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Der letzte Tag vor den Sommerferien: Sibel Akman ist kurz davor durchzudrehen. Ihre Lehrerkollegen und Schüler tanzen ihr auf der Nase herum, ihre türkische Familie hält sie für eine Versagerin, weil sie immer noch nicht verheiratet ist, und ihr Freund betrügt sie. Grund genug, endlich allen zu zeigen, was in ihr steckt – am meisten sich selbst. Als sich ihr Bruder ein Bein bricht, sieht sie das als Zeichen und übernimmt spontan seine Kurierfahrt von Berlin nach Istanbul – allerdings ohne zu ahnen, wie sehr dieser Trip ihr Leben verändern wird. Und das nicht nur, weil sie ihre pikante Lieferung sicher ans Ziel bringen muss: eine Europalette voller Sexspielzeug ...
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Seitenzahl: 264
Buch
Es ist der letzte Tag vor den Sommerferien, und Sibel Akman ist kurz davor durchzudrehen: Ihre Lehrerkollegen und Schüler tanzen ihr auf der Nase herum, ihre türkische Familie hält sie für eine Versagerin, weil sie immer noch kein Kind hat, und ihr Freund Florian betrügt sie mit einem Azubi-Weibchen mit Barcode-Tattoo im Nacken und dem Body-Mass-Index eines Schilfrohrs. Grund genug, auszubrechen und endlich zu beweisen, was alles in ihr steckt – am meisten sich selbst!
Sibel übernimmt eine Kurierfahrt von Berlin nach Istanbul, ohne zu ahnen, wie sehr dieser Trip ihr Leben verändern wird. Skurrile Truckerkollegen, ein griechischer Tramper und eine böse Überraschung erwarten sie auf dieser ungewöhnlichen Reise zu sich selbst. Und dann ist da noch ihre Lieferung, die sie sicher ans Ziel bringen muss – eine Europalette mit zwanzigtausend Travelpussys …
Informationen zu Tim Boltz und weiteren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
TIM BOLTZ
Fernverkehr
Ein Roadmovie-Roman
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1. Auflage
Originalausgabe April 2017
Copyright © 2017 by Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Umschlagfoto: FinePic®, München
Redaktion: Gerhard Seidl
BH ∙ Herstellung: Str
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-19605-9V001
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
»Es kommt für jeden der Augenblick der Wahl und der Entscheidung: Ob er sein eigenes Leben führen will, ein höchst persönliches Leben in tiefster Fülle, oder ob er sich zu jenem falschen, seichten, erniedrigenden Dasein entschließen soll, das die Heuchelei der Welt von ihm begehrt.«
Oscar Wilde
Prolog
Ich habe nichts gegen Kinder – jedenfalls nichts Wirkungsvolles …
Mein Name ist Sibel Akman. Und nein, es ist nicht so, dass ich Kinder prinzipiell nicht leiden könnte. Ich mag Kinder, ganz ehrlich. Ich will sogar selbst welche haben … irgendwann mal … vielleicht. Meine partielle Abneigung begrenzt sich vielmehr auf eine ganz spezielle, kleine Auswahl des menschlichen Nachwuchses. Genauer gesagt auf die Schüler der Ernst-Reuther-Gesamtschule von Steglitz. Oder noch genauer: meine fünfte Klasse.
Es scheint nämlich, dass sich die dümmsten und unfähigsten Personen der ganzen Stadt lediglich mit der Absicht gepaart hätten, um mir ihre missratene Brut in den Unterricht schicken zu können. Alles nur, um mich fertigzumachen. Ich unterrichte in der Klasse Deutsch und Sport. Wobei der Deutschunterricht seinem Namen nicht ansatzweise gerecht wird und der Sportunterricht sich eher darauf beschränkt, dass alle Schüler mehr oder weniger unversehrt die nächste Schulstunde erleben und sich der präpubertäre Schweißgeruch für den Folgeunterricht in nicht meldepflichtigen Grenzen hält. Der Sportunterricht in deutschen Schulen gleicht mittlerweile mehr einer Art Bewegungstherapie auf dem Niveau einer Kindergartengruppe. Es wird sich behäbig von links nach rechts und zurück bewegt. Für richtige Sportspiele ist das Verletzungsrisiko zu hoch, und an Turnen ist erst gar nicht zu denken. Wie auch? Der Großteil der Sportgeräte fristet seit ewigen Zeiten ein unbeachtetes Dasein hinter den schlecht vertäfelten Rolltoren der Turnhalle. Das Reck reckt sich schon lange nicht mehr, in den Blechschränken liegen sich nach Leder riechende Medizinbälle aneinander wund, und das Trampolin wurde in diesem Jahrtausend auch noch nicht besprungen. Hinzu kommt, dass wohl kein Einziger aus dem Lehrerkollegium dieses Monstrum an Metallverstrebungen, Federn und Matten fachgerecht aufbauen könnte. In der restlichen Turnhalle sieht es auch nicht viel besser aus: Längst vergessene Taue hängen wie Relikte aus Nachkriegsjahren von der Decke. Urzeitliche Lianen, an denen zuletzt wohl die arische Jugend des Dritten Reichs die drahtigen Körper für den Führer stählte. Direkt daneben baumeln die Ringe wie unwiederbringlich ineinander verwoben. Ringe, von denen man nicht weiß, ob sie nicht zu Staub zerfallen würden, wenn man sie denn wirklich mal mit den Händen greifen würde.
