Festakt - Harald Schneider - E-Book

Festakt E-Book

Harald Schneider

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Beschreibung

Kurz vor Beginn der 1250-Jahr-Feier der Stadt Sinsheim findet ein Wissenschaftler ein unbekanntes Pergament, das das Jubiläum infrage stellt. Doch bevor sein Fund veröffentlicht werden kann, wird er bei einer Buchvorstellung in der Sinsheimer Stadthalle ermordet. Kommissar Reiner Palzki soll den gewieften Mörder jagen. Aber die Ermittlungen innerhalb der örtlichen Politprominenz stellen Palzki vor ungeahnte Schwierigkeiten. Während er den Oberbürgermeister sowie den Ortsvorsteher von Dühren verdächtigt, kommt es zu weiteren unerwarteten Todesopfern …

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Harald Schneider

Festakt

Palzkis 18. Fall

Zum Buch

Mörderisches Jubiläumsjahr Kurz vor Beginn der 1250-Jahr-Feier der Stadt Sinsheim findet ein Wissenschaftler ein bisher unbekanntes Pergament, das das Jubiläum infrage stellt. Doch bevor sein Fund veröffentlicht werden kann, wird dieser bei einer Buchvorstellung in der Sinsheimer Stadthalle ermordet. Im Auftrag seines Chefs Klaus P. Diefenbach muss Kommissar Reiner Palzki den gewieften Mörder jagen. Insbesondere die Ermittlungen innerhalb der örtlichen Politprominenz stellen Palzki vor ungeahnte Schwierigkeiten. Während er den Oberbürgermeister sowie den Dührener Ortsvorsteher verdächtigt, kommt es zu weiteren unerwarteten Todesopfern. Doch auch die Rollen des ansässigen Buchhändlers Klaus Gaude und der Leiterin der Stadtbücherei Daniela Kemmet sind äußerst nebulös. Und zu guter Letzt taucht auch noch der Geschäftsführer eines Krimiverlags mit seiner Programmleiterin stets in Tatortnähe auf …

 

Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitet als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der neben seinem mittlerweile achtzehnten Fall »Festakt« in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Im Jahr 2017 erreichte Schneider bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © JBarth

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6264-1

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Personenglossar

Prolog

1. Das neue Werk

2. Das Hostel

3. Der große Abend

4. Tödlicher Champagner

5. Eine lange Nacht im Hotel

6. Der Auftrag

7. Besuch beim Oberbürgermeister

8. Streifschuss

9. Die Familie ist da

10. Friedrich der Große

11. Hexenstein

12. Der rote Faden

13. Krasses Ende

Danksagung

Bonus 1 Ratekrimi – Palzki und der Chefkoch

Bonus 2 Ratekrimi – Palzki und der Gärtnermeister

Bonus 3 Ratekrimi – Palzki und Christoph Kolumbus

Lesen Sie weiter …

Personenglossar

Reiner Palzki: Kriminalhauptkommissar

Klaus P. Diefenbach: Palzkis Chef, Dienststellenleiter der Kriminalinspektion

Dr. Matthias Metzger: Not-Notarzt

Günter Wallmen: Oberarzt und Azubi von Dr. Metzger

Hubertus Kleinmann: Vermessungstechniker im Ruhestand

Erika Müller: Expartnerin von Kleinmann

Daniela Kemmet: Leiterin der Stadtbibliothek Sinsheim

Klaus Gaude: Inhaber der Buchhandlung Doll

Irene Deck: Mitarbeiterin von Klaus Gaude

Claudia Senghaas: Programmleiterin eines Krimiverlags

Armin Gmeiner: Inhaber eines Krimiverlags

Jörg Albrecht: Oberbürgermeister Sinsheim

Alexander Speer: Ortsvorsteher Ortsteil Dühren

Herr Appenzeller: Museum Lerchennest, Vermieter von Kleinmann

Karl Schramm: Künstler, experimentelle Musik

Ulla Huxel: Joggerin

Special Effects:

Frau Ackermann: Palzkis Nachbarin. Die Frau, die schneller spricht als ihr Schatten

Prolog

Vor fünf Wochen.

Er spürte, dass er nah dran war. Viele Jahre harter Arbeit lagen hinter ihm, nun war endlich der Erfolg greifbar. Längst war er aus dem Berufsleben ausgeschieden, doch das würde seinen Erfolg eher noch aufwerten. Hubertus freute sich darauf, demnächst seinen ehemaligen Vorgesetzten aufzusuchen und ihm die Wahrheit zu präsentieren. Was hatte ihn dieser verhöhnt und vor den Kollegen lächerlich gemacht. »Hubertus Kleinmann, was wollen Sie sich damit beweisen?«, hielt er ihm häufig vor. »Denken Sie, dass Sie die Geschichte umschreiben können? Das haben schon ganz andere versucht. Wohlbemerkt, Spezialisten und keine Hobbydilettanten wie Sie.«

Im Laufe der Zeit war sein komplettes Leben aus dem Ruder gelaufen. Die abgebrochene Schule, später die fehlende Anerkennung im Beruf, die Rosenkriege mit seinen beiden Ehefrauen, der Unfalltod seiner Zwillingskinder und, gerade aktuell, die Eigenbedarfskündigung seiner Wohnung durch den Vermieter in der letzten Woche. Kein Wunder, dass er in seinem privaten Umfeld als psychisch labil galt. Seit er einer ambulanten Dauertherapie zugestimmt hatte und regelmäßig seine Medikamente einnahm, ging es ihm ein wenig besser. Die früheren Gewaltexzesse, die in mehreren Vorstrafen mündeten, gehörten seitdem der Vergangenheit an. Seit seiner Frühverrentung hatte er sein Leben halbwegs im Griff. Die Gefahr war groß, sozial zu versacken und bis mittags im Bett liegen zu bleiben. Doch Hubertus Kleinmann hatte seine selbst gestellte Aufgabe noch nicht beendet. Sein komplettes Leben war darauf fokussiert. Viele Regalmeter mit historischen Geschichtsbüchern über Sinsheim und den Kraichgau standen in seinem Wohnzimmer, pedantisch katalogisiert nach seinem eigenen System. Hinter einer durchgesessenen Ledercouch befand sich in einem abschließbaren Schränkchen sein größter Schatz: historisches Kartenmaterial und jahrhundertealte Schriften, die er während seines Berufslebens als Vermesser der Stadt Sinsheim an diversen Einsatzorten, im Stadtarchiv sowie mehreren Museen hatte mitgehen lassen.

