1809–1819Frühe Meisterschaft 1820–1829Die Grand Tour 1829–1833Musikdirektor in Düsseldorf 1833–1835Gewandhauskapellmeister in Leipzig 1835–1841Zwischen Leipzig und Berlin 1841–1844Exkurs: Lieder ohne Worte für die musizierenden Damen – Worte ohne Aufwind für die komponierende SchwesterLetzte Triumphe, tödliche Erschöpfung 1844–1847Das NachlebenZeittafelZeugnisseBibliographie1. Werkverzeichnis2. Gesamtausgaben der musikalischen Werke3. Briefausgaben4. Dokumentationen5. Periodika, Handbücher, Kongressberichte6. Gesamtdarstellungen7. Bildbände8. Speziellen Themen gewidmete DarstellungenNamenregisterAnmerkung

Kindheit 1809–1819

Ginge es um nichts weiter als Musik, so wäre das Thema «Judentum» marginal: Was besagt es schon über den Jugendcharme der Ouvertüre zum «Sommernachtstraum», die sinnliche Pracht des Violinkonzerts oder die verstörte Trauer des f-Moll-Quartetts am Ende des Lebens! Weil jedoch Biographisches bei allem mit- und in alles hineinspielt, kann man diesen Punkt unmöglich umgehen …

… und beginnt am besten im Herbst des Jahres 1743, als ein vierzehn- oder fünfzehnjähriger schwächlicher Knabe – der Sage nach in fünf Tagesmärschen seinem Talmud-Lehrer Rabbi Fränkel von Dessau nach Berlin nachgereist – am Rosenthaler Tor anlangt, um sich vor dem jüdischen «Thor-Steher» dem üblichen «Examen» zu unterziehen, ohne das die jüdische Gemeinde keinen der Ihren in die Stadt lässt. Es ist Moses Mendelssohn, Felix Mendelssohn Bartholdys Großvater väterlicherseits, der später zum Leiter einer Berliner Seidenmanufaktur aufsteigen, vor allem aber als Philosoph der Aufklärung sich einen Namen machen wird.

Dem Autor des berühmten Dialogs «Phaedon, oder über die Unsterblichkeit der Seele» widmen Goethe und Schiller eine ihrer Xenien; dem befreundeten Lessing ist er Vorbild für die Figur Nathans des Weisen; der streitbare Theologe Johann Kaspar Lavater fordert ihn öffentlich auf, zum Christentum zu konvertieren. Zur Aufnahme in die Philosophische Klasse der Königlich Preußischen Akademie vorgeschlagen, noch zu Lebzeiten mit Gedenkmünze und Marmorbüste geehrt, ist und bleibt Moses Mendelssohn ungeachtet seines bescheidenen, menschenfreundlichen und lebenslang um Toleranz unter den Konfessionen bemühten Wesens eines: nämlich Jude.

Er selbst bringt es zwar zum «außerordentlichen Schutzjuden», kann das damit verbundene lebenslange Aufenthaltsrecht jedoch nicht auf Frau und Kinder übertragen, sodass diese nach seinem Tod auf einen königlichen Gnadenerlass angewiesen sind, um in Berlin bleiben zu können. Dort gründet sein ältester Sohn Joseph 1795 ein Bankhaus, an dem sich sein jüngerer Bruder Abraham, Vater von Felix Mendelssohn Bartholdy, mit der Mitgift seiner Frau Lea, einer geborenen Salomon, beteiligt.

1805 verlegen die Brüder den Hauptsitz ihres Hauses nach Hamburg, wo dem Ehepaar Abraham und Lea Mendelssohn drei Kinder geboren werden. Bereits im Sommer 1811 sehen sich die beiden Bankiersbrüder nach Auseinandersetzungen mit der französischen Zollbehörde – vermutlich wollte man die von Napoleon verhängte Kontinentalsperre umgehen – genötigt, ihre Hamburger Niederlassung aufzulösen, Hals über Kopf nach Berlin zurückzukehren und die Leitung des dortigen Stammhauses zu übernehmen. Dieses wird sich in den nachfolgenden Jahrzehnten beachtlich ausdehnen und bis zur Liquidierung durch das nationalsozialistische Regime im Jahr 1938 in Familienbesitz bleiben.