Aber niemand greift.
Man ignoriert.
Alle ignorieren.
Ich genauso wie meine Schüler.
Aber ganz ehrlich, wundert das irgendwen? Wir leben im 21. Jahrhundert und sollen unsere Kinder mit Leibesübungen quälen, die uns Erwachsene selbst nicht im Entferntesten jucken? Hand aufs Herz, welcher Volljährige hat sich jemals bei dem Gedanken ertappt, doch mal wieder eine schöne Kür an Ringen zu schwingen? Dennoch findet sich diese altertümliche Turnübung durchaus im Lehrplan.
Ringe.
Dass ich nicht lache! Man stelle sich das nur vor: Ringe! Die meisten Kinder schaffen es nicht mal, ein halbwegs erkennbares Rad zu schlagen, geschweige denn ihr eigenes Körpergewicht an Ringen zu halten.
Ringe?
Neunzig Prozent der Schüler würden sich direkt den kompletten Arm aus dem Torso reißen, wenn man ihre Leiber da ranhängen würde.
Ringe!
Ringe kennen meine Schüler maximal aus Der Herr der Ringe oder als Schlagringe für den Pausenhof – keinesfalls jedoch als Sportgerät. Dieses Bild dürfte sich wohl in beinahe jeder Schulsporthalle des Landes so wiederfinden. Schließlich kann man heutzutage als Sportlehrerin froh sein, wenn sich beim Bockspringen niemand die Schulter auskugelt oder beim Völkerball nur eine der kleinen frühmenstruierenden Prinzessinnen theatralisch mit einem Kreislaufkollaps zusammenbricht. Aber so ist es heutzutage nun mal: Jeder Schüler und jede Schülerin kann dir ohne Probleme in wenigen Sekunden via Internet den neuesten Kinofilm über ein verbotenes Videoportal in Kasachstan saugen, aber keinen einzigen Purzelbaum auf die Matte bringen.
Und zweiunddreißig dieser Premiumprodukte sitzen jeden Tag vor mir. Wobei ich mich jeden Morgen neuerlich darüber wundere, dass sie unfallfrei den Weg vom Schultor bis in den Klassenraum finden und ihn nicht über Nacht vergessen haben. Kann aber auch alles nur dem Herdentrieb geschuldet sein, der sie alltäglich ins Klassenzimmer strömen lässt. Und nein, ich übertreibe nicht! Meine Kollegen nennen meine Klasse schon den Guantánamo-Jahrgang, weil es so hoffnungslos und aggressiv zugeht wie in dem US-Militärgefängnis auf Kuba. Zu meinem letzten Geburtstag hat mir die nette Kollegenschaft einen Karton Baldriantropfen und eine kugelsichere Weste aus dem Army-Shop geschenkt. Das bedarf keiner weiteren Erklärung!
Ich erinnere mich gut an das letzte Jahr, als die Klassen neu eingeteilt wurden. Niemand wollte die 5b unterrichten, mich eingeschlossen. Unsere Rektorin, Frau Westenberger, fragte mich schließlich dennoch. Mein Innerstes schrie laut Nein, doch aus meinem Mund kam ein Ja. Welch unfassbares Weichei ich doch bin. Ich weiß, Frau Westenberger mag mich nicht. Ich mag sie ja auch nicht. Doch vielmehr mag ich es nicht, dass sie mich nicht mag. Ich versteh das nicht, was kann man schon groß gegen mich haben? Ich bin doch so unauffällig, dass man mich erst einmal bemerken müsste, um mich nicht leiden zu können. Und wer tut das schon?
Schon als Kind konnte ich es nicht verstehen, wenn man mich nicht mochte. Dann habe ich immer extra was mit den Mädchen unternommen, die mich ärgerten und hänselten, um sie umzustimmen, sie zu überzeugen, dass ich eigentlich doch ganz okay bin – und das, obwohl ich sie selbst nicht ausstehen konnte. Ein gewisser Masochismus ist mir also wohl nicht abzusprechen. Und so gewann ich neben dem Zuschlag für meine Armageddon-Klasse weder Frau Westenbergers Zuneigung noch einen Funken Respekt vor mir selbst. Wieder einmal hatte ich es geschafft, mich kleinzumachen. Nicht aufzufallen oder anzuecken. Meine restlichen Kollegen lächeln mich immer noch zynisch an, wenn es um meine Klasse geht. Und dann diese heuchlerischen Ansagen.
Sibel, du bist die beste Lösung für diese Klasse. Du bist doch auch altersmäßig noch am nächsten dran. Und türkisch kannst du auch noch!
