Robert Schumann - Martin Geck - E-Book

Robert Schumann E-Book

Martin Geck

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Beschreibung

Musik und Leidenschaft – Zum 200. Geburtstag des großen Komponisten

Er war ein leidenschaftlicher Tonpoet und kühner musikalischer Vordenker, der in seinem Schaffen Sinnlichkeit und Intellektualität, Realismus und Traumverlorenheit genial zu vereinen wusste: Robert Schumann (1810–1856), vor zweihundert Jahren geboren und bis heute in allen Konzertprogrammen der Welt präsent.

Schumann war jedoch nicht nur ein bedeutender Komponist und Musikschriftsteller, sondern auch ein politisch wacher Zeitgenosse, der mit der Revolution von 1848/49 sympathisierte. Einerseits stand er – als Vater von acht Kindern – ganz im Leben, andererseits betäubte er sich mit Rauschmitteln, schwor auf das in seinen Kreisen beliebte Tischerücken und ließ durch seine Stücke geheimnisvolle Stimmen geistern. Martin Geck erzählt den faszinierenden Lebensweg dieses Universalgeists der Romantik und berichtet dabei von den gesellschaftlichen und künstlerischen Umbrüchen seiner Zeit. Er wirft ein neues Licht auf das vielseitige Werk des Komponisten – und blickt zugleich in die Abgründe des Menschen Robert Schumann, der zeitlebens unter der größeren Berühmtheit seiner geliebten Frau Clara litt und nach versuchtem Selbstmord schließlich in einer Nervenheilanstalt in den Tod hinüberdämmerte.

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
KAPITEL 1 - Jugend
Copyright
Bild 4
Prolog
Vorzüglich stark ausgebildet die Organe der Vorsicht, - Aengstlichkeit, die sogar meinem Glück im Wege stünde, - der Musik, - der Dichterkraft - edlen Strebens - großen künstlerischen aber edlen Ehrgeizes - großer Wahrheitsliebe - großer Redlichkeit - großen Wohlwollens - »Gemüth durch und durch« - Formensinn - Bescheidenheit - Festigkeit - (Phrenologische Studien v. Noël an m[einem] Kopf - Maxen, d. 1 Juni)
Aus Robert Schumanns Tagebuch1
Diese Tagebucheintragung Schumanns stammt vom 1. Juni 1846. Robert Schumann und seine Frau Clara sind auf dem Schloss und Rittergut Maxen bei Dresden zu Besuch, das dem ebenso wohlhabenden wie kunstsinnigen Major a. D. Friedrich Serre gehört. Man ist zu Tisch eingeladen; Schumann spielt hernach Whist und lernt »Capitän Noël« kennen, der am Abend an ihm eine »merkwürdige phrenologische Untersuchung« vornimmt, wie es auch im »Haushaltbuch« unter dem gleichen Datum heißt.2
Die Rede ist von dem englischen Phrenologen Robert R. Noël, der gerade in Dresden weilt, um sich mit dem Arzt, Maler und Naturforscher Carl Gustav Carus über das gemeinsame »Forschungs«-Gebiet auszutauschen und die zweite Auflage seiner Phrenologie oder Anleitung zum Studium dieser Wissenschaft, mit Berücksichtigung der neueren Forschungen auf dem Gebiet der Physiologie und Psychologie vorzubereiten; diese wird kurz darauf in der Arnoldischen Buchhandlung in Dresden und Leipzig erscheinen.
Phrenologie - also der Versuch, von der Schädelform eines Menschen auf seine Charaktereigenschaften zu schließen - hat damals Hochkonjunktur. Und weil die dabei üblichen Messungen nicht zuletzt kriminologischen Interessen dienen, wird Schumann dem bekannten Mann seinen Kopf nicht ohne leichtes Gruseln hingehalten haben - freilich auch mit der seltsamen und doch gar nicht so seltenen Begierde, von einem anderen über das eigene Wesen aufgeklärt zu werden. Und er wird belohnt: Die ihm attestierte Ängstlichkeit, mit der er sich ja wirklich Tag für Tag herumschlägt, darf er künftig unter »schicksalhafter Anlage« buchen. Und alle anderen von Noël konstatierten Anlagen sind vortrefflich: edles Streben, edler künstlerischer Ehrgeiz, Wahrheitsliebe, aber auch Formensinn und Festigkeit.
Natürlich weiß der Phrenologe, wen er da am Abend des zweiten Pfingsttags 1846 vor sich hat; und sicherlich ist er welt- und berufserfahren genug, um nicht nur Schumanns Kopf zu inspizieren, sondern seinen prominenten Klienten auch mithilfe anderer Indizien so zu taxieren, dass dieser vermutlich zwar etwas aufgewühlt, aber doch erhobenen Hauptes wieder zu den Gästen zurückkehren kann. Und der Autor ist von dem Charakterbild, das hier gezeichnet wird, noch nach mehr als 150 Jahren berührt. Denn so vage es ist: Verwendete man es für ein Quiz, so würde ein leidlicher Kenner der Musikgeschichte in der Tat eher auf Schumann tippen denn auf Beethoven, Wagner oder Meyerbeer. Und da geht es vor allem um eine charakteristische Ambivalenz:
Auf der einen Seite die diagnostizierten Züge von Vorsicht und Ängstlichkeit, die Schumann beständig quälen, ihn immer wieder »nervenschwach« und partiell menschenscheu erscheinen lassen. Es sind Züge, die ihn im produktiven Sinn dazu veranlassen, lieber an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten, als andere durch Neid, Kritik oder Herablassung herauszufordern. Kaum je hat Schumann in seiner Neuen Zeitschrift für Musik einen Musikerkollegen in Grund und Boden kritisiert oder einen Zeitgenossen in privaten Äußerungen beleidigt. Er liebte weder den verbalen Zweikampf noch die besserwisserische Kritikergeste. Stattdessen hatte er Größe genug, um den jungen Johannes Brahms enthusiastisch als seinen Nachfolger im Geist zu feiern und einen Hector Berlioz mit seiner Symphonie fantastique, obwohl er diese im Innersten nicht mochte, als Genie des romantischen Realismus à la française zu würdigen.
Auf der anderen Seite ein bewundernswerter Mut, sich immer wieder der Welt zu stellen und ihr kämpferisch entgegenzutreten. Das beginnt mit dem jahrelangen Kampf um die Braut Clara, der schließlich durch einen Prozess zugunsten der Liebenden entschieden wird. Es setzt sich fort in Schumanns Sorge für die immer größer werdende Familie, für deren Zusammenhalt zwar vor allem die Gattin, jedoch zu nicht geringen Teilen auch er selbst verantwortlich ist. Mehr als das: All seine Ängste hindern ihn nicht, Clara auf Reisen zu begleiten, Gesellschaften zu besuchen, Chöre zu dirigieren, Orchester zu leiten. Dass er - äußerer Höhepunkt seiner Laufbahn - die verantwortliche Stellung eines Städtischen Musikdirektors in Düsseldorf antritt, mag dann freilich über seine Kräfte gegangen sein und seinen letztendlichen Zusammenbruch beschleunigt haben.
