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Nellie ist freischaffende Künstlerin, sie erstellt VLogs und Installationen, gelegentlich malt sie auch. Dann hat sie eine Idee - Wie wäre es, den abstrakten Begriff 'Freundschaft' einer Installation zugrunde zu legen? Wie das verläuft und was sonst in ihrem Leben passiert, kannst du in diesem Buch lesen. Ein Buch nicht nur für Frauen.
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Seitenzahl: 586
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A) Der Weg
Der Plan
Die Anzeige
Kandidatinnen und Vorauswahl
Die Entscheidung
Vorbereitungen
B) Die Begegnungen
Erstes Treffen (Montag, 5. März)
Zweites Treffen (Montag, 12. März)
Drittes Treffen (Montag, 19. März)
Viertes Treffen (Montag, 26. März)
Fünftes Treffen (Dienstag, 3. April, Café Zorrn)
Sechstes Treffen (Montag, 9. April)
Siebtes Treffen (Montag, 16. April)
Achtes Treffen (Montag, 23. April)
Neuntes Treffen (Montag, 30. April)
Zehntes Treffen (Montag, 7. Mai)
Elftes Treffen (Montag, 14. Mai)
Zwölftes Treffen (Dienstag, 22. Mai)
Dreizehntes Treffen (Montag, 28. Mai)
Vierzehntes Treffen (Montag, 4. Juni)
Fünfzehntes Treffen (Montag, 11. Juni)
Sechzehntes Treffen (Montag, 18. Juni)
Siebzehntes Treffen (Montag, 25. Juni)
Achtzehntes Treffen (Montag, 2. Juli)
Neunzehntes Treffen (Dienstag, 10. Juli)
Zwanzigstes Treffen (Montag, 16. Juli)
Einundzwanzigstes Treffen (Montag, 23. Juli)
Zweiundzwanzigstes Treffen (Mittwoch, 1. August)
Dreiundzwanzigstes Treffen (Montag, 6. August)
Vierundzwanzigstes Treffen (Montag, 13. August)
Dreiundzwanzigstes Treffen (Montag, 6. August)
C) Der Abschluss
Die Hochzeit (20. August)
Aufarbeitung (21. August)
Vorbereitung der Installation
Eröffnung Installation (Samstag, 1. September)
Publikationen
Ratgeber
Belletristik
Ernährung
Bildnachweis
Der Plan
„Ich möchte etwas Neues machen. Malerei ist lange passé, Fotografie ist ausgelutscht. In der Bildhauerei tut sich nichts mehr, selbst Installationen sind überholt. Vor fünfundvierzig Jahren hat meine Großmutter schon Installationen in der Tate Gallery gesehen. Das waren farbige Leuchtstoffröhren, die senkrecht standen und im Raum verteilt waren. Ich habe ihre Schwarzweißfotos von damals gesehen, das war genial, aber meine Oma hat sich stets darüber lustig gemacht. Auch gesellschaftskritische Werke in diese Richtung wie der verschimmelte Camembert auf Dachpappe von Dieter Roth, alles schon da gewesen.“
Nellie saß mit hängenden Schultern im Fakirsitz auf ihrer Matratze, auf der eine weiß-blaue Tagesdecke, mehrfach gefaltet und mit einer umgeklappten Ecke, lag. Zwei einfarbige Kissen in rosa und dunkelrot hatte sie in eine Ecke platziert, das rosa Kissen hatte an einer Seite einen tiefdunklen Fleck. Einem Freund hatte Nellie gestanden, dass es sie zwei Flaschen ihres Lieblingsrotweins und fünf Kissenbezüge gekostet hatte, bis der Fleck endlich so natürlich aussah, wie sie es geplant hatte.
Vor der Matratze lagen drei leere Flaschen besagten Rotweins. Eine Tasse mit deutlichen alten Kaffeespuren und ein Becher mit dampfendem Kaffee standen rechts daneben. In der Ecke vor dem halbvertrockneten Gummibaum befand sich ein Schaukelstuhl mit Korbgeflecht, das an einigen Stellen aufgerissen war. Über der Rückenlehne des Stuhls hing eine Fleecedecke mit StarWars-Motiven. Auf einem anderen Stuhl aus Holz lagen Hosen und Pullis ohne System übereinander gehäuft. Vor dem Fenster hingen keine Stores, über das Fenster führte eine Gardinenleiste, von der an den Seiten weinrote Samtschals herabhingen, der Samt war teils abgerieben. Die Wände waren mit Plakaten aller Art zugeklebt.
Sie blickte durch das Fenster ins Leere, fasste sich mit beiden Händen aufs Herz. „Ich fühle diese Kunst in mir, sie will heraus.“ Dann strich sie mit den Händen durch die Haare, von der Stirn nach hinten, so dass diese noch etwas unordentlicher aussahen. Die blondgefärbten Spitzen zeigten nach oben, der Rest war pechschwarz, durchzogen von einigen schimmelblauen Strähnchen. Ihr schwarz-weiß gestreiftes T-Shirt hing schräg: Nicht so, dass die eine Schulter frei wäre, aber es ging in die Richtung. Ihre schwarze Stoffhose hatte einen hohen Bund, die breiten Hosenbeine verjüngten sich zu den Fesseln, hörten aber schon oberhalb des Knöchels auf. Ihre nackten Füße steckten in schwarzen Ballerinas mit kleinen Lederschleifchen.
„Kunst ist mein Leben, ohne Kunst kann ich nicht leben“, hauchte sie. Pause.
Sie sprang auf, lief zur Kamera, die ihr gegenüber auf einem Stativ montiert war. Sie drückte auf die Stopptaste und kontrollierte ihren Auftritt.
„Hmmm, schon mal nicht übel.“ Sie drehte die leeren Flaschen in eine etwas andere Richtung, platzierte noch ein paar undefinierbare Krümel vor die Matratze. Schade nur, dass sie sich nicht dauerhaft in diesem künstlerischen Milieu wohlfühlte. Schlecht erzogen: Unordnung machte sie nervös, wenn sie darin leben sollte. Aber dieses Szenario war sorgfältig von ihr geplant. Nellie lebte Kunst, das war ihr Argument. Über eine Stunde hatte sie das Zimmer so hergerichtet, dokumentiert und fotografiert. Jeden Schritt, den sie machte, hatte sie protokolliert. Das Interview, das sie gerade aufgenommen hatte, würde sie als Video in YouTube veröffentlichen und in ihre Sammlung der Installationen aufnehmen.
Sie wiederholte ihren Text, ihre Gesten. Noch zwei kleine Änderungen, dann war sie zufrieden. Es fehlten die Interviewfragen, aber die würde sie als Textblasen einfügen. Es klingelte, ach Mist, mal wieder hatte sie die Zeit vergessen. Sie lief zur Tür, schaute durch das Guckloch und drückte die Klinke herunter.
„Hi, Paolo, komm rein.“
Paolo trat ein. Er kannte Nellies Ordnungsliebe und war dennoch nicht erstaunt über das Chaos, das er in ihrem Zimmer vorfand.
„Wieder mal ein Interview installiert?“
Nellie nickte, während sie den gröbsten Dreck beseitigte und die Tagesdecke glattzog. Die alten Stühle kamen in eine Abstellkammer, in der bis jetzt zwei recht bequeme Stapelstühle mit Sitzkissen verborgen waren. Die Sitzkissen hatten, wen wundert es, ein StarWars-Motiv.
„Guck’s dir mal an, hochgeladen habe ich das Video noch nicht, es ist ungeschnitten und die Interviewfragen sind nicht eingeblendet.“
Paolo hieß mit bürgerlichem Namen Paul. So ein Name eignet sich aber nicht für einen Bildhauer, der bald Berühmtheit erlangen wird. Paolo schaute sich die Sequenzen an, während Nellie weiter etwas Ordnung in das Zimmer brachte.
„Willst du Kaffee, Tee oder Wein?“ – „Am liebsten eine Tasse Kaffee, schwarz.“ – „Passt!“
Nellie goss Wasser in die Kaffeemaschine, holte ihren Klapptisch aus dem Abstellraum. Die Wohnung war klein, preiswert und günstig gelegen. Aber dieser Abstellraum war absolut Gold wert, wenn man eine Installationskünstlerin war.
„Hmmm, ja, gefällt mir. Vor allem die vorletzte Sequenz. Die solltest du nehmen.“
Nellie nickte. Sie wusste, dass sie sich auf das künstlerische Urteil von Paolo verlassen konnte. Genauso sachlich gab sie ihm ihr Urteil, wenn er sie bei einem seiner Werke um Rat fragte.
„Wenn du willst, kannst du mir die Interviewfragen geben und ich mime den Interviewer. Brauchst du dann nur zusammenschneiden.“
„Wow, eine geniale Idee! Wenn ich das nächste Video-Installations-Interview plane, lasse ich alles für dich stehen. Für dieses Video geht’s nicht mehr, denn ich habe ja schon wieder umgeräumt. Und wenn dann nur eine Flasche falsch liegt oder so, ist das superpeinlich. Wäre schön, wenn du dann was Passendes anziehst. Was so langweilige Zeitungsleute eben anhaben, du hast doch sicher auch noch irgendwas Passables im Kleiderschrank?“
Paolo nickte, deutete mit dem Finger auf die Kaffeemaschine: „Der dürfte jetzt soweit sein.“
Sie setzten sich an den Tisch. Nellie konnte ihren neuesten Plan nicht länger für sich behalten, außerdem würde sie Paolos Mithilfe benötigen.