Nun stand er kurz vor dem Erfolg. Ironischerweise genau in dem Jahr, in dem seine Heimatstadt ihr 1.250-jähriges Jubiläum feierte. Der Veranstaltungskalender war rappelvoll, die Begeisterung in der Bevölkerung immens. Nicht nachvollziehbar, dachte Kleinmann und schüttelte nicht zum ersten Mal verärgert seinen Kopf. Wie konnte man dieses Stadtjubiläum nur anhand einer simplen und eigentlich unbedeutenden Urkunde festlegen? Lorscher Codex – wenn er das schon hörte! Ein gewisser Hagino soll dem Schutzpatron Nazarius des Klosters Sunnisheim einen Hof geschenkt haben. Dabei war doch bekannt, dass die Manuskriptsammlung des Lorscher Codex, die im Staatsarchiv Würzburg aufbewahrt wurde, aus dem späten zwölften Jahrhundert stammte. In dieser Sammlung wurden Abschriften von Rechtsurkunden ab dem Jahr 764, deren Originale meist verschollen waren, stark verkürzt wiedergegeben. Und mehr als eine Quelle in diesem Codex war schlichtweg fehlerhaft oder komplett falsch. Einen Festakt aufgrund einer Kopie zu feiern, empfand Kleinmann mehr als fahrlässig. Zumal längst belegt war, dass zu der auserkorenen Jubiläumszeit ein neben der heutigen Carl-Orff-Schule entdeckter Friedhof existierte. Funde belegen, dass Sinsheim beziehungsweise Sunnisheim bereits im achten Jahrhundert kein unbedeutendes Dorf war, auch wenn aus dieser Zeit keine originalen Schriftstücke erhalten waren. Nach neuesten Forschungen existierte Sunnisheim bereits zur fränkischen Frühzeit um das Jahr 550. Und auch das war noch nicht die komplette Wahrheit, wie Kleinmann wusste. Als er vor ein paar Jahren als Vermesser in der Nähe der Autobahn in der Gewanne »Breites Bäumchen« zu tun hatte, wusste er, dass dort Jahrzehnte zuvor Urnengräber gefunden wurden. Er selbst hatte an dieser Stelle Brandspuren aus der Jungsteinzeit aufgespürt, die seine Kollegen und sein Chef schlichtweg ignorierten. Zu dieser Zeit hatte Kleinmann längst Blut geleckt. Weitere Beweise einer frühen Besiedlung gab es in seinen Augen zuhauf. Der heute noch erkennbare Ringwall auf der Burghälde wurde von den Helvetiern 400 Jahre vor der Zeitwende als Zufluchtsort angelegt.

Hubertus Kleinmann wusste, dass dies alles niemand interessierte. Was zählte, war ein schriftlicher Beleg, wenn auch nicht zwangsläufig ein Original. Da die Kelten keine Schrift kannten, konzentrierte er sich auf die mutmaßliche Gründerzeit Sunnisheims. Außer dem Friedhof war eine Steinkirche aus dem achten Jahrhundert auf dem Michaelsberg verifiziert. Kleinmann war endlich am Ziel. Unlängst hatte er nicht nur heimlich Teile eines bisher unbekannten Fundaments neben der Kirche freigelegt, sondern auch den Rest eines Kellergewölbes entdeckt. Heute, in der eiskalten und stockdunklen Januarnacht war es endlich so weit. Kein zufälliger Spaziergänger würde sich um diese Uhrzeit hierher verirren. Generalstabsmäßig hatte er alles geplant. Bereits am frühen Nachmittag brachte er mit seinem klapprigen VW Polo eine Kiste an diesen Ort und versteckte sie hinter einem Baum in einer künstlich aufgeschütteten Schneewehe. Der Schneefall war Fluch und Segen zugleich. Niemand würde zufällig über die Früchte seiner Arbeit stolpern. Die Teile des Fundaments hatte er nach dem Fotografieren wieder zugeschüttet, doch der Zugang zu dem Gewölbe bereitete ihm Sorgen. Das kleine Loch, das er zunächst fälschlicherweise als Kaninchenbau deutete, stürzte bei seiner ersten Begutachtung ein und offenbarte den Zugang zu etwas Unbekanntem. Erst dachte er weiter in die falsche Richtung und vermutete eine großflächige Unterspülung, wie er sie in seiner Berufszeit mehr als einmal unter Straßen und Gehwegen aufgespürt hatte. Doch als er die grob in Stein gehauenen Stufen wahrnahm, wusste er, dass er mit ein bisschen Glück am Ziel seiner Reise sein konnte. Mit eilig herbeigeschafften Dachlatten und Plastikplanen überbaute er das Loch und deckte es provisorisch mit Gestrüpp ab. Zur Abschreckung unliebsamer Waldwanderer, er dachte insbesondere an Geocacher, nutzte er einen Trick aus seiner Zeit als Vermesser: Um nach Feierabend im freien Gelände abseits von befahrbaren Wegen nicht die kompletten Gerätschaften kilometerweit schleppen zu müssen, hatten er und seine Kollegen bis zum nächsten Morgen die Geräte versteckt und in einem großzügigen Radius rund um das Versteck mit einer Spritze hochkonzentrierte Buttersäure verspritzt. Die Buttersäure hatte den zusätzlichen Effekt, dass sich weder Wildschweine noch sonstiges Wild in der Nähe blicken ließen.