Doch zuvor fehlt es ihm nicht an beruflicher Tüchtigkeit: Er weiß mit Verlegern zu verhandeln; und die gleichsam freihändige Gründung der Neuen Zeitschrift für Musik (siehe Seite 59ff.) ist geradezu ein sowohl unternehmerischer als auch kulturpolitischer Geniestreich. Ganz zu schweigen von seinem Mut in künstlerischen Dingen. Der junge Schumann, weitgehend Autodidakt, ist klug genug, in seinem öffentlichen Wirken zunächst vor allem auf die Klaviermusik zu setzen: Das »Komponieren am Klavier« betrachtet er vorderhand als sein ureigenes Metier; außerdem lässt sich dieses Genre am leichtesten verlegen. Doch ab dem dreißigsten Lebensjahr wagt er sich weiter vor: Zunächst entstehen als Zeichen gewachsenen Selbstbewusstseins serienweise Klavierlieder; es folgen groß besetzte Instrumentalwerke, Kammermusik und schließlich Oratorien und eine Oper. Mit der Rheinischen Sinfonie gelingt Schumann in den letzten Lebensjahren ein Werk von solcher Gelöstheit und Lebensfreude, dass es auch sorgloseren Komponistengemütern, als Schumann eines war, zur Ehre gereicht hätte.
Also mehr als nur Ambivalenzen, nämlich extreme Spannungen, die Schumanns Umgebung, ja sogar Teile des großen Publikums mitbekamen - und in hohem Maß tolerierten. Man darf in dieser Hinsicht die gebildete Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht unterschätzen: Wer würde heute einem Robert Schumann die Stelle eines Düsseldorfer Musikdirektors anbieten, anstatt von vornherein in Rechnung zu stellen, dass der wohl nicht der Richtige fürs Image der Stadt sein könnte. Der ungarische Schriftsteller Béla Hamvas schrieb um 1960 über das 19. Jahrhundert mit erkennbarer Sympathie: »Jahrhundert der Wahnsinnigen. Hölderlin, Schumann, Gogol, Baudelaire, Maupassant, van Gogh, Nietzsche. Heute sind wir nicht mehr fähig, wahnsinnig zu werden.«3 Und ebenso wenig sind wir fähig, Wahnsinnige, die sich nicht unserem eigenen Wahnsinn anpassen, zu ertragen, könnte man fortfahren.
Damit soll hier nicht die im 19. Jahrhundert beliebte These vom Zusammenhang von Genie und Wahnsinn verfolgt, jedoch der Blick auf ein Milieu gelenkt werden, in dem ein Künstler auch dann leidlich ungeschoren und ohne jedwede Anerkennung zu verlieren seinen Weg gehen konnte, wenn er nicht ins Schema passte. Das Unangepasste war damals noch nicht in die Subkultur abgewandert, verkörperte vielmehr das schlechte Gewissen des gut situierten Bürgers, der noch ahnte, was alles auf der Strecke blieb, wenn Gewinnmaximierung zur obersten Devise wurde.
So gesehen ist dieses Buch nicht nur aus Bewunderung für einen schwierigen, sich jedoch vor dem Zusammenbruch niemals aufgebenden Künstler und Musikintellektuellen geschrieben, sondern auch aus Respekt vor einer Gesellschaft, die eine solche Persönlichkeit zwar nicht auf Händen trug, ihren Wert aber auch nicht wie selbstverständlich am Grad ihrer Vermarktbarkeit maß.
Wir könnten uns heute nicht an der Musik Schumanns freuen und uns von ihr anrühren lassen, wenn nicht seine Zeitgenossen jenem Überlieferungsstrom sein Bett gegraben hätten, von dem wir uns heute tragen lassen. Dass die Musik Arnold Schönbergs weniger populär als die von Robert Schumann ist, liegt vor allem daran, dass sie schwerer zu verstehen ist. Es hat seinen Grund aber auch darin, dass sich im Fall Schönbergs beide Partner gegeneinander abschotteten: der Komponist gegen ein Publikum, das in seinem elitären Kalkül von vornherein am Katzentisch saß; und das Publikum gegen einen Komponisten, der in seinen Augen a priori ein Spinner war.
Es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass im Fall Schumanns gleichsam alles gut gegangen ist: Es gibt in seiner Musik genug Populäres, um sie in breite Kreise zu tragen; und es gibt genug Elitäres, um den Komponisten geradezu zum Vater einer reflexiv-gebrochenen und damit modernen Musik zu machen. Modern in dem Sinne, dass sie sich nicht mehr - wie noch die Musik des mittleren, des »heroischen« Beethoven - auf einen einzigen strukturellen und erzählerischen Nenner bringen lässt, sondern in vielen Kontexten schillert. Schumann selbst fordert geradezu den »nachschaffenden« Hörer,4 also einen, der aus den Tönen, die in ihn eindringen, für sich selbst »Sinn« schafft - im Rahmen von Kontexten, die teils offen zutage liegen, indem sie etwa in Überschriften benannt werden, teils wie mit einer unsichtbaren Tinte geschrieben scheinen, die der Hörer selbst erst wieder sichtbar machen muss.
In Schumanns Humoreske für Klavier op. 20 gibt es 24 mit »hastig« überschriebene Takte, in denen auf einem dritten Notensystem - zwischen dem für die rechte und dem für die linke Hand - eine vom Komponisten so genannte »innere Stimme« notiert ist. Dass man diese nicht spielen soll, ist klar; das ist weder technisch möglich noch klanglich nötig, weil die Töne der »inneren Stimme« ohnehin - eine Oktave höher - in der rechten Hand erscheinen. Doch weshalb hat Schumann diese »innere Stimme« dann notiert, welche Signalwirkung soll von ihr ausgehen?
Bild 2
An diesem Punkt kommt man nur weiter, wenn man sich mit Schumanns ästhetischen Anschauungen und speziell mit seiner Bewunderung für den romantischen Dichter Jean Paul beschäftigt - und sich damit auch an den »Menschen« Schumann heranschleicht, der ja in vielen Phasen seines Lebens »innere Stimmen« hörte. Macht sich der Biograf eines Sündenfalls schuldig, wenn er »Werk« und »Leben« nicht säuberlich trennt, sondern als unauflöslich ineinander verwoben darstellt? Das Ganze ist, wenn man es zu Ende denkt, keine Grundsatz-, sondern eine Stilfrage.
Es gibt den »hohen Stil« im Schreiben über Musik, in dem die »reine« Analyse triumphiert: Da sind alle »außermusikalischen« und biografischen Gesichtspunkte degoutant oder bestenfalls Fingerzeige auf dem Weg zum Kern der Musik. Man mag über solchen Rigorismus denken, was man will - im Falle Schumanns erscheint er allein deshalb beschränkt, weil der Komponist selbst nichts von diesem »hohen Stil« gehalten hat. Natürlich gehört auch für Schumann das Analysieren zum Handwerk; doch wo er es ausübt, schweift seine Fantasie beständig ab, um sich in Bildern, Metaphern und allgemeinen ästhetischen und historischen Exkursen zu ergehen. Er kennt beide Seiten der Medaille: Musik ist nur sie selbst und zugleich nur in den vielen Kontexten erlebbar, in denen sich unser Leben überhaupt abspielt. Demgemäß kann er am 5. Mai 1843 dem Kollegen Carl Koßmaly schreiben: »Mensch und Musiker suchten sich immer gleichzeitig bei mir auszusprechen.«5
Auf Schumanns Spuren verfolgt dieses Buch einen »mittleren Stil«, der die Beschäftigung mit dem Notentext ebenso wenig scheut wie den Blick auf erhellende Kontexte. (In »niederem« - deswegen keineswegs verachtenswertem - Stil wäre ein Roman wie Peter Härtlings Schumanns Schatten anzusiedeln.) »Mittlerer Stil« - das klingt nach Kompromiss, ist es jedoch nicht mehr als jedes andere Reden und Schreiben über Kunst: Ob man es mit subtilen Strukturanalysen oder mit der Vorstellung diverser Kontexte versucht - keine Art solcher Annäherungen kann die eigentliche Kunsterfahrung ersetzen.