Paolo hatte Bildhauerei an derselben Kunsthochschule studiert wie Nellie Malerei. Sie hatten sich bei der Aufnahmeprüfung kennengelernt und gleich beim ersten Geplauder gemerkt, dass sie künstlerisch in dieselbe Richtung gingen, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden und Materialien. Man traf sich in der Mensa oder bei irgendwelchen Ausstellungen, schließlich verabredeten sie sich auch außerhalb der Hochschule. Wenn Nellie heute Paolo jemandem vorstellte, tat sie das mit den Worten: „Das ist Paolo. Er ist meine beste männliche Freundin!“
Das charakterisierte ihrer Meinung nach ihre Freundschaft perfekt. Paolos Dauerfreundin hatte zwar erst mit etwas Eifersucht auf die innige Bekanntschaft reagiert, aber als sie merkte, dass es Gefilde gab, in denen Nellie ihr Paolo nicht streitig machte, weil dort keine gemeinsamen Interessen lagen, hatte sie sich beruhigt. Theresa mochte Nellie zwar nicht besonders, ging ihr möglichst aus dem Weg, machte aber keine Szenen, wenn Paolo und Nellie Zeit miteinander verbrachten. Da gab es gefährlichere Frauen ...
Paolo verdiente mit seiner Kunst noch weniger als Nellie, die mit ihren regelmäßigen Videos auf YouTube immerhin etwas Geld einnehmen konnte. Sie hatte über sechs Ecken Bekanntschaft mit einem Onlineshop-Besitzer gemacht, der ihr ein Affiliate-Programm angeboten hatte. Das brachte Nellie auf die Idee, überhaupt solche Links auf die Webseite zu platzieren. Ein weiteres kleines Einkommen. Mehrmals schon hatte sie Paolo versucht zu überzeugen, dass so etwas auch sein Leben finanziell vereinfachen würde. Aber er war da stur. Auf keinen Fall! Er arbeitete im Café ‚French Cheeses‘, das reichte zwar nur knapp für den Lebensunterhalt, aber Theresa steuerte gelegentlich Lebensmittel in die gemeinsame Lebensführung bei, ohne Paolo nach seinem Anteil zu fragen. Dass er mal eines seiner Werke verkaufte, kam höchst selten vor. Gelegentlich führte er Auftragsarbeiten aus. Dazu zählten beispielsweise Messeaufbauten, die nicht so Null-Acht-Fünfzehn aussehen sollten. Wenn er so an Geld kam, ging er im feinsten Delikatessladen großzügig shoppen oder führte seine Freundin in ein Nobelrestaurant aus. Er wusste, dass Theresa sich über solche „bürgerlichen Auswüchse“ freute. Und was soll’s ... sie tat so viel für ihn. Lange hielten seine so erworbenen Gelder nie.
Nellie hatte die Glaskanne mit Kaffee auf einen altmodischen Teelichthalter gestellt. Sie goss Kaffee in zwei Becher.
„Ich habe eine Wahnsinnsidee für eine Installation, die wird mir den Durchbruch bringen! Dann kann ich endlich raus aus dieser Winzlingswohnung, kann mir eine richtig gute Kamera kaufen und überhaupt, so einiges ... Und ich kann dich und Theresa auch mal in den ‚Grünen Peter‘ einladen!“
„Aber du magst doch die Leute im ‚Grünen Peter‘ gar nicht, zu viel Schickimicki mit Geld, sagst du doch immer!“
„Egal, Paolo, wenn ich reich bin, ist mir das nicht mehr so wichtig. Aber willst du denn nicht wissen, was ich vorhabe?“
„Doch, doch“, kam es etwas lahm von Paolo. Die rechte Begeisterung wollte nicht aufkommen, wie oft hatte er ähnliche Sprüche von Nellie schon gehört? Oder selbst von sich gegeben, wenn er mal wieder eine seiner genialen Ideen hatte, die leider nach Fertigstellung von niemanden für genial genug gehalten wurden, um Geld dafür auszugeben. Er sah das enttäuschte Flackern in den Augen seiner Freundin. Er klopfte ihr über den Tisch hinweg auf die Schulter:
„Sorry, das war nicht nett, ich weiß, ich habe ja noch nichts gehört. Bin nur gerade gefrustet, weil der Mann, der sich neulich für meinen ‚Gordon am Flussufer‘ interessiert hatte, nun doch vom Kauf zurückgetreten ist. Zweitausendfünfhundert Euro seien ihm zu viel. Und das, Nellie, du weißt es, entspricht schon nur einem Stundenlohn von sieben Euro. Kunst kommt nicht auf vernünftige Stundenlöhne, wenn man nicht in den großen Galerien steht, das weiß ich. Aber sieben Euro! Ich habe ihn dann gefragt, was er denn bereit sei zu zahlen. Das Teil würde wirklich super in seinen Garten passen, aber mehr als fünfhundert könne er nicht geben.“
Nellie schüttelte den Kopf, sie kannte dieses Problem. „Dann gehst du besser Zeitungen austragen!“
„Genau das habe ich dem Fuzzi vor die Birne geknallt. Da wurde er auch noch patzig, am Ende musste ich ihn vor die Tür setzen. Gut, dass Theresa nicht da war, sie hätte mir wieder Vorhaltungen gemacht. Sie meint immer, ich solle für jeden Preis verkaufen, nur so käme ich zu einem bekannten Namen. Aber, nee, verschenken tue ich meine Sachen nicht!“
Beide schüttelten den Kopf. Dann lieber ganz etwas anderes machen.
„Sorry, jetzt sind wir schon wieder von deinem Plan abgekommen. Erzähl mal.“ Mit diesen Worten lehnte Paolo sich in seinem Stuhl zurück. Nellie war keine Frau, die ihre Pläne in zwei Sätzen skizzierte. Er war schon gespannt. Er fand Nellies Ideen immer genial, aber leider waren sie da recht allein. Ob die Youtubeler Nellies Videos wirklich wegen des künstlerischen Wertes ansahen oder nur zum Zeitvertreib, das wusste niemand. Nellie trank noch einen Schluck Kaffee.
„Also ... ich möchte eine Installation über etwas machen, das als solches nicht greifbar ist. Keine Sozialkritik, die ist immer fassbar, weil leicht zu demonstrieren. Nichts anmahnen, nicht politisch sein. Keine Aussage machen, nur einen abstrakten Begriff ... ja, quasi eine Emotion, darstellen.“
„So etwas wie Liebe oder Hass?“ – „Nein, eben nicht. Noch schwerer fassbar. Liebe oder Hass kannst du an Gesichtszügen ablesen, also meist. Das kannst du in Gesten erfassen.“ Sie machte eine kleine Pause, während sie mit dem Finger über den Rand ihres Kaffeebechers fuhr.
„Ich will Freundschaft zwischen zwei Frauen als Installation darstellen.“ – „Hmmm, du willst also Bilder über Frauen malen, die im Café zusammensitzen, über ihre Männer plaudern, gemeinsam shoppen gehen?“
„Nein, nein, viel elementarer. Ich will eine Freundschaft schaffen, nur für die Installation. Das werde ich von Beginn an dokumentieren und, wenn die Freundschaft funktioniert, ebenfalls in Dokumenten vorstellen. In einem kommentierten Fotoband zum Beispiel, als Protokolle mit Begleitfotos, oder in Youtube-Videos.“
„Könnte reizvoll werden. Meine nächste Frage wäre: ‚Wo willst du den Beginn einer Freundschaft beobachten?‘, aber darüber hast du sicher schon nachgedacht.“
„Klar. Ich werde Teil des Kunstwerks sein. Ich brauche einen Verbündeten, und das bist du. Ich werde mir beispielsweise eine Fremde von der Straße nehmen, mich mit ihr regelmäßig im 'French Cheeses' treffen. Sie wird vorher wissen, dass ich eine Freundschaft erschaffen will, vielleicht sogar, dass sie Teil eines Kunstwerks wird. Ich möchte im ‚French Cheeses‘ eine Kamera aufbauen, dafür brauche ich deine Hilfe. Und auch als Dritten, der einen Außenkontakt darstellt. Und, last but not least, um mein Verhalten zu kontrollierem, wenn ich etwas nicht optimal gestalte.“
„Natürlich helfe ich dir. Immerhin hast du mir ja auch tagelang Modell gestanden für die Nixe im Schafskostüm an einer Ampel“.
Beide lachten, das war damals sehr lustig gewesen. Sie stand auf der Verkehrsinsel mit Schafsfell umwickelt, aus dem hinten ein langer buntschillernder Fischschwanz aus Plastik hing, Paolo mit einer gefühlten Tonne Ton auf dem Bürgersteig gegenüber.
„Was ich noch nicht entschieden habe: Wähle ich die Freundin zufällig aus, also z. B. die fünfte Frau, die nach zehn Uhr morgens aus dem Supermarkt kommt, oder treffe ich eine Vorauswahl so, dass die Frau mir sympathisch ist? Das würde das Kunstwerk vereinfachen. Ich könnte natürlich auch eine unsympathisch wirkende Frau nehmen und mir selbst somit eine Hürde aufbauen.“
Beide überlegten.
„Wie wär’s, du würdest eine Annonce in einem Portal aufgeben? Dann könntest du Sympathie und Antipathie mischen, denn E-Mail-Bewerbungen sind deutlich unzuverlässiger für eine Sympathiebewertung als persönliche Treffen. Außerdem ließe sich deine E-Mail als Anfangsknaller an die von dir geplante Dokumentation setzen. Bringt direkt ins Werk.“
Nellie überlegte, wobei sie in eine Zimmerecke schaute, die Augen leicht zusammenkniff und die Lippen vorwölbte. Paolo amüsierte sich, das war ihr typisches Nachdenkgesicht.