Ich bin neunundzwanzig Jahre alt! Soll ich mich mit den Jungs der Klasse nach der Schule über deren erste Samenergüsse oder die neuesten Gerüchte aus der BRAVO unterhalten? Gibt’s die eigentlich noch? Also nicht die Samenergüsse … die BRAVO. Und selbst wenn ich noch rudimentäres Türkisch spreche, was bringt mir das? Die paar Schüler in der Klasse, die Türkisch verstehen, sprechen diese Sprache sogar noch schlechter als ich, weil sie wie ich ebenfalls in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Die Begründung meiner Kollegen ist also ebenso schwach wie der Notenschnitt meiner Schüler. Aber da ich neben dem Mäuschen-Dasein zu allem Überfluss auch noch die großartige Gabe besitze, mich vor unangenehmen Diskussionen zu drücken, werde ich auch kommendes Schuljahr dieses Rudel in Deutsch und Sport unterrichten und manchmal auch in allen anderen Fächern, wenn wieder mal eine meiner Kolleginnen ganz plötzlich krank geworden ist. Was seltsamerweise nur beim Unterricht für meine Klasse regelmäßig vorkommt.
Und ich?
Ich halte brav den Mund.
Nicke alles stillschweigend ab.
Still ist mein zweiter Vorname.
Sibel »Still« Akman.
Ich hasse mich dafür.
Diese Schwäche, zu ängstlich zu sein, um sich auf die Hinterbeine zu stellen und »Nein« oder »Ich« zu sagen. Ich sollte mir vielleicht mal ein Beispiel an Herrn Deisenbach nehmen. Ein angesehener Kollege jenseits der Pensionsgrenze. Er unterrichtet rein aus Spaß noch Geschichte und Mathematik. Und dieses alte Schlachtross unterstreicht seine Autorität dadurch, dass er sich zu Beginn jedes Schuljahrs in einer neuen Klasse und der ersten aufkommenden Unruhe vor versammelter Mannschaft einen Zirkel mit der Spitze ins Bein rammt. Dann ist schlagartig Ruhe in der Klasse. Unkonventionell, aber wirkungsvoll und zielführend. Gut, man muss vielleicht dazu sagen, dass Herr Deisenbach ein Holzbein hat und dieser Effekt nach dem erstmaligen Anwenden deutlich an Wirksamkeit einbüßt. Und die Schüler sind wohl auch traumatisiert und haben eher Angst als Respekt. Aber immerhin besitzt er ab diesem Tag eine gewisse Autorität bei den Schülern. Ich besitze weder ein Holzbein noch Autorität und muss daher auch weiterhin mit klassischer Pädagogik arbeiten.
Oder ich beginne endlich mal damit, mich durchzusetzen.
Oder die Erde ist doch nur eine Scheibe.
Kapitel 1
Es ist Juli. Kein außergewöhnlich guter Juli. Nicht einmal ein durchschnittlicher. Doch der Juli passt zu mir. Die Erwartungen an ihn sind stets hoch, man mag ihn, doch eigentlich wartet nur jeder darauf, dass der noch heißere August endlich kommt, um dem Juli die Show zu stehlen. Mein Leben ist genau wie der Rhythmus dieser Monate. Ja, ich bin Juli. Niemand hat was gegen mich, aber irgendwie wartet man doch stets nur auf was Besseres. Ich bin der Juli. Und manchmal sogar nur der April.
Heute ist der letzte Tag vor den langen Schulferien. Wie schön, denn ich gehe bereits seit Februar auf dem pädagogischen Zahnfleisch. Immerhin, es sind nur noch wenige Augenblicke bis zu den langersehnten Sommerferien. Es existiert ein Licht am Ende meines Tunnels, und ich bete, dass es kein Zug ist, der auf mich zurollt. Wenigstens ein paar Wochen Erholung, bevor es dann wieder hierher zurückgeht – in die Kupfermine von Steglitz. Um zu buckeln und meine Seele zu verkaufen. Aber heute ist mir das noch egal. Ich bin ganz ruhig. Selbst die Tatsache, dass mir in der großen Pause Orhan hinter einer Säule aufgelauert hat, um dann mit einem gezielten Tritt auf sein Kakao-Trinktütchen das Ganze zum Platzen zu bringen, sodass mein heller Leinenrock nun aussieht, als ob ich einen aggressiven Magen-Darm-Virus hätte, bringt mich nicht aus meinem Yin-und-Yang-Takt. Ich bin ganz ruhig. Ich bin schließlich der Juli.