Je mehr wir über einen Komponisten wissen, desto weniger können wir sein Leben ausklammern, auch wenn er uns vor allem wegen seines Werks lieb ist. Obwohl das »Leben« das »Werk« nicht erklärt, gibt es doch - wie es Roland Barthes ausgedrückt hat - einen »Mehrwert«, wenn wir das eine vor dem Hintergrund des anderen sehen. Und der französische Philosoph erklärt dies - am Beispiel von Marcel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - auf folgende Weise: Zwar wäre es trügerisch zu glauben, indem man sich mit dem Milieu des Dichters beschäftige, habe man den Schlüssel zu seinem Werk in Händen; jedoch festigt die »Projektion des Lesers in das Werk«, das »Begehren nach Entschlüsselung«, die »imaginäre Bindung an das Werk«.6
Natürlich ist es kein Zufall, dass Roland Barthes seine Vorstellungen an einem modernen Roman entwickelt, und nicht etwa am Don Quijote von Cervantes: Je näher Leben und Werk eines Künstlers unserer eigenen Zeit sind, desto mehr Empathie vermögen wir aufzubringen - zumindest bilden wir uns dies ein. Vice versa gilt: Je mehr ein Künstler der Moderne angehört, desto fester ist er in der Regel davon überzeugt, sein persönliches Leben aus seiner Kunst nicht heraushalten zu können oder zu dürfen. Schumann ist in meinen Augen der erste Komponist, der Leben und Werk geradezu symbiotisch miteinander verschmolzen hat. Nicht zuletzt das hat mich veranlasst, meine Biografie nicht nur in einem »mittleren«, sondern auch in einem »gemischten Stil« abzufassen: Anders als in meinen Biografien über Bach und Mozart sind »Leben« und »Werk« dieses Mal nicht nacheinander behandelt, sondern in eng miteinander verzahnten Kapiteln.
Speziell im Fall Schumanns schien es mir geboten, an die skizzierten Gedankengänge von Barthes anzuknüpfen: Gewiss besagt die phrenologische »Erforschung« von Schumanns Charakter - um auf den Anfang dieses Kapitels zurückzukommen - nichts Verbindliches über den »Menschen« Schumann, sosehr sie ihn selbst faszinierte, und schon gar nichts über sein »Werk«. Doch sie weckt Anteilnahme und - zusammen mit vielen anderen Äußerungen - das »Begehren nach Entschlüsselung«. Es ist, wie von Barthes subtil angedeutet, das erotische Begehren des Autors, der sich seinem Liebesobjekt, der Musik, auch über die Person des Komponisten immer wieder zu nähern versucht, ohne es doch je zu erreichen. Wenn dabei das empirische Faktenmaterial, das in Sachen Schumann reichlich verfügbar ist, nicht verbogen oder verwischt, vielmehr geradezu als Antrieb zu weiter gehenden Reflexionen genutzt wird, ist der »gemischte Stil« nicht unseriöser als die reine Formanalyse, die ja ihrerseits auf vielen kaum hinterfragten Vorurteilen beruht.
Hans-Georg Gadamer hat ernsthaft darüber nachgedacht, ob das einzig Wissenschaftliche an den Geisteswissenschaften vielleicht nur das notwendige »psychologische Taktgefühl« sei, das sich seinerseits als »Funktion ästhetischer und historischer Bildung« darstelle.7 Das enttäuscht zwar die Erwartung, Kunst ließe sich erklären, es stellt jedoch an denjenigen, der über Kunst und Künstler schreibt, große Ansprüche. Es verpflichtet ihn nämlich einerseits auf das Motto, das Robert Schumann dem Jahrgang 1835 seiner Neuen Zeitschrift für Musik voranstellte: »Jeder Genius muß nach dem, was er selbst will, studiert werden.« Es lässt ihm andererseits gar keine andere Wahl, als sich auf die zahlreichen Kontexte einzulassen, aus denen erst verständlich wird, weshalb Schumann mit Recht ein »Universalgeist der Romantik« genannt werden darf.8
Mache doch die Intermezzi fertig, daß die Kritiker beschwichtigt werden.
Tagebucheintrag Robert Schumanns vom 1. Juni 1832
Zwischen die zwölf Hauptkapitel dieses Buches sind neun »Intermezzi« eingestreut. Der Terminus mag nicht nur an Schumanns op. 4, sondern auch an jene Opern-Intermezzi des 18. Jahrhunderts erinnern, welche die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Schauspielerpaar lenkten, das seine Späße außerhalb der Haupthandlung auf der Vorbühne trieb. Die Intermezzi dieses Buches sind zwar weder scherzhaft gemeint noch vom Haupttext losgelöst; doch auch sie richten das Spotlight auf jeweils nur ein Schaffensmoment oder nur einen Satz aus Schumanns Œuvre. Der Leser kann sie überschlagen - freilich auf die Gefahr hin, dass ihm, wie seinerzeit den Opernbesuchern, das Beste entgeht.
Bild 11: Diese farbige Miniatur auf Pappe stellt das einzige erhaltene Jugendbildnis Schumanns dar. Es zeigt den 15- bis 16-Jährigen im modischen blauen Frack, mit Ring und Uhrkette - ein hübscher Spross aus gutbürgerlicher Familie, dem man seine künstlerischen Ambitionen ebenso abnimmt wie seine Erfolge bei jungen Damen. Die von einem unbekannten Künstler stammende Arbeit ist aus dem Nachlass von Schumanns Tochter Marie in das Robert-Schumann-Haus Zwickau gelangt.
KAPITEL 1
Jugend
(1810 - 1828)
Was ich eigentlich bin, weiß ich selbst noch nicht klar: Phantasie, glaub’ ich, hab’ ich: und sie wird mir auch von keinem abgesprochen: tiefer Denker bin ich nicht: ich kann niemals logisch an den Faden fortgehen, den ich vielleicht gut angeknüpft habe. Ob ich Dichter bin - denn werden kann man es nie - soll die Nachwelt entscheiden.
