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„Allein bist du schwach. Nur als Teil der Gruppe, als Mitglied der drei Stämme, kannst du wachsen und stark werden.“ Manju wurde bereits bei Geburt dazu auserwählt, nach seiner Mannbarkeitsfeier eine eigene Stammesgruppe zu gründen und anzuführen. Im Vorlauf zur Tag-und-Nachtgleiche, dem Frühlingsbeginn, müssen zahlreiche Rituale ausgeführt werden, um das Gleichgewicht des Waldes und das Wohl der Stämme zu wahren. Dann aber verschwindet Hesra, die junge Schamanin, die in dieser Nacht die Stellung einer Göttin einnehmen sollte. Manju muss sie um jeden Preis wiederfinden! Nicht bloß seine eigene Zukunft ist in Gefahr, sondern das der gesamten Welt, in der er lebt. Ihm zur Seite steht ein Mann, den er nicht wirklich kennt, und dem er dennoch Leib und Leben anvertrauen muss. Sie haben keine Wahl, wollen sie den schlimmstmöglichen Schaden abwenden: Bis zur Frühlingszaubernacht muss die Göttin gefunden werden! Dies ist Teil 2 der Zaubernachts-Reihe Teil 1 trägt den Titel: Winterzaubernacht Die Geschichten sind vollkommen unabhängig voneinander, es gibt keine wiederkehrenden Charaktere. Darum können sie einzeln gelesen werden. Ca. 52.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 260 Seiten
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„Allein bist du schwach. Nur als Teil der Gruppe, als Mitglied der drei Stämme, kannst du wachsen und stark werden.“
Manju wurde bereits bei Geburt dazu auserwählt, nach seiner Mannbarkeitsfeier eine eigene Stammesgruppe zu gründen und anzuführen. Im Vorlauf zur Tag-und-Nachtgleiche, dem Frühlingsbeginn, müssen zahlreiche Rituale ausgeführt werden, um das Gleichgewicht des Waldes und das Wohl der Stämme zu wahren. Dann aber verschwindet Hesra, die junge Schamanin, die in dieser Nacht die Stellung einer Göttin einnehmen sollte. Manju muss sie um jeden Preis wiederfinden! Nicht bloß seine eigene Zukunft ist in Gefahr, sondern das der gesamten Welt, in der er lebt. Ihm zur Seite steht ein Mann, den er nicht wirklich kennt, und dem er dennoch Leib und Leben anvertrauen muss. Sie haben keine Wahl, wollen sie den schlimmstmöglichen Schaden abwenden: Bis zur Frühlingszaubernacht muss die Göttin gefunden werden!
Dies ist Teil 2 der Zaubernachts-Reihe
Teil 1 trägt den Titel: Winterzaubernacht
Die Geschichten sind vollkommen unabhängig voneinander, es gibt keine wiederkehrenden Charaktere. Darum können sie einzeln gelesen werden.
Ca. 52.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 260 Seiten
von
Sandra Gernt
Abendliche Ängste
M
anju schlug die Trommeln.
Es war das Abendritual. Jeden Tag zum Sonnenuntergang wurden die Trommeln geschlagen, um die guten Geister um Beistand für die Nacht zu bitten. Sie wachten über den Stamm der Nuru, beschützten sie vor den Finsterdämonen, vor wilden Tieren, vor den vielfältigen Gefahren des Waldes. Sicherlich würden die guten Geister diese Aufgabe nicht vergessen, wenn die Trommeln einmal nicht erklangen, doch niemand wollte dieses Risiko eingehen. Außerdem war es für alle Mitglieder der Nuru wichtig, dass das Ritual eingehalten wurde – genau wie für die anderen beiden Stämme natürlich.
An den meisten Abenden wechselten sich Anri, die Shamanin, und Gallarn, der Stammesführer, mit den Trommeln ab. Lediglich im Vorlauf zu den großen Sonnenfeiern änderte sich das, denn dann wurde diese Ehre ausgewählten jungen Männern zuteil, die sich auf ihr Mannbarkeitsfest vorbereiten mussten. Zur kommenden Tag-und-Nachtgleiche, die den Beginn des Frühlings bedeutete, sollte Manju an der Reihe sein, so hatte die Schamanin es bereits bei seiner Geburt bestimmt. Darauf hatte er sich sein gesamtes bisheriges Leben lang vorbereitet, was nun bald fünfundzwanzig Sommer währte. Seit elf Jahren durfte er die Jäger begleiten, doch erst mit dem Fest galt er als voller Mann und durfte als Auserwählter eine eigene Stammesgruppe gründen.
Manju hielt den komplizierten Rhythmus der Melodie fehlerfrei durch. Seit dem Tag seiner Geburt hatte er ihr gelauscht, Abend für Abend, und jahrelang fleißig geübt, indem er mit dünnen Stöcken auf Steine oder Baumstämme getrommelt hatte. Das hier war einfach und unglaublich wichtig. Es stimmte ihn stolz und glücklich, zu spüren, wie mühelos ihm diese heilige Aufgabe von der Hand ging.