„Ja, das ist ’ne prima Idee. So eine Seite mit Kleinanzeigen wäre gut. Auf Kontaktbörsen suchen möchte ich nicht, das ist so genau der Platz, wo ich nicht hinwill. Würdest du mit mir einen Anzeigentext schreiben? Dann bist du gleich von Anfang an mit dabei!“
Da Paolo Einverständnis signalisierte, holte Nellie den Laptop an den Tisch, klappte ihn auf und drückte den Einschaltknopf.
Sie starrte auf den Bildschirm und klopfte mit den Fingern ungeduldig auf der Tischplatte, bis die Eingabeaufforderung für das Passwort erschien. „Weißt du, wenn ich mal reich bin, kaufe ich mir endlich einen richtig funktionierenden Laptop. Der hier ist so langsam, außer bisschen schreiben läuft da fast nichts mehr. Grafik? Kannste vergessen! Bisher bin ich dann immer zu reichen Freunden gegangen, wenn ich mal was in die Richtung machen will.“
„Reiche Freunde, so was hast du?“
Nellie grinste, „Na ja, Freunde halt mit mehr Geld als wir. Die sich so ordentlich was leisten können. Aber okay, let’s get down to it, pleeeeeze“.
Es dauerte etwa zwei Stunden, bis sie mit ihrem Entwurf zufrieden waren.
Die Anzeige
Nellie wollte ihre Anzeige exakt sieben Tage im Portal stehen lassen. Sie suchte sich eine kostenlose Domain mit eigener E-Mail-Adresse. Ein Jahr kostete es nichts, dann wurden fünfundzwanzig Euro im Jahr fällig. Bis dahin sollte sie mit ihrer Freundin so vertraut sein, dass sie ihr ihre echte E-Mail-Adresse geben könnte.
Freundschaft ist Anstrengung.
Arbeite mit mir!
Kuchen und Kaffee gibt’s umsonst.
Foto und kurze Infos über dich wären prima.
Zeitbedarf: Montagnachmittags,
jeweils etwa 2-3 Stunden
E-Mail: [email protected]
Man sollte nicht meinen, dass zwei Erwachsene, selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie Künstler sind, zwei Stunden für diesen Text benötigen. Aber es ist gar nicht so einfach, eine Anzeige zu formulieren, die inhaltlich offenbleibt, auffällt und kurz und knapp formuliert ist. Nellies erster Entwurf sah etwas anders aus:
Wer will meine Freundin sein?
Halt! Freundin kann man jetzt nicht schon sein.
Wer will meine Freundin werden?
Alter, Aussehen, Ausbildung – alles egal
Bei mehreren Bewerbungen
wähle ich aus.
Übrigens: Kaffee und Kuchen spendiere ich.
Du musst nur bereit sein und
zwei Stunden in der Woche Zeit für mich haben.
Den Wochentag kannst du dir aussuchen.
E-Mail: [email protected]
Paolo hatte das in Bausch und Bogen verrissen. „Der Text ist zu lang, außerdem ist der Hinweis auf die Gleichgültigkeit von Alter, Aussehen und Ausbildung missver ständlich, man könnte da an ein lesbisches Gesuch denken. Oder aber, es melden sich nur noch uralte Rentner, völlig schräge Typen beziehungsweis gesellschaftliche Randgestalten und Künstlerkollegen. Und das wäre das absolute Worst Case Scenario! Außerdem ist die Anzeige optisch schlecht, die mittigen Zeilen sind in der Länge zu ähnlich und ergeben nicht die gewünschte Form.“ Paolo hatte einen Freund, der in einer Druckerei für Grußkarten arbeitete, und wusste daher über solche Feinheiten Bescheid.
Dann brüteten sie über einem neuen Text, Paolo war als Erster fertig:
Du magst Kaffee und Kuchen?
Du musst nur 2 Stunden / Woche dafür arbeiten.
Erzähle mir einfach, was du von Freundschaft hältst.
„Ey, Paolo, da kommen nur die fetten Häschen, nee, das geht gar nicht. Und es muss schon 'rüberkommen, dass es vielleicht anstrengend wird.“
Und so ging das weiter, bis sie schließlich die Endversion erstellt hatten. Der Text war unvollständig, das wussten sie. Er barg ein Risiko, dass sich die Falschen meldeten, aber die wichtigen Punkte waren enthalten und die Gefahr eines grundsätzlichen Missverständnisses schien ihnen beiden relativ gering. Nellie hatte sich schließlich auch auf Montagnachmittag festgelegt, das schien ihr ernsthafter zu wirken, als die Zeit freizustellen. Wer wirklich interessiert ist, so meinte sie, würde sich auch melden, wenn er nur Dienstag kann, und um Verschiebung bitten. Außerdem ist der Nachmittag besser, da können auch Frauen, die einer Berufstätigkeit nachgehen. Das war Paolo eingefallen, ein Vormittag würde vermehrt Rentner und gelangweilte Ehefrauen reicher Männer auf der Suche nach Zeitvertreib anziehen. Nellie hätte gerne noch mehr Freunde dazu befragt, aber solche Umfragen sind ebenfalls risikoreich, am Ende weiß man dann gar nicht mehr, was gut und was schlecht ist.
Mit Spannung erwarteten sie Rückmeldungen. Nellie machte sich schon Gedanken, ob sie überhaupt die ganzen Einsendungen in einer vertretbaren Zeit sichten könnte.
Ein weiteres Problem für Nellie war die Art der Entscheidung. Sollte sie mit allen Kandidaten eine Probestunde verbringen? Sie war zwar bereit, Geld in dieses Kunstwerk zu stecken, und sie hatte schon mit dem Besitzer der 'French Cheeses' einen Sonderpreis für diese Aktion ausgehandelt, aber bei etwa dreihundert erwarteten Bewerberinnen wäre das selbst bei einem herabgesetzten Preis von drei Euro für Kuchen und eine Tasse Kaffee ein Einschnitt in ihr Konto, den sie sich nicht leisten konnte. Sie wollte nicht über ihren Kanal oder ihre Webseite werben, es sollte eine Frau sein, der sie möglichst unbekannt war, auch online. Außerdem wäre es merkwürdig, wenn sie nichts äße oder tränke, um die Kosten zu senken. Zwar war sie von Natur aus schlank und konnte zum Leidwesen ihrer Freundinnen kräftig zugreifen, ohne zuzunehmen, aber bei einem Stück Kuchen pro Tag würde das selbst bei ihr nicht so bleiben.
Paolo meinte, sie müsse sich die Frauen schon irgendwie anschauen, sonst könne das vollends in die Hose gehen, bevor es überhaupt angefangen habe:
„Stell dir vor, da kommt so eine vereinsamte Mutter, deren Mann dicke Geld scheffelt, nur um sich den Nachmittag zu gestalten: Worüber um Himmels willen kannst du mit so einer sprechen? Oder eine vierzehnjährige Schülerin, die nur Popstars und Schule im Kopf hat?“
„Nein, sicher wäre das nicht gut. Andererseits muss ich das Schicksal, den Zufall auch eine Rolle spielen lassen.“
Das nahm Paolo zum Anlass, ausgiebig seine Sicht von Zufall darzulegen. Wenn er einmal auf dieses Thema kam, war er kaum zu bremsen. Dreißig Minuten vergingen, und sie waren noch nicht wirklich weitergekommen. Aber wie immer, wenn sie etwas zusammen angingen, kamen sie zu einem Ergebnis, eben dem Anzeigentext. Ganz alte Rentner würden kaum Portale besuchen, die ganz jungen Mädels hatten sicher ebenfalls keine Lust, sich durch die Kleinanzeigen zu quälen, warum sollten sie? Nein, es musste jemand sein, der eine Wohnung, einen Mixer oder Ähnliches suchte und zufällig („Ha!“, warf Paolo ein) auf die Anzeige stieß. Nellie hatte sich durchgerungen, keine kostenlose Anzeige aufzugeben. Deshalb erschien ihr Text in den vier Rubriken Wohnungen, Auto, Küchenmaschinen und Gemischtes, in etwas größerer Schrift, Fettdruck und mit einem farbigen Rahmen. Sie bezahlte eine Extragebühr, damit ihre Anzeige sieben Tage lang immer bei den oberen zehn stand. Sie hatte anfänglich gehofft, mit eintausend Euro die ganze Aktion einschließlich Kuchen finanzieren zu können, da kamen ihr allmählich bald Zweifel. Eine Freundschaft schließt man nicht in drei Wochen, das dämmerte ihr langsam. Aber für einen Durchbruch darf man schon mal an die Reserven gehen.
Kandidatinnen und Vorauswahl
Am ersten Tag trennte Nellie sich nicht eine Sekunde von ihrem Handy, um keine E-Mail zu verpassen. Paolo rief sie mindestens fünfmal an diesem Tag an, aber es war nichts gekommen. Abends schaute Nellie zum x-ten Mal in die Kleinanzeigen,vielleicht war ihre Anzeige herausgerutscht? Nein, alles war okay, die Anzeige prangte oben in den vier Rubriken, sogar drei Stunden an oberster Stelle. In der Rubrik Wohnungen wurde sie als Erstes verdrängt und landete bis mittags auf Platz zehn, dann rutschte sie bei Gemischtes nach unten, aber sie war trotzdem deutlich sichtbar, keine Frage.