Der siebzehnjährige Schumann in seinem Tagebuch:Tage des Jüngling-lebens9
Als Beethoven in den Jahren 1809 bis 1813 zu höchstem internationalem Ruhm aufsteigt, erwachsen ihm, ohne dass er etwas davon ahnen könnte, drei gewichtige Erben: Felix Mendelssohn Bartholdy (*1809), Robert Schumann (*1810) und Richard Wagner (*1813) - ein starkes Trio mit Schumann in der Mitte. Dieser betrachtet sich zwar nicht wie Wagner als Inkarnation Beethovens, will aber auch nicht nur, wie Mendelssohn, vor allem dessen Erbe in Ehren halten. Vielmehr sieht Schumann in Beethovens Werk eine Vorahnung jener »jungen, dichterischen Zukunft«, die er aktiv mitgestalten möchte.10
Das klingt optimistisch und ist auch so gemeint. Gleichwohl ist es nicht der Optimismus eines Beethoven. Dieser betrachtete sich als Zeitgenosse auf Augenhöhe mit Napoleon, der seiner Überzeugung nach eine neue weltgeschichtliche Ära eingeleitet hatte. Gleich Hegel, Hölderlin und Goethe sah der »heroische« Beethoven in diesem - ungeachtet aller usurpatorischen Gesten - den Prometheus seiner Zeit. Und was man von Napoleon als Staatenlenker erwartete, das schrieb sich Beethoven als Künstler auf seine Fahnen: »allein Freyheit, weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen schöpfung, zweck.«11
Dieses Statement mutet freilich schon wie ein trotziges Rückzugsgefecht an; denn es stammt aus dem Spätsommer 1819, als sich der reale Napoleon längst in der Verbannung auf Sankt Helena befindet und der Prometheus in Napoleon-Gestalt somit nur noch in einigen Köpfen spukt. In der politischen Wirklichkeit hingegen hat eine Ära begonnen, die man unter Stichworten wie Restauration, Demagogenverfolgung und »juste milieu« (in freier Übersetzung: Einrichtung im schlechten Bestehenden) zu fassen versucht - aber auch unter dem Begriff des Vormärz. Damit sind die Jahrzehnte vor der Märzrevolution des Jahres 1848 gemeint, von der Schumann einmal sagen wird: »Auf mich hat die ganze Zeit anregend im höchsten Grad gewirkt. Nie war ich thätiger, nie glücklicher in der Kunst.«12
Man muss, wenn man über Schumanns Jugend ohne Scheuklappen berichten will, diesen politischen und allgemeingesellschaftlichen Kontext - nicht anders als etwa bei E. T. A. Hoffmann oder Heinrich Heine - von vornherein mitbedenken. »Junge, dichterische Zukunft« - das ist ein ambivalenter Begriff: Einerseits soll es gegen die »Philister« gehen - gegen die stocksteifen und staubtrockenen Vertreter des »juste milieu«; und das hat eine deutlich politische Dimension. Andererseits wird - jedenfalls von Schumann - der Kampf nicht primär mit dem Ziel einer politischen Umwälzung geführt, sondern im Sinne einer Selbstbehauptung des künstlerischen Subjekts gegenüber der Unterdrückung durch den Zeitgeist.
Auch wenn es wie ein Widerspruch wirkt: Der junge Schumann ist ein Mensch, der zwar - im Gegensatz zu Mendelssohn, in Übereinstimmung mit Wagner - ein Widerstandspotenzial im politischen Sinn in sich trägt, dieses zunächst aber »nur« in seinem künstlerischen Credo wirksam werden lässt. Was dies konkret bedeutet, zeigt ein Passus, mit dem Schumann - in seiner Neuen Zeitschrift für Musik - eine Sammelrezension mit dem Titel »Kürzeres und Rhapsodisches für Pianoforte« eröffnet:
»Wie politische Umwälzungen dringen musikalische bis in das kleinste Dach und Fach. In der Musik merkt man den neuen Einfluß auch da, wo sie am sinnlichsten und gröbsten mit dem Leben vermält ist, im Tanze. Mit dem allmähligen Verschwinden der contrapunktischen Alleinherrschaft vergingen die Miniaturen der Sarabanden, Gavotten etc., Reifrock und Schönpflästerchen kamen aus der Mode und die Zöpfe hingen um vieles kürzer. Da rauschten die Menuetten Mozarts und Haydns mit langen Schleppkleidern daher, wo man sich schweigend und bürgerlich sittsam gegenüberstand, sich viel verneigte und zuletzt abtrat; hier und da sah man wohl noch eine gravitätische Perrücke, aber die vorher steif zusammengeschnürten Leiber bewegten sich schon um vieles elastischer und graziöser. Bald darauf tritt der junge Beethoven herein, athemlos, verlegen und verstört, mit unordentlich herumhängenden Haaren, Brust und Stirne frei wie Hamlet und man verwunderte sich sehr über den Sonderling; aber im Ballsaal war es ihm zu eng und langweilig, und er stürzte lieber in’s Dunkle hinaus durch Dick und Dünn und schnob gegen die Mode und das Ceremoniell und ging dabei der Blume aus dem Weg, um sie nicht zu zertreten«.13
Als Schumann dies schreibt, ist er zwar schon fünfundzwanzig; doch er kann sich überhaupt nur so äußern, weil eine Knaben- und Jünglingszeit vorausgegangen ist, aus der als zentrales Agens der Erwerb von Bildung hervorsticht - traditionell humanistischer, aber auch aktuell literarisch-politischer Bildung. Dass Haydn, Mozart, Beethoven oder Schubert solche Texte niemals hätten schreiben können, ist nicht nur damit zu begründen, dass sie nicht Schumanns literarisches Talent hatten; es liegt auch daran, dass sie nicht annähernd über Schumanns Bildung verfügten. Die fast gleichaltrigen Komponisten Mendelssohn und Schumann sind die beiden ersten Bildungsmusiker. Auch das dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass sie sich in ihrer gemeinsamen Leipziger Zeit gut verstanden. Zugleich frappiert freilich, welch unterschiedlichen Gebrauch sie von dieser Bildung gemacht haben. Doch fangen wir, was Schumann betrifft, vorn an - nämlich in seinem Elternhaus.
Das stand im sächsischen Zwickau - circa 80 Kilometer südlich von Leipzig gelegen - am schmucken Hauptmarkt, Ecke Münzstraße. 1955/56 wegen Baufälligkeit abgerissen und anschließend mit einer nach dem Original rekonstruierten Fassade als Robert-Schumann-Haus wieder aufgebaut, beherbergt es heute die weltweit größte Sammlung von Handschriften Robert und Clara Schumanns und dient zudem als Erinnerungsstätte, Museum und Ort der Musikpflege. Bereits als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger verfasst Schumann seinen ersten Lebenslauf - in erstaunlich erwachsen wirkender Schrift:
»Meine Biographie oder Hauptereigniße meines Lebens. Ich bin zu Zwikau geboren am 8ten Juny, 1810. Dunkel schweben mir nur noch die Jahre meiner Kindheit vor den Augen; bis zum dritten Jahre war ich ein Kind, wie ein anderes: da wurde ich denn, weil meine Mutter das Nervenfieber bekam und man sich für Anstekung fürchtete, erstlich nur auf 6 Wochen bey der jetzigen Burgemeister[in] Ruppius gethan. - Leicht verflossen mir diese Wochen hin, denn zu ihrem Ruhm muß man es sagen, daß sie es in Erziehung der Kinder weit gebracht hat: ich liebte sie, sie ward meine zweite Mutter, kurz ich blieb zwey u. ein halb Jahr unter ihrer wahrhaft mütterlichen Aufsicht: ich ging jeden Tag einmal bey meinen Eltern u. sonst bekümmerte ich mich nicht weiter um sie [... ] Ich war fromm, kindisch und hübsch, lernte fleißig u. ward in meinem 6 1/2 Jahre in die Privatschule des jezlichen Amptprediger in Freyberg, des H: Döhner, der damals hier Archidiakonus war, eines sehr gebildeten und geachteten Mannes geschikt: im siebenten Jahre lernte ich lateinisch, im achten französisch und griechisch und im 9 1/2 kam ich in die vierte Classe unseres Lycaeumes«.14