In der Ferne waren die anderen Trommeln zu hören. Der Stamm der Nuru teilte sich in zahllose kleine Gruppen auf. Dazu kamen die Stämme der Noxa und Na’uti, die ebenfalls in diesem Waldgebiet lebten, das sie Etá nannten – Heimat. Die kleinen Familiengruppen bestanden jeweils aus zehn bis dreißig Mitgliedern. Es war Zufall, dass Manju zurzeit in der Hauptgruppe lebte, in der auch die Erste der Schamaninnen und der Stammesführer ansässig waren. Das hatte sich erst ergeben, als er seinen vierzehnten Sommer erreichte und darum gezwungen war, das Wohnnest seiner Mutter zu verlassen. Da man den Heranwachsenden freie Wahl ließ und er unbedingt im gleichen Nest wie sein Kindheitsfreund Kilbary wohnen wollte, der zwei Sommer älter war als er, war er ihm hierher gefolgt. Kilbary war inzwischen fortgegangen und hatte sich einer anderen Gruppe angeschlossen, sobald er zum Erwachsenen erklärt wurde. Eine eigene Gruppe hatte er nicht gegründet, dafür war er nicht ausgewählt worden.
Das Abendritual endete, als er von den Trommeln abließ und drei aufeinanderfolgende hohe Trillertöne ausstieß, die einem Uckubar-Vogel nachempfunden waren.
„Das war sehr gut, Manju.“ Anri kam zu ihm, die Schamanin nahm die Trommelschlägel an sich. Sie war vom Alter gebeugt, ihr langer, geflochtener Zopf schlohweiß. Widerspenstige, lockige Strähnen umgaben ihr faltiges Gesicht. „Du wirst einen gewissenhaften Gruppenältesten abgeben.“ Sie strich ihm lächelnd durch das schwarze, fein gelockte Haar, das ihm bis auf die Schulter fiel. Tatsächlich war sie seine Urgroßmutter, auch wenn sie ihn praktisch nie als einen ihrer Nachfahren behandelte. „Ich bin zufrieden mit der Wahl der Geister. Gräme dich nicht, dass dich noch immer Zweifel plagen. Ja, ich sehe es dir an. Du hältst dich für unwürdig, diese große Ehre zu erhalten. Das ist ein gutes Zeichen, dass die Visionen nicht fehlgedeutet wurden. Schlechte Führer sind diejenigen, die niemals an sich zweifeln.“ Mit diesen Worten entließ sie ihn und Manju eilte zutiefst erleichtert zum Versammlungsbaum.
Die Trompetenbäume, aus denen ihr Wald hauptsächlich bestand, wuchsen dicht an dicht. Die rosafarbenen Blätter waren wie handgroße Trompeten geformt, am Ansatz schmal, nach unten rund und wuchtig. Die Baumkronen wölbten sich wie Kuppeln, die Äste streiften fast über den Boden. Es waren außergewöhnliche Bäume, die wenig Sonnenlicht und fast gar kein Wasser benötigten. Tatsächlich war dieses Land vor mehreren Jahrhunderten noch eine Wüste gewesen, wie die Bewahrer des Wissens erzählten, eine Wüste, der man den mittels Magie den Wald aufgedrängt hatte. Die Trompetenbäume waren auf diese Weise gewachsen, um sich gegenseitig vor der Sonne zu beschützen und um zu verhindern, dass zu viel Regenwasser an die Wurzeln gelangte. Was sie sehr wohl benötigten, war feinster Wasserdampf, der von den trompetenartigen Blättern aufgesogen wurde. Da zudem die Tageswärme unter den kuppelförmigen Kronen gespeichert wurde, lag beinahe an jedem Morgen, egal zu welcher Jahreszeit, dichter Nebel über dem Wald.
Manju schwang sich mit geübter Kraft hoch in das Gemeinschaftsnest von Großer Mutter Baum. So wurden alle Trompetenbäume genannt, die mehr als zwanzig Schritt hoch wuchsen. Ihre ausladenden, dicken Äste boten Platz für stabile Baumnester, in denen die gesamte Gruppe unterkommen konnte. In diesen Gruppennestern wurden die gemeinsamen Mahlzeiten eingenommen. Das Nachtmahl war die wichtigste Mahlzeit des Tages und stets auch die üppigste. Manju freute sich bereits auf seine Portion Carupbrei, hergestellt aus einem Süßgrasgewächs, das ohne gekocht zu werden zu weichem Brei zerfiel, sobald es getrocknet und gemahlen und dann mit Wasser gemischt wurde. Dazu gab es Tujizbeeren, die einen süß-salzigen Geschmack besaßen, Nüsse und Borig-Bällchen. Die wurden aus getrocknetem und zermahlenem Fleisch, Gewürzpflanzen und Linsen hergestellt. Ein einfaches, alltägliches Essen, das dennoch nie seinen Reiz einbüßte.
„Gut getrommelt, Manju!“, rief Shia, seine jüngste Schwester, und umarmte ihn herzlich. Sie war erst dreizehn, lebte darum eigentlich noch in der Gruppe, der auch ihre Mutter angehörte. Er kannte sie kaum, war nur zwei Jahre mit ihr zusammen aufgewachsen. Dennoch mochten sie einander und freuten sich jedes Mal, wenn sie sich trafen, was mindestens viermal im Jahr bei den Sonnenfesten geschah.
Ihre Haut war noch ziemlich hell, wie es üblich für Kinder war. Erst im Verlauf der Reifezeit würde sie den charakteristischen dunklen Nusston gewinnen, den alle Menschen des Waldes besaßen, gemeinsam mit den gelockten dunklen Haaren und schwarzen Augen.