Abraham Mendelssohn (1776–1835) übernimmt von seinem Vater Moses die hohen moralischen Ansprüche des Aufklärers, nicht jedoch den traditionellen jüdischen Glauben und offenbar auch nicht die sprichwörtliche Sanftheit des Wesens. Im Mai 1820 schreibt er seiner Tochter Fanny: «Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Theil unserer Selbst ewig sei und, nachdem der andere Theil vergangen, fortlebe? und wo? und wie? – Alles das weiss ich nicht und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein ich weiss, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen giebt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen. Ich weiss es, glaube daran, lebe in diesem Glauben und er ist meine Religion.»[1]

Zu diesem Zeitpunkt weilt Abraham Mendelssohn zu Geschäften in Paris, sodass er an der Einsegnung Fannys, welche den Anlass seines Briefes bildet, nicht teilnehmen kann. Ihn selbst wird das wenig geschmerzt haben, denn er hält nicht viel von kirchlichen Zeremonien. Dass er seine Kinder auf Anraten des Schwagers Jakob Ludwig Salomon, der sich seit seiner Taufe «Bartholdy» nennt, unter dem Familiennamen Mendelssohn Bartholdy hat taufen lassen, ist ihm kaum mehr als ein notwendiger Akt der Assimilation erschienen. Folgerichtig heißt es in dem zitierten Brief zur Einsegnung Fannys weiter: «Du hast durch die Ablegung Deines Glaubensbekenntnisses erfüllt, was die Gesellschaft von Dir fordert, und heissest eine Christin. Jetzt aber sei, was Deine Menschenpflicht von Dir fordert, sei wahr, treu, gut.»[2]

Solchem Ethos bleibt der Vater treu, als er zum Ende des Jahres 1821 saturiert aus dem aktiven Bankgeschäft ausscheidet und sich ab 1826 für die letzten zehn Jahre seines Lebens als ehrenamtlicher Stadtrat vor allem dem Armenwesen widmet. Doch so loyal er sich gegenüber dem preußischen Staat verhält – es bleibt die Unsicherheit. Als es im Spätsommer 1819 vor allem in Süddeutschland zu Judenverfolgungen kommt und in Berlin – laut Erinnerung des Schriftstellers Karl August Varnhagen von Ense – ein königlicher Prinz seinem zehnjährigen Sohn Felix auf der Straße «lachend Hep, Hep! entgegenruft», überlegt Abraham Mendelssohn ernsthaft, mit der Familie nach Paris überzusiedeln.[3]

Sein Entschluss, sich 1822 gemeinsam mit seiner Frau taufen zu lassen und annähernd gleichzeitig auch selbst den Doppelnamen Mendelssohn Bartholdy anzunehmen, muss in diesem Kontext gewertet werden. Mag ihm die Konversion zum evangelischen Glauben auch kein Herzensbedürfnis gewesen sein, so hat sie wenigstens zur Folge, dass er die von ihm geliebte Musik Johann Sebastian Bachs nun auch im Status eines Glaubensbruders hören kann. Speziell dem «Actus tragicus» BWV 106, welcher in seiner bewegenden Zusammenschau von Altem und Neuem Testament zu einem Kultstück der ganzen Familie avanciert, mag der trotz seiner philanthropischen Gesinnungen von Unruhe und Reizbarkeit geplagte Patriarch Momente inneren Friedens verdankt haben.