Und weiter: »schon im 8ten Jahre - sollte man es denken - lernte ich Amors Kunst kennen: ich liebte wahrhaft unschuldig die Tochter des Superintendent Lorenz, Emilie mit Namen: u. niemals werde ich es vergessen, daß ich ihr einstens, als wir aus der französischen Stunde gingen, einen ganz abgebrochnen verzweifelten Liebesbrief ueberreichte, in welchem - ein Pfennig (wahrscheinlich um sich ein Kleid zu kaufen) eingewikelt war. O, süße Einfalt!!«15
Schon der etwa Achtjährige liebt es, so geht es in der »Selbstbiografie« weiter, »ganz allein« spazieren zu gehen und sein Herz vor der Natur auszuschütten. »Außerdem hatte ich, mein Bruder u. noch einige Schulcammeraden, ein recht hübsches Theater, auf welchem wir, obgleich in ganz Zwikau bekannt und sogar berühmt, (denn wir nahmen manchmal 2 - 3 rthl: ein) ganz ex tempore spielten u. fürchterlichen Witz rißen u. bey den Haaren herbeyzogen. Um diese Zeit herum verliebte ich mich in Ida Stölzel; auf der ich, erst 9 1/2 Jahre alt, mehrere Gedichte machte [... ] wir liebten uns beiderseitig zwey Jahre recht innig, kindisch und mißbrauchten die Liebe auf keine schlechte Weise: wir küßten uns stets: ich kaufte ihr jedesmal für meine Sonntags vier Groschen Bonbon - kurz ich war glük-«.16
Die nächsten Manuskriptseiten sind verloren gegangen. Die dann wieder überlieferte Seite 7 bringt ein Gedicht, mit dem der damals etwa Zwölfjährige von einer Verehrerin Abschied nimmt, deren »Laune« er »müde« ist:
Einst war die Zeit der süßen Gegenliebe, Die sie mir, lang’ u. lang’ geschenkt, Doch Nattern nähr’n jezt andre Triebe, Und anders hat’s ein Geist gelenkt: Sie war, die Zeit: dahin ist sie geflohen, In Trauerflor ist sie gehüllt: Doch nun mein Geist, dank ihm, dort oben, Daß er den Wunsch dir nie erfüllt.17
Ehe das Manuskript auf Seite 10 endgültig abbricht, kommt auch die Mutter, Tochter eines Zeitzer Ratschirurgen, ins Blickfeld:
»bald hätte ich vergessen, meine kleinen Reisen zu beschreiben. Im J. 1818, vor nun mehr also 7 Jahren, machte ich mit meiner Mutter eine Reise ins Karlsbad, leztere um das Bad zu gebrauchen, ich zu ihrer Erheiterung und Unterhaltung: wir blieben 5 Wochen da, die uns, vorzüglich mir, eher als eine Woche verfloßen. Ich stand um 1/2 8 Uhr auf, manchmal auch um 4 - 5 Uhr, um auf die Promenade zu gehen, ging dann mit der Mutter bis 1/2 11 Uhr spatzieren, u. schrieb oder las bis um 12 Uhr, da aßen wir denn, ich lustwandelte bis um 3 Uhr, allein in der Stadt oder im Freyen - kurz, es war ein herrliches Leben, u. bestimmt meine schönste Zeit. Keine Sorge umdüsterte mich, keine Laune zog die Stirne mir in Falten zusammen - ach! mit süßer Wehmut gedenke ich manchmal jener Stunden, und vorzüglich eines Lieblingsplatzes von mir - dieser war ein Felsen, auf dem ein Crucifix steht, nicht weit von Marianensruh [... ] Ich sah hier sehr viel berühmte Menschen, unter anderen, Jerôme, Napoleons Bruder, den ehemaligen König von Westphalen, Elise, ebendesselben Schwester, die an einen Fürsten Bachchochi [recte: Bacciocchi] verheirathet war, u. Napoleon sehr ähnlich war, den Fürsten Blücher, mit dem meine Mutter gesprochen hat: er war ein äußerst humaner Mann u. sprach mit jeden [... ]«.18
Im Laufe seines Lebens wird sich der Komponist in einer Fülle weiterer biografischer Darstellungen, in Notizen, Tagebüchern, »Haushaltbüchern« und Korrespondenzbüchern - von seinen zahllosen Briefen ganz zu schweigen -, gleichsam selbst konstituieren oder gar konstruieren: Das geschriebene Wort bedeutet für den im persönlichen Umgang eher verschlossenen Künstler eine unbedingt notwendige Selbstvergewisserung. Die meist ironisch verstandene Redensart »Wer schreibt, der bleibt« gilt für ihn in einem geradezu existenziellen Sinne - jedoch nicht nur bezogen auf die literarische Tätigkeit, sondern auch auf das Alltagsgeschehen. In seinen Tagebüchern hält Schumann ausführlich, oftmals minutiös fest, was ihm begegnet. Das ist nicht nur als biografische, sondern auch als zeitund kulturgeschichtliche Quelle von unersetzlichem Wert.
In den Jahren 1840 bis 1844 werden die Tagebücher weitgehend durch »Ehetagebücher« ersetzt, in denen die Partner wechselseitig zu Wort kommen und oftmals direkt aufeinander reagieren. Demgemäß lassen sich aus dem »Dialog« von Robert und Clara mit einiger Vorsicht »Szenen einer Ehe« rekonstruieren, in denen die unterschiedlichen Temperamente oft genug aufeinanderprallen. Und soviel auch immer wieder stilisiert und beschönigt worden sein mag - mit Sicherheit sind die drei »Ehetagebücher« der Schumanns ein Stück ehrlicher als die Tagebücher Cosima Wagners, welche diese ganz bewusst als Vermächtnis für ihre Kinder niedergeschrieben hat - in der Absicht, den Gatten der Nachwelt wenn auch nicht als Idealgestalt, so doch in verklärendem Licht zu präsentieren.
Die seit 1837 kontinuierlich geführten »Haushaltbücher« Schumanns sind in der Registrierung von Einnahmen und Ausgaben von beeindruckender Akribie. Das legt zumindest der Augenschein nahe; denn es lässt sich natürlich nicht rekonstruieren, ob einzelne Geldbewegungen möglicherweise verschwiegen oder auch nur vergessen wurden. Da sich die teilweise parallel zu den Tagebüchern geführten »Haushaltbücher« durch weitere Notizen streckenweise zu kleinen Diarien auswachsen, dokumentieren sie außerdem auf ihre Weise das beständige Bemühen des Komponisten, dem Flüchtigen des Lebens, anstatt in ihm gleichsam zu vergehen, Dauer und damit sich selbst Halt zu geben. Seit dem April 1846 hält er in seinen »Haushaltbüchern« auch eheliche Interna fest: Eine Art F-Zeichen, das sich dort zum ersten Mal unter dem 13. April findet, steht augenscheinlich für ehelichen Verkehr und taucht beispielsweise bis zum Ende dieses Monats noch viermal auf.
Doch zurück zur Lebensbeschreibung des jugendlichen Schumann. Man muss sie als biografische Quelle ernst nehmen: Denn auch wenn die moderne Forschung im Nachhinein einzelne Angaben korrigieren könnte, würde sie damit kein authentischeres Bild geben können als das, welches Schumann selbst von sich zeichnet. Vor allem aber stellt diese frühe Lebensbeschreibung einen wichtigen Beleg für seine Selbstwahrnehmung dar: Er ist - auch den erhaltenen frühen Bildnissen zufolge - ein hübscher Bursche, der sich früh zum anderen Geschlecht hingezogen fühlt und bei ihm Erfolg hat; er lässt sich willig auf den Weg humanistischer Bildung schicken - und dies gemäß der Praxis des damaligen Bildungsbürgertums schon sehr früh; er sieht sich als angehenden Künstler, der Gedichte schreibt, frühreif oder altklug über sein Leben reflektiert und das Theaterspiel vermutlich nicht nur als Jux pflegt. Seinem Alter und Umfeld entsprechend lebt er in einer sentimentalischen Welt, in der ein gewisses Maß an Absonderung von den anderen als erstes Zeichen von Genialität gedeutet wird - wer weiß, welche aktuellen Bücher zu diesem Thema er damals schon den reichen Beständen der Bibliothek seines Vaters entnommen und verschlungen hat?