Shia trug gerne Holzperlen, die sie sich in das Haar flocht. Viele Männer und Frauen mochten solchen Schmuck. Sie war in allen Gruppen und Stämmen für ihre ausnehmend schönen Perlen bekannt, die sie selbst in liebevoller Kleinarbeit aus Holz schnitzte und bemalte. Mittlerweile war sie gut genug geworden, um die Perlen als Tauschmittel für Handelsgeschäfte mit den anderen Gruppen und Stämmen bereitzustellen. Als Jägerin taugte sie hingegen nicht viel, sie ließ sich zu leicht ablenken, um zu lernen, wie man sich im Wald bewegte, und fand auch keine Freude an dieser wichtigen Tätigkeit. Als Perlenschnitzerin leistete sie dennoch einen wertvollen Beitrag zum Gruppenleben, darum zwang man sie nicht.
Sie war heute zu Besuch hier, ihm zu Ehren. Zumindest war das der vorgeschobene Grund. In Wahrheit wollte sie die jugendlichen Mädchen dieser Gruppe besser kennenlernen, um zu entscheiden, ob sie sich hier in einem Jahr niederlassen konnte. Es war trotzdem nett, dass sie da war und ihn anstrahlte, als hätte er allein ein ganzes Rudel Nartiskatzen besiegt. „Wirklich, man hat gar keinen Unterschied gehört. Bei anderen Auserwählten klingt das immer so unsicher und die machen Fehler. Bei dir dachte ich, Anri hätte getrommelt.“
Es tat gut, sich ein bisschen feiern zu lassen. Das Abendtrommeln war ja bloß der sehr einfache, harmlose Auftakt seiner Prüfungen. Was er morgen und in den Tagen danach tun musste … Davor fürchtete er sich sogar ein wenig, obwohl er wusste, dass nichts davon tatsächlich gefährlich war. Dennoch wollte er auf gar keinen Fall Fehler begehen. Bei groben Ausfällen könnte sogar der Stammesrat entscheiden, dass ihm die Mannbarkeit versagt werden würde und er müsste dann ein volles Jahr warten, bevor er es noch einmal versuchen konnte.
Man erzählte sich unter den Heranwachsenden Geschichten von Unglücklichen, die auch beim zweiten Versuch versagten und darum niemals den Status als vollwertiger Mann und Jäger des Stammes erhielten. Ob daran auch nur ein Funken Wahrheit war, konnte niemand sagen, man erzählte sich diese Geschichten, vermutlich seit Generationen, trug sie weiter, schmückte sie aus, damit die Jungen nachts zusammenhocken und erschaudern konnten bei dem Gedanken, dass so etwas Schreckliches auch ihnen widerfahren könnte. Natürlich glaubte man nicht wahrhaftig daran, weil man niemanden kannte, und auch die Alten kannten niemanden … Im Moment empfand Manju diese Vorstellung als absolut schrecklichen, entsetzlichen Albtraum und er hoffte, dass er keinen entscheidenden Fehler beging. Er würde sich anstrengen, sich konzentrieren müssen, den Anweisungen genau folgen! Alles hing von dem Gefährten ab, den man für ihn ausgewählt hatte. Er kannte ihn nicht gut, es war erst vor wenigen Tagen entschieden worden, wer es sein sollte. Alles hing davon ab, dass sie miteinander zurechtkamen! Darauf hatte er selbst weniger Einfluss, als es ihm lieb sein konnte.
Später, als Manju auf seinem Nachtlager eingerollt auf die Kuppel des Trompetenbaumes starrte, dessen Krone das Dach des Schlafnestes bildete, zermürbte er sich selbst mit Angstgespinsten und dummen Gedanken. Woher kam bloß diese Sorge? Solch starke Zweifel an sich selbst hatte er nie zuvor in seinem Leben gehegt! Unsicherheit, ja, ein kurzes Hinterfragen seiner Fähigkeiten, das auch. Aber Angst, die ihn regelrecht durchschüttelte? Alles in allem waren die stark ritualisierten Prüfungen nicht schwer. Seit Jahrhunderten folgten sie dem stets gleichen Ablauf, den er in- und auswendig kannte. Es war gefährlicher und schwerer, sich einem Rudel Nartiskatzen zu stellen, und das hatte er schon hunderte Male getan.
Wie als Antwort auf seine rastlosen Gedanken hörte er das charakteristische Fauchen einer Nartis unterhalb des Schlafnestes. Der Wald steckte voller Gefahren. Hüfthohe Riesenkatzen mit gewaltigen Fängen waren bloß eine davon. Die Schutzzauber wirkten. Tagsüber kam kein Tier in die Nähe ihrer Siedlungen. Nachts erlaubten die Zauber mehr Bewegung, damit die Tiere besseren Zugang zu Jagdgründen und Wasserstellen hatten. Die Raubkatze konnte die Witterung der Menschen nicht aufnehmen und fand keinen Grund, in den Trompetenbaum zu klettern. Stattdessen zog sie weiter, auf der Suche nach Nahrung. Im Nest war Manju vollkommen sicher, genau wie die zwei Gefährten, mit denen er es teilte. Heranwachsende und junge Erwachsene wie er. Wenn alles lief, wie es sollte, würde er in wenigen Tagen ein Mann sein und sie zurücklassen. Vielleicht war es bloß das, was ihn quälte? Die Ungewissheit, wie das neue Leben sich entwickeln würde, das vor ihm lag, das ihm von den Geistern prophezeit wurde. Der Unwille, seine liebgewonnene Gruppe zu verlassen, auch wenn dies der normale Lauf des Lebens sein mochte und die Gruppen sich viermal im Jahr ständig neu zusammensetzten. In dieser lebte er allerdings seit knapp elf Jahren und er hatte sich an seine Nestgefährten gewöhnt. Zweifellos würde er sie sehr vermissen.