Nellie war abends fast verzweifelt, sie konnte sich nicht einmal zu einem neuen Interview zum Thema Wovon lebt ein bildender Künstler? aufraffen. Keine Konzentration, der Raum entsprach nach einer Stunde nicht ihren Vorstellungen, sie sah furchtbar aus. Kurz vor Mitternacht warf sie einen letzten Blick auf ihr Handy, morgens um sechs Uhr saß sie direkt nach dem Aufstehen vor dem Laptop. Rein gar nichts war gekommen. Sie war sich doch so sicher gewesen, dass der Zustrom immens würde! Teil ihrer Planung sah vor, dass sie nichts ändern durfte, was sie einmal entschieden hatte. Das bedeutete: Kein neuer Text, keine neuen Angebote und, wenn sie sich einmal für eine Kandidatin entschieden hatte (haha, welche Kandidatin?), musste sie das durchziehen. Sonst war es keine Installation, sondern eine Stellenanzeige mit Bewerberinnen.
Am zweiten Tag kostete es sie eisernen Willen und Paolos mehrfachen Zuspruch, nicht die Anzeige zurückzuziehen oder zu ändern. „Das ist so eine geile Idee, Nellie, du musst durchhalten, ich bin mir sicher, dass es klappt! Du hast doch deine Installationen bisher alle konsequent durchgezogen und genau das macht ihren Wert aus!“ Am Abend des zweiten Tages kam Paolo, der seine Freundin kannte, und brachte ihr eine Portion Spinat-Tortellini in Sahnesoße mit – Theresa war eine ausgezeichnete Köchin. Sie war einverstanden, dass er einen Teller für Nellie mitnahm. Sie bereitete meist sowieso riesige Portionen zu. Nellie liebt Tortellini, aber sie stocherte nur im Essen herum. Sie war nur enttäuscht, selbst Paolo konnte sie nicht aufheitern.
„Warte doch erst einmal ab! Du wirst schon sehen, das klappt!“
Aber auch sein aufmunterndes Lächeln erreichte sie nicht. Er war hilflos, verließ sie um elf Uhr und wünschte ihr noch eine gute Nacht. Nellie legte sich zwar ins Bett, aber sie starrte nur an die Decke. Was hatte sie falsch gemacht? War ihre Idee grundsätzlich verkehrt? Oder haperte es am Text? Hätte sie ihn doch lieber allein verfassen und sich nicht von Paolo beraten lassen sollen? Da fiel ihr der alte Spruch ein: Ratschläge sind auch Schläge. Hatte er ihre Idee zerschlagen? Sie wusste selbst, wie ungeheuer ungerecht das war. Sie zermarterte sich den Kopf, wie sie die Aktion retten könnte. Doch jemanden auf der Straße ansprechen? Sie schloss die Augen, wälzte sich von links nach rechts. Ab und zu glitt sie in einen oberflächlichen Schlaf, aus dem sie nur zu leicht wieder herausgerissen wurde. Sie stand auf, trank einen Schluck Wasser. Sie legte sich erneut hin und wartete auf den Schlaf. Der aber wollte nicht zu ihr kommen, er stand vor der Haustür und beobachtete die vorübergehenden Passanten. Nellie schaute auf ihre Uhr, es war bereits kurz vor vier. Sie überlegte, ob sie aufstehen sollte, Schlaf würde sie sowieso keinen mehr finden. Ein kleines „Ping“ riss sie aus diesen Überlegungen aus dem Schlaf, der klammheimlich doch in ihre Wohnung eingedrungen war und sie in einem unbeobachteten Augenblick übermannt hatte.
Nellie war sofort hellwach, griff zum Handy: Eine E-Mail von der Kleinanzeigenseite! Das wollte sie in einem großen Screenshot festhalten, das gehörte alles zur Dokumentation. Sie stand auf, setzte wieder einmal die Kaffeemaschine für einen starken Kaffee in Gang. Sie öffnete ihre E-Mail.
From: Babette Mittelhagen [mailto:[email protected]]
Sent: Freitag, 2. März, 04:56
To: Nellie
Subject: Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Nellie,
habe Interesse, bin 33 Jahre alt. Arbeite als Beamtin mit Gleitzeit. Geschieden, zwei Kinder, die bei meinem Mann wohnen. Sollen wir telefonieren? Bitte ruf mich an unter 01520xxx xxx.
Alles Liebe
Babette
Nellie war aufgeregt. Sie machte einen Screenshot von der E-Mail und überlegte, ob sie die Datumszeile entfernen sollte. Wie würde diese Installation sonst in zehn Jahren wirken, völlig veraltet? Sie entschied sich, das Jahr wegzuretouchieren. Außerdem xte sie die Telefonnummer aus. Sie trank in Ruhe ihren Kaffee. Nein, sie würde jetzt nicht anrufen, das war eine schlechte Zeit, möglicherweise war Babette genau in diesem Augenblick ins Bett gegangen? Um zwei Uhr nachmittags würde sie anrufen, das war eine telefonfreundliche Zeit. Und vielleicht noch Babette Bescheid geben? Es war wichtig, freundlich zu antworten, ohne aber zu enthusiastisch zu sein.
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Freitag, 2. März, 05:05
To: Babette Mittelhagen
Subject: Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Babette,
schön, dass du dich meldest. Ich konnte für dich heute ein Zeitfenster für einen Anruf finden, nämlich 14 Uhr. Ich hoffe, das passt dir. Ich melde mich dann.
Gruß aus den Wolken
Nellie
An diesem Gruß hatte Nellie lange gefeilt und mit Paolo darüber diskutiert. Es musste etwas Besonderes sein, das sich einprägt und sofort zeigt: Hier ist jemand, der anders ist als alle, die du kennst. Paolo hatte den „Gruß aus den Wolken“, ohne zu zögern, aus einer Liste mit zehn Vorschlägen gewählt.
Um kurz vor zwei setzte Nellie sich aufrecht an den Tisch. Sie hatte die Haare mit Gel nach oben frisiert, ein Outfit gewählt, wie es sich laut Vorstellung von Otto Normalverbraucher für eine Künstlerin gehört. Normalerweise telefonierte sie gern, während sie auf dem Bett lag. Vor drei Jahren hatte sie einen Kurs über richtiges Telefonieren besucht, weil sie sich in einem Callcenter bewerben wollte. Sie hatte einiges gelernt in dem Kurs, aber die Bewerbung war abgewiesen worden. Eine Sache aus diesem Kurs hatte sie sich eingeprägt: Deine Körperhaltung und deine Stimmung kommen rüber! Also sitz gerade am Tisch und zieh dich entsprechend an, wenn du etwas Wichtiges telefonisch zu erledigen hast.
Sie wählte die Nummer, die sie sich zuvor als Kurzwahl auf den Hauptbildschirm gelegt hatte. Es klingelte fünfmal, dann antwortete eine Frauenstimme:
„Ja, bitte?“ – „Spreche ich mit Babette?“ – „Ja, warum?“ – „Wir waren für 14 Uhr für ein Telefonat verabredet, wegen der Kleinanzeige in Sachen Freundschaft“. – „Ach ja, richtig ... das hatte ich schon fast vergessen.“ – „Du suchst eine Freundschaft, eine Freundin?“ – „Ich dachte, du suchst eine. Ich biete dir, was du suchst.“ – „Was denkst du denn, was ich suche?“
Kleine Pause, Babette lachte. „Na, du hast es ja wohl sehr nötig, und wenn du eine Frau suchst und deine komischen sexuellen Angewohnheiten mit Kaffee und Kuchen beschreiben möchtest, bitte schön. Ich mach’s auch für Geld.“
„Sorry, Babette, das ist wohl ein Missverständnis. Ich suche eine Freundin zum Quatschen, nicht Knutschen“.
Babette legte ohne ein weiteres Wort auf. Vermutlich hieß die Frau gar nicht Babette. Nellie hatte das Gespräch mitgeschnitten. Ihre Formulierung „zum Quatschen, nicht Knutschen“ gefiel ihr ausgesprochen gut. Falls sie die Anzeige nochmals aufgeben würde, käme das auf jeden Fall hinein! War das der Durchbruch? Es sah so aus. Abends, kurz vor dem Abendessen kam die nächste Mail. Nellie überlegte, ob sie sich wohl auf eine lange Nacht vorbereiten müsse, jetzt wo der Damm gebrochen war.
From: Mariana [mailto:[email protected]]
Sent: Freitag, 2. März, 18:21
To: Nellie
Subject: Ihr Anzeige Nr. 60243
Sehr geehrte Nellie,
ich auch Freundin suchen. Mein Foto und Bewerbung in Datei. Kind kann Montag
Nachmittag in Kita, habe gefragt. Fände schön, wenn treffen.
Mit freundlichen Grüßen
Mariana
Nellie ließ den Anhang von ihrem Virenscanner überprüfen, der Check lief ohne Meldungen durch. Mariana hatte einen detaillierten Lebenslauf angehängt, mit allen Einzelheiten ihres Lebens. So genau hatte Nellie es gar nicht wissen wollen. Mariana hatte in ihrer Heimat Rumänien vor sieben Jahren im Sommer einen deutschen Urlauber kennengelernt. Um ihn zu heiraten, war sie nach Deutschland gekommen. Es war sicherlich nicht einfach gewesen, eine Heiratserlaubnis zu bekommen, überlegte Nellie. Deshalb hatte es bis zur Hochzeit zwei Jahre gedauert. Vor vier Jahren war das erste Kind geboren worden, vor zwei Jahren das nächste. Der deutsche Mann war vermutlich nicht so wohlhabend, wie er sich im Urlaub aufgespielt hatte, denn der Lebenslauf zeigte diverse Jobs für Mariana bis zum Mutterschutz und so schnell wie möglich nach der Geburt. Was für Schicksale teils in Lebensläufen verborgen sind! Einen Deutschkurs hatte sie vier Monate lang besucht. Vor einem Jahr war sie geschieden worden, sie hatte nicht aufgeführt, warum und wer die Scheidung eingereicht hatte. Die Kinder blieben bei ihr, sie arbeitete jetzt in einer Keksfabrik und ging abends Putzen. Da blieb, stellte Nellie fest, nicht viel Zeit, um Freundschaften zu schließen.