Denn der Vater ist Buchhändler und Verleger - und ein höchst erfolgreicher dazu. Aus einer thüringischen Pfarrersfamilie stammend, hat er zusammen mit seinem Bruder Friedrich in Zwickau eine Verlagsbuchhandlung aufgemacht, in der er - zum Teil in eigener Übersetzung - die Werke Byrons und Walter Scotts herausbringt, aber auch das 18-bändige Standardwerk Vollständiges Staats= Post= und Zeitungs=Lexikon von Sachsen. Mehr als das: August Schumann vertreibt als einer der ersten deutschen Verleger Klassiker in wohlfeilen Ausgaben und wird damit geradezu der »Erfinder« des Taschenbuchs. Er verfasst zahlreiche belletristische und wissenschaftliche Werke und bemerkt 1813 in den in seinem Verlag erscheinenden Erinnerungsblättern für gebildete Leser aus allen Ständen: »Was die Deutschen als Nation zusammenhält, das ist ihre Literatur. So lange diese ihnen bleibt, brauchen sie nichts zu fürchten von den Stürmen, welche das Schicksal der Nationen bedrohen.«19
Als August Schumann 1826 im Alter von 53 Jahren stirbt, liegt die Erziehung Roberts, der als fünftes und letztes Kind geboren wird, ganz bei der Mutter. Wie wohl jede Mutter will sie für ihren Sohn nur das Beste, fördert auch in beträchtlichem Umfang seine Talente, drängt ihn andererseits aber dazu, nach dem Abitur wider die eigene Überzeugung ein Jurastudium zu ergreifen. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1836 bleiben beide einander eng verbunden. Allerdings muss man auch konstatieren, dass es zwischen der Mutter, die wohl vor allem die düsteren Seiten des Lebens zur Kenntnis nahm, und dem Sohn, der darauf ebenso mit Schuld- wie mit gelegentlichen Trotzgefühlen reagierte, offenbar manche belastende Spannungen gab. »Lieber Robert! Dein letzter Brief hat mich so tief erschüttert, daß ich seit dem Empfang desselben in meinen ganz niedergedrückten Zustand zurückgekehrt bin; [... ] Vorwürfe mach ich Dir nicht; denn sie würden zu nichts führen - aber billigen kann ich Deine Ansichten, Deine Weise zu handeln gar nicht. Gehe seit dem Tode Deines guten Vaters Dein Leben durch, und Du mußt Dir sagen, daß Du nur Dir gelebt hast. Wie will und wird das enden?«20 Das ist die Reaktion der Mutter auf einen Brief des Sohnes, in dem dieser um die Erlaubnis bittet, dem »zwanzigjährigen Kampf zwischen Poesie und Prosa oder nenn’ es Musik und Jus« ein Ende machen zu dürfen.21
Schumann antwortet nicht eben rücksichtsvoll: »blieb ich beim Jus, ich erschösse mich als Accessist aus Langeweile. Es kann leicht sein - der Himmel wende es ab, daß ich einmal blind werde; die Musik kann mich dann am schönsten retten. [... ] Nach Heidelberg hab’ ich etliche frankirte Briefe zu schicken, hab’ keinen Heller zum Porto. Was wird die Welt von mir denken. Mein Klavier ist schrecklich verstimmt, kann noch keinen Stimmer holen lassen etc. etc. Selber zum Erschießen fehlt Geld und Pistole.«
»Etwas Ernst ist in dem Spaß«, geht es im Brief weiter;22 und das wird man dem Schreiber abnehmen, wenn man bedenkt, dass sich die ältere Schwester Emilie fünf Jahre zuvor, 1825, tatsächlich das Leben genommen hat. Dass Schumann 1836 dem Begräbnis der Mutter fernbleibt, die ihm in seinen Träumen zuvor immer wieder »wie warnend oder erzürnt« erschienen ist,23 sollte man als Geste der Distanzierung oder als Zeichen von Überforderung nicht überbewerten, vielleicht sogar als Akt der letztendlichen Emanzipation zu würdigen wissen: Gerade in diesen Tagen ist er mit Clara in Dresden verabredet, der er danach, am 13. Februar 1836, schreibt: »Mein heutiger Tag war von mancherlei bewegt - ein offenes Testament meiner Mutter, Erzählungen von ihrem Sterben. Hinter allem steht aber Dein blühendes Bild«.24
Da sucht er bei der damals Sechzehnjährigen jenes Gefühl von Heimat, das ihm das Elternhaus nicht mehr vermitteln kann - ein Elternhaus, das ihm auf der anderen Seite ausgezeichnete Entwicklungsmöglichkeiten geboten hat. Es gibt keinerlei Geldsorgen, die Mutter singt, und der Vater fördert Roberts Musikbegabung, die sich neben dem Hang zur Poesie schon früh bemerkbar macht, nach Kräften. Nachdem er in jungen Jahren das Lied »Schöne Minka, ich muss scheiden« zur Begeisterung der Mutter »mit weicher herrlicher Betonung und richtigem Takt« gesungen hat,25 bekommt er als etwa Siebenjähriger beim Organisten Johann Gottfried Kuntsch Klavierunterricht. Auf dem Violoncello und der Querflöte unterrichtet ihn zeitweilig der Stadtmusiker Carl Gottlieb Meißner.
Geht es dabei auch nicht ohne Übedisziplin ab, so hat Schumann doch genug Gelegenheit zu seiner musikalischen Lieblingsbeschäftigung, dem Fantasieren am Klavier. Seine berühmte Rezension von Hector Berlioz’ Symphonie fantastique aus dem Jahr 1835 eröffnet er mit der Erinnerung an eine Szene aus der »frühesten Kindheit«. Da habe er sich »um Spätmitternacht, wo schon alles im Hause schlief, im Traum und mit verschlossenen Augen an sein altes, jetzt zerbrochenes Clavier geschlichen und Accorde angeschlagen und viel dazu geweint«. 26
Dichtung oder Wahrheit? Jedenfalls muss sich Schumann nicht mit der intimen Selbstaussprache am Klavier begnügen, hat vielmehr auch reichlich Gelegenheit zur Teilnahme am Zwickauer Musikleben. Dort gibt es die evangelische Kirchenmusik, die Regimentsmusik und ein Theater, in dem in unregelmäßigen Abständen Opernaufführungen stattfinden. So besucht der junge Schumann 1823 eine Vorstellung von Webers Freischütz, mit der das Theater im Zwickauer Gewandhaus eingeweiht wird. Darüber hinaus dürfte er sich für die Abonnementskonzerte im Veranstaltungssaal des Däumlerschen Hauses und die Freiluftkonzerte bei den sogenannten Bergkellern interessiert haben. Derlei Darbietungen sind vermutlich weder üppig besetzt noch perfekt, jedoch gut genug gewesen, um einem Jungen ein ausreichendes Maß an musikalischer Anregung zu bieten.
Als Elfjähriger begleitet Schumann stehend am Klavier eine öffentliche Aufführung von Friedrich Schneiders Erfolgsoratorium Das Weltgericht in der Zwickauer Marienkirche. Vom gleichen Jahr 1821 an tritt er regelmäßig im Rahmen der »Musikalisch-declamatorischen Abend-Unterhaltungen« des in Zwickau »Lyceum« genannten Gymnasiums auf: Beim ersten Mal spielt er zusammen mit einem Mitschüler Klaviervariationen zu vier Händen von Pleyel; bis zum Jahr 1828 arbeitet er sich zu Kalkbrenners virtuosem Klavierkonzert op. 1 vor.
