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Der Arzt und Bestsellerautor Georg Weidinger zeigt uns in seinem neuen Buch, wie wir dem Stress ganzheitlich und über körperliche Interventionen effektiv begegnen können. Unterhaltsam, stets auf Augenhöhe und liebevoll begleitet er uns auf dem Weg, der hinaus aus dem Hamsterrad unseres vollgepackten Alltags und hinein in ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben führt. Mit humorvollen und pointierten Zeichnungen stellt der empathische Arzt im zweiten Teil seiner neuen TCM-Buchreihe dar, wie uns die – im Angesicht von Lebensgefahr evolutionär so sinnvollen – Stressreaktionen unseres Körpers heute schaden können. Und was Ost und West alles aufzubieten haben, um uns gegen die vermeintlichen Dauerangriffe der „modernen“ Säbelzahntiger wie Überlastung, Überforderung und Überreizung zu wappnen.
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Seitenzahl: 200
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Dr. med. Georg Weidinger
FREIvonSTRESS
durch die Heilung der Mitte
Inhalt
Warum Sie dieses Buch brauchen
STRESS
WAS STRESS MIT UNS ANSTELLT
Früher …
VERRÜCKTER STRESS
Pulsdiagnose
Zungendiagnose
DER STRESS UND DIE LEBER „AUF CHINESISCH“
DIE GESCHICHTE DES WINDES
STRESS IST WIND
WIND, DIE MUTTER ALLER KRANKHEITEN
DIE MITTE
DIE MITTE IM STRESS
HEILE DIE MITTE!
Zehn Punkte, um lieb zu sein zur Mitte
ENTSPANNE DIE LEBER UND VERTREIBE DEN WIND!
THERAPIE DER STRESSKRANKHEITEN
THERAPIE MIT KRÄUTERN
Rosenwurz
Weitere spannungslösende Kräuter
Westliche Teezubereitungen
Westliche Kräuter zur Entgiftung
Hanf
Chinesische Kräutermischungen
DIE HÄUFIGSTEN STRESS-KRANKHEITEN UND WAS MAN DAGEGEN TUN KANN
Manager-Stress: hoher Blutdruck, rote Augen & Kopfschmerzen
Kinder-Stress: Bauch, Schlaf & Seele
Leber attackiert die Mitte: Müdigkeit, Bauchschmerzen, Infekt & Allergie
Leber attackiert den Magen: Sodbrennen, Schmerz und Völlegefühl
Leber attackiert die Mitte: Frauenbeschwerden & fehlende Harmonie
Die Menstruation
Leber attackiert die Mitte: Bauchschmerzen, Durchfälle und Entzündungen
Sucht
Burn-out
DER WEG AUS DEM WIND
WIND ODER WINDSTILLE?
Gehen Sie neue Wege – jetzt!
Index
Der vietnamesische buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh unternahm einmal eine Pilgerreise auf einen Berg. Sein Ziel war es, ganz langsam bis zum Gipfel zu gehen. Als Thich Nhat Hanh dann oben angelangt war, sah er, dass die anderen Pilger sofort wieder in ihren altgewohnten schnellen Gang fielen: Das Ziel der Langsamkeit war erreicht worden, und jetzt schnell wieder in die altgewohnten Bahnen! Doch nicht so Thich Nhat Hanh: Er beschloss in diesem Moment, für den Rest seines Lebens fortan langsam zu gehen.
Wenn Sie das auch schaffen, brauchen Sie dieses Buch nicht. Wenn nicht, dann hoffe ich, dass ich Ihnen ein paar Wege zeigen kann, wie Sie mit der zunehmenden Schnelligkeit unserer Zeit besser zurechtkommen können. Das Thema dieses Buches: Stress. Der Knackpunkt in unserer Gesellschaft: Zeit. Das Motto hier bei uns: Leistung. Leistung bedeutet Arbeit pro Zeit(einheit). So haben wir es in der Schule gelernt. Wer viel Arbeit pro Zeit schafft, ist „dabei“. Leistung bedeutet auch, die Anforderung, die an einen gestellt wird, zu erfüllen. Das sind die modernen Parameter unserer Arbeitsgesellschaft, welche zum Beispiel bei einem Bewerbungsgespräch für eine Arbeitsstelle abgefragt werden.