Bei allem Mitleid war Mariana jedoch für Nellie keine geeignete Kandidatin. Sie suchte eine Frau, die – auch wenn es unfair aussah – vom Leben nicht gebeutelt war, außerdem sollte diejenige perfekt Deutsch sprechen. Sie wollte keine Verfälschung durch Sprachprobleme. Nun musste sie noch eine nette Antwort finden. Da hilft nur eine Notlüge, und so schrieb Nellie:
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Freitag, 2. März, 21:03
To: Mariana
Subject: Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Mariana,
schön, dass du dich meldest. Leider habe ich gestern schon jemanden gefunden. Ich wünsche dir und deinen Kindern alles Gute!
Gruß aus den Wolken
Nellie
Nellie war ein wenig glücklicher als zuvor, denn es lief. Sie hatte zwar noch keine Frau gefunden, aber immerhin zwei Meldungen. Es war nicht hoffnungslos! Diesen Schwung positiver Laune nutzte sie, um ihre Wohnung in Ordnung zu bringen, inklusive Auswischen der Schränke von innen. Kurz vor ein Uhr nachts war sie fertig mit Aufräumen. Sie war recht müde und schlief sofort ein. Ihr Handy lag im Bad, deshalb hörte sie nicht, dass über Nacht einige neue E-Mails eintrafen. Als sie morgens um kurz vor zehn, noch halb verschlafen, ins Badezimmer schlich, sah sie das leuchtende blau-pulsierende Licht erst gar nicht. Während sie, immer noch verschlafen, die Zahnbürste kreisen ließ, kam der Augenblick: Gedankenverloren ließ sie den Blick durch ihr kleines Bad streifen, über den Heizstrahler links oben, die Sitzbadewanne rechts. Dann schaute sie auf die Ablage vorm Spiegel und somit auf das Licht. Sie beendete das Zähneputzen einige Sekunden vor Ablauf der Zeit, griff sich das Handy und ging ins Wohnzimmer (das gleichzeitig ihr Schlafzimmer war). Sie goss Wasser in den Wasserkocher, gab etwas Trinkschokoladenpulver und zwei Stückchen Schokolade in eine große Tasse und ließ das Wasser aufkochen. Sie goss das heiße Wasser in die Tasse und rührte, bis sich die Schokolade komplett gelöst hatte. Sie war stolz auf ihre Selbstdisziplin: Sie hatte noch immer nicht geschaut, was das Licht bedeutete. Es konnte eine beliebige andere Nachricht sein, eine WhatsApp-Mitteilung, ein neuer Download, wer weiß.
Das Zimmer strahlte vor Ordnung und Reinlichkeit, so ließ sich ein Morgen gut beginnen. Noch im Schlafanzug setzte sie sich auf das kleine Sofa in der Ecke, drehte sich so, dass sie die Beine hochlegen konnte. Sie lehnte den linken Arm auf den Tisch, auf den sie den Kakao abgesetzt hatte, das Handy hatte sie auf den Schoss gelegt. So konnte sie gleichzeitig trinken und lesen.
Keine Whatsapp-Nachricht, aber elf E-Mails. Wow, wie wahnsinnig! Sie öffnete das E-Mail-Programm, drei Spam-Nachrichten löschte sie sofort, wobei sie murmelte: „Nein, danke, ich brauche keine tollen Tabletten, kein Hochregal und kein Dutzend superpreiswerte Bürostühle.“
Sie hob den Kopf und dachte nach: Eine Installation mit Spam-Mails, darüber wollte sie als nächstes Projekt nachdenken. Hochaktuell und sogar gesellschaftskritisch. Sie wollte sich das gleich notieren, um es nicht zu vergessen, aber erst nach den anderen acht E-Mails schauen. Eine war von ihrer Freundin Lucienne, die sich zurzeit mit ihrem Mann in China aufhielt. Da ihr Mann als Experte für Rotationsmaschinen viel unterwegs war, hatte Lucienne ihre Tätigkeit als Bühnenbildnerin aufgegeben und reiste mit ihm durch die Lande. Sie schrieb nicht regelmäßig, aber sie meldete sich immer wieder einmal. Dann verfasste sie ellenlange E-Mails, die Nellie genauso gewissenhaft und ausführlich beantwortete. Die beiden hatten viel Freude an der Fortführung ihrer Freundschaft in schriftlicher Form.
Ja, und dann waren da noch acht E-Mails, alle mit Betreff Kleinanzeige Nr. 60243.
From: Franziska Maihofer[mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 3. März, 02:01
To: Nellie
Subject: Kleinanzeige Nr. 60243
Liebe Nellie,
was du anbietest, klingt wie die Aufgabe für eine Semester- oder Bachelorarbeit.
Da hätte ich Spaß dran, wenn du magst. Meine Telefonnummer steht auf dem
Lebenslauf im Anhang.
Liebe Grüße
Franzi
Nellie schaute sich das Foto an. Franziska war mindestens zehn Jahre jünger als sie, etwa Anfang bis Mitte zwanzig. Sie lachte fröhlich in die Kamera, ihre dunkelblonden langen Haare waren teils zu einem Dutt auf dem Kopf gebunden, der Rest fiel locker über die Schultern. Nellie fand das Bild der jungen Frau sympathisch. „Etwas jung, gleichaltrig wäre besser, aber es ist im Rahmen. Kommt auf den Stapel mit möglichen Kandidatinnen.“
From: Anja Becker[mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 3. März, 6:07
To: Nellie
Subject: Deine Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Nellie,
ein Foto findest du im Anhang, kein Lebenslauf. Du willst doch meine Freundin werden, da musst du mich schon ausfragen. ;-) Coole Idee.
LG Anja
Das Foto passte zum kecken Text, fand Nellie. Anja trug eine etwas altmodische Brille mit Goldrand, sie musste so etwa im gleichen Alter wie sie sein. Dumm sah sie nicht aus. Andererseits ... es würde nicht reichen, die Idee cool zu finden. Nellie guckte auf das Foto, versuchte zu ergründen, ob Anja genug Durchhaltekraft hätte. Das Foto blieb starr und gab keine Antwort. Daher öffnete Nellie die nächste Mail.
From: Lisa Budeke [mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 3. März, 8:17
To: Nellie
Subject: Kleinanzeige Nr. 60243
Hi Nellie,
ich heiße nicht Lisa, wie oben steht. Ich weiß nichts von dir, daher möchte ich auch von mir nichts schreiben. Deine Anzeige sprach mich direkt an, als hättest du sie für mich geschrieben.
Ich esse gern Kuchen, am liebsten Obsttorte. Davon kann ich recht große Mengen vertilgen.
Viele Grüße
Tina
Das angehängte Foto zeigte das Gesicht einer Frau von vorn, aber die Augen waren wie in klassischen Suchfotos mit einem schwarzen Balken abgedeckt. „Warum“, so fragte sich Nellie, „hat sie nicht gepixelt? Das wäre doch der Trend dieser Tage“. Die braunen Haare waren schulterlang, die Nase breit, der Mund ein schmaler Schlitz. Tina trug einen Wollschal auf dem Foto. Irgendwie war das Foto packend, bedrohlich, Photoshop hatte garantiert einen Anteil daran. Das Bild erinnerte sie an die Spammails angeblich junger russischer Frauen, die einen Freund suchen. Auf eine gewisse Weise faszinierend. Konnte eine der restlichen Mails das toppen?
From: Petra Meierling [mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 3. März, 9:05
To: Nellie
Subject: Ihre Anzeige Nr. 60243
Guten Tag Nellie,
ich darf du sagen? Deine Anzeige finde ich interessant. So als wenn du einen bestimmten Plan hast. LOL. Ich mag Geheimpläne. ;-) Ich bin Grundschullehrerin, daher habe ich nachmittags durchaus Zeit. Sonst gibt es nicht viel über mich zu sagen, unverheiratet, mein Alter darfst du vom Foto raten. 8-)
Habe schon Hunger auf zwei große Stücke Kuchen :-) :-) :-)
Petra
Auf dem Foto sah man eine Frau zwischen Ende dreißig/Anfang vierzig, vermutlich etwas älter als Nellie. Sie hatte ein Gesicht, das bestimmt viel lachte. Konnte sie sich wirklich bei den Kindern durchsetzen? Sie sah nicht so aus, als strahlte sie Autorität aus. Ihre blond gefärbten Haare waren kurz geschnitten, sie trug eine Nerd-Brille und ein T-Shirt mit der Aufschrift „I Love“..., aber die nächste Zeile war abgeschnitten.
Nellie wusste in diesem Augenblick, dass sie nicht weiter suchen musste. Tina oder Petra, da war noch eine Entscheidung zu treffen. Für sie hatten die beiden etwas, das ihr deutlich vermittelte: Hier ist der Einstieg in ein phänomenales Werk. Sie sagten allen anderen ab: Franziska, Anja und so weiter. Sie löschte die Anzeige auf dem Kleinanzeigen-Portal. Sie hatte sich die beiden Kandidatinnen-Mails ausgedruckt, sie lagen vor ihr auf dem Tisch. Sie wartete auf eine Eingebung, ähnlich wie die, die ihr gerade gesagt hatte, dass sie nicht mehr länger suchen müsse. Aber da kam nichts. Sollte sie Paolo anrufen und um seine Meinung bitten? Nein, das widerstrebte ihr aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht benennen konnte. Diese Entscheidung war so wesentlich für das Gelingen ihres Werks, dass sie sie allein treffen musste.