1822 komponiert Schumann, angeregt durch seine Mitwirkung beim Weltgericht, einen 150. Psalm für größere Besetzung - seine erste vollständige Komposition überhaupt. In einer Tagebuchnotiz von 1846 heißt es dazu: »ich schäme mich beinahe, wenn ich ihn jetzt ansehe; es fehlten mir alle Kenntniße, ich schrieb ihn eben wie ein Kind; aber auch ohne alle Anregung von Außen«.27 Nicht zuletzt um sich solche Kenntnisse zu verschaffen, gründet er 1823 ein Schülerorchester, das im väterlichen Hause Konzerte veranstaltet und sich dabei des Notenmaterials bedient, welches Schumann über die Buchhandlung seines Vaters bestellen darf. In einer unter dem Titel Blätter und Blümchen aus der goldenen Aue angelegten Textsammlung, in der Schumann Rechenschaft über seine junge Künstlerexistenz ablegt, hält er unter der Überschrift »Musikalische Notizen« fest:
»Am 7ten Decemb: [1823] wurde bey mir die erste musikalische Abendunterhaltung unter Leitung der Directoren: Robert Schumann und Carl Praetorius gehalten.« Am Anfang steht eine Sinfonie für Streicher, Hörner und Flöten von Ernst Eichner; Schumann notiert gewissenhaft die Namen der Ausführenden und fügt hinzu: »Dieses Stük, obgleich ein bischen altväterisch ging doch sehr gut und ohne Fehler«. Die als Programmpunkt Nummer 7 dargebotenen Variationen für Klavier und Flöte von Wilms kommentiert er mit den Worten: »eine herrliche Komposition; stets tändelnd ohne Steifheit; vortrefflich spielt sie aber Hoffmann auf der Flöte; sein Ton ist klar, hell, fein und deutlich; sein Tact fest herzhaft gut; die Cadenzen ohne Tadel. Ich möchte fast sagen, daß es um diesen Mann schon schade sey, daß er nicht einen anderen Lehrer habe«.28
Kein Zweifel: Der dreizehnjährige Schumann ist nicht nur Musiker, sondern von vornherein auch Kritiker - und fast mehr noch Literat und Dichter. Blätter und Blümchen enthält demgemäß neben Notizen zu musikalischen Ereignissen auch eine Vielfalt von literarischen Formen. Neben Gedichten und dem dramatischen Versuch Der Geist gibt es zwei Naturschilderungen und eine Reisebeschreibung in Form fiktiver Briefe, »Sprüche von griechischen und lateinischen Klassikern«, Stammbuchverse, Widmungen und Aphorismen, Auszüge aus Zeitungsartikeln und aus Christian Friedrich Daniel Schubarts Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, eine Übersicht über Versmaße und ein Verzeichnis der »Biographien berühmter Tonkünstler«. Natürlich will auch Schumann selbst möglichst bald berühmt werden; also schreibt er sich einen Pressebericht über den ein Jahr älteren - und bereits berühmten - Mendelssohn wortwörtlich für Blätter und Blümchen ab.
Man kann darüber schmunzeln, wenn der Dreizehnjährige seinem Trauerspiel Der Geist die Überschrift gibt: »Des Mörders Ottos Abschied von der Welt. Vom Blutgericht herabgesprochen zu Schwarzenberg am Tage seiner Hinrichtung am 27. Nov. 1823«; denn dieses Datum gilt nicht etwa dem fiktiven historischen Ereignis, sondern dem Tag, an dem Schumann die Szene niedergeschrieben oder vor wem auch immer deklamiert hat. Und man mag auch amüsiert registrieren, dass in dem nachfolgenden Gedicht das Echo so manchen literarischen Vorbilds widerhallt:
Einst wenn die Abendröthe des schönen Lebens ist. O euch ihr Menschen wünsch ich des Lebens lange Frist Dieweyl ihr seyd zum Segen Der Menschen auserkoren. Doch wenn ihr auch vergehet So lebt ihr immer fort. Im blauen Himmelsraume Dort wo die Frommen sind.29
Doch wesentlich ist nicht die Frage, wie hoch das Niveau dieser und anderer literarischer Schöpfungen des jungen Schumann über einem imaginären »Durchschnitt« liegt; denn sicherlich hat es damals wie heute auch andere Dreizehnjährige gegeben, die auf diesem Feld Erstaunliches leisten. Faszinierend ist etwas anderes, nämlich die Energie, mit der der Junge an dem Lebensentwurf arbeitet, der ihm vor Augen steht: Er will ein genialer Künstler werden. Dieses Selbstbild trägt einerseits Züge von Dekadenz, die der Schulfreund Emil Flechsig aus der Distanz von einem halben Jahrhundert möglicherweise übertreibt, wenn er sich erinnert, dass Schumann »schon zu früher Jugend eine wahnsinnige Vorliebe für geniale Menschen erfüllte, die in ihrem Schaffen sich selbst zerstören; Lord Byron war früher schon mit seinen Extravaganzen ihm ein hohes Ideal und namentlich dessen wildes, sich selbstzerwühlendes Leben erschien ihm als etwas unendlich Großes; Sonnenbergs - des ›Donatoa‹-Dichters - phantastisches Leben und Selbsttötung in Jena imponierte ihm gewaltig, von Hölderlins fast vierzigjährigem geistigen Nachtleben wußte er schon in den 20er Jahren und sprach davon mit seltener Ehrfurcht; Beethovens struppiges Haar über dem verdüsterten Antlitz war ihm das echte Künstlergesicht, das er fast nachzuahmen liebte«.30
Dieses Selbstbild ist andererseits - darauf kommt es hier an - von dem Bewusstsein geprägt, dass nicht Größenfantasien, so produktiv sie sein mögen, eine Karriere als Künstler gewährleisten, dass es vielmehr unermüdlichen Bildungsstrebens und Fleißes bedarf. Wenn sich der erwachsene Schumann so lange der zerstörerischen Kräfte, die er in sich trug, erwehren konnte, so liegt dies nicht zuletzt daran, dass er sich schon früh - und unzweifelhaft nach dem Vorbild des Vaters - ein Selbstbild erarbeitet hatte, in dem planmäßige und systematische Tätigkeiten als Dämme gegen Angstüberflutungen fungieren. Demgemäß schreibt der junge Schumann nicht nur Gedichte, sondern er fertigt auch eine genaue Liste dieser Gedichte an - gleichsam sein erstes Werkverzeichnis. Und er schwärmt nicht nur von Genies, sondern darf dem Vater schon als Vierzehnjähriger bei dem Projekt einer »Bildergalerie der berühmtesten Menschen aller Völker und Zeiten« helfen.
Von diesem Zeitpunkt an verstärken sich Schumanns literarische Ambitionen, scheinen die musikalischen sogar ein wenig in den Hintergrund zu drängen. Zugleich verlagert sich der Akzent vom mehr oder weniger naiven Dichten und theatralischen Fantasieren auf die Beschäftigung mit dem aktuellen literarischen Diskurs. Im Dezember 1825 gründet er gemeinsam mit zehn Mitschülern einen »Litterarischen Verein«, welcher der »Einweihung in die deutsche Litteratur« dienen soll. Das im Wesentlichen von ihm selbst geführte Protokollbuch verzeichnet bis zum Abiturjahr 1828 insgesamt 30 Lese- und Diskussionsabende, die unter anderem die Dramen Schillers, aber auch Friedrich Schlegels Abhandlung »Ueber altdeutsche Litteratur« und Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation zum Thema haben.