Dabei legt man zunächst die Papiere vor, die dokumentieren, dass man in seinem Leben bereits viel Leistung erbracht hat, und dann wird man unter anderem noch befragt, ob man „stressresistent“ sei. Man wird als Kandidat für eine Anstellung als positiv bewertet, wenn man „viel Stress aushält“, wenn man „seine Leistung auch unter Zeitdruck erbringen kann“, wenn man „bereit ist, viel und hart zu arbeiten“. Es gibt dann natürlich noch andere Parameter wie „Teamfähigkeit“ (wenn man seine Arbeit in wenig Zeit erbringt, kein Problem mit dem Zeitdruck hat und dann auch noch wunderbar lächelnd mit den Kollegen zusammenarbeitet), „Kreativität“ (wenn man großartige Ideen plötzlich und jederzeit aus dem Hut zaubern kann, das Ganze natürlich unter Zeitdruck, mit einem Lächeln und im Team) und „Anspruchslosigkeit“ (da solche Anforderungen natürlich von sehr vielen Menschen erfüllt werden können, die sich alle um diese eine Stelle bewerben, kann man nicht erwarten, dafür auch noch Unsummen bezahlt zu bekommen, mindestens 40 Wochenstunden und 20 Überstunden pro Woche inklusive …). Und das ist nun mal unsere Arbeitswelt.
Weil wir glauben, dass das normal ist und man dadurch auch die höchste soziale Anerkennung bekommt, machen wir das Spiel mit – man will ja dazugehören –, und so zwacken wir die Zeit, die wir eigentlich für die Regeneration von Körper und Geist bräuchten, von unserem Privatleben ab. Die Zeit, die dann noch als „Frei-Zeit“ bleibt, muss doppelt und dreifach genutzt werden, und so hält die Leistung, also Arbeit pro Zeiteinheit, auch in unsere Bewegungseinheiten (Vollgas-Sport im Fitnessstudio oder beim Laufen), unsere Nahrungsaufnahme (am besten gleich unterwegs essen, um keine Zeit dafür zu „verschwenden“), unsere Kinderbetreuung (am besten delegiert an andere Personen oder Institutionen, mit vollem Programm, um auch die Leistungserbringung der Kinder bereits im Kindergartenalter zu optimieren), unsere Paar-Intimität (das geht sich nun wirklich nicht regelmäßig aus …) oder unseren Schlaf (am besten „effektiv“: kurz und tief und das geht dann wohl nur mit medikamentöser Unterstützung …) Einzug. Ich formuliere es natürlich etwas überspitzt, aber nur deshalb, um Ihnen Dinge klarzumachen, die bereits als vollkommen selbstverständlich gelten. Für den „Dschungel da draußen“ wird dann gern Darwins Gesetz „Survival of the fittest“ (es überlebt der Kräftigste) zitiert, oder „Fressen und gefressen werden“, um zu suggerieren, dass es heute eben so sei: Wenn du nicht mitmachst, wirst du gefressen. Punkt.
Tatsache ist, dass wir nie genug Zeit haben. Es gibt so viele großartige Erfindungen in unserer modernen Gesellschaft, die uns Tätigkeiten des Alltags wie Geschirrspülen, Wäschewaschen, Kochen, Ofeneinheizen oder Zu-Fuß-Gehen abnehmen, doch die ersparte Zeit ist schon längst verplant und vergeben. Wenn man dann plötzlich und unerwartet viel mehr Zeit hat als sonst, wie zum Beispiel während der Corona-Pandemie, weiß man nichts mit der Zeit anzufangen und füllt sie mit Sorgen, Ängsten, Grübeln und bewusstseinstrübenden Substanzen (wie Alkohol, Nikotin, Drogen, Medikamenten). Ständig rennt uns die Zeit davon. So viel wäre noch zu erledigen, nachzuarbeiten, nachzuspüren, aber es geht sich einfach nicht aus …
Viele von uns rennen so jahrelang auf dem Weg des Lebens dahin, ohne je die Zeit zu finden, um zu hinterfragen, ob dieser Weg überhaupt der richtige ist. „Hätte ich vielleicht doch vor drei Jahren die Abzweigung nehmen sollen?“ Doch man hat keine Zeit für solche Überlegungen. Manchmal wird einem erst bewusst, wie schnell die Zeit dahinrast und man selbst mit ihr mit, wenn man sein Gesicht in Ruhe im Spiegel betrachtet oder aktuelle Fotos mit alten vergleicht. „Wo ist die Zeit nur hin?“, bleibt dann als rhetorische Frage im Raum stehen.
