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Alfred Kovalski, misanthropischer Pianist mit autistischen Zügen und aus Lärmschutzgründen Kellerbewohner in der Hasengasse in Wien-Favoriten, schlendert an seinem vierzigsten Geburtstag durch eben diesen Wiener Gemeindebezirk, den Kopf noch voll mit den Klängen der dritten Klaviersonate von Alexander Skrjabin, als ihm in einem Hinterhofpark, der normalerweise nur von Hundebesitzern mit ihren Vierbeinern kurz vor dem Zu-Bett-Gehen betreten wird, eine junge Frau auffällt. Als sie sich von der Bank erhebt, auf der sie zuvor gesessen hat, muss er ihr folgen, einem inneren Drang nachgebend, sie für ihn in diesem Moment die Inkarnation Skrjabinscher Klänge, durchquert mit ihr weniger als einen Prozent des Bezirks, ohne dass sie es bemerkt, und folgt ihr schließlich, mit viel Abstand und langem Zögern, in das Laufhaus an der Triester Straße. Nach weiterem Zögern klopft er an ihre Tür, Top 28. Nadia eine 28 jährige Prostituierte aus Moldawien mit perfekten Deutschkenntnissen und Vokalverlängerung. Sex ist nie Thema. Sie lernen sich kennen. Stundenlang reden Sie. Jeder von seiner Welt. Welten, die scheinbar nicht miteinander verbunden sind. Schließlich ziehen sie gemeinsam durch den Bezirk, tief in der Nacht schaffen sie noch einen Prozent der Bezirksfläche. Sie will sie hören, Skrjabin-Sonate Nummer drei in Fis-Moll. Er führt sie in sein Refugium, seinen Keller, spielt die Melodie für seine verschwundene Schwester Aurelia, dann die Sonate. Als er aufblickt, ist Nadia verschwunden. Der Strom der Zeit und der Musik geht weiter. Skrjabin vor 122 Jahren, als er in einem alten Keller im Moskauer Familienhaus seine dritte Klaviersonate schreibt, Anna, die aus Moskau vor ihrem sie misshandelnden Vater nach Wien ans Konservatorium flieht und dort ihren Franz kennenlernt, Peter, ihr gemeinsamer Sohn, von Geld und Macht getrieben, der die Sowjetunion als Expansionsmarkt für das Gesundheitswesen erkennt und Eva, eine junge Pianistin, die am Konservatorium bei Adalbert studiert hat und diesem sehr zugetan ist, heiratet und zwei Söhne bekommt, Karl und eben Alfred, und schließlich Aurelia, Alfreds vermeintliche Halbschwester, die er mit zwölf Jahren zur Wochenendpflege umgehängt bekommt. Die ersten drei Jahre ihres Lebens werden zu den prägendsten Jahren für ihn, Alfred. Und dann ist auch sie auf einmal verschwunden, nach Amerika, laut seinem Vater, mit ihrer Mutter. Alfred rennt und flieht, schlussendlich in die Musik, schlussendlich in den Keller in Wien-Favoriten. In diesen Strom mündet ein feiner Bach, Nadia, welcher alles verändert. Ihre Geschichte beginnt in Chiinu in Moldawien (Molda Wien ...) in einem Waisenhaus, gleich neben dem Spital, das Alfreds Vater Peter aufgebaut hat. Ihre Geschichte führt in die Misshandlung, in die Droge, in die Abhängigkeit, auf die Straße, in den Puff, nach Moskau, in den Entzug und schließlich nach Wien. Und schließlich in den Hundekackhinterhof in Wien-Favoriten. Der Strom erreicht das Meer und alles fließt zusammen: die Magie der dritten Klaviersonate von Alexander Skrjabin, die feuchten Kellerlöcher, die linkshändischen Schrägdenker, die misshandelten Fortläufer und ungezügelt Liebenden. Eine Geschichte. Ein Weg. Sichtbar erst am Schluss, nachdem Alfred noch mehrmals Laufhäuser betreten musste ...
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GEORG WEIDINGER
LAUFHAUS
ROMAN
GREYS VERLAG
www.greysverlag.eu
1. Auflage, erschienen am 23. September 2019
ISBN (Hardcover) 978-3-96443-312-1
ISBN (E-Book) 978-3-904098-01-4
Georg Weidinger – LAUFHAUS
Alle Rechte vorbehalten!
Copyright © 2019 OGTCM Verlag,
Föhrenweg 18, 7212 Forchtenstein, Österreich
Bestellung und Vertrieb: NOVA MD GmbH,
83377 Vachendorf, Deutschland
Foto des Covers: © Georg Weidinger, Model: Sandra Weidinger
Fotos Seite 434 & 440: © Georg Weidinger
Cover- und Umschlaggestaltung: Georg Weidinger
Satz: Georg Weidinger
Lektorat: Mag. Gernot Koller
Druck und Bindung: UAB „Overprintas“, 10306 Vilnius, Litauen
Das für das Buch verwendete Papier stammt aus
verantwortungsvollen Quellen und ist FSC zertifiziert!
für meine Elfe ...
Nur gleich zu Beginn, als kleine, laut hinausgebrüllte Botschaft: DIES IST KEIN TCM-BUCH! HIER SCHREIBE ICH NICHT ÜBER MEDIZIN! Ich werde schon wieder leise ...
Sie werden sich vielleicht zunächst einmal fragen: Warum schreibt ein Arzt über das Rotlichtmilieu? Darauf kann ich Ihnen eine einfache Antwort geben: Weil ich im Puff aufgewachsen bin! Antwort genug ...? Also, um genau zu sein: Mein Vater hat, als ich vierzehn Jahre alt war, ein Haus gekauft, die „Waldsauna“, ein Bordell. Dort sind wir eingezogen. Er hat zu meinem Bruder und mir gesagt: „Im oberen Stock sind elf Kabinen. Ihr könnt euch jeder zwei aussuchen, eine zum Schlafen und eine als Arbeitszimmer!“ Mein Vater hat auch den größten Teil des ehemaligen Bordells originalgetreu belassen: Die Bar mit den Barhockern und alles in rotem Plüsch, die Saunas, die sieben Klos und elf Duschen. Selbst das Leuchtschild „Waldsauna“ über dem Gartentor hat er belassen. Da noch jahrelang regelmäßig ehemalige Kunden bei uns nachgefragt haben, ob wir noch Betrieb hätten, habe ich dann auf eigene Faust, und weil es mir irgendwann doch peinlich war, zumindest das Schild weiß übermalt. Legendär waren auch die Besichtigungsrunden, die jeder Besucher meines Vaters, er war damals ärztlicher Leiter eines Spitals in Wien, über sich ergehen lassen musste. Jedes der sieben Klos, jede der elf Kabinen im ersten Stock, die elf Duschen, die beiden Saunas, das Tauchbecken, das Schwimmbad, all die Duschen mussten gewürdigt werden! Erst dann wurde man verköstigt.
Mich als Kind hat das sehr beschäftigt, in diesem Gebäude zu leben. Ich habe mir vorgestellt, wer hier gearbeitet hatte, welche Schicksale hinter diesen Kabinen verborgen waren, der eiserne Vorhang war von unserem Haus aus nur ein paar Kilometer entfernt. Somit war für mich klar, dass Schlepper vielleicht die Damen über die Grenze gebracht hatten und dann aber nicht in die Freiheit entließen, sondern zur Arbeit in Betrieben wie unserer „Waldsauna“ zwangen. Mich interessierten die Schicksale dahinter, Menschen, die so viel erlebt hatten, in all ihrer Freude, mit all ihrem Leid, abgestellt an einem Ort, wo keiner mehr hinsieht ...
Das ist der Grund für das Milieu dieses Buches. Und Sie werden bald merken, dass es darum eigentlich überhaupt nicht geht ...
Ähnlich wie in diesem Roman, übrigens meinem Erstlingswerk, musste ich im Leben viele Umwege gehen, um heute genau da zu sein, wo ich bin. Und genau da will ich auch sein! Mit meiner Frau, den Kindern, den Hunden und den Hühnern! Dieses Glück und diese Freude, die wir alle an unserem guten Leben haben, möchte ich mit Ihnen teilen. Das ist für mich die Hauptmotivation, Geschichten oder eben diesen Roman zu schreiben!