Ja, so musste es sein. Welchen anderen Grund sollte es auch geben, sich unsinnig zu fürchten?
Leise seufzend zog Manju die dünne Decke höher, die von flinken Kinderhänden aus Brajinwolle gesponnen und gewebt wurde. Nur sehr kleine Finger konnten mit den Werkzeugen umgehen, die notwendig waren, um diese spinnwebzarten, nahezu unzerreißbaren Pflanzenfasern zu Stoff zu verarbeiten. Auch er selbst hatte als Kind fleißig gesponnen und gewebt und er war traurig gewesen, als er wuchs und diese wichtige Aufgabe nicht mehr länger übernehmen konnte. Seine wild jagenden Gedanken würden anscheinend nicht zulassen, dass er heute Nacht erholsamen Schlaf fand. Dennoch wollte er sich ausruhen, so gut es ihm möglich war. Morgen früh musste er eine sehr, sehr wichtige Aufgabe erfüllen, den ersten echten Schritt auf dem Pfad, der ihn zum Ziel führen würde. Seine Jugendzeit endete.
Schon bald war er ein Mann.
Yandruk saß in der Spitze des Beobachtungsbaums, so weit oben, dass er über die Baumkronen hinwegschauen konnte.
Eigentlich hatte er hier heute Nacht nichts zu suchen. Nicht in der heutigen Nacht. Er musste ausgeruht sein für den Beginn seiner Mannbarkeitsprüfungen. Gerne würde er darauf verzichten. Sein Leben war gut. Er war ein Sternbeobachter, ein Gelehrter. So wie jedes Mitglied vom Stamm der Na’uti, denn sie waren die Wissensbewahrer, während die Nuru die Jäger und Sammler waren, die für genügend Nahrung, Kleidung und Rohstoffe sorgten. Die Noxa wiederum waren die Heiler und Schamanen.
Vor etlichen Jahrhunderten waren ihre Vorfahren in diesen Teil der Welt hineingedrängt worden. Damals war das Land noch eine Wüste gewesen. Mächtige Feinde einerseits, die Flucht vor Dürre und Verlust ihrer Felder und Städte andererseits hatten ihre Vorfahren hergetrieben. Sie waren verzweifelt, die Feinde erlaubten ihnen keine Rückkehr. Erst als ihre Vorfahren sich auf ihre Stärken und Fähigkeiten besannen und lernten, Hand in Hand zu arbeiten, konnten sie Etá erschaffen – ihre neue Heimat. Der Wald wuchs bis heute dank des Könnens der Schamaninnen und Heiler. Die Jäger und Sammler sorgten für Nahrung und Sicherheit. Und die Bewahrer des Wissens kümmerten sich darum, dass die Legenden erhalten blieben, die Rituale, aber auch die geistigen Fähigkeiten. Niemand konnte ohne den anderen überleben.
Es war den Bedürfnissen der einzelnen Stämme geschuldet, dass sie größtenteils unter sich blieben, aber es geschah auch zum Wohle des Waldes. Kleine Einzelgruppen, die im Rhythmus der Jahreszeiten umherzogen und sich regelmäßig ein neues Zuhause erschufen, waren besser für das Gleichgewicht, als ein großes Volk, das jahrhundertelang am selben Fleck blieb und dort die Ressourcen leersaugten und zu viel Unrat anhäuften. Darum wurde zirkuliert, beständig neue Gruppen zusammengestellt. Die Jungen schufen neue Gruppen. Die Alten ebenfalls. Frauen lebten oft für sich, in kleinen Gemeinschaften mit ihren Kindern, unter Führung eines Nuru-Jägers, eines Lehrmeisters der Na’uti und einer Schamanin der Noxa. Keine Frau gehörte einem einzelnen Mann, wie es noch bei ihren Vorfahren gewesen war. Allein die Frauen entschieden, wann sie mit einem Mann zusammenkamen und niemand wusste, wer der Vater ihrer Kinder war. Die Schamaninnen griffen gelegentlich ein, wenn Visionen sie davor warnten, dass sich Geschwister annähern wollten. Während der vier heiligen Sonnenfeiern im Jahr wählten Frauen frei unter sämtlichen Männern, die willig und bereit waren, und gingen nur selten Liebesbeziehungen mit männlichen Partnern ein. Dafür war es nicht ungewöhnlich, wenn Männer untereinander zusammenfanden, auf der Suche nach Liebe und langhaltenden Partnerschaften, die auch Gruppenwechsel überstanden; Frauen hielten es ähnlich. Erlaubt war jede Art von Verbindung, die beide Partner zufriedenstellte. Kinder waren dabei selbstverständlich ausgenommen, solange sie jünger als vierzehn waren, üblicherweise auch noch älter. Wer eine Frau mit Gewalt zwang, sich an Kindern verging oder einen Mann ohne Grund schwer verletzte, wurde aus Etá verbannt, und das wollte niemand riskieren. Es kam einem Todesurteil gleich.