Seit Beginn der letzten Schulstunde habe ich meinen Kopf nur sehr selten gehoben, denn ich will gar nicht sehen, mit welchem Schwachsinn die Bande heute meinen Unterricht boykottiert. Eigentlich weiß ich es auch so, ohne aufzuschauen, da es ein immer wiederkehrendes Phänomen in einer Endlosschleife ist. In der ersten Reihe spielen Igor und Lennox Schiffe versenken und denken, dass ich es nicht bemerken würde. Doch der kleine Russe und sein halbamerikanischer Tischnachbar versenken ihre Schiffe so dermaßen auffällig, dass es mich wundert, wie ihre Urgroßväter jemals den Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gewinnen konnten. Dahinter daddelt Emily auf ihrem Handy herum, das sie von ihrem schnöseligen Vater geschenkt bekommen hat, damit Prinzesschen auf den hundertfünfzig Metern zwischen Bushaltestelle und Haustür nicht im Großstadtdschungel verloren geht. Karla bohrt mit einer erstaunlichen Ausdauer in ihrer Nase, während ganz hinten in der letzten Reihe Mo und Orhan versuchen, sich gegenseitig in die Hoden zu schlagen. Nur Swenna, die einzige Streberin in der Klasse und Tochter des Abteilungsleiters beim Dänischen Bettenlager in Neukölln, sitzt allein an ihrem Tisch neben den Heizkörpern und schreibt fleißig in ihr einwandfrei geführtes Schulheft. Der Rest tut ebenfalls so, als ob er tatsächlich meiner gestellten Arbeitsaufgabe nachgehen würde: einen Aufsatz über ihre Wünsche für die Ferien niederzuschreiben.
Sie tun es nicht.
Ich weiß es.
Allerdings sollte ich mich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Viel besser bin ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich tue so, als ob ich Arbeiten korrigieren würde, tatsächlich schreibe ich aber die Einkaufsliste für meinen Neffen Cem, der morgen seinen achten Geburtstag feiert.
Ein Blick auf die Uhr bedeutet mir, dass es auf die Zielgerade geht. Endlich! Ich richte mich auf, rücke mir die Brille auf der Nase zurecht und schweiße mir das realistischste Grinsen ins Gesicht, welches ich in diesem Schuljahr noch hervorbringen kann. Dann hebe ich den Kopf und klatsche wichtigtuerisch in die Hände.
»Also gut, Kinder. Die Zeit ist um. Wer will beginnen?«
Von rechts zuckt eine einzige Hand neben den Heizkörpern empor. Swenna! War ja klar. Ihr Schleimen ist mir fast noch unangenehmer als die Ignoranz ihrer Mitschüler. Ach, was soll’s, denke ich mir. Soll sie sich halt wieder um Kopf und Kragen reden und sich ein für alle Mal aus der Klassengemeinschaft heraus ins Abseits schießen.
»Möchtest du beginnen, Swenna?«
Das blonde Mädchen nickt aufgeregt, sodass links und rechts an ihrem Schädel die beiden wie festgetackerten Zöpfe wie zwei Lianen zu schwingen anfangen. Sofort beugt sie sich über ihr Heft.
»In meinen Ferien möchte ich meiner Mutter bei der Hausarbeit helfen. Ich habe ihr auch ein Gedicht geschrieben mit dem Titel ›Die beste Mutter der Welt‹ …«
Die anderen stöhnen genervt auf oder kichern. Man kann es ihnen nicht verdenken. Manche Schüler schreien geradezu danach, gemobbt zu werden, und Swenna ist das goldene Ross, welches für alle gut sichtbar der Mobbingarmee entgegenreitet. Ständig verfasst sie Gedichte, die Lobeshymnen gleichkommen. Lobeshymnen über ihren Vater, die Mutter, die Großeltern oder ihren Roborowski-Zwerghamster Dschingis Khan. Alle wurden von ihr schon zu Tode gelobt.
»… außerdem werde ich meinem Vater ein Bild malen und zu seinem Geburtstag einen Kuchen backen. Schmand-Mandarine, den mag er am liebsten, dazu noch ein Gedicht mit dem Titel: ›Der beste Papa der Welt‹ …«
Ob ich ihren Vater im Dänischen Bettenlager anrufen und vorwarnen sollte? Nein, ich lasse ihn in das Schmand-Mandarinen-Massaker hineinlaufen. Das ist schließlich Familiensache.
»… am meisten freue ich mich aber darauf, dass wir unsere Oma besuchen werden. Sie lebt in Hamburg, und ich habe ihr ein Gedicht mit dem Titel ›Die beste Oma der Welt‹ geschrieben und das geht so …«
Ich glaube, ich muss kotzen!
Schnelles Handeln ist nun gefragt.
»Okay, danke Swenna. Das hat doch viel Schönes …«
Die Lianenzöpfe stoppen in ihrem Schwingen, und von der Heizkörperseite des Klassenzimmers schaut mich ihr kreisrundes Kindergesicht überrascht an.