Als Arzt möchte ich Sie nun fragen: Glauben Sie, dass das ein gesundes Leben ist? Glauben Sie, dass Sie Ihre Augen am Ende Ihres Lebens mit einem Lächeln zum letzten Mal schließen können, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken? Ich wünsche es Ihnen und mir.
Irgendjemand muss die Reißleine ziehen! Meist ist es der Körper. Da gibt es die große Gruppe der Stresskrankheiten und viele Krankheiten aus dieser Gruppe sind in ihrer Häufigkeit eine moderne Erfindung unserer Gesellschaft. Sie erfreuen sich zunehmender Beliebtheit, so wie die Autoimmunerkrankungen, die Allergien, natürlich auch die Klassiker wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebserkrankungen als Notbremse. Warum sie so häufig sind? Weil sich der Körper oft nicht anders zu helfen weiß.
Der Körper meint es eigentlich fast immer gut mit uns. Er schickt uns eine Störung – ein paar Symptome –, um uns zu sagen: „Du, entschuldige, so wie du lebst, wie du gerade mit Vollgas unterwegs bist, halte ich das nicht lang aus. Ich mache dich müde, damit du dich endlich einmal ausschläfst.“ Hinter der Müdigkeit, die eigentlich ein Geschenk des Körpers war, steckt dann westlich medizinisch zum Beispiel der Morbus Hashimoto, eine Schilddrüsenerkrankung. Das Wunderbare an Hashimoto ist: Man schluckt eine Tablette, ein Schilddrüsenhormon, und die Müdigkeit verschwindet. Herrlich! Das heißt nicht, dass die Erkrankung weg ist, das ist sie nicht, und es heißt vor allem nicht, dass man die Botschaft des Körpers verstanden hat, das hat man nicht. Der Körper denkt sich dann: „Gut, das hat einmal nicht geklappt, na, dann mache ich eine andere Erkrankung. Vielleicht versteht das große Gehirn da oben dann, was ich brauche.“
So geht es weiter und weiter, bis sich der Körper gehört fühlt oder bis er kaputt ist. Diese Sichtweise stammt aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Sie ist logisch und übersetzt in einfachen Worten, was der Körper benötigt. Leider verstehen wir modernen Menschen die Sprache des Körpers nicht mehr. So brauchen wir Übersetzer, die uns klarmachen, was zu tun ist, damit unser Körper wieder in seine Mitte kommt. Denken Sie an Ihr Gleichgewicht: Wenn Sie ganz schief dastehen, und das auf einem Bein, genügt schon ein Windstoß, um Sie zum Umfallen zu bringen. In der Mitte zu sein bedeutet, stabil, auf zwei kräftigen Beinen, mit einem guten Körpergefühl, einem ruhigen, klaren Geist und ohne Schmerzen oder Beschwerden im Leben zu stehen. Dort wollen wir hin. Es gibt auch Übersetzer aus anderen Traditionen wie zum Beispiel unsere „normalen“ westlichen Ärzte, Yoga- oder Meditationslehrer, Priester oder gute Freunde. Sie alle können helfen, weiteren Schaden an unserem Körper und damit an unserem Geist zu verhindern.