Die Jäger der Nuru beschützten alle Stämme mit der Kraft und dem Geschick ihrer Arme im Umgang mit Waffen. Der Stamm der Noxa beschützten jeden Bewohner Etás mit ihrer Heilkunst, der Ritualmagie und der Gabe der Vorhersehung. Männer wie Frauen der Na’uti gaben den anderen das notwendige Wissen.
Damit die Gruppen, die sich ständig neu gründeten, funktionieren konnten, gehörte es zu den Ritualen, dass auch Mitglieder der Stämme untereinander gemischt wurden. Jede neue Gruppe brauchte eine Schamanin, einen Jäger als Anführer, einen Lehrmeister.
Yandruk war auserwählt worden, sich einer der neuen Gruppen anschließen zu müssen, sobald er die Mannbarkeitsprüfungen bestanden hatte. Dies war schon zu seiner Geburt von den Geistern so bestimmt worden und er hatte es sein Leben lang gewusst. Nie war es Anlass zur Sorge oder Traurigkeit für ihn gewesen, im Gegenteil: Es war eine große Ehre und er freute sich auf seine neuen Aufgaben, die Verantwortung, die dazugehörte. Zukünftig würde er die Kinder lehren, die in seiner Gruppe geboren wurden. Eine Nuru-Gruppe würde es vermutlich werden, wie vor einigen Tagen festgelegt worden war; darum war das Wissen über Orientierung, die Sterne, die Pflanzen und Tiere des Waldes von höchster Bedeutung, damit die künftigen Jäger und Sammler zu überleben lernten.
Bei aller Vorfreude wünschte er sich allerdings, dass er den morgigen Tag, ja, die nächsten Wochen bereits hinter sich gelassen hätte. Die Rituale waren besonders für seinen Part höchst unerfreulich. In Momenten wie diesen beneidete er die Frauen. Auch sie hatten Rituale, die den Übergang vom Mädchen zur Frau kennzeichneten. Diese fanden allerdings nicht öffentlich statt, wie die Mannbarkeitsrituale, waren eher nach innen gekehrt, da die heiligsten Geheimnisse der Frauen im Inneren ihrer Körper stattfanden, und es beinhaltete keinerlei Demütigungen.
Yandruk seufzte. Ja, er würde sich demütigen und erniedrigen lassen müssen. Alles im Rahmen der heiligen, uralten Rituale, die zugegeben aus primitiveren Zeiten stammten.
„Ich habe mir den jungen Nuru sehr genau angesehen, der für dich verantwortlich ist“, hatte Aipu, sein Gruppenältester, heute zu ihm gesagt. „Manju ist ernst und gewissenhaft. Er wird sorgsam auf dich achten.“
Gut möglich, dass er das tun würde. Yandruk hätte gerne vorher gewusst, welchem Jäger er zugewiesen werden sollte, dann hätte er ihn sich selbst bei der letzten Wintersonnenwendfeier angeschaut und vielleicht schon einige Worte mit ihm gewechselt. Oder er hatte es vielleicht sogar getan und bereits mit ihm gesprochen, ohne sich daran zu erinnern?
Er blickte hinauf zu den Sternen, deren kalte, ferne Schönheit ihm ein Leben lang Orientierung und Sicherheit geboten hatten. Heute Nacht konnten sie ihm nicht helfen. Er hatte Angst. Einfach nur nackte, sinnlose Angst. Sein Kopf sagte ihm, dass es dafür keinen Grund gab, dass es mehr Spiel als Ernst war, dass seit vielen Jahren nichts mehr dabei schiefgelaufen war. Dass er diesen Weg gehen musste, wie all die anderen Männer Etás auch.
Sein Herz verzagte dennoch. Und er nahm es hin. Er konnte die Angst nur besiegen, indem er nicht gegen sie kämpfte. Also nahm er es hin. Der morgige Tag, er würde vorbeigehen. Die Tage bis zur Tag-und-Nacht-Gleiche, sie waren keineswegs endlos. Er würde es schaffen. Er hatte Angst. Er nahm es hin!
Erste Prüfung: Jagd
D
u darfst nicht zögern“, sagte Gallarn.
Der Stammesführer der Nuru persönlich saß Manju in seinem leeren Schlafnest gegenüber und zwang ihn zu einem Frühstück. Dabei war Manju übel und er wollte, dass es endlich losging. Damit er es hinter sich bringen und sich feiern lassen konnte. Es war ein Ritual. Nichts weiter als ein Ritual.