Nachteilig an dem Schneefall war nur die Spurenlage. Kleinmann hoffte, dass er seinen Fund mit einem einzigen Versuch vollständig untersuchen konnte. Noch wusste er nicht, ob es neben den drei oder vier behauenen Steinstufen überhaupt etwas zu sehen gab. Im schlimmsten Fall gab es überhaupt kein Gewölbe, und die Stufen waren nur der zugewachsene Eingang zu dem früheren oberirdischen Bau, dessen Fundamente er entdeckt hatte. Aufgeregt legte er den Zugang frei. Schnell erkannte er mithilfe seiner Stabtaschenlampe, dass sich die Steinstufen zu einem größeren, in Fels gehauenen Raum erweiterten.

1. Das neue Werk

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

»Palzki, Sie können stolz auf mich sein! Jawohl!«

Ich verspürte nicht den Hauch eines Stolzes. Im Gegenteil, ich wäre am liebsten sofort im Erdboden versunken. Da unsere Kriminalinspektion auf einem aus statischen Gründen sehr dicken Betonfundament errichtet wurde, war dies leider nicht möglich.

Der Tag hatte so gut begonnen, selbst die Sonne schien, als ich mich gegen zehn Uhr mit dem Auto auf den 600 Meter langen Weg zur Arbeit machte. Für Anfang März war es ungewohnt warm, endlich schien der kalte Winter für eine weitere Saison besiegt. Selbst zu Hause herrschte zurzeit Friede, Freude, Eierkuchen. Der neunjährige Paul hatte gerade eine heftige Erkältung überstanden und fiel daher als Schadensverursacher von irgendwelchen misslungenen Streichen aus. Ich spekulierte sogar, ob ich für die Zeit seiner Krankheit eine Prämiengutschrift der Haftpflichtversicherung erhalten könnte. Seine ältere Schwester Melanie war vor einem halben Jahr ernährungstechnisch konvertiert und eiferte seitdem meiner Frau Stefanie nach, die sich mit meiner Meinung nach ungesundem und wenig schmackhaftem Obst und Gemüse gesund zu ernähren versuchte. Im Moment berieten die beiden täglich in einer Dauerschleife, welche Pflanzen sie in Bälde in dem geplanten Nutzgarten unseres ehemaligen Rasens setzen wollten. Da sie meinen nichtgrünen Daumen kannten, selbst das Rasenmähen endete oft genug in einem Fiasko, ließen sie mich bei der Planung außen vor.

»Ich bin ja auch stolz auf mich!«

KPD riss mich aus meinen Gedanken. Der Dienststellenleiter Klaus P. Diefenbach, wie KPD mit korrektem Namen hieß, stellte sich breitbeinig vor mich in Positur und drückte seine Brust heraus.

Kaum hatte ich vorhin die Dienststelle betreten, um mich seelisch und moralisch auf ein oder zwei Stündchen Zeitunglesen vorzubereiten, war es mit dem guten Tag vorbei. Und auch mit meiner guten Laune. KPD kam in dem Moment aus meinem Büro, als ich hineingehen wollte. Ich wunderte mich nur für eine Sekunde, woher er wusste, wo sich mein Büro befand.

»Palzki, Sie kommen jeden Tag später zum Dienst. Das kann so nicht weitergehen. Demnächst werde ich eine Stechuhr einführen. Kommen Sie, kommen Sie.«

Ich folgte meinem Chef in dessen Büro. Büro war eigentlich der falsche Begriff, nahm doch sein persönliches Reich inzwischen mehr als zwei Drittel des Obergeschosses ein. Wir Untergebene, wie er uns Mitarbeiter nannte, mussten immer weiter zusammenrücken. Stellenweise bestand mein Büro aus einem kleinen Kabuff im Untergeschoss zwischen den Ausnüchterungszellen und dem Lagerraum für die Reinigungskräfte.

KPDs Thronsaal, so der interne Sprachgebrauch bei uns Untergebenen, hatte gerade die letzte Renovierungsrunde hinter sich. Mit einem einfachen Tapetenwechsel war es da nicht getan. Da unser Chef wegen der momentanen Negativzinsen große Teile seiner Schwarzgeldkasse nicht wie üblich banksicher anlegen konnte, investierte er in die Ausstattung seines Büros. »Das ist ja immerhin auch ein bleibender Wert«, begründete er die Umbaumaßnahme. Den Fußboden und sämtliche Wände ließ er für 6.000 Euro je Quadratmeter mit einem edlen Onyx Bianco Extra Classico Marmor belegen. Der Arbeitslohn und die Umsatzsteuer waren in diesem Preis noch nicht enthalten. »Die Autofahrer sind selbst schuld«, sagte unser Chef dazu. »Wenn die ordentlich fahren würden so wie ich, dann würde die Schwarzgeldkasse nicht mit den vielen Bußgeldern überlaufen.« KPD und Autofahren, zwei Welten prallen aufeinander.

KPD setzte sich nicht wie gewöhnlich auf seinen peinlich dick gepolsterten Krokodilsledersessel, sondern blieb vor dem riesigen Schreibtisch stehen. Mein Blick fiel sofort auf die Gegenstände, die auf dem Tisch lagen. Schon länger ging auf der Dienststelle ein diesbezügliches Gerücht um, doch nun hatte ich Gewissheit: KPD hatte seine Drohung wahr gemacht.