Wir werden uns in diesem Buch verschiedene Übersetzungen der Körpersymptome ansehen, aus unserer westlichen sowie aus einer chinesischen oder indischen Tradition. Wichtig ist, dass Sie verstehen, warum Ihr Körper gestresst ist! Und dann müssen Sie den nächsten Schritt tun, nämlich etwas in Ihrem Leben ändern. Diese Änderungen kann Ihnen keiner abnehmen. Aber vielleicht geht es Ihnen wie vielen meiner Patienten und Patientinnen, die dann sagen: „Natürlich mache ich das. Ich wusste ja nicht, dass es (nur) an dem liegt. Warum hat mir das bisher niemand gesagt?“ Zum Beispiel kann eine bestimmte Nahrung den Körper so stressen, dass er Magen- oder Darmprobleme bekommt. Denn ein durch unser gestresstes Leben belasteter Körper hält einfach nicht viel aus, vor allem wenn man die Zeichen des Körpers, sich zum Beispiel auszuruhen (siehe Hashimoto), jahrelang ignoriert. Ich frage dann eine Patientin, während ich ihren Puls fühle: „Spüren Sie nicht, wie erschöpft Sie sind? Hören Sie den Ruf Ihres Körpers nicht?“, und sie wird zum Beispiel antworten: „Nein, ich kenne es doch nicht anders. Ich war immer schon so erschöpft. Ich habe geglaubt, das ist normal. Und nein, ich höre den Ruf nicht …“
Dort werden wir ansetzen. Ich hoffe, ich kann diese Reise für Sie mit vielen Zeichnungen sowie lockerer und klarer Sprache humorvoll gestalten. Es gibt doch nichts Schöneres, als gesund und glücklich zu werden. Wenn Sie bereit sind, sich da ein bisschen etwas von mir sagen zu lassen, zumindest für den Versuch von drei bis vier Wochen Lebensänderung und -bereicherung, dann kann ich Ihnen ein paar neue Perspektiven eröffnen.
Ich bin Notarzt und Allgemeinmediziner und den Hauptteil meiner medizinischen Tätigkeit nimmt mittlerweile meine Praxis für komische Krankheiten ein. Diese führe ich zusammen mit meiner Frau Sandra in einem kleinen Ort am Lande im österreichischen Burgenland. „Komische Krankheiten“ sind all jene, die in kein anderes Schema passen, und so landen „Besitzer“ solch einer Krankheit bei mir und dann beginne ich meine „Übersetzungen des Körpers“. Dabei nutze ich die westliche Medizin ebenso wie die TCM und Yoga sowie alles, was mir sonst noch als hilfreich für meine Patienten und Patientinnen erscheint. Lachen ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, vor allem aus Freude, am Leben zu sein. Wenn jemand dann lächelnd unsere Praxis verlässt, ist einmal der erste Schritt in die richtige Richtung getan.
„Umwege erhöhen die Ortskenntnis.“
CHINESISCHE WEISHEIT
Im Jahr 1936 erschien in der englischen Fachzeitschrift Nature ein halbseitiger Bericht unter dem Titel „A Syndrome produced by Diverse Nocuous Agents“ (auf Deutsch: „Ein Syndrom, welches durch verschiedene schädliche Auslöser hervorgerufen wird“). Autor dieses Artikels war der ursprünglich aus Wien stammende Hans Selye von der McGill-Universität in Montreal / Kanada. Im Artikel beschrieb er, dass es weitreichende körperliche Veränderungen bei Ratten gibt, wenn diese verschiedenen spezifischen und unspezifischen Reizen (wie Kälte, erzwungene körperliche Aktivität, verschiedene Gifte und Hormone etc.) ausgesetzt werden. Ursprünglich wurden diese körperlichen Veränderungen noch als „generelle Alarmreaktion“ und in weiterer Folge als „generelle Anpassungsreaktion“ beschrieben, doch Hans Selye entlehnte dafür einen Begriff aus der Materialkunde in der Physik, nämlich Stress. Viel später würde er das als seine größte Errungenschaft bezeichnen: Er habe der Welt mit der Bezeichnung „Stress“ in allen Sprachen einen neuen Begriff geschenkt.