Indessen ist der Sohn eines berühmten Vaters und Vater eines berühmten Sohnes, wie er sich selbst gern genannt hat, alles andere als ein Spießer. Dagegen sprechen Pars pro Toto die fast zwei Dutzend Briefe, die er im Sommer 1833 von seiner Englandreise an die Familie in Berlin schickt: Da machen Beobachtungsgabe, politischer Sinn, Kunstverstand und literarisches Vermögen den entsprechend vielgerühmten Fähigkeiten des Sohnes alle Ehre.[4] Auch an Selbstreflexion fehlt es nicht. Gern soll Abraham Mendelssohn das Bonmot Voltaires zitiert haben: «Für meine Überzeugungen bin ich bereit, bis zum Scheiterhaufen zu gehen – exklusive.»[5] Wenngleich er, politisch gesehen, als liberalkonservativer Patriot einzuschätzen ist, hält er Distanz zur Macht des Geldes und der Politik, öffnet stattdessen sein Haus den schönen Künsten und speziell der Musik. Als Knabe hat er das Klavierspiel erlernt und mit seinen «unaufhörlichen Baß-Trillern» die Schwester Henriette genervt.[6] Vor allem aber liebt er den Gesang. In jungen Jahren hat er in Carl Friedrich Zelters Singakademie mitgewirkt und – in seinen Zeiten als Bank-Commis in Paris – in privatem Kreis mit Vorliebe die Titelpartie aus Antonio Sacchinis gerade aktueller Oper «Oedipe à Colone» vorgetragen. Auf seinen Reisen berichtet er der Familie von seinen Konzertbesuchen wie ein ausgefuchster Musikkritiker; und selbst die Kinder Fanny und Felix wissen sein sachverständiges Urteil über ihre Kompositionen zu schätzen.

Doch was ist das gegen die Musikleidenschaft, die seiner Gattin Lea (1777–1842) in die Wiege gelegt worden ist! Felix’ Mutter ist eine Enkelin des Bankiers und Berliner Hofjuden Daniel Itzig, über dessen kunstliebendes Haus der preußische Hofkapellmeister Johann Friedrich Reichardt in seiner Autobiographie schreibt: «Musik wurde im reinsten, edelsten Sinne getrieben, Sebastian und Emanuel Bach mit einem Verständniß vorgetragen, wie sonst nirgends. Der beste Clavierlehrer wurde, wie auch andere treffliche Lehrer, mit einer jährlichen Pension belohnt, damit die schönen, zahlreichen Kinder der Familie ganz nach Trieb und Gefallen jeden Unterricht in allen guten und wünschenswerthen Gegenständen nehmen konnten.»[7]

Eines dieser Kinder war Sara Levy, geb. Itzig, die sich zu einer der ersten Klavierspielerinnen Berlins heranbildete. Nachdem die von Felix mit höchstem Respekt «Tante Levy» genannte Bach-Kennerin und -Sammlerin im Jahr 1807 der von Zelter gegründeten Ripienschule der Singakademie beigetreten war, scheint sie regelmäßig den Solopart der Klavierkonzerte übernommen zu haben, die im wöchentlichen Turnus aufgeführt wurden.

Eine in der Familie Mendelssohn ob ihres Lebenswandels mit einigem Argwohn beobachtete Tante von Felix Mendelssohn Bartholdy war Brendel Mendelssohn. Ihrer von den Eltern gestifteten Ehe mit dem Bankier Simon Veit entstammten die Söhne Jonas und Philipp, beide Maler und den «Nazarenern» zugehörig. 1797 verliebte sich Brendel im Berliner Salon der Henriette Herz in den acht Jahre jüngeren Friedrich Schlegel, den wohl bedeutendsten Philosophen der Romantik; dieser hat die Begegnung in seinem berühmt-berüchtigten Roman «Lucinde» verarbeitet. Dorothea, wie sie sich inzwischen nannte, ließ sich von Simon Veit scheiden und lebte öffentlich mit Schlegel zusammen, den sie 1804 in Paris heiratete. Sie trat zunächst zum Protestantismus über, später gemeinsam mit ihrem Mann zum Katholizismus. Bekannt als Schriftstellerin und als Literaturkritikerin, die sich zum Beispiel gemeinsam mit ihrem Mann über den Biedersinn in Schillers «Glocke» amüsierte, führte sie ab 1809 in Wien einen angesehenen Salon, in dem auch Eichendorff verkehrte.