Da mein zweiter Vorname Spontanität war, hatte ich sofort ein Kontra zu seinem geforderten Stolz. »Herr Diefenbach, meine Kollegen und ich helfen Ihnen selbstverständlich bei der Entsorgung des Altpapiers. Der Gauner, der diesen Abfall auf Ihren kostbaren Schreibtisch gelegt hat, den fassen wir ruckzuck. Da Sie den Staatsanwalt und die meisten Richter kennen, sollte derjenige schnell ein paar Jahre außer Gefecht gesetzt sein.«

»Wovon faseln Sie da?«, unterbrach mich KPD harsch. Er drehte sich um und besah sich den Stapel. »Altpapier, was für ein Affront. Aber ich hätte mir ja denken können, dass dies für Ihren Intellekt ein paar Nummern zu groß ist. Ich wüsste nur zu gern, wie es Ihnen gelungen ist, sich in den Polizeidienst hineinzuschmuggeln. Aber nun gut, ich muss mal wieder mit den gegebenen Mitteln arbeiten, was für mich eine extreme Herausforderung sein wird. Palzki, Sie werden mich begleiten!«

»Begleiten?« Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.

»Natürlich nur den ersten Abend, alles andere wäre völlig abwegig. Auf die große Tour gehe ich selbstverständlich ohne Sie.«

»Sie machen Urlaub? Eine Weltreise?« Ein oder mehrere Funken Hoffnung machten sich in mir breit.

»Urlaub? Wer spricht denn von Urlaub? Das wird richtig harte Arbeit werden, die ich aber mit Bravour meistern werde. Ich bin schließlich der gute Dienststellenleiter der Schifferstadter Kriminalinspektion.«

Er ging zu der Wand zwischen einer der Panoramafensterscheiben und dem Regal mit seiner Schnapsglassammlung. Mit Tesafilm war an dieser Stelle eine Deutschlandkarte auf den Marmor gepinnt.

»Na, was sagen Sie dazu?«

»Haben Sie keine andere Karte gefunden, Herr Diefenbach? Diese ist ja völlig mit Filzstift verschmiert. Hat da ein Kleinkind seine ersten Malversuche unternommen?«

KPD schnappte mehrmals nach Luft, bis er sich beruhigt hatte. Meine unqualifizierten Kommentare hatten natürlich ein Ziel: Ich hoffte, dass es sich mein Chef anders überlegte und ich ihn nicht irgendwohin begleiten musste, wo irgendetwas Unbekanntes auf mich wartete. Bestimmt 30 Städte in Deutschland waren mit einem roten Filzstiftkringel umrandet. Diese Kringel hatte er mit Strichen verbunden, sodass die Karte gewisse Ähnlichkeiten mit dem Spiel »Deutschlandreise« hatte, das ich aus meiner Kindheit kannte.

»Das ist der aktuelle Stand meines Tourneeplans«, sagte KPD selbstbewusst. »Es wird wohl noch kleinere Ergänzungen geben, da ich den einen oder anderen Veranstalter noch nicht von der Unabdingbarkeit meines Auftritts überzeugen konnte, doch das wird noch. Auch da unten, schauen Sie genau hin, Palzki, damit Sie ausnahmsweise mal etwas lernen: Das da unten ist Österreich und links daneben die Schweiz. Die beiden kommen im Anschluss dran.«

»Diese beiden Städte sind ja gar nicht so weit weg von uns«, unterbrach ich ihn, wobei ich mit mir zu kämpfen hatte, um nicht laut herauszuprusten.

»Städte?« KPDs Stimme überschlug sich. »Das sind Länder, Palzki, Länder!« Mürrisch winkte er ab. »Das hat ja doch alles keinen Sinn.« Seine Stirn legte sich in Falten. »Na ja, bis Sinsheim werden wir es gemeinsam schaffen.«

Das war das erste Mal, dass mein Chef konkret wurde. Sinsheim kannte ich natürlich wegen des Technik Museums, zu dem es in Speyer ein Pendant gab. »Sinsheim, liegt das bei Österreich oder bei der Schweiz?«

Ich merkte, dass ich nah dran war, KPD restlos in die Verzweiflung zu stürzen. Er oder ich, das war an dieser Dienststelle seit seinem Dienstantritt Passion.

»Was für ein Glück, dass ich meine Planung selbst erstelle«, meinte er kopfschüttelnd. »Samstagfrüh geht es los. Ich hoffe, dass Sie keine familiären Verbindlichkeiten an diesem Wochenende haben.«

»Sa… Samstag?«, stotterte ich. »Das kommt sehr unerwartet. Da muss ich erst meine Frau fragen.«

»Papperlapapp«, entgegnete KPD. »Der Samstag ist gesetzt. Da wir mit meinem Wagen fahren und ich wegen der anschließenden Diskussion, die sicherlich ihre Zeit dauern wird, in Sinsheim übernachten muss, gilt dies leider auch für Sie, Palzki.«

»Wir kommen erst am Sonntag zurück?«

»Sonntagnachmittag«, ergänzte er selbstbewusst. »Da in dem Übernachtungspreis des Hotels die Wellnessangebote inkludiert sind, werde ich den Sonntag nutzen, um mich vor dem Beginn meiner Tournee ein letztes Mal so richtig zu entspannen.«

Das klang bitter. KPD hatte sicherlich das beste Haus am Ort gebucht. Mit Sicherheit war das so exklusiv und etikettenbehaftet, dass von den Gästen erwartet wurde, bereits zum Frühstück mit Anzug und Krawatte zu erscheinen. Solche Widrigkeiten bereiteten mir unsäglichen Stress. Zu Hause galt bei mir die Devise, dass Besuch, den man nicht im Jogginganzug empfangen konnte, kein Besuch, sondern ein Termin war. Außerdem musste ich mit großer Wahrscheinlichkeit mit meinem Chef gemeinsam Mittagessen, quasi der Super-GAU in meinem Leben.

»Sie erwarten aber hoffentlich nicht von mir, dass ich Sie in die Sauna begleite?« Mir lief es eiskalt über den Rücken.

»Sauna?« Mein Chef klang perplex. »In der Jugendherberge gibt es so etwas nicht.«

»Wir übernachten in einer Jugendherberge?« Ich verstand die Welt nicht mehr.