In der Werkstoffkunde bezeichnet Stress die Effekte auf ein Material, die durch äußere Kräfte oder Temperaturen ausgelöst werden. So hat ein Metallstab Stress, wenn man ihn Kälte aussetzt und durch Druck verbiegt.
Der Metallstab hat Kräfte in sich, die dem Druck standhalten können. Er passt sich an die Situation an – das nennt man Anpassungsreaktion. Wenn das Material aber zusätzlich durch Kälte gestresst wird, hält es den Druck viel schlechter aus, und ab einem gewissen Stresspegel wird das Metall brechen. Ein wichtiger Faktor, der bestimmt, wann der Stab bricht, ist Zeit. Eine gewisse Zeit hält das Material stand. Doch irgendwann ermüdet es und zerbricht an der Belastung – das nennt man Materialermüdung.
Bei Menschen und Tieren läuft die Stressreaktion in zwei Phasen ab, nämlich als Alarmreaktion und dann als Anpassungsreaktion. Steht man etwa plötzlich vor einem Löwen, wird der gesamte Körper alarmiert – das nennt man Alarmreaktion.
Bei der Alarmreaktion geschieht mit einem Mal unglaublich viel im Körper. Alles wird darauf abgestimmt, was in den nächsten Momenten passieren kann. Wichtig ist nun, sehr schnell reagieren zu können. Die Sinnesorgane, wie etwa die Augen und die Ohren, werden wesentlich stärker durchblutet. Das Gehirn verarbeitet deutlich mehr Bilder pro Sekunde, welche über die Augen wahrgenommen werden, sodass die Zeit scheinbar langsamer vergeht. Durch einen Teil des Gehirns, den Hypothalamus, werden starke Impulse Richtung Hypophyse – zur Hirnanhangsdrüse – geschickt. Diese Impulse sollen schnell auf das autonome Nervensystem, also auf den Sympathikus und auf den Parasympathikus, wirken. Die Aufgabe des Sympathikus, des „Aktivierers im Körper“, ist es, den gesamten Körper schnellstmöglich in Alarmbereitschaft zu versetzen. Wenn der Sympathikus aktiviert wird, rast das Herz und pumpt das Blut deutlich schneller durch das Gefäßsystem und durch das Gehirn, damit man schneller denken kann. Gleichzeitig beschleunigt sich die Atmung deutlich, damit der Körper für seine erhöhte Leistung mehr Sauerstoff zur Verfügung hat.
Der Parasympathikus, der „Verdauer und Verlangsamer des Körpers“, ist hingegen damit beschäftigt, alles in diesem Moment Unnötige wie den Magen-Darm-Trakt herunterzufahren und abzuschalten – wenn man vor dem Löwen steht, muss man ja nicht verdauen können. Andererseits wirkt der Hypothalamus über die Hypophyse, die Hirnanhangsdrüse, und lässt dort verschiedenste Hormone freisetzen, welche über den Blutfluss, der Gott sei Dank in diesem Moment sehr schnell dahinrast, zu den ausführenden Hormondrüsen schwimmen. So gelangt zum Beispiel das ACTH (Adrenocorticotropes Hormon) vom Hypophysenvorderlappen zur Nebennierenrinde und setzt dort vor allem Cortisol, das körpereigene Cortison, frei. Dieses bewirkt, zusammen mit den Stresshormonen des Sympathikus – Adrenalin und Noradrenalin, welche aus dem Nebennierenmark ausgeschüttet werden –, dass die Bauchspeicheldrüse einerseits vermehrt Insulin ausschüttet, damit jede Zelle, vor allem jede Gehirnzelle, mehr Zucker und damit mehr Nahrung erhält. Andererseits schüttet die Bauchspeicheldrüse durch das Cortisol auch mehr Glukagon aus, um mehr Zucker im Blut freizusetzen, damit auch ja genügend Zucker vorhanden ist für jede Zelle im Körper, die es in dieser Stresssituation gerade braucht.