Kein Wunder, dass auch Lea Salomon außer einer profunden Bildung, die laut Familienüberlieferung bis zur Lektüre des Homer im Urtext reichte, Kenntnisse im Klavierspiel und eine schöne Stimme in die Ehe mit Abraham Mendelssohn einbringt. Es wird nicht bloße Übertreibung sein, wenn sich Felix Mendelssohn Bartholdys Freund aus Jugendjahren, Adolf Bernhard Marx, erinnert: «In ihr lebten Traditionen oder Nachklänge von Kirnberger [dem Bach-Schüler] her; von dorther war sie mit Sebastian Bach bekannt geworden und hatte das unausgesetzte Spiel des ‹Wohltemperierten Klaviers› ihrem Hause eingepflanzt.»[8]

Als verheiratete Mendelssohn scheint sie es ihrem Mann nicht an «Laune und Eigensinn, den wir kennen» – so Henriette Mendelssohn über ihren Bruder Abraham – gleichgetan und auch nicht dessen «strafbaren» Hang geteilt zu haben, die Talente der Kinder nicht allein zu «leiten», sondern auch zu «treiben».[9] Gleichwohl ist sie alles andere als ein harmoniesüchtiges Hausmütterchen. Der Hausfreund Garlieb Merkel rühmt ihre Kenntnisse im Französischen, Englischen und Italienischen, «ihre geistvolle Unterhaltung voll heller Verstandsblitze und treffendem, aber immer schonend geäusserten Witz» sowie «jede Gattung modischer Bildung».[10] Ihre Kinder führt sie selbst in die Anfangsgründe von Deutsch, Literatur und Kunst ein.

Dazu ist Gelegenheit, nachdem sie in Hamburg, Große Michaelisstraße 14, drei Kinder geboren hat: Am 14. November 1805 kommt Fanny, am 3. Februar 1809 Felix, am 11. April 1811 Rebecka auf die Welt. Felix wird von seinem Geburtsort nur wenig mitbekommen haben, denn schon im Sommer 1811 zieht die Familie, wie erwähnt, nach Berlin zurück, wo am 30. Oktober 1812 der jüngste Sohn Paul geboren wird. Es ist bemerkenswert, dass der Vater seine Kinder gar nicht erst in den jüdischen Gemeinden von Hamburg und Berlin registrieren lässt, sodass er sie, ohne den Anschein einer Konversion erwecken zu müssen, am 21. März 1816 vom Pfarrer der Berliner Jerusalemgemeinde taufen lassen kann. Dies geschieht ohne Aufhebens im eigenen Haus. Die Kinder sind nun – gleich den Mitgliedern des Hofes – reformierten Bekenntnisses. Da der preußische König jedoch schon ein Jahr später den Zusammenschluss der lutherischen und reformierten Gemeinden seines Landes zur evangelischen Kirche der «Union» dekretiert, ist es sinnvoll, die Konfession von Felix Mendelssohn Bartholdy mit «evangelisch» anzugeben.

Im Taufjahr 1816 lässt das preußische Finanzministerium verlauten: «Es wäre zu wünschen, wir hätten gar keine Juden im Lande. Die wir einmal haben, müssen wir dulden, aber unablässig bemüht sein, sie möglichst unschädlich zu machen. Der Übertritt der Juden zur christlichen Religion muß erleichtert werden, und mit dem sind alle staatsbürgerlichen Rechte verknüpft. Solange der Jude aber Jude bleibt, kann er keine Stellung im Staate einnehmen.»[11] Vater Abraham weiß also, was er tut, wenn er seine Kinder taufen lässt.