»Aber ich habe doch noch gar nicht angefangen. Ich wollte noch das Gedicht vorlesen. Ich habe übrigens auch eins für Sie geschrieben, Frau Akman. Es heißt ›Die beste Lehrerin der Welt‹ und es handelt …«
»Tatsächlich? Das ist … äh … sehr nett von dir«, unterbreche ich sie erneut, um sie vor den drohenden Schmähungen ihrer Mitschüler zu bewahren. Ich nehme die Brille kurz ab und schaue ihr ebenso ernsthaft wie bemüht in die Augen. »Das hören wir uns dann nach den Ferien an, okay? Dann haben wir was, auf das wir uns freuen können. Wirklich sehr schön und herzlich, Swenna. Deine Familie wird sich sicher sehr auf die Ferien mit dir freuen.« Schnell setze ich die Brille wieder auf und schaue über die einunddreißig gesenkten Köpfe der restlichen Klasse. »Noch jemand? Orhan vielleicht?«
»Aua«, kommt es aus der hintersten Bank zurück. Mos letzter Genitalschlag scheint ein Volltreffer gewesen zu sein. »Was, Frau Akman?«
»Möchtest du uns nicht deine Wünsche für die Ferien vorlesen?«
»Nä, eigentlich nicht. Ist nicht so spannend wie bei Swenna.«
»Ach, das überlass doch uns, ob wir das genauso spannend finden. Also, bitte …«
»Bitte was?« Orhan schaut mich fragend an, das Gesicht noch immer schmerzverzerrt.
Ich deute zu seinem Arbeitsheft. »Na, fang an. Oder hast du nichts geschrieben?«
»Doch, doch …«
Natürlich weiß ich, dass er nichts zu Papier gebracht hat. Aber ich bin neugierig, wie er sich aus der Situation befreien wird. Man muss ihm ein gewisses Talent zubilligen, dass er sich sehr spontan aus unangenehmen Situationen befreien kann. Das wird ihm bei seiner weiteren Karriere als Kleinkrimineller sicher noch hilfreich sein.
»Na dann. Und nimm dazu bitte die Hände auf den Tisch. Das Gleiche gilt auch für dich, Mo.«
Orhan zögert und wehrt mit einer schnellen Bewegung seines Unterarms noch einen letzten Schlag Mos ab. Dann fängt Orhan an und versucht freiheraus, einen Satz zu bilden. Immerhin. Er versucht, kreativ zu sein. Das ist doch mal was.
»Ich fahre … ähhh, in den Ferien wie jedes Jahr … ähhh … zu meiner Familie nach Istanbul. Dort leben noch meine Großeltern … ähhh … ach ja, und meine Cousins und Cousinen …«
Istanbul, wiederhole ich in Gedanken, während meine Miene in eine Art Stand-by-Modus verfällt. Ja, diese Reisen kenne ich nur allzu gut. Ich erinnere mich an unsere unzähligen Fahrten im Ford Taunus meines Vaters, während Orhan weiter vor sich hin stottert. Einmal quer durch Europa. Vorn meine Mutter Emel, hinten mein Bruder Metin und ich zwischen unzähligen Tüten und Koffern, in denen Geschenke für meine Cousinen und Tanten verstaut waren. Wir Kinder haben uns während der Fahrt immer mit Süßigkeiten vollgestopft, sodass wir spätestens nach hundertfünfzig Kilometern das erste Mal rechts ran fahren mussten, um uns zu übergeben. Mein Vater hat darauf stets geschimpft und beteuert, dass er uns ja gewarnt habe. Ich höre seine bariton-bebende Stimme ganz genau.
Habe ich es euch gesagt? Ich habe es euch immern gesagt.
Das ist sowieso die Stammfloskel meines Vaters, der immer alles vorher gesagt haben will. Und zwar immer mit einem »N« zu viel im Satz und seinem unüberhörbaren türkischen Akzent. Irgendwie vermisse ich diese Zeit und Istanbul. Und meine Eltern. Obwohl ich in Berlin geboren und aufgewachsen bin, besteht eine innige Verbindung zu dieser Stadt am Bosporus. Nur leider ist die Verbindung zu der Stadt mittlerweile weitaus inniger als die zu meinen Eltern. Sie sind vor vier Jahren wieder zurück in die Türkei gegangen, nach Istanbul. Wir haben nur sehr wenig Kontakt, was weniger der Entfernung geschuldet ist als vielmehr der Tatsache, dass ich fast ebenso lange einen deutschen Freund habe. Das allein war für meinen Vater schon ein rotes Tuch. Und als ich ihm offenbarte, dass Florian erst einmal keine Kinder wolle, fühlte er sich vollends bestätigt.
Der Kartoffelmann will kein Kind? Der ist nicht richtige Mann für dich, Sibel. Hab ich es dir gesagt? Ich habe es dir immern gesagt!
Er konnte Florian nie leiden. Und Florian hat auch nicht wirklich etwas dazu beigetragen, dieses schwierige Verhältnis zu verbessern. Das Kinderthema hat meinen Freund dann endgültig in die Verbannung meines Vaters getrieben. Und mich gleich dazu.
»Auaaa!«, reißt mich ein schmerzerfüllter Schrei aus den Gedanken. Weg von Istanbul und direkt zurück in Orhans Unterleib.
»Was ist los?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
Orhan verzieht das Gesicht, während die restliche Klasse pubertär kichert. »Der Mo hat mir einen Kick in die Eier gegeben.«
»Mo«, rüge ich pflichtbewusst und würde am liebsten beiden gerne selbst einen gewaltigen Tritt in ihre Weichteile verpassen. »Könnt ihr nicht wenigstens einmal …«
Das Klingeln der Schulglocke erstickt die weiteren Worte, und die Armageddon-Klasse springt geschlossen auf, um sich unter lautem Getöse wie eine Schar Lemminge durch die Tür zu drängen. Hinaus aus dem Klassenzimmer, hinein in die Ferien.