Cortisol wirkt sehr stark in unserem Körper, oft auch gemeinsam mit anderen Hormonen oder Systemen. So unterdrückt es das Immunsystem, da man sich ja nicht um seinen Schnupfen sorgen muss, wenn man vor einem Löwen steht. Es mobilisiert die eisernen Reserven aus den Knochen, denn man braucht auch nicht darüber nachzudenken, was in zehn Jahren ist, wenn man jetzt vor einem Löwen steht. Zusammen mit Adrenalin und dem Sympathikus erhöht es den Blutdruck, dichtet die Blutgefäße ab, erhöht die Aggression, unterdrückt die Feinfühligkeit und dämpft die Schmerzempfindung: So kann der Mensch zum Beispiel im nächsten Moment angreifen und hat dabei seine volle Kraft zur Verfügung. Er zweifelt nicht an seiner Handlung, fühlt sich vielleicht sogar unverletzlich und unverwüstlich. Wenn er schwer verletzt wird, spürt er kaum Schmerzen und auch die Blutung wird in diesem Adrenalin-Cortisol-Bad bei abgedichteten Gefäßen gering ausfallen.
Es geht im Körper wirklich ab! Und dabei hat unser in Alarmbereitschaft versetzter Mensch noch keinen Schritt getan oder eine Hand zum Angriff erhoben …
All diese körperlichen Veränderungen in dieser Situation sind von der Evolution genial koordiniert und perfekt durchdacht. Es geht in diesem Moment um das blanke Überleben, um nichts anderes. Die Reaktion auf das Erblicken des Löwen ist nun Fight or flight, Flucht oder Kampf! Auf beides ist der Körper vorbereitet. Beides hat den Sinn, die akute Alarmreaktion so schnell wie möglich zu beenden. Die Betonung liegt auf „so schnell wie möglich“. Wenn man beispielsweise schnell davonläuft, auf einen Baum klettert oder sich schnell in einem Gebäude in Sicherheit bringt, ist die Gefahr gebannt und der Körper kann wieder „herunterfahren“. Meist merkt man erst, wenn man der Gefahr entronnen ist, wie unendlich anstrengend das gerade war! Der Körper zwingt einen dann durch Müdigkeit und Erschöpfung zu Ruhe und Regeneration. Wenn man sich dem Kampf mit dem Löwen gestellt hat und hoffentlich siegreich aus diesem hervorgegangen ist (oder vielleicht die Aggressionsgebärden und das Aufplustern so erschreckend für den Löwen waren, dass man ihn in die Flucht geschlagen hat …), braucht man die Regeneration, die Ruhe und die Verringerung der Stresshormone doppelt und dreifach, um wieder eine gute Wundheilung zu ermöglichen, um wieder zu verdauen und damit sich der Körper mit neuer Kraft und Energie versorgen kann.
Das Entscheidende bei der Alarmreaktion, wie ich sie gerade beschrieben habe, ist die kurze Zeit, die sie dauert. Als Beispiel: Sie fahren mit einem alten Auto und wollen bergauf einen LKW überholen. Also schalten Sie auf einen niedrigeren Gang zurück und geben Vollgas. Der hochtourige Motor heult auf und schafft es, den LKW leicht und sicher zu überholen. Wenn Sie dieses Manöver hingegen längere Zeit wiederholen, würde der Motor wohl überhitzen und Schaden nehmen. Genauso ist es bei unserem Körper. Kurzfristig hochtourig zu leben ist kein Problem, aber über längere Zeit ist es das sehr wohl. Da bleiben dann all die Veränderungen, die Adrenalin, Cortisol & Co. im Körper verursacht haben, bestehen. Diese sind unter anderem: dauerhaft hoher Blutdruck, hoher Blutzuckerspiegel, Abbau der Reserven in Knochen und Muskulatur, Unterdrücken des Immunsystems, der Wundheilung sowie der Funktion von Magen- und Darmtrakt, ständige Veränderung der Gefäße, vermehrte psychische Angespanntheit und Aggression mit der Folge, dass man nicht mehr gut schlafen kann (wenn Sie vor dem Löwen stehen, sollten Sie ja nicht einschlafen – dort waren dieselben Veränderungen hingegen sinnvoll) und durch die dauerhaft erhöhte Alarmbereitschaft im Körper mit diversen Hormonverschiebungen vermehrte Entzündungsneigung von Magen, Darm und Gelenken.