»Was heißt wir, Sie natürlich«, bellte KPD. »Ich kann doch mit Ihnen nicht gemeinsam in einem Luxushotel erscheinen. Das würde ja meine Reputation im Ansatz schädigen. Nein, Sie übernachten in einem Hostel, das ist so etwas Ähnliches wie eine Jugendherberge, die es in Sinsheim leider nicht gibt. Wir treffen uns am Sonntagnachmittag zwei Block neben meinem Hotel zur gemeinsamen Heimfahrt. Sie können froh sein, dass ich für Sie das letzte Einzelzimmer gebucht habe. Sonst müssten Sie in einem Mehrbettzimmer mit anderen Gästen schlafen. Ein eigenes Bad hat Ihr Zimmer leider nicht.«

Auf der einen Seite war ich ebenso wie mein Chef froh, nicht mit ihm gemeinsam in seinem Was-weiß-ich-wie-viele-Sterne-Hotel übernachten zu müssen, auf der anderen Seite war ein Hostel nicht so sehr das, was meinem Lebensstil entsprach. »Ich kann doch am Samstagabend mit dem Zug heimfahren und am Sonntag zurückkommen.«

»Das habe ich mir auch überlegt«, meinte KPD. »Aber die Zugfahrkarte wäre teurer als die Nacht ohne Frühstück im Hostel. Ich habe da Sonderkonditionen heraushandeln können. Immerhin kenne ich die Besitzerin von früher. Denken Sie daran, eigene Bettwäsche mitzunehmen.«

KPD ging zurück zu seinem Schreibtisch und nahm eines der Bücher in die Hand, die auf ihm lagen. »Effektive Polizeiarbeit zur Verbrechensbekämpfung«, las er vor. Der Untertitel folgte: »Das neue Standardwerk für den leitenden Kriminalbeamten. Na, was sagen Sie dazu? Haben Sie den Namen des Autors gesehen?«

KPDs Name stand doppelt so groß wie der Titel auf dem Cover.

»Für den Anfang habe ich 50.000 Exemplare drucken lassen. Ich habe mir während meiner Tournee in der Druckerei ein paar Zeitslots reservieren lassen, sodass sie auf meinen Anruf sofort die Nachauflage produzieren können. Nichts ist schlimmer als ein Buch, das nicht lieferbar ist.«

»Fast so schlimm wie ein Buch, das nur im Selbstverlag gedruckt wurde«, ergänzte ich böse. »Wollte Ihr Werk kein renommierter Verlag haben?«

KPD druckste herum, die Antwort war mir sofort klar. »Letztendlich ging es nur um die Konditionen. Die Angebote der großen Publikumsverlage waren einfach lächerlich. Einer wollte mein neues Standardwerk nur als Taschenbuch veröffentlichen, das geht gar nicht. Nur so ein bizarrer Krimiverlag aus der Bodenseegegend hat sich gemeldet und das komplette Manuskript angefordert. Irgendwann kam dann die Absage, da die Handlung zu dünn sei und viel zu viel unverständliches Fachkauderwelsch enthalten sei. Die da unten haben wirklich keine Ahnung von qualitativ hochwertiger Literatur.«

»Sie haben Ihr Manuskript einem Krimiverlag angeboten?«

Wieder wand sich KPD. »Na ja, das muss mir bei meiner Adressenrecherche irgendwie durchgerutscht sein. Wobei die großen Verlage meiner Meinung nach viel zu engstirnig und kleinbürgerlich mit ihren Programmschwerpunkten umgehen. Bei solch einem wichtigen und grandiosen Werk der zukünftigen Weltliteratur wie dem meinen sollten die Verlage eigentlich flexibel die Möglichkeiten erkennen und ihre Programmausrichtung an meinem Werk ausrichten.«

Ich seufzte und besah den Stapel auf seinem Schreibtisch. »Das sind höchstens 200 von den Dingern. Wo haben Sie die anderen 49.800?«

»Die Logistik und den Versand habe ich voll und ganz im Griff, Palzki. Diese Exemplare hier sind für die Beziehungspflege: Landrat, Bürgermeister, Staatsanwalt und so weiter. Halt die ganzen wichtigen Personen in meinem persönlichen Umfeld. Auch das Innenministerium wird ein paar Bücher bekommen, auch wenn die mich sehr verärgert haben.«

Ich sah ihn fragend an und er erzählte weiter.

»Ich habe beim Innenministerium für einen Zuschuss zu den Druckkosten angefragt. Immerhin wird mein Werk in den nächsten Jahren Auswirkungen auf die Statistiken der Verbrechensbekämpfung haben. Das Leben für die Bürger wird damit sicherer, Palzki.« Er schüttelte energisch den Kopf. »Die haben das einfach nicht kapiert in Mainz. Alles verbohrte Beamte, die in der Vergangenheit leben. Aber jetzt bricht in der Polizeiarbeit eine neue Zeitrechnung an. Sie können stolz auf sich sein, dass Sie mich persönlich kennen, Palzki! Wenn das Wochenende in Sinsheim sich wegen Ihnen nicht in ein Desaster verwandelt, dann bekommen Sie nächste Woche eine von mir persönlich handsignierte Autogrammkarte zum Sonderpreis. Die können Sie sich dann gerahmt in Ihr Wohnzimmer hängen. Ihre Besucher werden neidisch werden.«

KPD steigerte sich wieder in einen seiner wohlbekannten Größenwahnanfälle hinein. Ich könnte ihn jetzt stundenlang über sich selbst reden lassen, doch ich hatte noch etwas vor. In einer halben Stunde traf der Pizzalieferant am Empfang der Dienststelle ein. Bei uns Untergebenen war der Dienstalltag knallhart durchgeplant. Ich musste meinen Chef weiter provozieren, um das Gespräch zu einem Ende zu bringen.