Ich sacke in meinem Stuhl zusammen, spüre die Lehne an meinem Rücken und atme tief durch. Wieder ein Jahr geschafft. Aber das nächste steht schon wie ein drohendes Gewitter am Horizont bereit und wartet nur darauf, sich über mir zu entladen. Was wird dieses Schuljahr wohl für neue Horrorszenarien für mich bereithalten? Die Jungs werden größer und stärker werden und langsam die Mädchen mit billigen Sprüchen anmachen, die Schiffe von Igor und Lennox werden auch in der 6b versenkt werden, Swenna werden Brüste wachsen, über die sie das Gedicht »Die besten Brüste der Welt« schreiben wird, und Karla endlich einen gewaltigen Popel Nasengold zutage fördern. Mos und Orhans Hoden werden praller und sie werden irgendwann ihr blödes Spiel als zu schwul abtun und es dann hoffentlich komplett einstellen.
Und ich? Ich werde ein weiteres Jahr die kleine Schwester meines Bruders und die belächelte Tochter meiner Eltern sein. Ich werde darauf warten, dass Florian mich endlich fragt, ob wir heiraten wollen, und mir gleichzeitig anhören müssen, dass Hochzeit und Kinder totaler Druck bedeuten und wir besser noch ein Jahr warten sollten. Und ich? Ich werde alles dulden und die Schuld bei mir suchen. Also, alles wie gehabt.
Ich packe meine Tasche, schließe die Tür des Klassenzimmers hinter mir und gehe über den quietschenden Linoleumboden zum Ausgang.
Der letzte Lemming schiebt sich zur Klippe.
Und ich bin bereit zu springen.
Wie jedes Jahr.
Kapitel 2
Ich kümmere mich natürlich wieder einmal um alles. Daher war ich nach der Schule noch in der Stadt, um schnell ein paar Lebensmittel und das Geburtstagsgeschenk für Cem zu kaufen. Und das, obwohl mein Freund mir eigentlich bei den Einkäufen zur Hand gehen wollte. Bepackt wie ein tibetisches Yak einer Himalaja-Expedition schleppe ich mich nun durch das Treppenhaus nach oben. Im dritten Stock überlege ich ernsthaft, vielleicht für die Nacht ein Basislager zu errichten und erst morgen weiterzugehen, um den Gipfel zu erklimmen. Doch mit einer Reinhold-Messner-artigen Verbissenheit kämpfe ich mich Stockwerk für Stockwerk weiter. Mit dem Schlüsselbund zwischen den Zähnen, vollbepackt mit Einkaufstüten und dem Geschenk für mein Patenkind unter den Arm geklemmt, balanciere ich die letzten Stufen hinauf zu unserer Altbauwohnung. Eine sehr schöne Wohnung. Hohe Wände mit Stuck, aber auch fünfte Etage ohne Aufzug. Das macht zwar angeblich einen strammen Hintern, doch wen interessiert eine nicht atrophierte Gesäßmuskulatur, wenn man sich mit fünf Kilo Einkäufen in jeder Hand die Lungen aus dem Brustkorb schnauft? Ein Schwabbelhintern und ein Aufzug, der mir dafür die ewige Schlepperei ersparen würde, wären mir lieber. Wie blöd schießt mir der Schweiß aus den Poren, und der Sauerstoff rasselt mir wie ein altersschwacher Zweitaktmotor in den Lungen, als ich endlich die Tür aufschließe und alles nacheinander in den Flur wuchte: Tasche. Schlüssel. Einkaufstüten. Meinen Restkörper.
»Bin da«, verkünde ich asthmatisch von meiner Ankunft, wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich dies zur eigenen Bestätigung äußere oder um zu hören, ob Florian schon zu Hause ist. Dann rücke ich die Brille zurecht, die mir seit dem ersten Stock von der Nase zu rutschen drohte.
Anstelle einer Antwort kommt jedoch nur ein Brummen als Reaktion aus dem Wohnzimmer zurück. Florian ist also allem Anschein nach schon von seiner Schicht im Krankenhaus nach Hause gekommen und geht seinem normalen Feierabendablauf nach: Die Porzellan-Mopsfiguren seiner Sammlung im Setzkasten abstauben und im Anschluss exzessiv Grand Tourismo 3 spielen! Ein selten bescheuertes Auto-Raserspiel auf der Playstation, bei dem Flo jeden neuen Highscore mit einem kehligen Rülpser adelt. Gibt er sich in der Klinik immer als wahnsinnig eloquent und kultiviert, ist er zu Hause leider oft ein urzeitliches Höhlenwesen. Ein Stoffel mit dem Benehmen eines pubertierenden Teenagers. Manchmal denke ich, er würde auch große Freude daran haben, sich am Hoden-Schlag-Spiel meiner Schüler zu beteiligen. Natürlich habe ich ihm schon oft durch die Blume zu verstehen gegeben, dass ich sein Verhalten nicht ganz so sexy finde. Doch Blumen sind nicht seine Stärke, und so bekam ich lediglich als Erklärung die patzige Antwort, dass er sich doch wohl wenigstens mal zu Hause entspannen könne. Ich habe, wie so oft, geschwiegen und mir überlegt, dass ich wahrscheinlich einfach wirklich zu hohe Ansprüche an ihn und mein Leben stelle und dass so ein Verhalten bestimmt früher oder später in jeder Beziehung Einzug halten würde.