Wie Sie wissen, gibt es genügend Menschen, die sagen, dass sie den Stress brauchen, dass er wichtig für sie sei, damit sie etwas in ihrem Leben weiterbringen. Stress heißt vor allem Anpassungsreaktion: Ein Material oder ein Mensch passt sich an geänderte Umweltbedingungen oder schädigende Einflüsse an. Dabei geht es um die Summe der einwirkenden Faktoren, nicht nur um den einzelnen Einfluss! Das, was wirkt, kann ganz verschieden sein, physikalisch, chemisch, infektiös, emotional, egal. Unterm Strich bestimmen die Summe der einwirkenden Kräfte und die Reaktion auf diese, ob die Anpassung gelingt.
Denken Sie an den Metallstab. Gutes Metall geht mit der Belastung mit und passt sich an, ohne Schaden zu nehmen. Ein gewisses Maß an Stress ist für jeden Körper wichtig, um die Fähigkeit, sich an geänderte Lebensbedingungen anzupassen, ständig zu trainieren und nicht zu verlieren. Stress muss also kein Löwe, sondern kann auch ein grippaler Infekt sein. So hat man zum Beispiel in der Zeit der Corona-Pandemie in einer Studie festgestellt, dass jemand, der regelmäßig einfache grippale Infekte hat, zumeist einen sehr leichten Verlauf von Covid-19 durchmacht. Das ständige Training des Immunsystems mit einfachen Viren ist wichtig, um schwerere Infekte leichter abwehren zu können.
Ein weiteres Beispiel ist die Akupunktur. Bei der Akupunktur werden Nadeln in die Haut gestochen und dadurch kleine Wunden verursacht. Diese kleinen Wunden setzen den Körper unter Stress, denn sie zwingen ihn, die Wunden zu heilen. Gott sei Dank sind die Wunden bei der Akupunktur nicht sehr groß, sodass der Körper sich normalerweise nicht schwertut, sie zu heilen. Dadurch erhält er jedoch die Kompetenz, auch anderes im Körper zu heilen, wie zum Beispiel eine entzündliche Erkrankung.
Dieses bewusste „Wunden-Setzen“ kennen wir auch aus dem Obstbau. Beim Baumschnitt werden an den richtigen Stellen Äste abgeschnitten. Wenn der Baumschneider weiß, was er tut und es richtig macht, wird der Baum danach deutlich besser wachsen und antreiben. Die Wundheilung der Verletzungsstelle aktiviert dabei das Gesamtwachstum des Baumes.
Ein weiteres Beispiel ist der Besuch in der finnischen Sauna, bei dem der Körper durch Hitze bis zu etwa 110 °C in Stress versetzt wird. Im Körper laufen verschiedenste Stressreaktionen ab, die man im Blut nachweisen kann. Das Wichtigste am Saunieren ist das Entspannen danach oder zwischen den Saunadurchgängen. Dann fährt der Körper nämlich alles wieder herunter und man erlebt ein wunderbares Entspannungsgefühl. Die Sauna wie jede Form der Hitzetherapie (Infrarotkabine, Dampfsauna, Hyperthermie) ist ein sehr effektives Training für das Immunsystem, nicht nur um Infekte besser abzuwehren, sondern auch im Sinne der Krebsprophylaxe und -therapie.
Ein weiteres Beispiel ist die Kältetherapie (Kryotherapie). Während dieser sitzt man wenige Minuten bei minus 110 °C in der Kältekammer, wodurch sich Gelenksschmerzen und -entzündungen sehr effektiv behandeln lassen. Die Kälte zwingt den Körper zu einer Anpassung, welche ihn sehr stark aktiviert, und im Rahmen dieser Aktivierung werden auch andere Probleme im Körper beseitigt. So muss sich der Körper als Reaktion auf die Kälte stark erwärmen, „durchbluten“, und dadurch können vorbestehende Entzündungen abgebaut werden. Andere Formen von Kältetherapie sind das „Kneippen“, also das Waten in kaltem Wasser, oder das Schwimmen in eiskalten Gewässern.