1826 legt sich Schumann ein erstes Heft Deutsche Aufsätze an, das von Nr. I (»Betrachtung, von einer schönen Gegend um Zwikau geschrieben«) über Nr. IV (»Ueber die Zufälligkeit und Nichtigkeit des Nachruhms«), Nr. VI (»Resignation der Ariadne auf Naxos«) und Nr. VII (»Rede ueber die innige Verwandtschaft der Poesie und der Tonkunst«) bis zu Nr. XV (»Warum bey den Römern die Tragödie nicht gedeiht?«) reicht. Da es sich dabei um eine Auswahl seiner regulären Schulaufsätze handelt, wird deutlich, dass es für den Pennäler Schumann in diesem Bereich keine Trennung zwischen Pflicht und Neigung gibt.
Zwar stehen auf dem Programm des »Litterarischen Vereins« gelegentlich auch Romantiker, doch vor allem in seiner Privatlektüre entfernt sich Schumann von dem Bildungskanon des Gymnasiums. Die persönlichen Vorlieben gelten E. T. A. Hoffmann, Ludwig Tieck und Jean Paul. Dessen Flegeljahre werden ab 1827 erklärtermaßen zu Schumanns »Bibel«; in den Hottentottiana - so nennt er sein Studententagebuch - heißt es ein Jahr später: »Ich fragte mich oft, wo ich seyn würde, wenn ich Jean Paul nicht gekannt hätte«.31
Das erweitert den vom Gymnasium vorgegebenen Klassikkanon - den Schumann sehr ernst nimmt - doch erheblich: So leidenschaftlich, wie sich junge Leute des »Sturm-und-Drang«-Jahrzehnts mit Goethes Werther identifiziert hatten, begeistert sich die Avantgarde der Schumann-Generation - leicht zeitversetzt - für Jean Pauls Vexiergestalten Vult und Walt, E. T. A. Hoffmanns genialischirren Kapellmeister Kreisler oder die der Romantik anverwandelten Märchengestalten aus Ludwig Tiecks Phantasus. Da ahnt man sie bereits: die »junge, dichterische Zukunft«, von der noch ausführlich die Rede sein wird.
Doch erst lassen wir Robert Schumann am 15. März 1828 sein Abiturexamen bestehen. Dieses dürfte problemlos über die Bühne gegangen sein, zumal an sächsischen Schulen eine wirkliche »Reifeprüfung« erst 1830 gesetzlich eingeführt wird. Wegen schwächerer Leistungen in Mathematik verdirbt sich Schumann zwar die Höchstnote 1a, jedoch verlässt er die Schule mit persönlichen Empfehlungen des Rektors Hertel, bei dessen Neuausgabe des großen Lexicon totius latinitatis von Forcellini der Abiturient mitwirken darf und muss. Das bedeutet »tüchtig mit korrigiren, excerpiren, aufschlagen, die Grüterschen Inscriptionen durchlesen«; doch auch »mancher Pfennig fließt mehr in die Tasche«.32 Bei der öffentlichen Verabschiedungszeremonie trägt er sein auf ein horazisches Odenmetrum geschriebenes Gedicht »Tasso« vor - und damit seine letzte deutsche Arbeit in der Oberprima: »Dämmernd ruhte der Tag, und in die versilberten / Abendwolken entfloh lächelnd der Himmelsschwan«; so beginnt es, und angeblich ist Schumann bei dem Vortrag, der auswendig zu geschehen hatte, stecken geblieben, ohne darüber jedoch im Geringsten irritiert zu sein.
Bei aller Neigung zum hohen Stil kennt Schumann auch das Genre der Parodie. So persifliert er ein Vierteljahr nach seiner Abiturprüfung - vielleicht beflügelt von den neuen Freiheiten, die das Studentenleben mit sich bringt - Goethes »Erlkönig«:
Was raspelt es dort in den Spänen Vater, mir ist so schwül. Das Kind weinte bittere Thränen Weinte der Thränen zu viel.
Sey ruhig, mein Kind, in den Spänen Naget wohl eine Maus. Der Vater weint selber Thränen Es ward ihm selber so graus.33
Kein Meisterwerk, aber geeignet als Hinweis auf einen vergnügten und lebensbejahenden Schumann, der auch noch mit einem Brief zu Wort kommen soll, den er am 1. Dezember 1827 dem Freund Flechsig schickt. Dort ist die Rede von einer Landpartie nach Schneeberg, wo die fidele Gesellschaft in einem Wirtshaus die einheimischen Gäste unterhält. Man singt Burschenlieder, deklamiert auf Wunsch eines dicken Bauern Schillers »Handschuh«, den Schumann später einmal vertonen wird. Er selbst setzt sich ans Klavier: »Ich phantasirte frei zum Fridolin [von Schiller]: die Bauern sperrten das Maul auf, als ich so trunken über die Tasten wegfuhr. - Als auch diese vorbei war, ward ein fideles Tänzchen veranstaltet: wir schwenkten die Bauernmädchen nach Noten«. Freilich wird das Erlebnis umgehend literarisiert und als »eines van Dyk würdig« eingeordnet.34
Besonders wohl dürfte sich Schumann im Haus des Zwickauer Geschäftsmannes Carl Erdmann Carus gefühlt haben; hier ist er wegen seiner Beiträge zur Hausmusik, die ihm unter anderem die Streichquartettliteratur der Wiener Klassik nahebringt, ein gern gesehener Gast. 1827 lernt er dort die Arztgattin Agnes Carus kennen, verliebt sich alsbald unsterblich in sie und schickt ihr lange poetische Ergüsse. Zuvor hat er Nanny Petsch und Liddy Hempel umworben. »Drei Göttinnen standen in meinem Traumolymp: Agnes im Vordergrunde, Nanni im Mittelgrunde und Liddy im Hintergrunde, was fast doppelsinnig klingt«, kann er demgemäß in seinen Jünglings-wallfarthen schreiben.35
Dass man dem jungen Schumann nicht gerecht würde, wenn man ihn nur als Bücherwurm oder als einen in seine Kunstinteressen versponnenen Eigenbrötler ansähe, zeigt ferner auch sein Interesse an der Politik. Von dem Vierzehnjährigen verlangt sein Rektor in einer hochnotpeinlichen und sorgfältig protokollierten Befragung zu wissen, ob ihm etwas von einer geheimen Schülerverbindung bekannt sei. Da der Vorgang, um den es geht, in das Jahr 1821 zurückreicht, kann Schumann dies plausibel verneinen. Indessen wird ihm auf diese Weise schon früh vor Augen geführt, was Denunziation und Demagogenverfolgung konkret bedeuten.36 Vermutlich hat Schumann seine lebenslangen politischen Ambitionen, so vage diese manchmal gewesen sein mögen, vom Vater »geerbt«. Dieser wählt als Frontispiz für den Jahrgang 1819 seiner Erinnerungsblätter für gebildete Leser ein Porträt des Studenten Karl Ludwig Sand, der kurz zuvor durch seinen politisch motivierten Mord an dem als reaktionär eingestuften Schriftsteller August von Kotzebue Aufsehen erregt hat. Der junge Robert kann Sands Bildnis außerdem im Salon seines Elternhauses hängen sehen.
Frontispiz: Robert Schumann, Lithografie von Gustav Feckert (nach einer Zeichnung von Adolph von Menzel)
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Erste Auflage
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Lektorat: Fritz Jensch, München Notensatz: Georg Allescher, München
eISBN : 978-3-641-04721-4
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