Als Kind hatte ich den Traum, „Geschichtenerzähler“ zu werden, und dann bald „Geschichtenschreiber“. In der Volksschule war ich dann schwerer Legastheniker. Als später die Rechtschreibreform für die deutsche Sprache kam, sagte meine Frau: „Du hast eh immer schon so geschrieben ...!“ Und ich hatte wunderbare Lehrer, die mich gefördert haben, in einer Zeit, wo man noch nicht viel über Legasthenie sprach. Ein Satz aus meiner Kindheit ist mir aber schon in Erinnerung geblieben, ein Satz einer Lehrerin in Deutsch: „Na, so wie DU schreibst, kannst du wohl kaum Schriftsteller werden ...!“ Dazu muss man, sie in Schutz nehmend, sagen, dass ich, um Rechtschreibfehler zu vermeiden, die ja BÖSE waren, all jene Worte in meinen Aufsätzen ersetzt habe, bei denen ich mir nicht sicher war, wie man sie schreibt, und das waren sehr viele ...! Sie können sich daher meinen Stil vorstellen ...! Heute habe ich „Word“ und warte immer, ob eine rote Welle kommt oder nicht. Wenn sie kommt, dann ändere ich die Buchstaben so lange, bis sie eben nicht mehr kommt ... Und außerdem habe ich einen wunderbaren Lektor, Gernot Koller, der mit so einer Akribie an mein Geschriebenes herangeht, dass ich immer um den Veröffentlichungstermin des Werkes bangen muss ...! Danke, Gernot!
In diesem Zusammenhang möchte ich meinem Klassenvorstand und Deutsch- und Französischlehrer im Schottengymnasium, Professor Dr. (und ich weiß gar nicht, wie viele Doktortitel ...) Friedrich Wally herzlich danken, dass er mich so großartig all die Jahre unterstützt hat! Soviel ich weiß, hatte er selbst eine Legasthenie-Anlage, zumindest nach seinen Auftritten an der Tafel zu schließen ... Ihm wird gar nicht bewusst sein, wie wichtig er für mich in diesen Jahren war, ich, der schüchterne Klavierspieler vom Land – und selbst das Klavierspielen und Komponieren habe ich vor den anderen verheimlicht –, der morgens mit dem Postbus aus der Provinz in die große Stadt Wien, in den ersten Bezirk gefahren kommt. Ich kann mich an eine einstündige Französischschularbeit in der ersten Stunde im Winter erinnern: Es hatte geschneit und der Postbus Verspätung. Vollkommen aufgelöst und abgehetzt schaffte ich es um halb neun ins Klassenzimmer, die Schularbeit schon dreißig Minuten am Laufen mit noch zwanzig Minuten Zeit. „Clown“ (ja, das war WIRKLICH sein Spitzname ...) teilte mir in aller Ruhe die Schularbeit aus und sagte: „Jetzt beruhige dich erst einmal und mach einfach, was noch geht.“ Ein bisschen was habe ich auf den Zettel geschrieben und habe später auf diese Arbeit ein „Gut“ bekommen, für mich bis heute vollkommen unverständlich! So war Professor Wally. Er wusste, worum es WIRKLICH ging. Als er dann später Direktor des Schottengymnasiums wurde, wird er wohl ein bisschen was von der Strenge abgeschafft haben ... Professor Friedrich Wally kommt in diesem Buch als Professor Friedhelm Wendel vor, um ihm meine Hochachtung und meinen Respekt zu zollen.
Wichtig in diesem Zusammenhang: ALLE Charaktere des Buches sind frei erfunden! Es findet sich auch überhaupt nichts Autobiographisches in diesem Buch außer eben, dass ich auch Klavier spiele und am Konservatorium der Stadt Wien studiert habe! Man soll ja über Dinge schreiben, bei denen man sich auskennt. Darum auch der zehnte Bezirk am Anfang des Buches, in dem ich genau in der Hasengasse 31 jahrelang meine TCM-Praxis hatte!
Ich habe bisher sechs Sachbücher geschrieben, die ich auch fleißig mit meiner eigenen Geschichte und eigenen Erfahrungen und Erlebnissen gespickt habe. Überspitzt formuliert komme ich zu der Erkenntnis, dass der Unterschied zwischen Sachbuch und Roman der ist, dass man beim Sachbuch die Wahrheit schreibt, während man beim Roman lügen darf ...
Jede Ähnlichkeit mit noch lebenden Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt! Ich habe mich aber tatsächlich an Biografien von Personen der Musikgeschichte orientiert, so wie ich es selbst am Konservatorium der Stadt Wien gelernt hatte. Alles, was biographische Eckdaten übersteigt, ist erfunden! Dasselbe gilt für Gebäude und Adressen. Zum Beispiel wird in dem Roman das heutige Gedenkmuseum für Alexander Skrjabin gleich auch zu dem Nachbau des auf gleichem Grund tatsächlich abgerissenen Geburtshauses.
Was ich aber schon gemacht habe, ist, Schlüssel in den Text einzubauen, die für bestimmte Menschen gelten, die diese auch erkennen werden, ähnlich wie Skrjabin das in diesem Roman mit seiner Musik gemacht hat.
Ich bin an das Schreiben dieses Romans wie ein Musikkomponist an eine Komposition herangegangen. Viele anfänglich scheinbar unbedeutende Motive wachsen im Laufe der Geschichte zu großen Melodien, die dann vor allem in der „Durchführung“, dem zweiten Teil des Buches, verarbeitet werden. Die „Reprise“, der dritte Teil des Buches, vereint scheinbar widersprüchliche Motive zu einem großen Ganzen ...
Zu guter Letzt noch die Bitte: Ich publiziere im Eigenverlag und es ist sehr schwer, auf dem bestehenden Buchmarkt als unabhängiger und nicht gesponserter Verlag zu überleben. Falls Ihnen das Buch gefallen hat, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie ein paar Zeilen auf den modernen Plattformen wie Amazon oder Thalia oder Weltbild schreiben könnten. Sie helfen mir dadurch sehr und motivieren mich, weiterzumachen!
Ich hoffe, ich habe Sie nun etwas neugierig gemacht. Ich wünsche Ihnen viele wunderbare Stunden beim Eintauchen in diese fantastische, wenn auch anfangs vielleicht irritierende Welt meiner Fantasie!
Ihr Georg Weidinger, Forchtenstein, 8. April 2019
Ein Laufhaus ist ein Bordell, in dem Prostituierte ein Zimmer angemietet haben. Wenn sie für einen Freier bereit sind, steht ihre Tür offen. Teilweise sitzen sie auch in oder vor den Zimmertüren. Die Freier können durch die Gänge des Hauses laufen (daher der Name Laufhaus). Eintrag bei Wikipedia
Es gibt Türen, die öffnet man nicht.
Das tut man einfach nicht.
Der Anstand verbietet es.
So wie hier,
heute,
die Tür zu einem Laufhaus,
einem Bordell.
Es gibt Situationen im Leben,
da muss man durch die Türe gehen,
egal, ob man will oder nicht.
So wie hier,
heute,
um etwas zu finden,
das alles verändert.
Hier und heute.
Es gibt Zeiten im Leben,
um feig zu sein,
und Zeiten,
in denen man Mut braucht.
So wie hier,
genau heute.
Alfred hat Mut.
Nadia hat Kraft und Mut.
Alfred hat die Musik.
Nadia hat sich.
Und Alfred. Das hofft er.
Aber dann ...
Die Tür ist nun offen.
Sperrangelweit.
Was sehen Sie
da drinnen?
Vielleicht einen Schritt näher?
Hindurchtreten,
vielleicht?
Es gibt Zeiten.
Sie sind jetzt da.
Mut!
Hier!
Heute!
„Exposition“ ist traditionell der Teil der Sonatenhauptsatzform, in der sich die Themen des Werkes vorstellen. Oft gegensätzlich angelegt definiert ihr Tanz die Bewegung des ganzen Stückes ...
Aus Alfred Kovalskis „Das Tor in eine neue Dimension“, Prometheus-Verlag, Wien, September 2036.