Wichtig bei jeder Form des bewussten Sich-selbst-Stressens ist es, nicht „über den eigenen Punkt zu gehen“. Wenn ich zum Beispiel nach 17 Uhr weiter an einem Buch schreibe, merke ich, dass ich danach nicht gut schlafe. Mein „Denk-Arbeitstag“ muss um 17 Uhr enden, dann geht es mir gut. Und so werden Sie genauso wissen, ab wann Sie über Ihren Punkt gehen: Wenn Sie vielleicht einmal zu spät oder zu schnell essen und dann unter Sodbrennen leiden, eine Vormittagspause auslassen und dadurch vermehrt hektische Gedanken haben oder wenn Sie einmal einen Auftrag nicht ablehnen und dafür viele schlaflose Nächte haben. Sie kennen diesen Punkt. Wenn nicht Sie, wer sonst?
Die Regeneration nach jedwedem Stress soll dazu führen, dass man sich erfrischt, gesund und entspannt fühlt, nicht erschöpft und niedergeschlagen – dann war es zu viel. Das gilt zum Beispiel und vor allem auch für den Leistungs- und Spitzensport.Da ich bereits sehr viele Profisportler betreut habe, weiß ich um die Erschöpfung so manch eines athletischen Körpers, was man ihm so nie ansehen würde. Wenn man kontinuierlich über seinen eigenen Punkt geht, regeneriert sich der Körper nicht vollständig und knabbert ständig seine wertvollen Reserven an. Als Effekt treten vermehrt Verletzungen (schlechtere Wundheilung durch erhöhten Cortisol- und Adrenalin-Spiegel) und Erkrankungen auf (geschwächtes Immunsystem, vor allem durch das vermehrte Cortisol).
Jede Anpassungsreaktion, die zu lang dauert, schädigt den Körper. Dabei definiert der jeweilige Körper die Länge, die zumutbar ist. Denken Sie zum Beispiel an die Empfehlung, beim Joggen nur so schnell zu laufen, dass man sich gut mit einem Mitläufer unterhalten kann. Dann bekommt der Körper noch gut Luft und Sie rutschen nicht in den anaeroben Bereich, der Ihnen für den Trainingseffekt nichts bringt und bei dem Sie sich nur Muskelschmerzen einhandeln. (Im anaeroben Bereich kommt der Körper bei der Sauerstoffversorgung seiner Muskeln nicht mehr nach und muss daher Stress machen, um noch mehr Energie für die notwendige Mehrleistung zur Verfügung zu stellen. Aber das macht sauer.)
In diesem Zusammenhang kommen die Begriffe Eustress und Disstress ins Spiel. Eustress ist der Stress, den man als positiv erlebt und als angenehm empfindet. Disstress ist jener Stress, den man als unangenehm empfindet.
Wie bereits im Vorwort erwähnt, entsteht der meiste Stress bei uns durch die moderne Leistungserbringung. Dabei ist der ständige Zeitdruck das Hauptproblem. Viele Menschen berichten mir, dass sie ihre Arbeit eigentlich gern verrichten, aber es wird einfach immer mehr und alles zusammen ist einfach zu viel. Manche reduzieren dann ihre Gesamtstundenanzahl in der Firma, doch wenn für diese Stunden kein neuer Mitarbeiter zur Verfügung steht, müssen sie die Arbeit, die sie zuvor in 40 Stunden erledigt haben, nun oft in 30 Stunden erledigen, und das bei geringerem Gehalt. Oft kommt es durch die Arbeitgeber zu dieser Stundenreduktion, um – so denken sie vermutlich – den Fortbestand der Firma zu ermöglichen. Dann ist es doppelt so bitter, denn für die gleiche Arbeit stehen weniger Stunden zur Verfügung. Disstress ist es, wenn man seine Arbeit nicht gern verrichtet oder wenn man eine Tätigkeit erfüllen muss, die den eigenen Anlagen und Vorstellungen nicht entspricht. So kann ich Ihnen von einer Patientin berichten, die sich in ihrer