In Berlin wohnt man zunächst auf der Neuen Promenade 7, später in der Markgrafenstraße 48 und schließlich, ab 1825, im Palais von der Recke, Leipziger Straße 3. Der kleine Felix hat in der gut drei Jahre älteren Fanny eine Schwester, die bis in ihre Verlobungszeit hinein nach jüdischer Tradition eine ebenso gute und vielseitige Ausbildung wie er selbst erhält, vom Vater freilich stets dazu angehalten wird, vor allem ihre künftige Rolle als Ehefrau und Mutter im Auge zu haben, demgemäß auf öffentliche Auftritte zu verzichten und ihre Kompositionen nicht zu publizieren. Vorher bekommt sie, zumindest der Tendenz nach, einen ähnlich guten Kompositionsunterricht wie ihr Bruder, als dessen engste Ratgeberin sie über viele Jahre hinweg in Erscheinung treten wird.

Im Jahr 1822, als der dreizehnjährige Felix bereits drei Singspiele vorzuweisen hat, schreibt sie: «Bis zu dem jetzigen Zeitpunkt besitze ich sein uneingeschränktes Vertrauen. Ich habe sein Talent sich Schritt vor Schritt entwickeln sehen und selbst gewissermaßen zu seiner Ausbildung beigetragen. Er hat keinen musikalischen Ratgeber als mich, auch sendet er nie einen Gedanken auf’s Papier, ohne ihn mir vorher zur Prüfung vorgelegt zu haben. So habe ich seine Opern [die genannten Singspiele] z.B. auswendig gewußt, noch ehe eine Note aufgeschrieben war.»[12] Zwölf Jahre später, als die Geschwister sich zu ihrem Kummer nur noch selten sehen, erinnert sie ihren Bruder daran, wie es war, «wenn man zu Haus zusammen ist, Du mir einen ganz frischen Gedanken herüberbringst, und mir nicht sagen willst, wozu er ist, den Tag drauf den zweiten, den dritten Tag Dich mit der Durchführung quälst, und ich Dich tröste, wenn Du meinst, Du könntest nun gar nichts mehr schreiben, und am Ende das Werk dasteht, daß man meint, man habe Theil daran»[13].

Die letzte Äußerung ist auch deshalb interessant, weil sie verdeutlicht, dass ein jugendliches Kompositionsgenie nicht allein von Eingebungen lebt, sich vielmehr von seinen Altersgenossen auch dadurch unterscheidet, dass es schon früh in Strukturen denkt und hart daran arbeitet, aus Teilmomenten ein komplexes Ganzes zu machen. Hier kommt der Goethe-Vertraute Carl Friedrich Zelter ins Spiel, der den Geschwistern Fanny und Felix ab 1819 den ersten und einzigen Kompositionsunterricht ihrer Laufbahn erteilt. Denn Zelter vertritt die für ihre Gründlichkeit bekannte deutsche Schule der Komposition, jedoch – wie Mendelssohn Bartholdy es als Zwanzigjähriger selbst sieht – nicht in der Steifheit einzwängender Lehrsätze, sondern in der wahren Freiheit d.h. in der Kenntniß der rechten Gränzen[14].

Keineswegs ist Zelter nur der gediegen-bärbeißige Traditionalist, der seinen Zögling zwar in den ideenreichen Kontrapunkt Bachs einführt und ihn erste Kompositionen nach Mustern Haydns und Mozarts ausarbeiten lässt, vor jedem Genieblitz aber zurückzuckt. Denn auch für ihn ist Musik eine «Sprache der Empfindungen», die – gemäß der Forderung Goethes – «von Herz, zu Herzen» gehen müsse[15]; und mit Maßen ist er auch dem Neuen aufgeschlossen, wenngleich die Ouvertüre zum «Sommernachtstraum» des Siebzehnjährigen dann doch seinen Horizont überschreitet: Da hat Mendelssohn Bartholdy definitiv ausgelernt.