Manchmal bleibt die Zeit einfach stehen, dachte Alfred Kovalski. Er saß in seinem alten blauen Polo und starrte auf die Autobahn. Es war 17 Uhr. Der Feldweg, neben dem der Polo parkte, irgendwo hinter Wiener Neustadt. Jessy, seine neue Schäferhundmischlingsdame, saß im Fond des Wagens, die Rückbank umgeklappt, hechelnd und wartend auf Weiteres, das Hecheln nahe an seinem linken Ohr. Die Dämmerung setzte ein. Die auf der Autobahn vorbeirasenden PKWs und LKWs hatten die Lichter bereits alle an. Ein buntes Schauspiel, meditativ. Alfred starrte hinein in das Autobahnnarrenkasterl und ließ die Zeit stehenbleiben.
Manchmal kann einem die Zeit nicht schnell genug vergehen, dachte Alfred. Er wollte sie endlich wiedersehen, seine Nadia. Er kannte sie gerade einmal drei Monate, hatte sie in dieser Zeit nur einmal, zehn Stunden auf einen Sitz, gesehen. Dann weg. Einfach so. Er verstand nichts. Er verstand die Welt nicht mehr. Er hatte sich in eine Welt vorgewagt, die sich seinem Verstand entzog. Wo hatte er zuvor gelebt? Am Mond? So kam es ihm meistens vor. Vor allem dann, wenn er auf Menschen traf. Was meist zu vermeiden war. Alfred war eher so der Asperger-Künstler-Typ: Sehr interessant, aber bitte nicht zu lange! Das erklärte sich aus seiner Geschichte. „Dass aus euch überhaupt etwas geworden ist bei dem Vater, grenzt an ein Wunder!“, hatte ihm und seinem Bruder seine Oma über ihren eigenen Sohn gesagt. Und das hieß was. Peter, ihr Sohn, ein Einzelkind. Geschichte mit Vater in Gefangenschaft bis 1955, Kindheit ohne Vater und so. Überverwöhnt. Überbeschützt. Nach der Rückkehr des Vaters doppelt. Alles war in seinem Körper gespeichert, dachte Alfred, auf die sich vorbeibewegenden Autolichter starrend. Alles hatte irgendwo seinen bestimmten Platz, auch die Geschichte der Oma, Anna, die ursprünglich aus Russland stammte. Sie hatte ihm, Alfred, kein einziges Mal erzählt, dass sie auch Pianistin war, so wie Alfred, dass ihr Vater der berühmte Lehrer von Alexander Skrjabin gewesen war, dass sie eigentlich vor dem Vater nach Wien geflohen war, weil er sie missbraucht hatte, er selbst an sich zerbrechend. Sie hatte es Alfred nie erzählt, weil sie es niemandem erzählt hatte, all die Jahre nicht, außer, natürlich, ihrem geliebten Franz! Er, die Liebe ihres Lebens und vice versa.
ER hatte sie, vielleicht, auch gefunden, Alfred, die Liebe. Er verstand schon mehr als noch vor zwei Monaten, als er sich mit Eva, seiner Mutter, und Adalbert, seinem früheren Klavierlehrer, getroffen hatte. Er verstand schon mehr, aber noch lange nicht genug, um alles zu verstehen. Dafür brauchte er Nadia. Er musste sie finden! Erika, die Puffmutter, hatte ihm versprochen, ihr auszurichten, dass er sie suchte, dringend suchte, mit ihr reden musste. Weder Nadia noch Erika hatten sich gemeldet. Und so hatte er die letzten drei Monate ALLE Webpages ALLER Laufhäuser Österreichs durchforstet, immer in der Hoffnung, dass ihr Bild irgendwo wieder auftauchte.
Gestern, am Sonntag, den 22. Dezember 2019 war es wieder aufgetaucht. Er hatte, seine „Arbeit“ im Internet analysierend, schon bemerkt, dass der Wechsel der Damen, weitläufig als „Mädchen“ bezeichnet, immer am Sonntag stattfand: Am Vormittag in dem Zimmer noch die eine, am Nachmittag dann schon die nächste, also, falls sie wechselten. Nicht alle waren Nomaden wie Nadia, die ständig das Laufhaus wechselte. Manche blieben vor Ort.
Gestern war ihr Bild für das Top 8 aufgetaucht, Top 8 des „Laufhauses Eselsbauch“ in Wiener Neustadt. Darum war er jetzt hier. Darum stand er mit Jessy im Fond an diesem Feldweg. Weil er sie sehen musste. JETZT.
Gleichzeitig fragte er sich, ob denn nicht alles nur eine Illusion gewesen wäre. „Ich meine, wer rennt einer Prostituierten nach?“, fragte sich Alfred. „Ich“, seine unsichere Antwort mit traurigem Blick nach unten.
„Ich, und egal, was da jetzt dabei rauskommt, ich muss es wissen, ich muss es JETZT einfach wissen!“, so seine Worte im Kopf.
Darum blieb die Zeit für Alfred Kovalski stehen. Das JETZT hatte bei Alfred noch zu keiner sichtbaren Handlung geführt. Sein Geist lehnte sich zurück, beruhigt und hypnotisiert vom Lichterspiel auf der Autobahn ...
„Happy birthday!“
Er saß auf dem alten Holzsessel, vor seinem Flügel, in seinem Zimmer, dem einen Zimmer in seiner Kellerwohnung, um welches die anderen Kleinsträume angeordnet waren: das Schlafzimmer, die Küche, das Bad mit dem Klo und der winzige Vorraum. Wenn man in die Wohnung um das Klavierzimmer gelangen wollte, musste man durch den Hauseingang gehen, innen dann entlang des Flurs nach hinten. Dort war dann eine kleine Tür. Dann führte eine steile Treppe einen Stock hinunter, die Treppe rechtsdrehend. Eigentlich ein Keller, aber Alfred hatte es vor zehn Jahren geschafft, diesen als Wohnkeller anzumieten und dann zu adaptieren. Klo und Bad und die Küchenanschlüsse hatte der Hausherr noch erledigt, motiviert durch die Option einer zusätzlichen Mieteinnahme bei gleichzeitiger Kellerraumkürzung der anderen Hausbewohner, was nicht weiter auffiel. Eigentlich war es ein Kellergewölbe, wunderschön, wenn es nicht so feucht gewesen wäre. Deshalb achtete Alfred immer darauf, dass der Holzbrandofen im Klavierzimmer gut brannte, und wenn er einmal die Wohnung verließ, übernahm ein Luftentfeuchter die Trocknung.
„Happy birthday!“
Vor sieben Jahren hatte ihn die Feuchtigkeit schon sein ganzes Erspartes gekostet. Vor sieben Jahren waren die Dämpfer der Mechanik und die Filze der Hammerköpfe seines Steinways so verklebt gewesen, dass er nicht mehr kontrolliert spielen konnte. Fast jeder Tastenanschlag ein Fehlschlag, ein hölzernes Klacken oder ein endlos nachklingender ungebremster Ton. Die hiesige Wiener Firma hatte ihm siebentausend Euro dafür abgenommen, die Mechanik auszubauen und in ihrer Werkstatt zu reparieren, siebentausend Euro, die eigentlich das Startkapital für „weg von hier“ sein sollten, die jetzt alleine weg von ihm waren. Siebentausend Euro vor sieben Jahren. Teures Klavier, teure Reparatur. Kein Problem, wenn man das Geld auch für die entsprechende Wohnung hätte, was hier nicht der Fall war.
Da hätte die wohlhabende Familie im Hintergrund sein können. Die war schon vorhanden, die Kovalskis, aber nicht im Hintergrund, nicht da, nicht gewollt unterstützend.