»Stehen Ihre Bücher bereits in allen Buchhandlungen? Sind die Großhändler auf den Ansturm vorbereitet?« Ich schaute KPD mit einem Hauch von gemeinem Lächeln an.

»Das kostet doch alles Geld, Palzki. Ich muss verantwortungsvoll mit dem Schwarzgeld der Bürger umgehen. Wissen Sie, wie viel Prozent der Buchgroßhandel von der Handelsspanne auffrisst?« KPD ließ die Goldkronen an seinen Backenzähnen blitzen. »Die komplette Auflage befindet sich gut gesichert in meinem Privathaus.« Er machte eine kleine Pause. »Na ja, dadurch sind zurzeit zwar die 300 Quadratmeter Wohnfläche plus das Kellergeschoss etwas beengt, doch das ist nur von kurzer Dauer. Mein neues Werk wird sich wie geschnitten Brot verkaufen.«

Wahnsinn, mein Chef hatte annähernd 50.000 Bücher in seiner Wohnung gelagert. Das waren schätzungsweise mehr als zwei Dutzend voll beladene Europaletten. »Und wie kommen die Bücher zu den Käufern?«

»Machen Sie sich da mal keine Sorgen, Palzki. Ich habe das alles im Detail durchgeplant. Meine Frau wird den Versand übernehmen und auch das Verpacken und alles, was so dazugehört. Die ist ja nur Hausfrau, da kann sie sich jetzt ausnahmsweise mal ein bisschen bewegen und vier- oder fünfmal am Tag zur Post fahren und die Pakete verschicken.«

Diese Aussage war typisch KPD. Ich bereitete den Rückzug vor. »So wie ich es verstanden habe, findet am Samstag in Sinsheim Ihre Premierenlesung statt. Dann weiß ich jetzt Bescheid und freue mich auf das übernächste Wochenende.«

»Das nächste, Palzki. Nicht das übernächste.«

»Ich weiß«, antwortete ich verbittert.

2. Das Hostel

Meine Familie war über die Pläne meines Chefs mäßig begeistert.

»Du wolltest doch am Samstag mit mir und Melanie in den Baumarkt fahren, um ein paar Säcke Pflanzenerde zu kaufen«, meinte Stefanie enttäuscht. »Und mein Fahrrad hat auch wieder einen Platten«, ergänzte Melanie. Nur Paul äußerte keinen Wunsch, wie er mich am Wochenende verplanen wollte. Ich fühlte mich mal wieder richtig fremdbestimmt.

Wenn ich zu Hause etwas zu sagen hätte, wäre ich mit einem kleinen Rucksack, in dem das Nötigste für die Übernachtung hineingestopft war, nach Sinsheim gefahren. Als verheirateter Familienvater war dies leider undenkbar.

»Du kannst doch deinen Ruf nicht vollends zerstören«, motzte Stefanie, als ich ein verzogenes T-Shirt mit dem Spruch »Lächle, denn du kannst nicht alle töten« und ein altes Hemd in den Koffer pfefferte. Es handelte sich um den größten Koffer in unserem Haushalt. »Nimm lieber etwas zu viel mit als zu wenig. Dann bist du für alle Eventualitäten gerüstet.« Letztendlich packte Stefanie den Koffer, der nur mit Mühe zu verschließen war. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass ich so viele Kleidungsstücke besaß. Zusätzlich zu dem Koffer stellte mir meine Frau zwei große Tüten dazu. »In der einen sind zwei Paar Ersatzschuhe, in der anderen dein dicker Wintermantel. Vielleicht kommt es zu einem Wetterumschwung.«

Endlich war der Zeitpunkt der Abreise gekommen. KPD war so zuvorkommend, mich zu Hause abzuholen. Kürzlich hatte er zwar bei den Mannheimer Kollegen seinen Führerschein abgeben müssen, nachdem er alkoholisiert einen Oberleitungsmast der Straßenbahn umgemäht und dadurch den öffentlichen Nahverkehr im Mannheimer Zentrum für zwei Tage zum Erliegen gebracht hatte. Ob er ihn mittlerweile auf legalem oder illegalem Weg zurückerhalten hatte, war mir egal.

»Kommen Sie, Palzki, wir müssen los.«

KPD stand vor unserer Haustür und klimperte mit seinen Orden, die im Übermaß an der maßgeschneiderten Uniform hingen. Dass er sich zu solchen Anlässen, bei denen er sich repräsentieren durfte, extrem übertrieben in Schale schmiss, war ich längst gewöhnt. KPDs Outfit passte eher zu einem mittelklassigen Fasnachtsumzug in der Provinz.

»Was ist denn das?«, blökte er mich an, als ich ihm die zwei Tüten in die Hand drückte.

»Den Koffer trage ich selbst«, antwortete ich. Schnell verabschiedete ich mich von Stefanie mit einem Kuss und zog von außen die Haustür zu. KPD schleppte sichtlich überfordert die Tüten zu seinem Dienstwagen, es war sein zweiter in dem gerade begonnenen Jahr, während ich ängstlich zum Nachbarhaus schielte. Wackelte der Vorhang? War meine gefürchtete Nachbarin, Frau Ackermann, bereits auf dem Weg zur Haustür, um mich mit einem nie endenden Redeschwall zu begrüßen? Nein, ich hatte Glück. Normalerweise ließ sie es sich nicht entgehen, generell jeden Passanten, der es wagte, den Gehweg vor ihrem Haus zu benutzen, in einen Monolog zu verwickeln, der jeden spätestens nach dem zweiten oder dritten Satz an Suizid denken ließ. Ob sie krank war? Meine Gedankengänge wurden schroff unterbrochen.

»Ich wusste nicht, dass Sie es mit Ihrem Gepäck so übertreiben, Palzki.« Die beiden Tüten stellte er neben das Vorderrad. Ich schaute durch die Seitenscheibe in die Luxuskarosse hinein. Der Fond war bis zum Fahrzeughimmel mit Büchern vollgestopft. Ob KPD wusste, dass es ein zulässiges Gesamtgewicht gab?