Sie duschte sich, zog sich an und entschloss sich, den täglichen Einkauf mit einem Spaziergang durch den Park zu verbinden. Vielleicht träfe sie ja ein Eichhörnchen, das ihr den Weg zur Entscheidung zeigen würde? Vermutlich könnten Tina und Petra ein paar Stunden warten, ohne gleich ungeduldig zu werden.
Die Entscheidung
Im Park war es erholsam wie immer, Nellie sah drei Eichhörnchen über die Wege rasen und die Bäume hochflitzen. Oder war es ein einziges Tierchen, das um sie herumzischte? Sie konnte dennoch die Installationsfrage nicht entscheiden, denn das Eichhörnchen war zu keinem Gespräch bereit und half ihr somit nicht weiter. Sie kaufte das Übliche: Kakao, Haferflocken, ein bisschen Obst. Nudeln. Auf Gemüse hatte sie heute keine Lust. Sie wusste, dass ihre Ernährung derzeit nicht optimal war, aber egal. Nellie hatte sich an ihre Essmarotten gewöhnt, außerdem hieß es doch jetzt überall, dass man auf seinen Körper und dessen Gelüste hören solle, da lag sie ganz weit vorn. Was für ein Blödsinn, dachte sie, wenn ich ständig auf meinen Körper hören würde beim Essen, käme ich in die Untergewichtsebene und außerdem würde ich ausschließlich von Kartoffelchips und Pommes leben.
So ließ sie die Gedanken durch ihr Leben schweifen, das war eine ihrer Fähigkeiten: sich selbst ablenken vom eigentlichen Ziel ihres Denkens. Alles nach dem Motto „Mein Unterbewusstsein regelt das für mich.“ Darauf verließ sich Nellie gern. Sie schleppte ihre Einkäufe heim und starrte erwartungsvoll auf die beiden ausgedruckten E-Mails auf dem Tisch. Aber die lagen genauso da wie vorher, kein Lüftchen hatte ein Papier so quasi als Wegweiser bewegt. Fenster öffnen und warten bis eins wegfliegt? Nein, das wäre zu abergläubisch. Zwar fand Nellie schon, dass es so etwas wie Schicksal und Fügung gibt, aber zu weit wollte sie da nicht gehen. So gänzlich ohne ‚Lenkung von oben‘ konnte sie sich ihr Leben nicht vorstellen. Ihre Eltern hatten sich zwar bemüht, ihr eine göttliche Fügung glaubhaft zu vermitteln, aber davon hatte sie sich recht früh distanziert. Sie hatte alles ordentlich durchlaufen, Konfirmation usw., und das war’s dann auch. Dem Trend, sich mit anderen Religionen zu befassen, folgte sie nicht. Sie hatte einmal eine Ausstellung „Kunst ist meine Religion“ genannt. Die kam nicht überall gleich gut an. Schicksal jedoch ... doch ja, sie würde nicht sagen, dass sie daran glaubte, aber sie hielt es für existent.
Sie hatte immer noch keine Entscheidung erreicht. Ihr Spezialkakao sollte helfen. Als er fertig war, setzte sie sich an den Tisch, rührte in der Tasse, trank den Kakao löffelweise und starrte weiter auf die Blätter. Nein, heute war nicht der geeignete Tag für eine Entscheidung. Es war zu wichtig, als es übers Knie zu brechen. Antworten wollte sie jetzt schon, denn sie konnte es selbst auch nicht leiden, wenn sie jemandem schrieb und dann dauerte es Tage, bis eine E-Mail zurückkam. Erst einmal an Lisa alias Tina.
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 3. März, 20:04
To: Lisa Budeke
Subject: Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hi Tina,
vielen Dank für deine Mail, die gefällt mir wirklich gut. Ich möchte über die Entscheidung noch einmal schlafen. Ich hoffe da auf dein Verständnis.
Und Obstkuchen mag ich auch von allen Kuchen am liebsten!
Gruß aus den Wolken
Nellie
Nellie fand den Hinweis auf den Obstkuchen wichtig, damit gleich eine Grundlage gelegt wurde für Gemeinsamkeiten. Eine Freundschaft ohne Gemeinsamkeiten war für sie nicht vorstellbar. Es muss nicht alles übereinstimmen, aber Eckpunkte sollten vorhanden sein. Die sind vor allem am Anfang wichtig.
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 3. März, 20:16
To: Petra Meierling
Subject: Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Guten Tag Petra,
vielen Dank für deine Mail, die gefällt mir wirklich gut. Natürlich kannst du „Du“ sagen! Ich möchte über die Entscheidung noch einmal schlafen. Ich hoffe da auf dein Verständnis.
Du kannst ja mein Stück Kuchen immer mitessen, ich bin eher so der herzhafte
Typus. ;-)
Gruß aus den Wolken
Nellie
Nellie hatte auch hier einen Hinweis auf den Kuchenzusatz gegeben, das gab eine persönliche Note. Falls also Tina oder Petra vermuteten, Nellie würde mit einer Standardmail antworten, konnte sie diesen Verdacht so aus der Welt räumen. Ob die Kuchensätze der Grund waren, warum sie diese Mails ausgesucht hatte? Es fiel ihr erst bei den Antworten auf, dass beide vom Kuchen sprachen. Das ist schon eigenartig. Der ‚Gruß aus den Wolken‘ gefiel ihr mittlerweile so gut, dass sie ihn gleich in ihre Signatur ihrer offiziellen E-Mail-Adresse einbaute. Besser als das Übliche „Einen schönen Tag wünsche ich noch“ und ähnlicher dahergeredeter leerer Mist.
Ihr Handy klingelte, Paolo.
„Ja, hi, was gibt’s?“ – „Wollte mal fragen, was dein Projekt macht. Kommst du vorwärts?“ – „Klar, aber ich kenne dich, du bist so neugierig, du willst doch sicher mehr wissen!“ – „Hmmm, du hast mich wieder einmal durchschaut, ich stehe unten vor deiner Tür. Mit Sandwiches!“ – „Okay, ich lass dich rein – aber nur wegen der Fressalien!“
Paolo kam herein, mit fünf Sandwiches unterm Arm. Er hatte vorher in den 'French Cheeses' gearbeitet, die Angestellten durften abends Reste mitnehmen.
„Ich bin schon satt, du kannst behalten, was du nicht schaffst. Das reicht dann für ein paar Tage.“
Paolo wusste, dass Nellie zu essen vergaß, wenn sie ein neues Projekt in Angriff nahm oder in der Endphase war. Da Theresa gern und lecker kochte, nahm er all diese Sachen im Café nur für Nellie mit.
„Zu einer Cola würde ich nicht nein sagen ...“
Nellie holte eine Dose aus dem Kühlschrank und stellte sie vor ihn auf den Tisch.
„Wie weit bist du?“, erkundigte er sich.
„Ich werde mich morgen entscheiden, ich habe zwei vielversprechende Kandidatinnen. Die gefielen mir auf Anhieb. Du kannst dir die Mails anschauen, aber sag bitte nichts. Ich möchte in meiner Entscheidung unbeeinflusst sein.“
Paolo nickte, das kannte er. Nichts war schlimmer, auch wenn es noch so gut gemeint war, wenn er mit einer Arbeit begann und Theresa ihm Tipps gab oder überhaupt nur etwas dazu sagte. Er zog die Lasche an der Dose hoch und nahm einen kühlen Schluck. Er beugte sich über die beiden Blätter und las sie.
„Kann ich die anderen Bewerbungen auch mal sehen?“ – „Schon gelöscht.“ – „Okay, ich vergesse immer, wie unkünstlerisch ordentlich du bist.“
Paolo überlegte, er hatte noch eine halbe Stunde Zeit. „Sollen wir eine Runde Mensch-Ärger-dich-nicht spielen?“
„Prima Idee!“ Nellie stand auf und holte ihre Spielesammlung. War das albern, dass sie immer noch Brettspiele wie Halma, Dame, Mensch-ärger-dich-nicht und Schweinchen-auf-der-Leiter mit Begeisterung spielte? Egal, zum Glück hatten all ihre Freunde genau wie sie Spaß daran. Vielleicht suchte sie sich ihre Freunde sogar danach aus? Oha, das hatte sie vergessen, sie hätte Tina und Petra nach ihrer Begeisterung für Brettspiele fragen sollen. Andererseits wollte sie selbst diese Freundschaft als Kunstfigur eingehen, sie müsste daher ihre wirklichen Vorlieben nicht alle preisgeben. Am besten schon jetzt eine Liste anlegen, was ihre Kunstfigur von ihr selbst unterschied.
Sie kritzelte eine Notiz auf eine der E-Mails. „Mau-Mau.“ Paolo folgte ihrer Hand.
„Willst du lieber Mau-Mau spielen? Ich dachte, du bist nicht so der Freund von Kartenspielen, eher sind Brettspiele was für dich.“
„Da hast du völlig recht, aber die Nellie-Installation mag Mau-Mau.“
Paolo gewann zweimal, sie einmal. Das war ein ausgeglichenes Ergebnis, denn beim letzten Spieleabend hatte sie viermal gewonnen, Paolo nur einmal. Er verabschiedete sich im Anschluss und ermahnte sie:
„Vergiss nicht, mir Bescheid zu geben, für wen du dich entschieden hast.“
Nellie starrte aus dem Fenster ins Dunkle, ein Glas mit Leitungswasser in der rechten Hand. Sie schrak zusammen:
„Sorry, was hast du gesagt? Hab’s nicht mitbekommen.“ – „Dass du mir sagst, mit wem du dich anfreundest!“ – „Ist doch klar. Tschüss, und grüß Theresa von mir.“
Sie mochte Theresa nicht sonderlich, umgekehrt war es vermutlich ähnlich. Aber als Zeichen des guten Willens ließen sie gegenseitig immer Grüße ausrichten. Nachdem Paolo sie verlassen hatte, räumte Nellie auf. Sie mochte nicht ins Bett gehen, wenn Unordnung überwog. Dann zog sie sich kurz entschlossen ihre Jacke über und stromerte in der Nachtluft kurz durch die Stadt. Im Park waren leider nur die drei Hauptwege beleuchtet, das war keine Alternative. Sie ging durch die Straßen, der Abend hatte eine eigene Atmosphäre. Es war etwas Bedrohliches in der Luft. Bedrohlich? Nein, eher etwas Unbekanntes, etwas, das lauert.