Wer wird schon Klavierspieler? Wer braucht Klavierspieler? Alfred hatte immer diese Selbstzweifel. Selbstzweifel Teil von Alfred. Allein in Wien gibt es sicherlich tausend hervorragende Pianisten, die alle den Weg aus den Kellerwohnungen suchen, oder den Weg zurück in die Heimat, wo man einst hergekommen war. Dort ist man dann wer. Man hatte es geschafft, hatte in Wien Klavier studiert, kam zurück und kümmerte sich um Gesellschaft und Schüler. Doch was ist mit denen, die aus Wien sind? Die können nirgendwohin zurück, bleiben hier und finden eine Kellerwohnung als akustisch isolierten Zufluchtsort. Man sollte eine Studie machen, wie viele „normale“ Wohnungen Musiker mit „lauten“ Instrumenten durchschnittlich verbrauchen, bevor sie sich in den Untergrund zurückziehen oder eben aus der Stadt fliehen. Eine Studie, deren Ergebnis man dann dem Kulturminister vorlegt, um die Musikerfreundlichkeit der Musikstadt Wien zu untermauern. Im Falle von Alfred waren es drei. In der ersten Wohnung, die er noch in Studienzeiten bezogen hatte, frisch geflohen von den Mitbewohnern der WG mit einer Medizinstudentin und einem Studenten auf der Bodenkultur, verließ der Sohn des Hausbesitzers, der die Wohnung unter ihm hatte, immer dann seine Wohnung, wenn Alfred zu üben anfing, nicht ohne seine Stereoanlage mit poppigem Radiosound auf Stadionlautstärke zu drehen. Die Argumentation diesem Hausbesitzersohn gegenüber, dass Alfred als Pianist das Recht hatte, untertags, zu den normalen „Bürozeiten“, seinen Beruf auszuüben und daher auf seinem Klavier zu spielen, traf auf Ohren, die scheinbar neuronal direkt mit dem Wutzentrum im limbischen System des Hausbesitzersohnes verschaltet waren und dann gleich in Schimpftiraden, handgreiflich untermauert, ihre physische Materialisation erfuhren. In der nächsten Wohnung lebte eine übergewichtige depressive Hausfrau über Alfred. Und nach wiederholten Polizeibesuchen zu Tagesklavierübungszeiten und der wiederholten Vorlage von ärztlichen Attesten, um das Leiden der Frau Obergeschoß verbal ausgeschmückt zu beschreiben, floh Alfred nach Favoriten, dem zehnten Wiener Gemeindebezirk, und hoffte in diesem Arbeiterbezirk um Verständnis für seinen Beruf, der ihn nun einmal dazu zwang, untertags mehrere Stunden Klavier zu spielen. Nach einer Stinkbombe, die ihm, als er einmal nicht zu Hause war, unter der Eingangstüre hindurch in die Wohnung geworfen worden war und diese für Tage praktisch unbewohnbar machte und einem nächtlichen Einbruch, bei dem nichts gestohlen, aber sämtliches Mobiliar verwüstet wurde und die Wände mit Farbspray besprüht wurden, ergab sich die Möglichkeit dieser Kellerwohnung in der Hasengasse 31, wiederum im zehnten Wiener Gemeindebezirk. Hier war es endlich ruhig um ihn, weil man ihn nicht hören konnte. Alfred hatte vorsorglich die Wände des Klavierzimmers mit Holz-Schaumstoffpaneelen tapeziert und das Klavier auf Schallschutzmatten gestellt, wie man sie auch bei schweren industriellen Maschinen, die ein Brummen erzeugen, verwendet.
Hier saß er nun, auf dem alten Sessel vor dem Steinway auf den Gummischallschutzbodenmatten, mit Blick auf das Feuer im Holzofen zu seiner Linken und den Noppenschaumstoff rundherum, und beging seinen vierzigsten Geburtstag. „Happy birthday, Alfred!“, verließ als Flüstern seinen Mund. Doch auch dieses Flüstern kam ihm laut vor, seine Stimme unwirklich und krächzend, jetzt, da er kurz seine Finger von den Tasten gehoben hatte, nach mehreren Stunden Skrjabin-Sonate, in die er sich gerettet hatte, um nicht von der Einsamkeit und der Trostlosigkeit des Moments erdrückt zu werden. Sein älterer Bruder hatte ihm in der Früh ein SMS zukommen lassen: „Alles Gute zum Geburtstag, kleiner Bruder!“, welches er mit „Vielen Dank! Bis dann!“ beantwortet hatte. Viel Kontakt hatte er nicht mit seinem Bruder. Der war beschäftigt mit seiner großen Firma. Viel hatten sie beide nie gemein gehabt. Und so war ihr Kontakt mehr ein „Vergleichen und Schauen, wer besser dasteht“ und da hatte Alfred im Moment die schlechteren Karten. Dann war da noch seine Mutter. Doch zu ihr hatte Alfred keinen Kontakt. Dann noch die Exfreundin.
Die Musik schrieb keine SMS. Für sie hatte er sich vor langer Zeit entschieden, was ihn über die Zeit mehr und mehr von den Menschen entrückte. Er passte nicht ins Schema der Zeit. Skrjabin schickte keine SMS. Fraglich, ob er sein Geklimpere überhaupt goutieren würde. Die Selbstzweifel gehörten ebenso zu Alfred wie seine ungekämmten blonden Haare und sein fehlendes Gefühl für das richtige Gewand. „Vielleicht kauf ich mir einen Kuchen“, dachte Alfred, steckte seine Geldbörse ein, schlüpfte in den alten grauen Pulli, warf die alte schwarze Lederjacke über, zog noch die gelbe Wollhaube über seinen Kopf – es war Herbst und er wollte sich ja nicht verkühlen – und verließ die Wohnung. Schuhe, nämlich seine lammfellgefütterten Waldviertler, hatte er schon beim Klavierspielen angehabt. So blieben die Füße warm. Füße auf kaltem Kellerboden. Schallschutzbodenmatten isolieren thermisch schlecht. Hinaus aus der Wohnung, den Treppen aufsteigend folgend, den Gang entlang, heraustretend aus dem Haustor, schlenderte er die Hasengasse Richtung Keplerplatz entlang mit dem Ziel, sich bei der Aida ein Stück „Geburtstagstorte“ zu kaufen. Spätestens als er die Laxenburger Straße überquerte, sich der Fußgängerzone näherte, empfand er die zunehmend größeren Menschenmassen als bedrohlich und drehte gleich wieder um. Diesmal zog es ihn hinauf Richtung Inzersdorfer Straße, weiter stadtauswärts, hinein in die typischen Wohngegenden des zehnten Bezirks mit modernen Wohnblocks neben 70er-Jahre-Bauten, mit kleinen Grünflächen und vielen schmalen Einbahnstraßen. Alfred marschierte oft stundenlang im Bezirk herum, einerseits auf der Suche nach menschlicher Nähe, nach kleinen Begegnungen zum Beispiel in Supermärkten, kleinen Gesprächen darüber, wo denn die Gurken im Glas wären oder so, nur, um wieder Stimmen zu hören, nur, um sich wieder ein bisschen als Teil der Menschheit zu fühlen, andererseits ständig auf der Flucht vor eben den Menschen. Ihre Blicke ertrug er oft nicht. Eine merkwürdige Existenz war er geworden, in den letzten Jahren. Doch jetzt nicht schwermütig werden, Alfred. Heute ist dein Geburtstag! Vierzig Jahre hast du geschafft. Auch schon was! Er erreichte die Inzersdorfer Straße, überquerte sie. Langsam beruhigte der gleichmäßige Schritt seinen Geist. Es war 18 Uhr und schon fast dunkel. Diesiger Tag. Kaum Menschen auf der Straße hier, viele Autos, Gestank, Lärm, und trotzdem menschenleer. Er kannte sie gut, die vielen kleinen Gassen, die hin und her verliefen. Einbahnstraßen für Parkplatzsuchende, Favoriten der Parkplatzbezirk für Tagespendler aus dem umliegenden Niederösterreich und Burgenland. Morgens ganz früh hinein in die Stadt, abends dann schnell wieder hinaus. Viele hatten ihren offiziellen Wohnsitz extra nach Favoriten verlegt, damit sie hier parken konnten, eine Parkberechtigung bekamen. Die Autos die wahren Bewohner der vernetzten Einbahnstraßen.