„Ich kenne den Jungen. Yandruk wird es dir nicht leicht machen, er ist geschickt und sehr, sehr klug. Der Sieg über ihn wird sich wie ein echter Sieg anfühlen, nicht wie das Ergebnis eines Spiels, bei dem das Ende von vorneherein feststeht. O nein! Es mag Wissensbewahrer geben, die nicht einmal versuchen, die Jäger wirklich herauszufordern. So etwas ist enttäuschend, auch wenn es sich aus deiner jetzigen Perspektive vielleicht danach anhört, als wäre das fein, denn dann wäre das Ritual schnell beendet. Aber später würde es dich ungemein ärgern und vielleicht sogar wie Betrug für dich anfühlen. Darum sei versichert, dass du mit Yandruk die bestmögliche Beute bekommst. Zögere nicht, sei mutig, gebrauche deinen Kopf! Teile deine Kräfte klug ein. Und auch wenn es selbstverständlich ist und ich weiß, dass du diese Ermahnung nicht brauchst: Geh behutsam mit ihm um, wenn du erst einmal gewonnen hast. Du darfst ihn demütigen, aber nicht ernstlich verletzen.“
„Mein Kopf weiß das alles“, murmelte Manju unglücklich. „Mein Bauch will, dass ich mich am Abtritt verstecke und erst in zwei Wochen wieder rauskomme. Dabei war ich heute morgen schon zweimal dort.“
„Ballast abwerfen ist eine gute Sache. Dann läuft es sich viel leichter.“ Gallarn lachte und schlug ihm herzlich auf die Schulter. „Und nun los, Junge. Iss deinen Carupbrei! Du brauchst deine Kraft.“ Ein verirrter Sonnenstrahl schaffte es durch die Baumkrone. Dank der rosafarbenen Blätter malten sich nun ebenfalls rosige Muster auf Gallarns breites Gesicht. Er trug seinen Bart voller Stolz, der ihm fast bis zu den kräftigen Hüften reichte. Sehr viel Weiß hatte sich in den vergangenen Sommern in die Manneszier gemischt, und da er nicht mehr mit auf die Jagd ging und auch sonst in den letzten Jahren behäbiger geworden war, sah man ihm die Vorliebe für süße Yunaibeeren mühelos an. Nicht mehr lange, und er würde die Ehre abgeben, der Führer der Nuru zu sein. Anri, die erste Schamanin, würde dann in Zwiesprache mit den Geistern treten und bestimmen, wer ihm nachzufolgen hatte. Manju war mit einem Mal dankbar für seine Jugend, die sich nicht zuletzt in seinem spärlichen Bart zeigte. Nur erfahrene, langjährige Gruppenführer kamen für diese höchste Ehre infrage, die ein Nuru-Jäger jemals erreichen konnte. Wenn er bereits unsicher war, ob er diesen Tag bewältigen würde, dann war es vollkommen ausgeschlossen, dass er jemals ein guter Stammesältester sein könnte. Zum Glück wollte er das auch gar nicht werden.
„Besteht Hoffnung, dass du noch einen Bissen essen wirst?“, fragte Gallarn und wies missbilligend auf Manjus Holzschale, die noch fast unberührt war.
„Ich fürchte, ich würde es bloß ausspucken, wenn ich es versuche.“ Manju stellte das Frühstück beiseite. Ihm war gehörig übel und schwindelig, beinahe als würde er krank werden.
„Nun beruhig dich.“ Gallarn umarmte ihn väterlich. „Lass dir aus langjähriger Erfahrung sagen: In dem Moment, wo das Ritual beginnt, bist du voll einsatzfähig. Dann wirst du schneller rennen als die Nartis‘ und höher springen als die Wutra-Äffchen und all das Bauchweh ist vergessen. Das ist bloß die Aufregung! Je schlimmer die Angst, desto besser deine Leistung im Wald. Erinnerst du dich nicht mehr an deine erste Jagd? Da war es genauso, nicht wahr? Und was habe ich damals zu dir gesagt?“
„Nur ein Narr kennt keine Angst. Die Furchtlosen sterben als Erste. Diejenigen, die vor Angst schlottern, sind die wertvollsten Jäger, denn sie kennen die wahre Bedeutung von Mut.“ Manju hatte diese Worte niemals vergessen. Er konnte sie heute noch hören, hatte den intensiven Duft der Siit’ha in der Nase, grellgelbe Blumen, die höher als ein Mensch wuchsen. Es tat ihm gut, diese Worte laut auszusprechen. Ja, vor seiner ersten Jagd hatte er ebenfalls gebibbert und geschlottert und fast darum gebeten, noch ein weiteres Jahr warten zu dürfen, weil er davon überzeugt war, dass er noch nicht bereit sein konnte, in den ungesicherten Wald hinauszugehen, auch nicht in der großen Gruppe. Was dann folgte … Es war wie ein Rausch gewesen. Bloß wenige Erinnerungsfetzen an diese Jagd waren ihm geblieben, doch das immense Hochgefühl, das ihn noch tagelang danach getragen hatte, das war unauslöschlich in ihm eingebrannt.
„Na siehst du, jetzt kannst du wieder lächeln. Lass uns gehen! Die anderen warten sicherlich schon längst auf uns. Dies ist dein Ehrentag. Deiner und Yandruks. Zeigt uns, was für Männer ihr seid!“
Von neuer Zuversicht erfüllt folgte Manju ihm den Baum hinab. Es war kein langer Weg zum großen Ritualplatz, jener baumfreien Lichtung im Herz von Etá. Alle drei Stämme würden sich dort versammeln und geduldig warten, während er und Yandruk das Ritual ausführten. Es war höchste Zeit, dass es endlich begann.
