Fünf Sterne für den Weihnachtsmann - Christine Keller - E-Book

Fünf Sterne für den Weihnachtsmann E-Book

Christine Keller

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Beschreibung

Wünsche sind gefährlich, denn sie können sich erfüllen… Fortunatus Wiesendanger ist 12 Jahre alt und hochbegabt. In seiner Schule, dem Internat Faraday Promise, gilt er als liebenswerter Sonderling. Bald ist Advent, doch 'Fortis' Leben befindet sich auf einem Tiefpunkt. Seine Eltern sind geschieden, die Beziehung zum Vater ist schwierig, und seine Mutter unterrichtet ausgerechnet die 6a, seine Klasse. Glücklicherweise steht sein bester Freund Silo immer loyal an seiner Seite. Von Weihnachtsstimmung kann keine Rede sein. Bis plötzlich Herr Stern, Ersatzlehrer und Weihnachtsmann der besonderen Art, auftaucht, und ein Wunder nach dem andern geschieht. 'Fortis' Welt wird total durcheinandergewirbelt. Was für ein Zusammenhang besteht zwischen Herrn Stern und den verrückten Ereignissen? Vor allem: Was spielt sich zwischen seiner Mutter und dem Ersatzlehrer ab? Und dann ist da noch die von 'Fortis' bewunderte Ashley. Können sich Herzen einander nähern, wenn sie Lichtjahre voneinander entfernt zu sein scheinen? Ein fantastischer All-Age-Weihnachtsroman, der zeigt, dass Freundschaft und Liebe keine Grenzen kennen, und es Dinge im Leben gibt, die nicht einmal die Wissenschaft erklären kann.

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Inhaltsverzeichnis

Montag, 25. November 2041

Dienstag, 26. November 2041

Dienstag, 26. November 2041, abends

Dienstag, 26. November 2041, Mitternacht

Donnerstag, 28. November 2041, abends

Freitag, 29. November 2041, nachmittags

Freitag 29. November 2041, etwas später

Montag, 2. Dezember 2041

Montag, 2. Dezember 2041, nachmittags

Montag 2. Dezember 2041, spätabends

Dienstag, 3. Dezember 2041, nachts

Donnerstag, 5. Dezember 2041

Donnerstag, 5. Dezember 2041, später Nachmittag

Donnerstag, 5. Dezember 2041, nachts

Freitag, 6. Dezember 2041

Samstag, 7. Dezember 2041

Sonntag, 8. Dezember 2041

Montag, 9. Dezember 2041, morgens

Montag, 9. Dezember 2041, einige Minuten später

Montag, 9. Dezember 2041, große Pause

Dienstag, 10. Dezember 2041, morgens

Dienstag, 10. Dezember 2041, einige Minuten später

Mittwoch, 11. Dezember 2041

Mittwoch, 11. Dezember 2041, kurz vor Mitternacht

Donnerstag, 12. Dezember 2041, in den ersten Morgenstunden

Donnerstag, 12. Dezember 2041, abends

Freitag, 13. Dezember 2041, morgens

Freitag, 13. Dezember 2041, große Pause

Freitag, 13. Dezember 2041, abends

Freitag, 13. Dezember 2041, nachts

Samstag, 14. Dezember 2041

Samstag, 14. Dezember 2041, später Nachmittag

Samstag, 14. Dezember 2041, früher Abend

Sonntag 15. Dezember 2041

Sonntag, 15. Dezember 2041, abends

Sonntag, 15. Dezember 2041, nachts

Montag 16. Dezember 2041

Dienstag, 17. Dezember 2041

Mittwoch 18. Dezember 2041

Donnerstag, 19. Dezember 2041, nach Schulschluss

Freitag, 20. Dezember 2041

Freitag, 20. Dezember 2041, kurz vor Mitternacht

Samstag, 21. Dezember 2041, frühmorgens

Samstag, 21. Dezember 2041, morgens

Samstag 21.Dezember 2041, mittags

Samstag, 21. Dezember 2041, abends

Sonntag, 22. Dezember 2041

Sonntag, 22. Dezember 2041, spätabends

Montag, 23. Dezember 2041, Schulzeit

Dienstag, 24. Dezember 2041

Dienstag, 24. Dezember 2041, abends

Dienstag, 24. Dezember 2041, Weihnachtsfeier

Dienstag, 24. Dezember 2041, Vergabe der Sterne

Mittwoch 25. Dezember 2041, kurz nach Mitternacht

Mittwoch, 25. Dezember 2041

Mittwoch, 25. Dezember 2041, nachmittags

Samstag, 28. Dezember 2041, nachmittags

Samstag, 28. Dezember 2041, abends

Montag, 25. November 2041

Pling, Pling, Pling, Plong. Trommelnde Fingernägel an der Klotür. Im Rhythmus ein wenig wie der berühmte Beginn der Fünften. Der Fünften Symphonie von Beethoven natürlich. Warum ich das weiß, fragen Sie mich? Na ja, unabhängig davon, dass ich als hochbegabt gelte, gehört der Anfang der Fünften einfach zum Kulturgut. C-Moll, Schicksalssymphonie, Uraufführung 1808.

Pling, Pling, Pling, Plong. Diese Version des Rhythmus hingegen kam von meiner Mutter. Streng und anstrengend.

Wie immer reagierte ich an jenem schicksalsträchtigen 25. November nicht sofort bei unserer Morgenzeremonie. Nur der Krimskrams an der Türe hüpfte und zitterte leicht: das verzogene Leuchtturmposter, das Miniradio, die Sudokusammlung in einem Beutel und ein von mir höchstpersönlich aus Speckstein geschliffener Schutzengel, der sich bereits seit einem Jahr an einer Häkelschnur abseilte.