Alfred hatte den kleinen Park erreicht, der versteckt zwischen den Wohnbauten lag. Hier nahm man den Verkehr als beständiges Hintergrundbrummen war. Fast schon meditativ. Fast schon Geborgenheit vermittelnd. Also für einen an Stille gewöhnten Klavierspieler. Alfred wickelte seinen Mantel fester um sich und nahm auf einer der wenigen Parkbänke Platz, die um eine kleine Wiesenfläche angeordnet waren. Hierher kamen um diese Zeit vor allem Hundebesitzer, um ihren Hund nachtgerecht noch gut zu entleeren. Die Wiese entsprechend mit Hundekot übersät. Der „Sackerl fürs Gackerl“-Automat davor zumeist unbenutzt und ignoriert. Vielleicht würde er später noch zu dem nahen Supermarkt gehen, sich ein kleines Festessen kaufen. Irgendetwas sollte diesen Tag doch noch besonders machen! So einfach dürfe man seinen vierzigsten Geburtstag doch nicht verstreichen lassen, dachte Alfred. Es war ein lauer Herbstabend. Der Föhnwind hatte den ganzen Tag den Bezirk durchblasen. Der Gestank von der Hundewiese an diesem Abend kaum wahrnehmbar. Vielleicht einer der letzten Abende, wo man draußen noch entspannt sitzen konnte ohne zu frieren.
Alfreds Gedanken schweiften zum ersten Satz der dritten Skrjabin-Sonate, die er gerade in Arbeit hatte. Das markante Quart-Motiv des Anfangs, Fis-Moll, forte und unnachgiebig, „drammatico“, gemütsschwer und kraftvoll, russische Melancholie, kompromisslos humorlos, besetzte seine Aufmerksamkeit. Seine Finger im Schoß bewegten sich unbemerkt zur Musik im Kopf. Wie ein Schleier setzte sich die Musik auf seine Wahrnehmung. Wie von selbst folgte sein Geist jeder einzelnen Note des Satzes. Die Zeit bekam eine andere Dimension, verlor sich in der vorwärtstreibenden Rhythmik des Fis-Moll-Motivs, weiter in die Tiefen skrjabinscher Harmoniemodulationen, weiter hinein in die zum Entstehungszeitpunkt des Werkes klare Gefühlswelt des Komponisten, beheimatet in einer tiefen russischen Seele, welche sich im Laufe der Jahre noch verirren sollte. Der Sog dieser Klangwelt für Alfred magisch und selbst verschlingend, ein Sog weg aus der realen Welt der nach Hundekot duftenden Hinterhofparklandschaft des Wiener Arbeiterbezirks.
Aus dem rechten Augenwinkel nahm Alfred eine Bewegung war. Zwei Bänke weiter saß jemand. Wie lange schon, konnte Alfred nicht sagen. Wieder hatte er die Zeit verloren, wieder seine Armbanduhr zu Hause vergessen. Er legte sie nie an, die Armbanduhr. Sein Handgelenk musste frei sein. Die Uhr schnürte ihn ein, und so steckte er die Armbanduhr normalerweise in den Hosensack, wenn er die Wohnung verließ. Nahm sie auf vom Boden links neben seiner Klavierbank und ließ sie in seinem linken Hosensack verschwinden. Alfred war Linkshänder. Seine Welt ging von links aus. Er drehte den Kopf leicht nach rechts. Eine junge Frau, etwas zu stark geschminkt, saß dort. In einen dicken Mantel gehüllt, ein offenes Buch auf ihrem Schoß, verkehrt, also der Einband nach außen gekehrt. Zu weit weg, als dass Alfred den Titel hätte lesen können. Gedankenverloren starrte sie vor sich hin. Sie dürfte ihn, Alfred, gar nicht bemerkt haben, in ihrer eigenen Gedankenwelt verloren. Im Licht der Parklaterne, welche schräg links hinter ihr stand, konnte Alfred ihr Profil erkennen: braune Haarlocken blickten unter der Wollhaube hervor, umspielten das schmucklose Ohr. Die flache Nase zeigte zu volle oder vollgeschminkte Lippen eines Mundes mit leichtem Vorbiss über einem leicht fliehenden Kinn. Die Zartheit der Makel machte sie wunderschön, dachte Alfred. Die dick aufgetragene Schminke versuchte genau das zu verbergen. Alfred schätzte sie auf Anfang zwanzig. Ihr leerer Blick passte irgendwie nicht zu dem Gesamteindruck, den Alfred erfasste.
Wieso überhaupt erfasste er diese junge Frau? Während Alfred noch in russischer Seele gefangen war, wirkte sie wie die Inkarnation genau dieser Gefühlswelt. Alfred war irritiert. Das mit den Frauen immer schon sehr kompliziert bei ihm. Immer war er schnell beim Verlieben gewesen. Meist endete es dramatisch. Die zwei längeren Beziehungen, die er gehabt hatte, hatten ihn geprägt. Er war nun allein und das war gut so. Seit einem Jahr allein versuchte er wieder Klarheit in sein Leben zu bekommen. Die Musik war nun einmal immer an erster Stelle gekommen. „Die Musik dein Sargnagel, das Klavier dein Sarg!“ So hatte es Clara ausgesprochen. Er hatte sie ein Jahr lang nicht mehr gesehen, das Hin und Her nicht mehr ertragen. Eine Beziehung soll einen doch glücklich machen, oder nicht? Glücklich waren sie beide nicht gewesen, eher wie zwei Ertrinkende, die sich aneinander festhielten. Ihr Sargnagel die Malerei. Dritter Wiener Gemeindebezirk. Landstraße. Seit einem Jahr waren der zehnte und der dritte Bezirk nicht mehr miteinander verbunden. Für sie beide nicht. Der Gedanke an sie tat noch weh. Sie hatte ihm keine SMS zum Geburtstag geschickt. Gut so.
Jetzt tat sich etwas in seinem rechten Augenwinkel. Die junge Frau stand auf zum Gehen. Schlanke Figur, altmodischer Strickmantel in Grau. Sie drehte sich nach rechts und ging los. Was sollte er tun? Einfach sitzen bleiben und Skrjabins Gefühlsinkarnation ziehen lassen? Ohne weiter darüber nachzudenken stand Alfred auf und folgte ihr, langsam, mit Abstand. Sie hatte es nicht eilig. Ihre Füße steckten in weißen Moonboots, von der einfachen Plastikvariante, wie sie Alfred sicherlich zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Wunderbar warme Schuhe mit fehlendem Fußbett für fehlenden Halt, weshalb man wahrscheinlich von dieser Art Schuhwerk wieder abgekommen ist. Zu gefährlich auf Dauer für den gesunden Fuß. Zuchtstätte von Fußpilz, Schweiß- und Senkfuß. Gesundheit der Kult der letzten Jahre. Marketingkult.
Mittelgroß war sie für eine Frau, dachte Alfred. So wie er mittelgroß war für einen Mann. Für einen Beobachter hätten sie wohl merkwürdig ausgesehen, diese zwei Traumwandler in traumwandlerischem Schritt mit konstant etwa dreißig Metern Abstand zwischen ihnen, wie sie so in aller Langsamkeit durch die menschenleeren Gassen wandelten. Doch Beobachter gab es in dieser Gegend nicht. Die Grundeinstellung des Bezirks: wegschauen! Zumal sie sich immer mehr den dunkelsten und verruchtesten Winkeln des Bezirks näherten. Alfred dachte nicht weiter darüber nach, wo er war. Zu gut kannte er jeden dieser Winkel von seinen stundenlangen Wanderungen durch den Bezirk. Aber was er da tat, irritierte ihn immer mehr. Er ging ihr nun schon etwa eine Viertelstunde nach. So etwas hatte er noch nie getan. War er nun unter die Stalker gegangen? Doch er hing fest an ihr, wie an einem unsichtbaren Faden. Sie schien es nicht zu bemerken oder es war ihr gleichgültig, zumal seine Verfolgung nicht wirklich unauffällig war.
Sie waren nun schon eine Zeit lang die Angeligasse, die „Gasse der Engel“, entlanggeschritten und näherten sich unweigerlich der größten Straße der Umgebung, der Triester Straße. Hier waren deutlich mehr Menschen unterwegs, die vor allem bei den Straßenbahnstationen ein- und ausstiegen. Alfred spürte sofort wieder das Bedürfnis zu fliehen, die Richtung zu ändern, wieder in ruhigere Gassen einzubiegen. Doch der Faden hielt und er musste mit. Er musste zumindest erfahren, wo sie wohnte, in welchem Häuserblock. So hätte er in den nächsten Wochen ein Revier, das er abgehen konnte und einfach hoffen, sie vielleicht noch einmal kurz wiederzusehen, ohne rationalen Hintergedanken, zumal die Gefühls- und Gedankenwelt des Klavierspielers Alfred für die meisten Menschen schwer zu begreifen war. Obwohl, begriffen hätten sie ihn schon, nur dass sich keiner für Außenstehende wie ihn interessierte, nicht, solange diese erfolglos waren, erfolglos und unbekannt und im Untergrund lebten. Die Anonymität der Stadt Schutz und Flucht zugleich, und Fluch, wenn man langsam in die Einsamkeit absank. Die neuen Medien, fälschlicherweise als „sozial“ bezeichnet, wohl das Asozialste überhaupt, da sie Leben durch Fassade und Schein ersetzen. Alfred mied dieses ganze Facebooken und Instagrammen wie die Pest. Das Handy hatte er vor allem für die SMS-Funktion und die Uhr, falls er seine wieder liegengelassen hatte. Telefonieren fiel ihm seit seiner Kindheit schwer.