Ich packe die Einkäufe in den Kühlschrank, ziehe mein verschwitztes Shirt aus und schlüpfe in was Bequemeres, bevor ich zu ihm ins Wohnzimmer trete und am Türrahmen verharre. »Wolltest du mir nicht bei den Einkäufen helfen? Ich hätte mich echt drüber gefreut, weißt du …«
Ich horche in das Wohnzimmer hinein, doch statt einer Entschuldigung nickt mein apathischer Freund nur wie ein Autist und starrt dazu auf den flackernden Bildschirm, auf dem lautstark aufgemotzte Autos in Leitplanken knallen.
»Gerne. Kein Problem.«
Wie bitte? Was? Er hat mir anscheinend nicht einmal zugehört. Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Florian …«
Keine Reaktion.
»Flo-ri-an …«
Dieses Flo-ri-an war noch einen Halbton lauter und energischer als das erste, doch das Ergebnis ist identisch. Nichts. Ich wage einen Test, ob er mir wirklich so wenig Gehör schenkt. Mit samtweicher Stimme flüstere ich ihm vom Türrahmen aus zu: »Florian, ich hatte eben einen Unfall, mein Auto ist komplett zerstört. Totalschaden. Ich habe mir beide Beine gebrochen, und mir fehlt ein Auge.«
»Aha«, nuschelt Autisten-Florian, nickt mit offenem Mund und lenkt auf dem Bildschirm einen gelben Porsche durch eine findige Doppelkurve. »Alles klar, ich komme gleich.«
Unfassbar! Am liebsten würde ich ihm sein bescheuertes Rudel Mopsfiguren aus dem Setzkasten in einer Art Dauerflak entgegenschleudern und ihm den Controller um die Ohren hauen, doch er hatte bestimmt wirklich wieder eine harte Schicht und benötigt erst ein wenig Zeit für sich. Zumindest versuche ich, mir das einzureden.
Das Telefon klingelt und rettet ihn sowie seine Porzellanmöpse vor schlimmerem Unheil.
Es ist Susi, meine Schwägerin und großes Vorbild. Sie ist stark, erfolgreich und konsequent … und sie hat es geschafft, meinen Bruder Metin zu zähmen, der durchaus auch ein gewisses Florian-Grand-Tourismo-Potenzial in sich trägt.
»Hallo Sibel.«
»Hi«, bringe ich eine kurzatmige Antwort hervor.
»Alles okay bei dir?«
»Ja, bin nur gerade erst zur Tür hereingekommen.«
»Oh, verstehe. Ich will dich auch gar nicht lange aufhalten. Ich wollte nur fragen, wann ihr morgen kommt. Cem freut sich schon so sehr auf euch.«
Sowohl Susi als auch ich wissen, dass das gelogen ist.
»Er freut sich wohl eher auf die Geschenke«, antworte ich daher wahrheitsgetreu. Jedes Kind freut sich auf die Geschenke und nicht auf zwanzig Jahre ältere Menschen, die um einen gedeckten Kaffeetisch sitzen und seltsame Dinge quatschen.
»Nein, er freut sich wirklich auf euch … na ja, okay, auf dich. Florian kann er ja nicht so gut leiden. Aber das beruht wohl auf Gegenseitigkeit.«
Susi hat recht. Und Cem auch. Ich kann es dem Kleinen wirklich nicht verübeln. Florian kann einfach nicht so gut mit ihm. Eigentlich kann er mit allen Kindern nicht wirklich. Genauso wenig wie mit Männern und Frauen und mit Rentnern und Teenagern … eigentlich kann Florian mit keiner Form menschlichen Lebens außer seiner selbst. Denn wenn ich ganz ehrlich bin, kann er oft nicht einmal mit mir. Manchmal frage ich mich, was uns überhaupt zusammenhält. Anfangs fiel mir das nicht so auf. Doch je mehr seine Karriere in der Klinik als Orthopäde voranschritt, desto egoistischer und ignoranter wurde er mir gegenüber. Vielleicht wurde aber auch nur mein Bild von ihm realistischer, und ich hatte ihn all die Zeit nur mit den Augen gesehen, mit denen ich ihn sehen wollte. Das Kinder- und Hochzeitsthema schiebt er jedenfalls konsequent wie eine stinkende Ladung Kuhmist auf dem Schubkarren vor unserer Beziehung her und fordert stets noch ein weiteres Jahr ein, und dass dann alles kein Problem sei. Und ich? Ich gebe ihm jedes einzelne dieser Jahre und warte weiter auf irgendwas, das mir Hoffnung gibt, nicht all die Zeit verschwendet zu haben. Ich fühle mich wie ein Esel, dem man eine Karotte vorhält und der brav hinterhertrottet. Eigentlich komisch, denn eigentlich weiß ich gar nicht mehr, ob ich diese Karotte überhaupt noch wirklich will. Es ist mehr zur Routine, ja beinahe Tradition geworden, diesem Ziel hinterherzuhecheln. Dennoch versuche ich, Flo immer zu verteidigen. So wie jetzt auch vor Susi.