Apropos «Sommernachtstraum»: Am 6. Februar 1816 berichtet Mutter Lea ihrem Jugendfreund Carl Gustav von Brinkmann und seiner Familie, dass der gerade sieben Jahre alte Felix zum Weihnachtsfest ein Puppentheater geschenkt bekommen habe: «Gestern hat er schon einen Akt der Mitschuldigen [Lustspiel von Goethe] aufgeführt, ganz des kleinen Wilhelm Meisters würdig. Ihr wißt, daß es noch immer seine Leidenschaft ist, Goethesche und Shakespearsche Stücke zu lesen, unter welchen der Sommernachtstraum seine Lieblingslecture ausmacht.»[16]

Die ersichtliche Frühreife hat freilich auch Schattenseiten: Der Freund Julius Schubring glaubt in ihr «auch eine Ursache davon zu erkennen, daß er, leicht verletzt und verstimmt, niemals recht fähig war sich in die Welt zu schicken. Die nicht gehärtete Weichheit des Gemüths konnte unangenehme Eindrücke nicht leicht verwinden. Vielleicht wäre diese Reizbarkeit besser überwunden worden, wenn frühzeitig ein Abhärten und Abreiben in der Berührung mit allerlei Schulkameraden stattgefunden hätte.»[17]

Der erwachsene Felix Mendelssohn Bartholdy hielt nichts von Zensuren. Seinem Neffen Sebastian Hensel ließ er am 15. August 1844 über die Mutter Fanny ausrichten: «Sag’ ihm, aus seiner Nr. 1 machte ich mir sehr wenig, und er möchte nicht zu sehr eilen, nach Untersecunda zu kommen; wenn alle Nr. Einsen und Classen und Examina aufhörten, und wenn kein Mensch Einem mehr Zeugnisse gäbe und abforderte, dann finge das eigentliche Lernen erst an, und dazu brauchte man alle Kräfte, und doch kriegte man keinen rothen Zettel, – und das wäre eben das Schöne und das wäre eben das Leben.» (Briefe, S. 537f.)

Nach erstem Unterricht bei den Eltern besucht Felix von 1816 bis 1818 die Lehr-, Pensions- und Erziehungsanstalt von Dr. Johann Christoph Messow in der Kronenstraße. Danach werden für die Ausbildung der Kinder Hauslehrer engagiert – nacheinander Gustav Harald Stenzel, Wilhelm Ludwig Heyse, der Vater des Dichters und Nobelpreisträgers, und Johann Gustav Droysen, der nachmals berühmte Historiker. Zu Letzterem, der neunzehnjährig bei den Mendelssohns eintritt, nimmt der kaum jüngere Felix alsbald freundschaftlichen Kontakt auf. Natürlich darf auch ein prominenter Zeichenlehrer nicht fehlen: Die Eltern wählen Johann Gottlob Samuel Rösel, Professor für Ornamentzeichnen an der Berliner Bauschule. Liegt es an ihm, dass Felix Mendelssohn Bartholdy später zwar trefflich Landschaften malen und aquarellieren, vor dem Porträtieren aber zurückschrecken wird?

Für die musikalische Ausbildung ist – nach erstem Klavierunterricht bei der Mutter – keineswegs nur der väterliche Freund Zelter zuständig; vielmehr wird das Geschwisterpaar Fanny und Felix vor Beginn des Kompositionsunterrichts und parallel zu diesem von dem angesehenen Liederkomponisten Ludwig Berger im Klavierspiel sowie von den Geigern Karl Wilhelm Henning und Eduard Rietz auf der Violine unterrichtet. Felix erhält außerdem Orgelstunden bei August Wilhelm Bach, Organist an der Marienkirche.