Sie ging im Kopf noch einmal die E-Mails durch, sie kannte sie bis auf den letzten Buchstaben auswendig. Aus beiden sickerte, so empfand sie das, etwas Unheimliches, vermutlich hatten die wiederholten Überlegungen sie so in Besitz genommen. Bei der ersten E-Mail mit dem komischen Foto lag es auf der Hand, dass ihr da mulmig wurde. Vielleicht eine Frau mit einer schweren Psychose? Das könnte sie nun wirklich nicht gebrauchen. Obwohl das Thema Psychose sich ausgezeichnet für eine Installation eignen würde. Im Kopf notierte sie: „Psychose als Installation“. Was aber verstörte sie an der zweiten E-Mail? Die war völlig normal, ein paar Smileys zu viel, aber das ist ja nichts Schlimmes. Sie schüttelte den Kopf, witterte sie jetzt schon überall Gespenster? Sie kehrte nach Hause zurück, die E-Mails lagen unverändert auf dem Tisch. Sie knipste das Licht aus, um sich ins Bett zu legen, aber die E-Mails versprühten etwas wie Fluoreszenz, Schwingungen. Sie schob sie übereinander, drehte sie um und knallte die Tageszeitung darüber.
„Ihr könnt mich echt mal!“
Sie schlief unerwartet schnell ein, schreckte aber mehrmals nachts aus düsteren Träumen hoch. Sie wurde verfolgt, versuchte zu fliegen und landete auf einem Berg Papier, es waren lauter zerrissene E-Mails. Oder Paolo schnappte sich ihre E-Mails, lachte wie ein aufgeregter Affe und rief mit hohler Stimme „Die Idee ist genau wie für mich gemacht, so schaffe ich den Durchbruch.“ Ein anderes Mal saß sie an einem riesigen Tisch, vollgetürmt mit Obstkuchen. Sie durfte erst vom Tisch aufstehen, wenn sie den ganzen Kuchen vertilgt hatte. Schon nach dem zweiten Stück brachte sie keinen Bissen mehr herunter und hatte den Eindruck, sie müsse alles ausspucken. Oder durch ihr Fenster schaute ein augenloses Gesicht mit merkwürdigen Gesichtszügen. Um sechs Uhr war sie wach. Ob die ganze Aktion vielleicht doch zu waghalsig war, wäre es schlussendlich besser gewesen, eine Frau auszuwählen, die sie auf der Straße traf? Da lässt sich ein konkreterer Eindruck gewinnen. Sie fröstelte, setzte sich auf den Stuhl und legte sich ein Dreieckstuch um die Schultern. Das Tuch war ein Geschenk von Andrea, echt lieb, wer weiß, wie lange sie daran gestrickt hatte! So gewappnet schaute Nellie in ihre E-Mails. Tina und Petra hatten geantwortet.
From: Lisa Budeke [mailto:[email protected]]
Sent: Sonntag, 4. März, 3:02
To: Nellie
Subject: Re. Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hi Nellie,
du bittest um mein Verständnis. Aber wenn ich nicht einverstanden bin, ändert das doch nichts, oder? Was jetzt nicht heißt, dass ich es nicht bin.
Wie viele Stück Kuchen kann ich umsonst essen?
Viele Grüße
Tina
Nellie fand diese E-Mail auf Anhieb befremdlich. Sogar ein wenig aggressiv. Und was sollte die Frage nach den Kuchenstücken? Eigenartig.
From: Petra Meierling [mailto:[email protected]]
Sent: Sonntag, 4. März, 9:04
To: Nellie
Subject: Re. Re. Ihre Anzeige Nr. 60243
Guten Tag Nellie,
klar, ich verstehe, dass du das nicht übers Knie brechen möchtest. :-) Wäre nett, wenn es nicht mehr zu lange dauert, das wirst du sicher verstehen. :-) :-)
Oki, mit dem Kuchen geht klar, aber dann gehen wir nicht zusammen Pizza essen hahaha, sonst kriege ich da sicher nix ab. <Lach> Petra 8-)
Auch diese Mail fand Nellie nicht mehr so treffend wie die erste. Ständig diese Smileys, ein paar weniger Würden reichen.
Sie dachte: „Wenn ich antworten würde, wäre ich ... anders. Oder wenn ich mir vorstelle, ich hätte mit Andrea solche Mails getauscht, nie hätte die diesen Druck ausgeübt. Es ist doch nichts Geschäftliches. Für mich, ja, ist es wichtig als Installation, aber das Gegenüber sollte doch auch den Spaß sehen.“ Ihr fielen ihre Träume wieder ein. Sie zog das Dreieckstuch enger um sich und schaute auf die Uhr. Kurz nach zehn. Ja, da könnte sie Andrea anrufen.
Bisher hatte sie außer Paolo niemandem von ihrem Plan erzählt. Andrea war selbst keine Künstlerin, sie arbeitete in einer Consultingfirma. Sie hatte aber immer ein offenes Auge und Ohr für Kunst, respektive für Nellies Werke, die ihr meist total gefielen. Erst aktualisierten sie gegenseitig die Neuigkeiten. Bei Andrea gab es nichts Neues, sie war immer noch mit Jochen zusammen, aber von Heirat war keine Rede, das war für sie beide derzeit kein Thema. Andrea hörte Nellies neustem Plan aufmerksam zu und war wie gewohnt begeistert.
„Was du immer für Ideen hast, das ist der reine Wahnsinn! Schade, dass ich mich nicht mehr bewerben kann.“
„Ja, das ist schade ... das wäre eine tolle Installation geworden.“
Nellie las Andrea die beiden Mails vor.
Andrea überlegte laut: „Also diese Tina, die hat sicher einen Knall. Sie hat doch hoffentlich nicht deine Adresse?“ – „Nee, nee, nur diese E-Mail-Adresse, und die habe ich extra für das Projekt geschaffen.“ – „Gut, da bin ich echt beruhigt. Und Petra? Hmmm, ich weiß nicht, wenn du sonst niemanden hast, könnte das gehen. Ich habe aber wie du diese Allergie gegen ‚Lach‘ und ‚LOL‘. Bisschen komisch ist die auch, und wenn du einen Widerwillen gegen beide hast, ja, da würde ich dir eher abraten. Gibt’s denn wirklich sonst niemanden mehr?“
„Ich habe alle Mails gelöscht, nachdem ich diese beiden gelesen hatte. Nur noch überflogen, nicht gelesen.“ – „Und eine neue Anzeige aufgeben?“ – „Das ist gegen die Regeln!“ – „Aber die hast du doch selbst aufgestellt, also kannst du sie doch neu formulieren.“
Nellie seufzte. Bei aller Unterstützung, die Andrea ihr gab, tauchten doch immer wieder Punkte auf, wo sie zu geschäftsmäßig dachte, nicht als Künstlerin. Wenn sie eine neue Anzeige aufgäbe, würde das die Grundlage, auf der ihr Gedankengerüst aufbaute, zerbrechen.
„Ich schau mal, Andrea. Und jetzt erzähl‘ mir mal von Teneriffa, ihr wolltet doch bald dahin fliegen, ist das noch auf dem Plan?“
„Na, klar, ich freu mich schon wie doof darauf, Jochen hat’s ebenso schwer nötig. Und stell dir vor, er hat mich doch letztlich wahrhaftig gefragt, wie ich zu meiner biologischen Uhr stehe. Da war ich ziemlich platt.“
So plauderten sie eine weitere Viertelstunde. Zum Schluss bat Andrea sie: „Bitte, Nellie, teile mir unbedingt mit, wie’s weitergeht! Ich find’s total aufregend!“
„Mach ich. Und falls wir nichts mehr voneinander hören: Ich wünsche euch einen tollen Urlaub“.
Was war das Ergebnis des Telefonats? Andrea teilte das komische Gefühl in Sachen E-Mails. Nein, beide kamen nicht in Frage. Sie würde Tina und Petra absagen ... und was dann? Eine Alternative wäre es, die gelöschten Mails, die sie nur überflogen hatte und die ihr zu langweilig erschienen, wieder aus dem Papierkorb holen. Alles ausdrucken, die Blätter falten, alle in einen großen Topf geben, umrühren – und nach dem Zufallsprinzip eine E-Mail ziehen. Aber erst einmal das Unangenehme erledigen.
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Sonntag, 4. März, 14.03
To: Lisa Budeke
Subject: Re. Re. Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hi Tina,
ich denke, ganz ehrlich, dass es mit uns beiden nicht klappt. Bitte nicht böse sein!
Der Mailaustausch hat mir Spaß gemacht.
Gruß aus den Wolken
Nellie
Nellie konnte es im Grunde egal sein, ob Tina böse war oder nicht, aber sie war harmoniebedürftig. Einer ihrer Leitsprüche war „Man trifft jeden Menschen im Leben zweimal“. Andrea belächelte das immer, sie war deutlich rigoroser.