Yandruk atmete tief durch, als er Gallarn erblickte. Hinter ihm lief ein junger Jäger, aufrecht, das Kinn stolz erhoben. Einen guten Eindruck machte er in der leichten, rötlich gefärbten Wollhose, grünlichem Hemd und der Lederweste – traditionelle Kleidung der Jäger, zusammen mit den geflochtenen festen Schuhen, die optimalen Halt beim Klettern und Laufen boten. Dieselbe Kleidung trug Yandruk heute auch, statt der weiter geschnitten, bequemen Hosen und Hemden aus Wolle, wie es sonst für Na’uti üblich war. Yandruk wusste nun auch, dass er diesen Manju bereits bei den vorherigen Stammestreffen bemerkt hatte. Das war keineswegs einfach, denn es gab allein rund siebentausend Nuru, annähernd genauso viele Na’uti und der Stamm der Noxa umfasste auch über zweitausend. Man konnte jedes Gesicht mal gesehen haben, aber nicht jeden Menschen gut kennen, oder seinen Namen zuordnen. Da Etá sehr weitläufig war, fiel die schiere Größe ihres Volkes nicht weiter auf, bevor sie sich nicht auf dem Ritualplatz trafen, dem großen Versammlungsort. Auf diesem ebenen Felsenplateau gediehen nur niedere Pflanzen, die sich in den Ritzen und Spalten festsetzten. Moose, Kriechgewächse, niedrige Sträucher. Der Wald umrankte das Plateau dicht an dicht. An manchen Stellen hatte es ein Trompetenbaum dann doch geschafft, Wurzeln zu fassen, aber diese vereinzelten, verzweifelten Kämpfer wuchsen kaum mehr als einen Schritt hoch, da sie ohne dem Schutz der Gemeinschaft Sonne und Regen von allen Seiten ausgesetzt blieben. Sie waren wichtige Sinnbilder, die man den Kindern zeigte: „Allein bist du schwach. Nur als Teil der Gruppe, als Mitglied der drei Stämme, kannst du wachsen und stark werden.“
Manju war nicht schwach, das konnte man sehen. Auch wenn es in seinem Gesicht nervös arbeitete und er die Hände zu Fäusten geballt hielt. Großgewachsen und sehnig war er, fokussierter Blick, ein starker Jäger. Es würde keine Kleinigkeit werden, ihm lange genug zu entkommen, um wenigstens die Grundbedingungen der Prüfung zu erfüllen. Yandruk schluckte hart. Hoffentlich versagte er nicht! Seine Mutter würde sich für ihn schämen und das konnte er ihr nicht antun! Er konnte es sich selbst nicht antun …
Still stand er da, beobachtete eine kleine Gruppe Masgi-Affen, die am Waldrand hockte und ihrerseits die Menschen beobachteten, und atmete durch. Einfach atmen.
Gallarn hielt eine Rede, gefolgt von Anri. Dann noch die beiden Stammesführer der Na’uti und der Noxa. Bei den Noxa war es selbstverständlich eine Schamanin, die die Geschicke ihrer Leute leitete. Yandruk verstand kein einziges Wort. Da diese Reden viermal im Jahr erfolgten und er sie Zeit seines Lebens gehört hatte, sah er auch keine große Notwendigkeit, sich auf das Gerede zu konzentrieren. Der Segen der Geister wurde herbeigefleht, die beiden Anwärter vorgestellt und angepriesen – Manju und er selbst. Auch das waren stets dieselben Sätze, die dabei fielen. Der Mut und das Geschick des Jägers, die Klugheit und das Wissen des Gelehrten.
Dann trat Anri vor. An ihrer Seite schritt eine junge Frau. Dies war die auserwählte Schamanin, die in der heiligen Frühlingsnacht ihre letzte Weihe erhalten würde. Auf ihren Schultern ruhte immense, echte Verantwortung, während das, was er und Manju gleich tun würden, ein Spiel war. Mit ernstem Hintergrund, mit einem wichtigen Ziel, keine Frage. Dennoch gab es keinen echten Vergleich in dieser Sache. Die junge Schamanin war verantwortlich für die Erneuerung der Kräftebalance, aus denen die Schutzzauber ihre Energie bezogen. Wenn Manju oder Yandruk versagten, dann war es ein persönliches Scheitern. Schmerzlich ausschließlich für sie selbst. Sollte die Schamanin scheitern, dann geriet ihr gesamtes Volk in echte Lebensgefahr – und letzten Endes auch ganz Etá.
Darum würde sie in den kommenden Tagen bis zur Tag-und-Nacht-Gleiche den Status einer Halbgöttin haben.
In ihrem fließenden, rosafarbenen Kleid und den bunten Holzperlen im geflochtenen Haar sah sie wie ein kleines Mädchen aus, als sie vor Anri niederkniete. Ihr entschlossener Gesichtsausdruck hingegen zeigte, dass sie sich ihrer Aufgabe stellen würde.