Damit nicht genug: Als der Vater mit der Familie 1816 in Geschäften nach Paris reist, lässt er den Kindern die musikpädagogischen Fähigkeiten der berühmten Pianistin Marie Bigot und des Geigers Pierre Baillot angedeihen. Zudem wird kaum eine Gelegenheit ausgelassen, in Berlin aufkreuzende Virtuosen ins Haus zu bitten – so etwa die berühmten Pianisten Johann Nepomuk Hummel und Ignaz Moscheles. Der Letztere, den alsbald eine enge Freundschaft mit Felix verbinden wird, erachtet seine Lektionen allerdings bereits 1824 als überflüssig, da der fünfzehnjährige Felix schon alles könne.

Nicht zu vergessen sportliche Aktivitäten wie Turnen, Schwimmen und Reiten. Im Sommer 1819 schickt der Vater aus Paris einen Brief, der nicht nur Ermahnungen zur Ordnung enthält: «Du lieber Felix musst recht vernünftig und deutlich schreiben, was Du für Notenpapier haben willst, ob liniirtes oder unliniirtes? […] Überlies Deinen Brief, ehe Du ihn abschickst, und frage Dich selbst, ob Du ihn, wenn Du ihn erhieltest, verstehen würdest»; vielmehr heißt es am Ende auch: «Ich erinnere Mutter an den Exercirmeister für Euch alle. Er findet sich gewiss aufs beste unter den Neufchatellern [einem Gardeschützenregiment]. Felix soll fleissig aber nur in der Schule schwimmen.»[18] Doch Felix macht mehr daraus: Er komponiert Schwimmlieder, die er mit seinen Freunden beim Baden aufführt. Erhalten hat sich der vierstimmige Männerchor Der Lehrling steht an Stromes Rand, nach einem Gedicht des Berliner Blindenlehrers und Geographs Johann August Zeune, welches dieser in seinen 1826 erschienenen «Schwimmliedern» unter dem sinnigen Pseudonym Frischmuth Wellentreter veröffentlicht hat – Turnvater Jahn lässt grüßen.

Die Mutter wirkt fleißig an der Erziehung mit. Der Jugendfreund Eduard Devrient erinnert sich: «Wenig anmuthende Arbeiten mußte er wohl in der Mutter Zimmer zu ihren Füßen an Rebecca’s Kindertischchen machen. Wenn […] er mit seinem Butterbrode – das ihm das Recht gab, von der Arbeit zu gehen – ins Vorderzimmer kam und länger mit mir plauderte, als das Butterbrod reichte, so scheuchte ihn gewiß sehr bald der Mutter kurzab hingeworfene Aeußerung: ‹Felix, thust Du Nichts?› wieder ins Hinterzimmer.»[19] Möglicherweise dort entsteht – zum 11. Dezember 1819 – die erste «aufführungsreife» Komposition: das Lied zum Geburtstage meines guten Vaters.

Den ersten öffentlichen Auftritt als ausübender Musiker hat Felix da schon hinter sich: Im Jahr zuvor durfte er den Klavierpart in einem Trio für zwei Waldhörner und Klavier übernehmen – im Rahmen eines Konzerts, das der durch Europa reisende Waldhorn-Virtuose Heinrich Gugel gemeinsam mit seinem elfjährigen Sohn Rudolph in Berlin gab. Im selben Jahr spielt Schwester Fanny zu Vaters Geburtstag sämtliche Präludien aus dem ersten Teil des «Wohltemperierten Klaviers» – auswendig. Damals ist sie gerade dreizehn geworden.

Felix wird es ihr bald nachtun: Seit März 1820 wird er von seinem Lehrer Zelter im strengen Kontrapunkt unterrichtet – nach den auf den Spuren Bachs entwickelten Lehrwerken von Friedrich Wilhelm Marpurg und Johann Philipp Kirnberger. Unmittelbaren Zugang zu älterer Musik erhält er in Zelters Berliner Singakademie, in der er seit 1820 als Alt, nach dem Stimmwechsel als Tenor mitwirkt.