»Kofferraum?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst vermutete. KPD drückte auf einen Knopf der Fernbedienung, und der Deckel des Kofferraums glitt geräuschlos nach oben. »Da sind mein Koffer drin und ein paar meiner Werke.«

Sein Koffer war genauso groß wie der meinige. »Dann lassen wir halt ein paar Bücher da«, sagte ich. »Meine Frau wird gut darauf aufpassen.« Und Paul hätte was zum Basteln, dachte ich gehässig.

»Nein, das geht auf keinen Fall, Palzki. Ich denke, dass ich die bei meiner Veranstaltung heute Abend allesamt verkaufen werde. Wahrscheinlich reichen die gar nicht, und meine Frau muss morgen welche mit dem Zug nachbringen.«

Mister Bean hätte über uns ein Drehbuch in eigener Sache schreiben können. Nachdem ich auf dem zugegebenermaßen großzügig gestalteten Beifahrersitz Platz genommen hatte, quetschte mir KPD die beiden Tüten zwischen die Beine, sodass ich im Fußbereich keinerlei Bewegungsfreiheit mehr hatte. Zum krönenden Abschluss stellte er mir den Koffer hochkant auf den Schoss.

»Sie können ja zur Seitenscheibe rausschauen«, meinte er wegen des eingeschränkten Sichtfeldes.

Da KPD schon eine Weile Dienststellenleiter in Schifferstadt war, hatte ich meine Leidensfähigkeit längst mehrfach zur Genüge bewiesen. Die Fahrt nach Sinsheim setzte einen neuen Höhepunkt. Wenn mein Chef Auto fuhr, müsste man aus Sicherheitsgründen den öffentlichen Verkehr ausschließen. Neben seiner generellen Unfähigkeit in allen Bereichen und speziell beim Autofahren, lag das vor allem an seiner Eitelkeit. Ohne Brille war KPD im Fernbereich so gut wie blind.

Mein Gesicht wurde aufgrund KPDs unvorhersehbaren Bremsverhaltens kaum mehr als ein Dutzend Mal mit aller Wucht in den Koffer-Airbag gedrückt. Und dann, dann hatten wir Sinsheim auch schon erreicht.

»Irgendwo muss doch diese Dr.-Sieber-Halle gewesen sein«, schimpfte KPD mit sich selbst. »Die kann sich doch nicht in Luft auflösen.«

»Soll ich mal im Atlas nachschauen?«, nuschelte ich, da für eine saubere Aussprache zu wenig Platz war.

»Ich kann das schon alleine«, konterte KPD. »Ich bin schließlich in Sinsheim aufgewachsen.«

»Was? Sie kommen aus dem baden-württembergischen Ausland? Warum haben Sie keine Polizeilaufbahn auf der rechten Rheinseite genossen?«

KPD knurrte zunächst etwas Unverständliches, bevor er konkret wurde. »Ich habe es ja versucht. Aber die Mentalität der Vorgesetzten im Polizeidienst hatte mir nicht behagt. Immer haben die alles besser gewusst als ich. Die waren einfach unbelehrbar.«

»Und wo haben Sie damals gewohnt?«

»Zuerst in der, äh, Dingsgasse, äh, gleich neben dem äh, wie hieß das noch?«

»Dr.-Sieber-Halle?«

»Dr.-Sieber-Halle, wo?«

»Hier ist keine Dr.-Sieber-Halle. Ich habe gemeint, ob Sie neben der Dr.-Sieber-Halle aufgewachsen sind.«

»Nein, natürlich nicht. Ich und meine Eltern sind, als ich noch ein Kleinkind war, vom Zentrum in den Stadtteil Ehrstädt standesgemäß neben das Schloss Neuhaus gezogen.«

»Sie haben in einem Schloss gewohnt?«

»Beinahe, Palzki, beinahe. Meine Eltern hatten neben dem Schloss ein Wirtschaftsgebäude angemietet. Als Kind habe ich gerne in dem Park gespielt. Es handelt sich um einen historischen Herrensitz, der den Freiherren von Gemmingen gehört. Leider hatten meine Eltern keine direkten Beziehungen zu den Eigentümern, sodass die Freiherren nicht zu meinen persönlichen Kontakten gehören, was sehr bedauerlich ist. Inzwischen kann man in dem Schloss heiraten, was sehr rege genutzt wird.«

KPD legte eine Vollbremsung hin. »Da ist sie ja, die Dr.-Sieber-Halle. Ist das nicht ein Prachtbau?«

Na ja, für mich sah es wie ein großer grauer Betonklotz aus, nicht anders als viele andere Stadthallen auch. Der Name des Gebäudes, Dr.-Sieber-Halle, war prominent und von Weitem sichtbar angebracht.

»Die Halle wurde gerade generalsaniert …«, ereiferte sich KPD. »Bis vor Kurzem hieß sie noch Stadthalle. Meine Lesung wird die erste Veranstaltung nach der Eröffnungsfeier sein. Alles topmodern, Palzki. Wie gemacht für meinen wichtigen Premierenabend. Das, was Sie da sehen, hat einige Milliönchen gekostet. Ursprünglich wollte man die Halle abreißen und neu bauen. Da der Boden in diesem Gebiet wegen der Nähe des Flusses Elsenz sehr morastig ist, wurde die Halle beim Bau in den 70er-Jahren auf fast hundert Pfählen, die zwölf Meter in die Tiefe reichen, gesetzt. Bei einem Neubau hätte man diese Fundamentpfähle neu setzen müssen. Aber das ist ja jetzt egal, ich halte direkt vor dem Eingang. Dann können Sie meine Bücher schon mal in den Saal tragen, während ich die Location inspiziere und mit dem Fachpersonal rede.«

Schneller als ich reagieren konnte, stand der Wagen vor der Halle und mein Chef war verschwunden. Wegen der Einschränkung des Bewegungsumfangs meines rechten Armes dauerte es eine gewisse Zeit, bis es mir gelang, den Türöffner zu betätigen. Als zusätzliche Hürde erwies sich die Höhe des Koffers, der sich zwischen Oberschenkel und Türoberseite verhakte. Nach ein paar zirkusreifen Kunststücken war auch diese Aufgabe gemeistert. Ohne groß darüber nachzudenken, ließ ich KPDs Bücher dort, wo sie waren, und zog stattdessen meinen Rollkoffer zum Eingang. Ich folgte dem Wegweiser zur Stadtbibliothek. Solch eine große Bibliothek hatte ich bisher noch nicht gesehen. Es roch nach frischer Farbe.