„Ich rufe den Schutz der Geister zu uns herab!“, rief Anri laut. „Sehet, wer euch geweiht ist. Dies ist Hesra. Sie ist bereit, den letzten Schritt zu gehen. Sie ist bereit, für das Gleichgewicht der Kräfte alles zu geben, und koste es ihr Leben. Sie ist bereit, zur Tag-und-Nacht-Gleiche die Mittlerin zwischen dieser und der anderen Welt zu sein. Nehmt sie auf in den Kreis der Berufenen. Ihr Name ist Hesra, Dienerin der Götter.“
Anri legte ein silbernes Diadem auf Hesras Stirn. Es begann augenblicklich grün zu leuchten, hüllte ihre gesamte zarte Gestalt in einen grünen Schimmer. Die Menge der Versammelten murmelte beifällig. Bei manchen Schamaninnen dauerte es mehrere Momente bis hin zu einigen Minuten, bevor das heilige Artefakt zu leuchten anfing. Je schneller es geschah, desto größer war die Zustimmung der Geister. Solange sie dieses Diadem trug, besaß sie die alleinige Macht über das Gleichgewicht der Kräfte in ganz Etá. Dieses Artefakt wurde nur und ausschließlich in der Zeit rund um die vier Sonnenfeiern im Jahr genutzt. Der Einsatz war nicht ungefährlich, denn jeder Fehler der noch unerfahrenen jungen Schamaninnen könnte schlimmstenfalls zur totalen Vernichtung führen. Darum wurden diese Frauen besonders sorgfältig ausgewählt, ihre Bestimmung von mehreren Schamaninnen bestätigt. Schon häufiger war es vorgekommen, dass keine geeignete Kandidatin bereit gewesen war. In diesem Fall übernahm die oberste Schamanin die Aufgaben.
Hesra erhob sich, verneigte sich in die vier Himmelsrichtungen. Dann trat sie zu Yandruk.
„Erfülle deine erste Verpflichtung!“, rief Anri und reichte Hesra zwei silberne Oberarmreifen. Yandruk sank ohne Aufforderung auf die Knie und hob die Arme. Hesra legte ihm nacheinander beide Schmuckstücke an, die ebenfalls magische Artefakte waren. Ihre Finger zitterten kaum merklich, obwohl ihr Gesichtsausdruck Gleichmut und vollkommene Beherrschung zeigte. Yandruk schenkte ihr darum ein Lächeln, das, wie er hoffte, aufmunternd war. Sie erwiderte es nicht, doch ihre Mundwinkel hoben sich leicht.
„Yandruk vom Stamm der Na’uti!“, sagte sie dann laut, mit weithin tragender Stimme, die für eine solch junge Frau erstaunlich tief war. „Die heiligen Artefakte werden dich vor Angriffen bewahren. Beginne darum nun deine Prüfung. Mögen die Geister dir die notwendige Kraft verleihen, die volle Macht deines Verstandes einzusetzen.“
Yandruk erhob sich, verneigte sich vor Hesra. Das sanfte Lächeln war nun nicht mehr zu leugnen. Er mochte sie, stellte er fest. Ihm gefiel der Gedanke, dass sie schon bald täglich zusammenarbeiten würden, um die Gruppe zu führen, die Manju mit ihnen gemeinsam neu gründete.
Ein kurzer Blick zu dem Jäger, mit dem er sich heute zu messen hatte. Manju nickte ihm ernst zu.
Dann begann Yandruk zu rennen.
Manju startete, sobald Gallarn, der die Sonnenuhr überwachte, ihm das Signal gab.
Yandruk hatte eine Viertelstunde Vorsprung erhalten, er war zügig zwischen den Bäumen verschwunden. Seine Aufgabe war es nun, Manju mindestens eine halbe Stunde lang zu narren und ihm zu entkommen. Ein Na’uti musste dabei sein Wissen nutzen, seine Klugheit, alle Gegebenheiten, die ihm nützlich werden konnten. Ein Nuru hingegen sollte so zügig wie möglich die Spuren finden, die ein Mensch unweigerlich hinterließ, wenn er sich durch den Wald bewegte. Dieses Spiel bewies eigentlich nur ihre lebenslang antrainierten Fähigkeiten und war dennoch ein wichtiges Ritual.
Yandruk hatte seine Prüfung bestanden, wenn Manju ihn frühstens nach einer Stunde zurück zum Ritualplatz bringen konnte. Mit einer Viertelstunde Vorsprung und dem notwendigen Rückweg ergab sich die halbe Stunde, in der der Wissensbewahrer es mindestens schaffen musste, ihm zu entkommen. Gelang es Manju nicht, ihn bis zum Sonnenuntergang zurückzubringen, hatte er versagt. Das geschah für gewöhnlich nicht, darum versuchte er, keine Gedanken daran zu verschwenden. Das Einzige, was er sich fest vorgenommen hatte: Sollte es sich lediglich um einige wenige Minuten drehen, würde er die Rückkehr lang genug hinauszögern, um Yandruk bestehen zu lassen. Auch wenn sie eben das erste Mal längeren Blickkontakt gehabt hatten, war sich Manju sicher: Er wollte mit diesem Bewahrer des Wissens zusammenarbeiten und die neue Gruppe gründen und nicht das Ritual mit einem anderen wiederholen müssen. Yandruk machte einen sehr guten Eindruck auf ihn. Sicherlich würde sich die Jagd über ein, zwei Stunden hinziehen, so viel Klugheit und Geschick traute er ihm blind zu. Ein Na’uti hatte da einige Möglichkeiten. Außer Flucht, Verstecken und falsche Fährten legen konnte er seine magischen Armreifen so einsetzen, dass Raubtiere in Manjus Richtung getrieben wurden. Während der Na’uti durch die Magie vollkommen beschützt war, weder große Räuber wie Schwarzbauchbären oder Nartiskatzen noch Schlangen und nicht einmal Insekten an ihm interessiert waren und sogar aktiv von ihm fortgetrieben wurden, gab es keinerlei Schutz für Manju.