All das ging ihm durch den Kopf, als er an den Menschen an den Straßenbahnhaltestellen vorbeiging, jeder einzelne mit seinem Handy beschäftigt, keiner, der ihn auch nur eines Blickes würdigte. Und fast wäre ihm in seiner Gedankenverlorenheit entgangen, dass sie am Ende der Angeligasse, kurz vor Erreichen der Triester Straße, nach links einbog. „Oh Gott, das ist doch der versteckte Eingang des Laufhauses auf der Triester Straße!“, dachte Alfred ganz panisch. Was sollte er denn nun tun?! War sie etwa eine Prostituierte?! Wie konnte er so blöd sein und einer Prostituierten durch den halben Bezirk folgen (obwohl er natürlich wusste, dass er nicht einmal ein Prozent des Bezirkes abgegangen war)?! Alfred ging nun schnell an dem Eingang vorbei und flüchtete sich in die Anonymität der von Autos belebten Triester Straße. Plötzlich hatte er das Gefühl, der ganze Bezirk würde ihn verfolgen und den moralischen Zeigefinger übergroß über seinem sündigen Haupt schwingen! Ganz ruhig, Alfred, ganz ruhig!
Schnellen Schrittes bog er auf der Triester Straße rechts ab, nur weg von dem Laufhaus. Doch auch hier schritt er an einem Rotlichtlokal nach dem anderen vorbei. Schweiß stand auf seiner Stirn, obwohl natürlich kein Mensch von ihm Notiz nahm. Alfred zog seine Haube tief in sein Gesicht und wandte den Kopf zur Häuserwand nach rechts, damit die im Schritttempo des zähflüssigen Abendverkehrs vorbeifahrenden Autofahrer ihn nicht erkennen konnten. Bei nächster Gelegenheit bog er rechts ein in die Inzersdorfer Straße, dann gleich wieder links in die Knöllgasse und dann rechts in die Davidgasse. Langsam fand er seine Ruhe wieder. Der Abstand zu dem unheimlichen Eingang in der Angeligasse groß genug und weit und breit keiner, der ihn musterte.
Was sollte er nun tun? Wer war SIE? Und war es notwendig, das JETZT zu wissen? Er könnte sich beim Hofer gleich um die Ecke vor Kassaschluss noch schnell sein Geburtstagsfestessen besorgen, nach Hause eilen und sich in seinem Kellerloch verschanzen, oder aber er wagte den Ausbruch aus der Komfortzone seiner kleinen Welt. Ja, aber was sollte denn ER da drinnen machen? Und überhaupt, was und wer war da drinnen? Sex war sicherlich das Letzte, was er im Moment haben wollte, vor allem nicht unter den Konditionen, diesen sich zu erkaufen und damit zu erzwingen! Er, der es bisher ja nicht einmal geschafft hatte, in eine Trafik zu gehen und sich ein Sexheft zu kaufen, auch wenn er das vielleicht einmal vorgehabt hatte. Er sollte da in einen Puff hineingehen? Er hatte in seinem gesamten Leben nicht einmal im Traum daran gedacht, eine Prostituierte aufzusuchen oder in ein Bordell zu gehen! Das war nicht seine Welt und sollte es auch nie werden! Viel zu groß war auch seine Angst, die Kontrolle zu verlieren und in eine Welt hineinzuschlittern, die ihn aufsog und nicht mehr einfach losließ!
Doch da war noch etwas anderes, etwas, das überhaupt nichts mit all dem Rotlicht-Schnickschnack und dem Sexzeug zu tun hatte. Da war eine Frau, die seine Seele berührt hatte. Wie ein Hund hatte er innerhalb von wenigen Sekunden eine Fährte aufgenommen. Die Fährte war da und er durfte sie nicht verlieren, sagte etwas in seinem Stammhirn. Er verlangsamte seine Schritte. Die Davidgasse hatte ihn schon eine gute Strecke von dem verruchten Haus weggebracht. Ganz plötzlich fühlte er sich einsam und verlassen. Ohne weiter nachzudenken machte er am Absatz kehrt und schlurfte langsamen Schrittes zurück Richtung Knöllgasse.
Vierzig Jahre alt, Untergrundbewohner in Favoriten und rennt einer Hure nach! Weit ist es mit dir gekommen! So dachte Alfred. Er musste lächeln. Die Mauer, die zuvor seine Vernunft in klare Bahnen gelenkt und Teile der möglichen Wirklichkeit unsichtbar gemacht hatte, war verschwunden. Nicht er hatte diese errichtet, vor langer Zeit. Seine Eltern und deren Eltern hatten das bewerkstelligt. Noch ein paar Schritte und die Knöllgasse mündete in die Angeligasse. Gleichmäßig war sein Schritt, konstant langsam und zielgerichtet. Rechts vorne konnte er den Eingang in das Laufhaus bereits erahnen. Wie ein schwarzes Loch sog er alles Licht in sich ein und krümmte die Zeit. Alfred überquerte die Straße, nun in der Angeligasse auf dem linken Gehsteig Richtung Triester Straße unterwegs.
Kein Mensch weit und breit, nur das schwarze Loch in der Hausmauer dreißig Meter vor ihm, zwanzig Meter, zehn Meter, fünf Meter, zwei Meter. Ohne Zögern bog Alfred links ein. War eigentlich ein ganz normaler Durchgang in einen Innenhof, welcher, bezirkstypisch, von Autos bevölkert war. Rechts dann eine große Glastür mit Milchglas und einem aufgeklebten folierten A3-Zettel mit rotem Schriftzug, Times New Roman: EINGANG LAUFHAUS. Alfred drückte den Türknauf. Die Tür öffnete nach innen, schwang nach rechts. Alfred stutzte, da eine Fluchttür eines solchen Gebäudes doch auf jeden Fall nach außen öffnen sollte. Er stand nun in einem typischen Alt-Wiener Treppenhaus mit einer ausgetretenen Steintreppe geradeaus, um nach oben zu gelangen und einem Gang rechts davon, der offensichtlich zu ebener Erde nach hinten in das Gebäude führte. Statt Briefkästen mit kleinen Namensschildern, um so unauffällig und anonym wie möglich auf die Bewohner des Hauses hinzuweisen, prangte eine riesige Tafel mit farbigen Hochglanz-A2-Plakaten von lasziv dreinblickenden stark geschminkten und sicherlich Photoshop-bearbeiteten nackten Frauen, wobei statt dem Namen jeweils eine „Top-Bezeichnung“ unten mittig als weißes A4-Blatt mit „Times New Roman“-Schrift draufgeklebt war. Der Name der jeweiligen Dame war in das Bild zumeist übertrieben verschnörkelt integriert. Zum Beispiel: weichgezeichnetes Bild, „Lola“, Top 4; weichgezeichnetes Bild, „Nadia“, Top 28. Die Bilder mit den Top-Bezeichnungen 1 bis 10 waren zuunterst angeordnet. Ein Pfeil wies zu Top 1 bis 10 nach hinten zu ebener Erde. Ab Top 11 wies ein Pfeil darüber die Steintreppe hinauf. Neben der Plakatwand noch ein Kaltgetränkeautomat und ein Bankomat. Alfred stand da und ließ seinen Blick hin und her schweifen. Da niemand zu sehen war, schien die Zeit stillzustehen. Dafür kroch der schwere Parfumduft des Hauses langsam in sein Gewand, um Alfred für später einen Erinnerungslink zu diesem Ort zu errichten, falls er am nächsten Morgen das Erlebte als surreal und vollkommen unmöglich etikettieren sollte, um es darauffolgend aus dem Langzeitspeicher zu löschen.