»Das stimmt nicht. Gerade eben hat Florian gesagt, wie sehr er sich auf den Tag mit Cem morgen freut.«
Eine weitere billige Lüge, die weder meine Schwägerin noch ich glauben. Ich höre sie am anderen Ende der Leitung kurz Luft holen und bin dankbar dafür, dass sie nicht weiter nachfragt.
»Na ja, jedenfalls wäre es doch schön, wenn ihr so gegen fünfzehn Uhr kommen könntet. Ich mache noch einen Kuchen. Passt euch das?«
»Kuchen?«, wiederhole ich reflexartig und etwas zu laut. Schließlich weiß ich, was das bedeutet.
»Nix Großes, nur einen Marmorkuchen, ist kein Ding. Das schaffe ich.«
Und ob das ein Ding ist. Susis Kuchen sind eine einzige Katastrophe. Sie schafft es sogar, jede noch so einfache Fertigmischung so unfassbar trocken zu bekommen, dass selbst die Wüste Gobi dagegen ein üppiges Feuchtbiotop darstellt.
»Super«, heuchle ich Begeisterung. Selbst Florian hat die Worte Susi und Kuchen wahrgenommen und wirft mir zwischen einem Grand-Tourismo-Überholmanöver einen verächtlichen Blick zu. »Marmorkuchen ist klasse. Florian nickt schon ganz begeistert.«
Er verdreht die Augen und widmet sich wieder der Spielekonsole.
»Okay, dann sehen wir uns morgen um drei. Bis dann.«
Ich lege auf und will Florian darum bitten, sich morgen ab drei frei zu halten, als mich ein kolossaler Rülpser und ein Jubelschrei inklusive in die Luft gestreckter Siegerfaust davon abhalten. Ein neuer Highscore bei Grand Tourismo 3, ein neuer Tiefpunkt in unserer Beziehung. Willkommen in den Sommerferien!
Endlich Urlaub. Doch der erste Ferientag beginnt wie der letzte Schultag aufgehört hat. Mit einer Grundsatzdiskussion zwischen Florian und mir über die weitere Gestaltung der Ferien. Wir sitzen in der Küche, und ich teile ihm mit, dass ich gerne wenigstens eine Woche irgendwohin fahren würde. Ganz egal wohin, einfach nur raus. Raus aus der Stadt, weg von der Schule und dem luftschnürenden Alltag, der sich wie ein Strick um meinen Hals legt und sich mit erschreckendem Tempo immer bedrohlicher zuzieht. Florian hingegen präferiert die Variante, das Geld zu sparen, da die ganzen Hotels gerade jetzt zur Ferienzeit wegen den vielen Familien und ihren nervigen Kindern sowieso völlig überteuert seien. Warum habe man denn schließlich eine so teure Altbauwohnung gemietet, wenn man sie in seiner Freizeit nicht nutzen würde? Fürs Schlafen im Arbeitsalltag hätte man sich auch ein günstiges Einzimmerapartment mieten können. Ich versuche, das Thema diplomatisch zu lösen.
»Verstehst du nicht, dass ich mal ein wenig Abstand von der Schule brauche?«
»Abstand?« Flo lacht künstlich auf. »Dann fahr doch an den Wannsee. Da hast du Abstand.«
Ich überhöre die fiese Antwort. Darin bin ich mittlerweile nicht nur geübt, sondern eine virtuose Perfektionistin.
»Klar kostet das Geld. Aber ich arbeite halt sehr hart, versteh das doch. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Kraft mich mein Beruf kostet.«
Damit habe ich einen wunden Punkt bei ihm getriggert. Und ich ahne, was jetzt wieder kommt.
»Willst du damit sagen, dass ich nicht viel Kraft in meinem Beruf aufbringen müsste? Denkst du, ich weiß nicht, wie das ist? Denkst du, ich sitze aus Spaß bis spät nachts am PC?«
Ich zögere, kann mir jedoch einen bissigen Kommentar nicht ganz verkneifen, da ich erst vor Kurzem eine interessante Entdeckung in der Chronik seines PCs machte.
»Zum Teil schon …«, flüstere ich.
»Was soll das denn heißen?«
»Na ja, wird schon seinen Sinn haben, dass die PC-Maus immer auf der linken Seite liegt, wenn du am Abend vorher am Computer warst.«