»Palzki, wo bleiben Sie denn?«, rief es von weit hinten. Ich kämpfte mich an der Krimiabteilung vorbei und fand nach kurzer Suche KPD, der sich mit einer jüngeren Dame unterhielt, die einen genervten Eindruck machte.

»Was soll das denn schon wieder?«, schnauzte mich mein Vorgesetzter an. »Wollen Sie hier übernachten? Bringen Sie sofort den Koffer ins Auto und holen Sie meine Werke.«

Ich stand da wie ein Depp. Ausnahmsweise, es musste das erste Mal sein, musste ich KPD recht geben. Völlig unüberlegt und ohne nachzudenken, hatte ich meinen Koffer hier heruntergeschleppt. Da ich meine Fehlleistung nicht zugeben wollte, antwortete ich frech: »Ich wollte meine Wertsachen nicht ungesichert im Wagen lassen, solange er ausgeladen wird.«

KPD bekam eine Maulsperre, was mir aufgrund meiner Dreistigkeit schon öfters gelungen war. »Und meine teuren Bücher? Was denken Sie, was die für einen Wert haben? Damit meine ich nicht nur die Druckkosten. Los, beeilen Sie sich mit dem Ausladen.« Er zeigte zornig auf den Koffer. »Und nehmen Sie das Teil wieder mit.«

Freundlich lächelnd trat nun die anwesende Frau auf mich zu und gab mir die Hand. »Ich bin Daniela Kemmet, die Leiterin der Bibliothek. Sie müssen Reiner Palzki sein, ich habe schon viel von Ihnen gehört. Wir haben alle Krimis im Verleih, in denen Sie als Protagonist mitspielen.«

KPD unterbrach sie schroff. »Protagonist dieser Regionalkrimireihe bin noch immer ich, Frau Kemmet. Palzki ist nur mein Untergebener, ein Statist, zuständig für die falschen Spuren und die Störfeuer gegenüber seines guten Chefs.« Er blickte mit stechendem Blick zu mir. »Und jetzt beeilen Sie sich, Palzki.«

Daniela Kemmet ließ nicht locker. »Warten Sie, Herr Palzki, ich gebe Ihnen einen Schiebewagen, damit geht’s einfacher.« Nach wenigen Augenblicken kam sie mit dem Wagen zurück. Sie zeigte schräg nach hinten. »Dort finden Sie den Aufzug. Ohne Treppe geht’s noch einfacher.«

Ich nickte ihr dankend zu und wuchtete meinen Koffer auf den Schiebewagen. Der Aufzug war schnell gefunden, auch KPDs Wagen stand noch unversehrt vor dem Eingang. Schade, nicht einmal eine Politesse war in der Nähe. Ob es in Sinsheim so etwas überhaupt gab? Ziemlich unsanft pfefferte ich die Bücher aus dem Kofferraum auf das Transportwägelchen und legte meinen Koffer zu dem meines Chefs in den Kofferraum. Wütend und ohne Eile ging ich zurück zur Halle. Zwei Bücher fielen mir bis zum Lift von dem Schiebewagen herunter, da ich sie zugegeben recht unstrukturiert gestapelt hatte. Ich ließ die Bücher auf dem Boden liegen, es waren ja mehr als genug.

»Was soll das?«, herrschte mich KPD erneut an, als ich ihn erreicht hatte. Dieses Mal war ich mir keiner Schuld bewusst.

»Hätte ich als Erstes Ihren Koffer in den Keller bringen sollen?«

KPD verstand nicht. »Welcher Keller? Ach so, Sie meinen die Bibliothek. Das ist das Untergeschoss und kein Keller, Palzki.« Er suchte Augenkontakt zu Frau Kemmet und schüttelte den Kopf. »Mein Untergebener hat leider einen sehr eingeschränkten Wortschatz. Ich bitte dies zu entschuldigen.« Sofort lenkte er den Blick wieder zu mir. »Jetzt bringen Sie die Bücher endlich nach oben, Palzki! Und bitte ordentlich stapeln. Das sieht ja aus, als wären es irgendwelche x-beliebigen Bücher von nichtssagenden Autoren. Ich erbitte mir ein bisschen mehr Respekt.«

»Nach oben?«, fragte ich hilflos. »Sie haben doch vor ein paar Minuten gesagt, dass ich die Bücher zu Ihnen bringen soll.«

KPD rollte mit den Augen. »In den Saal, habe ich gesagt, Palzki, in den Saal. Denken Sie vielleicht, ich halte meine Premierenlesung hier unten in dieser kleinen Bibliothek ab? Hier ist doch alles mit Regalen vollgestellt und höllisch verwinkelt. Wie sollen wir da dem Ansturm der Zuhörer Herr werden?« Er holte tief Luft. »Selbstverständlich habe ich den großen Saal gemietet. Auf eigene Kosten. Ich meine, natürlich aus dem Schwarzgeldetat der Bußgeldkasse. Immerhin kommt meine Lesereise der nationalen Kriminalitätsaufklärung zugute.«