Es war sehr warm. Die Luft stand still und wurde durch eine basslastige, poppig-eingängige Musik in Schwingungen versetzt, was Alfred erst langsam zulassen konnte, zu bemerken. Plötzlich spürte er eine Bewegung hinter sich. Wie in Panik eilte er die Treppe hinauf. Auf der Suche nach einem Versteck entdeckte er die Kundentoilette gleich links oben am Treppenabsatz. Hinein, Tür zu und bei angehaltenem Atem lauschen. Die Eingangstür mit dem gefederten Türschließer klackte kaum merklich zu. Schritte kamen die Treppe herauf, am Klo vorbei und verschwanden links hinten im Gang. Der Gang hatte keinen Teppichläufer, wie in Hotels üblich, um den Lärm der Schritte zu dämpfen, sondern war mit Linoleum beklebt, wie Alfred vor dem Betreten des Klos noch registriert hatte. Nach knapp einer Minute ein tiefer Seufzer von Alfred, gefolgt von einer Atempause und einem kontrollierten, fast gänzlich unhörbaren Ausatmen durch den Mund.
Was war nun sein nächster Schritt? Das Klo war eigentlich ganz nett. Der Duft von unten war auch hier drinnen wahrnehmbar, wenn auch überlagert vom Duft der WC-Ente, deren blaue Flüssigkeit die WC-Muschel blau färbte und griffbereit vom davor stehenden Betrachter aus rechts neben dieser stand. Alfred sah sich im Spiegel über der kleinen Waschmuschel gegenüber der Klotür an, wohl heute das erste Mal überhaupt, Spiegel nicht so sein Ding, erkannte sein Antlitz als „eigentlich ganz normal“, abgesehen von den Schweißperlen, die an seinen Schläfen bereits begonnen hatten, die Stirn zu verlassen. Alfred drehte den Kaltwasserhahn auf, wusch sich sein Gesicht, trocknete es mit zwei der grünen Papierhandtücher im gefalteten A5-Format und benutzte dann noch eines für das Abtrocknen der Hände. Fertig, um was auch immer zu tun, wollte er schon die Klotür öffnen, bis ihm seine Lage und diese an diesem Ort wieder bewusst wurde. Er klappte den Klodeckel zu, setzte sich darauf und ging seine Möglichkeiten im Kopf durch:
Option eins: Alles ein riesiger Fehler und er könnte geschäftig, als hätte er dieses bereits erledigt, schnell die Treppen runtergehen und das Etablissement durch die Milchglastür, den Innenhof und die vorgeschaltete Innenhofeinfahrt wieder verlassen. Er wäre schnell wieder in seiner Welt zurück. Noch immer vierzig. Noch immer allein. Aber es wäre nichts Nicht-zu-Kontrollierendes passiert.
Option zwei: Er könnte SIE suchen. Vielleicht hing ja gar kein Bild von ihr im Eingangsbereich. Vielleicht hatte sie hier nur irgendetwas zu erledigen, wie putzen oder etwas ausliefern. Vielleicht war sie Ärztin und wollte einen Hausbesuch machen oder ihre Schwester arbeitete hier und sie wollte ihr Essen vorbeibringen. Alfreds Gedanken spiegelten seine Realitätsferne wider. Sein Leben zu oft eine Flucht in schöne Geschichten, zu selten wirklich schön. Alfred fühlte sich zunehmend wohl auf der Toilette. Man konnte sie abschließen und die Welt draußen lassen. Er würde seine Toilette vielleicht ab nun auch mit gutem Duft beatmen. Er kam um den Schritt nicht herum, Option zwei im Kopf fertig auszuformulieren mit dem Abstieg zurück in den Eingangsbereich und der Durchsicht der Bilder, ob SIE auf einem zu sehen war. Dann hätte er eine „Adresse“.
Option zwei, Punkt eins, wäre für den Fall, dass er sie auf einem Bild erkannte. Dann hätte er eine Adresse und könnte dann entweder Option zwei, Punkt eins, klein a, sie aufsuchen mit sehr vielen konsekutiven Ungewissheiten, oder Option zwei, Punkt eins, klein b, zu Option eins zurückkehren und all das hier hinter sich lassen, eine Nacht darüber schlafen, dann wäre erstens der Geburtstag vorbei und zweitens könnte sein morgendlicher Bezirksspaziergang ihn wieder in den heute besuchten Park führen und beobachtenderweise die Hoffnung auf ein Wiedersehen aus Distanz und damit eine Fortsetzung der Fantasiewelt mit skrjabinschen Kopfklängen weiterleben lassen.
Jemand bewegte von außen die Schnalle zur Klotür. Er hatte wieder die Zeit verloren. Dieser Ort doch nicht hundertprozentig sicher. Alfred hielt wieder die Luft an. Leise Schritte weg von der Klotür nach links, nach hinten in den Gang. Stille.
Option zwei, Punkt zwei: Abstieg in den Eingangsbereich, Betrachten der Bilder und SIE auf keinem Bild sichtbar. Dann würde er gleich hinausgehen können und eventuell draußen, in einer guten versteckten Position auf sie warten. Dann wäre sie ja nur zu Besuch hier. Drammatico. Fis-Moll-Motiv. TaTAAAAAM! (tataaam tataaaam ...).
Alfred öffnete die Klotür, zurück in dem Beat dieses Hauses und fort von Skrjabin, bog nach rechts, horchte, hörte nichts außer dem Beat mit poppig-schmeichelnden Klängen eines Grundtonakkordes, der sich vorhersehbar regelmäßig vier Stufen, dann wieder fünf Stufen hinauf entfernte, um gleich wieder reumütig hinunter in Heimatgefilde des Grundtons zu versinken. Beatbeat. Gleiches Spiel. Immer so weiter.
Alfred tastete sich vorsichtig die mindestens 26 Stufen, er war zu nervös mitzuzählen, hinunter und stand nun vor der Plakatwand, so angelegt, dass man diese unmöglich übersehen konnte. Busen und Nacktheit der Damen sprangen einem förmlich entgegen, fast wie in 3D. Alfred erkannte gar nichts, sah und sah nicht, weil es, wenn er nervös war, dann durch die Spannung vor seinen Augen leicht flimmerte und er nicht mehr lesen, aber vor allem nicht mehr klar denken konnte. Er zwang sich zu Struktur. Diese half ihm immer. Struktur macht Klarheit. Vereinfacht. Macht Leben oft erst möglich. Für ihn, Alfred.
Erste Reihe von unten von links nach rechts: weichgezeichnetes Bild einer Frau von vorne, dunkle Haare, Ines, Top 1, weichgezeichnetes Bild einer Frau von der Seite, dunkle Haare, Hände zu den Haaren nach hinten gebeugt, Selina, Top 2, weichgezeichnetes Bild, Frau von links, greift mit beiden Händen zu ihrem Busen, Sasha, Top 3, weichgezeichnetes Bild, blonde Frau von vorne, lächelnd, BH-Träger hängen an den Oberarmen herunter, Lola, Top 4. Sachlich beschreibend ging Alfred einmal die ersten zehn Plakate durch. Dann nochmals. Dann verglich er sein Bild von ihr in seinem Kopf mit diesen Plakatbildern. Er hatte vor allem ein Profilbild im Kopf. Diese Nase, das Kinn, der Oberkiefer, die Haare, ihr Gang, ihre Aura, es war vor allem diese Aura, eine Schwingung, die etwas in ihm zum Schwingen brachte. Da war nichts von dieser Aura auf den Bildern Top 1 bis 10.
Also weiter: Top 11: weichgezeichnetes Bild, hatte eine schwarze Katzenmaske auf, lange blonde Haare, Giovanna, Top 12: weichgezeichnetes Bild, frontale Aufnahme einer Frau mit schmalen Lippen, dunkle Haare, ganz nackt, Lucy, Top 13: weichgezeichnetes Bild, sitzende, dunkelhaarige Dame mit gespreizten Beinen, nackt, Beatrice.