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 4. März, 14.19
To: Petra Meierling
Subject: Re. Re. Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Petra,
ich denke, ganz ehrlich, dass es mit uns beiden nicht klappt. Bitte nicht böse sein!
Der Mailaustausch hat mir Spaß gemacht und vielleicht treffen wir uns ja mal in einer Pizzeria, du erkennst mich an den beiden Pizzen auf dem Teller. Lach.
Gruß aus den Wolken
Nellie
Nellie schrieb nie ‚Lach‘ oder ‚LOL‘, aber das war quasi die versöhnliche Hand, die sie ausstreckte. Sie hatte die Mail an Petra gerade abgeschickt, als schon eine Antwort von Tina eintrudelte. Sie las nur die erste Zeile, die aus wüsten Beschimpfungen und zotigen Bemerkungen bestand. Puh, welch weise Entscheidung, dass sie diese Frau nie getroffen hatte, die war offenbar nicht ganz dicht. Eher ein Fall für einen Arzt als für eine Installation. Sie erhielt in den nächsten Tagen noch mehrere Mails von Tina, alle im gleichen Stil. Erst bat sie die Frau noch freundlich, doch Ruhe zu geben, dann löschte sie alles, was von Lisa Budeke kam, ungelesen. Nach drei Wochen kehrte endlich Stille ein.
Petra antwortete gar nicht mehr. Auch gut.
Nellie war unter Zeitdruck, um fünfzehn Uhr begann der Flohmarkt im Park, der einmal im Vierteljahr sonntags stattfand. Da gab es echt schöne praktische Dinge, wie beispielsweise den Mixer, den sie sich sonst nie hätte leisten können. Und für ihre Kunst fand sie immer etwas Brauchbares. Auf dem Flohmarkt traf sie einige alte Bekannte, regelmäßige Flohmarktgänger wie sie. Das war ein positiv gestimmter Nachmittag, sie fühlte sich, als würden ihre Ängste, die sie seit den nächtlichen Träumen mit sich herumschleppte, weggepustet. In fröhlicher Stimmung und gut gelaunt betrat sie, beladen mit den neuen Schätzen, ihre Wohnung. Die Keramikpfanne war mit fünf Euro echt günstig, so eine Pfanne kann man immer gebrauchen. Sie kochte zwar nur selten, aber wenn, dann war es etwas ‚Richtiges‘. Sie probierte, ja, der Deckel ihres einzigen Topfs passte auch auf die Pfanne. Den Strohhut mit Blumen packte sie in eine große Plastiktasche, damit er nicht zum Staubfänger wurde, und legte ihn in das Regal in der Abstellkammer. Für Videos mal ein gelungener Gag! Außerdem hatte sie eine Riesentüte leckerer iranischer Datteln bei einem türkischen Händler gekauft, der sie für zwei Euro pro vierhundert Gramm verkaufte. Da brauchte sie weder Taschenrechner noch Dreisatz, um zu erkennen, dass das äußerst günstig war. Datteln waren einer ihrer Lieblingssnacks, wenn sie über der Arbeit das Essen vergaß. Vor Beginn der Arbeit stellte sie sich deshalb einen Teller mit Datteln an einen leicht zugänglichen Platz, und so verhungerte sie nicht vollständig. Sie probierte gleich drei Stück, einfach super! Dann aß sie zwei der Sandwiches vom Vortag und einen Apfel. Daraufhin fühlte sie sich prall wie ein mit Helium gefüllter Ballon.
Jetzt war es Zeit. Sie setzte sich an den Laptop, leerte den Papierkorb, druckte die gelöschten E-Mails aus, wie geplant. Einige Minuten saß sie vor ihrem Topf, dann griff sie mit der Schicksalshand hinein. Sie hatte sich vorgenommen: Egal, was in der E-Mail steht, die Frau wird es!
From: Bianca Kohler [mailto:[email protected]]
Sent: Samstag, 3. März, 15:21
To: Nellie
Subject: Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Nellie,
ein interessanter Gedanke, dass Freundschaft Arbeit ist. Das hat mich gelockt, obwohl ich eigentlich nach einem neuen Auto geguckt habe.
Zu mir: Ich bin selbstständig, kann daher frei über meine Zeit verfügen. Ich habe leider kein aktuelles Foto von mir, das angehängte Bild ist fünf Jahre alt.
Ich würde mich sehr freuen, wenn deine Wahl auf mich fällt. Liebe Grüße Bianca
Nellie las die E-Mail dreimal. Schade, sie hätte gern gewusst, in welcher Branche Bianca arbeitete. Aber die Regel besagte: Nicht nachfragen, zusagen. „Meine Güte, schon wieder so ein Wahnsinnsspruch, muss ich mir merken“, kam ihr sofort in den Sinn. Das Foto zeigte drei Frauen, Arm in Arm, die am Straßenrand standen, ein Pfeil markierte die Frau links. So richtig viel erkennen konnte Nellie nicht. Auf dem Foto wirkte die Frau Anfang dreißig, ihre mittelblonde, krausen Haare fielen über die die Schultern, ihr Gesicht war unauffällig, die Statur sportlich bis muskulös. Zu wenig war zu sehen, um sich ein Sympathie-Urteil zu bilden. Kurz entschlossen schrieb Nellie an Bianca.
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Sonntag, 4. März, 20:09
To: Bianca Kohler
Subject: Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Bianca,
magst du mich morgen im Café 'French Cheeses' treffen? Ich bin ab 14 Uhr dort, du kannst die Bedienung nach mir fragen, die kennen mich.
Würde mich echt freuen!
Gruß aus den Wolken
Nellie
So, sie hatte sich entschieden! Sie legte die Füße hoch, schaltete ihren uralten Fernseher ein, ein Tatort wäre jetzt genau das Richtige. Zwischendurch machte ihr Handy „ping“. Aber der Krimi hatte sie so stark gefesselt, dass sie es gar nicht wahrnahm. „Heute geht’s mal früh ins Bett!“, und um halb elf war sie endlich bettfertig. Ach du je, jetzt sah sie es: Eine E-Mail war eingetroffen.
From: Bianca Kohler [mailto: [email protected]]
Sent: Sonntag, 4. März, 21:03
To: Nellie
Subject: Re. Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Hallo Nellie,
ach, das ist echt fein, freue mich auch sehr! Bis morgen.
P.S. Dein Gruß ist sehr schön gewählt, ich war kurz versucht, ihn zu stehlen. ;-)
Liebe Grüße
Bianca
Trotz der fortgeschrittenen Stunde antwortete Nellie noch kurz und formlos:
From: Nellie [mailto:[email protected]]
Sent: Sonntag, 4. März, 23.02
To: Bianca Kohler
Subject: Re. Re. Re. Kleinanzeige Nr. 60243
Prima!
Gruß aus den Wolken
Nellie
Sie schickte Paolo eine Whatsapp-Nachricht, dass sie sich entschieden habe. Zu so später Stunde wollte sie nicht mehr anrufen, Theresa, die früh aufstehen musste, würde sonst toben. Paolo rief sofort zurück:
„Es ist Petra geworden, wetten?“ – „Wette verloren. Es ist Bianca!“ – „Bianca? Habe ich da Namen verwechselt?“ – „Nee, ich habe mich neu entschieden. Falls du morgen Nachmittag Dienst hast, wirst du sie selbst sehen.“
Nellie merkte, dass Paolo noch in Schwätzlaune war, aber sie war erschöpft.
„Ich muss jetzt unbedingt schlafen, wünsche dir eine gute Nacht, und Gruß an Theresa. Aber bitte nicht mehr heute Abend erzählen!“ – „Alles klar, wir sehen uns!“
Nellie legte auf, sie war eine Mischung aus vollkommen erschöpft und aufgeregt. Es war jetzt richtig spannend und wenn sie zurückblickte: Eigentlich war es schon phantastisch gelaufen. Künstlerisch eben.
Vorbereitungen
Nellie war angespannt, nicht nervös. Sie hatte den ganzen Morgen mit Überlegungen dazu verbracht, wie die Kunstfigur auszusehen habe, in die sie sich verwandeln wollte. Sollte sie Interessen vorzeigen, die eigentlich gar nicht die ihren waren? Sie hatte die Gesamtzeit auf etwa ein Jahr angelegt und da war ihr irgendwann klargeworden, dass sie eine Kunstfigur nicht ein Jahr lang aufrechterhalten könnte. Sie müsste sich ständig unter Kontrolle haben, sich immer verstellen. Und wenn sie ein sensibles Gegenüber hätte, würde sich das spiegeln. Nein, ehrlich musste sie schon sein. Das Thema war ja auch ernst gemeint. Wenn sie mit dieser Frau keine Freundschaft schließen würde, wäre es kein echtes Kunstwerk. Das wäre dann so, als hätte Dieter Roth einen Plastikcamembert auf der Pappe befestigt.
Andererseits wollte sie sich auch nicht in ihrem Kunstwerk auflösen, ein wenig Vorsicht war angebracht, sie wusste doch nicht, was Bianca für eine Person war. Es gibt Energievampire, daran glaubte sie fest, da musste sie schon aufpassen. Das bedeutete für sie: Erst einmal nur Dinge preisgeben, die nicht an die Substanz gehen. Sie öffnete eine leere Datei und begann eine Liste zu erstellen, einen Teil nannte sie Tell Her und den anderen Don’t Tell Her. Damit war sie gut eine halbe Stunde beschäftigt, las den Text einmal sorgfältig durch und löschte die Datei, den Laptop schaltete sie aus und klappte ihn schwungvoll zu. Nein, so ging das nicht. Dieser Teil musste dem Moment überlassen werden, Künstler sind doch keine Mathematiker.