Er musste auf die markanten Zeichen achten: die Nase, das Kinn, die Lippen. Er überflog nun schneller die einzelnen Bilder: Top 14, Top 15, Top 16, 17, 18, 19, 20. Er war in der letzten Zeile angelangt. Unruhe machte sich in ihm breit: Top 21, Transdalilia, ein kniender nackter Mann auf allen Vieren auf dem Bild, sein Glied erigiert nach unten hängend. Oh Gott! Top 22, Gummipuppe Annabelle, weiter, Top 23, Erika, weit über 23, riesenhafte Oberweite, lasziver Blick mit Riesenaugen durch Weitsichtbrille, weiter, Top 24, Beatrice, noch eine, diesmal blond, weiter, Top 25, weiter, 26, 27, 28, 29 weiter, Top 30: dunkelhäutige Dame im weichgezeichneten Bild, Blick nach unten auf ihren rosa Bikini, Naomi. Fertig. Er war durch.
Sie war nicht dabei! Oder? Er war sich nicht sicher. Nochmals zurück: Top 29: Paloma mit schwarzen Haaren, Top 28: Nadia mit braunen Haaren, Top 27: Stella mit schwarzen Haaren, Top 26: Emmy mit roten ...; stopp! Nochmals zurück. Top 27, nein, Top 28, doch, das war sie. Nadia.
Eigentlich war ihm das Bild gleich beim ersten Hereinkommen aufgefallen. Sie, aber doch irgendwie nicht sie. Auf dem Bild kniet sie auf einem Bett, sie trägt ein schwarzes Spitzendessous, der Kopf leicht nach links gedreht, Mund leicht geöffnet, Blick in die Kamera, die rechte Hand hält den Kopf, die linke liegt auf dem Oberschenkel. Das ist sie! Nadia! Er hätte jetzt gerne mehr Informationen, bevor er sich den nächsten Schritt überlegen konnte. Aber die gab es nicht. Selbst seine gehassten Sozialmedien konnten ihm da jetzt nicht weiterhelfen.
Noch immer hatte Alfred keinen einzigen Menschen hier gesehen. Er stieg wieder die Treppen hinauf, den Gang entlang, am Klo vorbei, um auf einen weiteren Gang zu stoßen, dem man nun nach links oder nach rechts folgen konnte. Alfred entschied sich für links. Links war gut. Gleich rechts war eine Tür offen. Alfred blickte hinein. Eine nackte Frau lag auf einem Bett und starrte in ihr Handy. Blickte nicht auf. Top 11. Weiter Top 12, Tür zu. Über der Tür ein grünes Licht, was wohl signalisieren sollte, dass „frei“ war, dass man anläuten konnte, wie ein etwa 10 mal 10 Zentimeter großes Schild über der Türglocke am linken Türrahmen in etwa 120 Zentimeter Höhe aufforderte: „Bitte anläuten!“ Weiter, Top 13. Grünes Licht. Top 14. Grünes Licht. Top 15: rotes Licht über der Tür, welche sich rechts neben der nun nicht leuchtenden grünen Lampe befand. Also „besetzt“.
Alfred kam in diesem Gang bis Top 20. Dann musste er also doch zurück. Top 21 das erste Zimmer rechts nach Abgang des Ganges, der zurück zum Eingang, am Klo vorbei, führte. Grünes Licht. Top 22. Grünes Licht. Top 23. Grünes Licht. Alfred blickte nach vorne. Falls dieser Gang spiegelbildlich zu dem linken Gang angeordnet war, wusste er bereits, wo sich Top 28 befinden musste. Ohne weiter auf die einzelnen Zimmer zu achten, obwohl auf dieser Seite fast alle Türen mit grünen Lampen offen waren und nackte oder halbnackte Frauen Alfred teils anlächelten, teils zu sich winkten, marschierte Alfred zielstrebig zu der rechten Nische vor Ende des Ganges, wo sich Top 28 befinden sollte. Befand. Geschlossene Tür. Grünes Licht. Auf der Tür nochmals das Bild von Nadia, das er schon vom Eingangsbereich kannte, diesmal in Größe A4.
Alfred spürte Schweißperlen auf seiner Stirn entstehen, neuerlich mit dem Drang, seitlich die Schläfen entlang hinabzurinnen. Trotzdem fühlte er sich sicher, bei diesem schummrigen Licht in dem Gang, bei der nun schon vertrauten basslastigen Musik, betört von dem süßlichen Duft, den dieser Ort überall verbreitete. Er öffnete den Zipp seiner Lederjacke, fasste seinen Pulli und wischte sich damit die Stirn ab.
Dann drückte er die Glocke. Einfach so. Hielt die Luft an, am Ende der Einatmung. Das Geräusch der Glocke ein freundliches Dingdong. Nichts weiter passierte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, zählte Alfred, uhrlos, wie er war, die Sekunden, so wie er es als Kind gelernt hatte, um den Abstand eines Gewitters nach dem Blitz zu eruieren, ein Kilometer für eine Sekunde, bis zum Eintreffen des Donners. Achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig, einunddr... Ein Drehen eines Schlüssels im Schloss war zu hören. Dann ging die Tür langsam nach innen, nach rechts schwingend, auf.
Da stand sie, Nadia, eine für Alfred vollkommen fremde Person, jetzt, da er sie von vorne sah, sich den beigen Bademantel zurechtrückend, offensichtlich kein Präsentationsutensil dieses Hauses, geschlossen bis zum Hals hinauf. Ihr Blick aus halbgeöffneten braunen Augen, unfokussiert auf seine geöffnete Lederjacke etwa in Brusthöhe gerichtet, kein Wort. Auch er sprachlos, betroffen hinabblickend auf das Spiel des Flanellbademantelgürtels, welcher sich am freien linken Ende in einem Vierteltriolenrhythmus zu dem Bassschlag der poppigen Hausmusik, dieser bei exakt 100 Schlägen pro Minute, pendelartig in einer Frontalebene zu Alfred bewegte, das nur möglich, weil Nadia nicht ganz ruhig dastand, sondern eine feine permanente Vibration von ihrem Körper ausging, die sich offensichtlich auf die Oberbekleidung fortsetzte.
„Was willst du?“, sagte sie in einem fast akzentfreien Deutsch, die Vokale minimal länger gezogen als von Einheimischen üblich, vor allem das „i“ in willst, mehr fordernd als fragend von der Sprachmelodie her, ihr Blick bereits gehoben bis zu seiner über dem ausgewaschenen T-Shirt und dem noch ausgewascheneren Pulli sichtbaren Fossa suprasternalis, jener Vertiefung, die sich über dem Brustbein abzeichnet als sichtbares Zeichen für den Beginn des Halses. Alfred noch immer stumm. Einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig. Er spürte, wie die Hitze in ihm aufstieg. Sechsundvierzig, siebenundvierzig. Er fühlte sich wie ein kleiner Bub, erwischt bei einem Streich. Fünfzig, einundfünfzig, zweiundfünfzig. Plötzlich stand das linke Bademantelgürtelteil still. Plötzlich stand Nadia still da. Sie hob ihren Blick und schaute direkt in Alfreds blaue Augen, zur Hälfte verdeckt von den Unterlidern bei gesenktem Blick. Die Stille der Bewegungslosigkeit des ummantelten Objekts vor ihm gab Alfred die Kraft, seinen Blick zu heben und ihren zu treffen. Eins, zwei, zwei, drei, zwei, eins. Stille.
„Wer bist du?“, fragte sie, diesmal scheinbar wirklich neugierig, ihr Mund leicht geöffnet nach den Worten, ohne Spannung der Lippen, offene freundliche Augen. „Alfred Kovalski.“ Die 28 Sekunden, die diese Szene vor der Türe des Top 28 am rechten Gang im ersten Stock des Laufhauses in der Triester Straße Ecke Angeligasse nun schon dauerte, war nur ein Moment des Ein- und Ausatmens, des Los- und Zulassens, ein tierischer Moment des Geruch-Aufnehmens und Sehens.
Solche Momente passieren ständig überall auf der Welt. Ständig treffen Menschen aufeinander und ein evolutives Programm läuft ab, welches die Begegnung auf allen verfügbaren Ebenen der Sinne analysiert, um in kürzester Zeit die Entscheidung „flight, fight or fuck“ treffen zu können. Insofern war diese Szene schon viel zu lange. Trotz Domestikation schaffen Hunde das in unter drei Sekunden!