Ehrlich, würde ich das tun, wenn ich meine Mutter wäre? Würde ich meinen Sohn in der Stille seines Rückzugsortes stören? Mich, der friedlich auf dem Klodeckel saß und Platon las? Würde ich dazu »Fortunatus« brüllen, statt der freundlichen Kurzform ›Forti‹?

Glauben Sie mir, ich wünschte mir nur eines zu Weihnachten: Unser Leben sollte wieder lebenswerter werden. Hoffnungsvoller, leichter. Dieser Wunsch hatte es schwer, weil er beinahe unmöglich schien. Und unmögliche Wünsche sind Energieräuber, würde Caro, die Lehrerteam-Partnerin meiner Mutter, sagen.

Aber im Grunde verstand ich meine Mutter. Sie konnte nicht anders, als den Druck, unter dem sie seit der Scheidung von meinem Vater stand, weiterzugeben. An mich oder notfalls an die Klotür. Seit drei Monaten schien ein Zettel an ihrer Stirn zu kleben mit den Worten: »Ich krieg das Leben in den Griff!« Alle sahen den Zettel, nur sie nicht … Kein Wunder, wenn sie ihren Lehrerjob an unserer Privatschule Faraday Promise neuerdings nicht mehr ernst, sondern todernst nahm.

Pling, Pling, Pling, Plong. Unmöglich, mich bei diesem Lärm zu konzentrieren. »Ich bin ein angehender Wissenschaftler«, sagte ich mir auch an jenem Morgen, als ich dabei war, einen neuen platonischen Körper zu entdecken! Der berühmte Platon (wer auch sonst?) hatte die fünf platonischen Körper beschrieben. Und entgegen der allgemeinen Meinung, dass es keinen weiteren gebe, wollte ich einen sechsten finden! Denn platonische Körper gehören zum Genialsten, was es gibt. Ihre Oberfläche besteht aus lauter deckungsgleichen Flächen. Sie sind Symmetrie in Reinkultur, wenn man so sagen will. Ich liebe Symmetrien. Symmetrien lassen dich nie im Stich!

Für einen zukünftigen Wissenschaftler gibt es nichts Besseres als Entdeckungen. Leider meint meine Mutter, obwohl sie in naturwissenschaftlicher Richtung unterrichtet, dass ich mich da hineinsteigere, was aber absolut nicht stimmt.

Ich saß an diesem Morgen also auf dem Klodeckel und war in eines meiner geliebten Print-Bücher vertieft. Dick unterstrichen hatte ich die Namen der platonischen Körper. Der Tetraeder besteht aus vier Dreiecken, der Hexaeder, welcher nichts anderes als ein Würfel ist, aus sechs Quadraten, der Oktaeder aus acht Dreiecken, der Dodekaeder aus zwölf Fünfecken und der Ikosaeder aus zwanzig Dreiecken. Faszinierend, finden Sie nicht auch? Natürlich hatte ich im Internet recherchiert, aber es war doch beruhigend, alles im Original, in Platons Buch »Timaios« nachzulesen. Wenn ich ehrlich war, hatte sich mir aber Platons Schrift noch nicht erschlossen und einige Verwirrung hinterlassen. Der Typ schweifte ununterbrochen ab, sogar bis zum mysteriösen Atlantis. Doch ich blieb dran. Ich war überzeugt, dass mir Platon noch viel mehr über Geometrie offenbaren würde.

Pling Pling Pling Plong, Pling Pling Pling Plong! »Fortunatus, zum letzten Mal! Du hast dich hier nicht abzukapseln! In fünfzehn Minuten beginnt die erste Stunde!«

Na dann. Ich erhob mich im Zeitlupentempo vom Klo, betätigte als reine Show die Spülung, fasste den gelben Türgriff und riss schwungvoll wie immer die Türe auf. Ganz die Mama, wenn es um Sturheit ging und ganz der Papa, was den Türöffnungs-Schwung betraf.

Sie müssen sicher nur einmal raten, was mein Vater beruflich macht. Genau, er ist Autohändler und öffnet gerne schwungvoll Autotüren.

»Mensch, Forti , was machst du wieder?« Die Türfalle mit dem Pyramiden-Logo unserer Schule lag in meiner Hand. Ich wusste bis jetzt nicht, dass die Dinger so leicht und aus Plastik waren. Der Ausdruck in unseren Augen zeigte, dass meine Mutter und ich uns kurz einig waren. In letzter Zeit fiel alles auseinander. Und jetzt musste es genau noch die Klotür sein! Wir starrten auf das Logo, das die Pyramidenform unseres knallgelben Schulgebäudes aufnimmt. Wobei ich betonen möchte, dass unser Schulgebäude eine ganz normale Pyramide und kein platonischer Körper ist.

Beide wussten wir, dass jetzt die schlimmste Zeit auf uns zukam: das erste Weihnachtsfest ohne meinen Vater. Doch meine Mutter zerstörte diesen Moment der Gemeinsamkeit. In einem vergeblichen Versuch, sie zu schließen, gab sie der Türe einen heftigen Stoß.

»Du weißt, heute ist Weihnachtssitzung.«

Weihnacht. Als meine Mutter es aussprach, blitzte das Wort in mir auf und verbreitete eine Stimmung wie die Glitzereinhörner auf dem Deckel meines ersten Kinder-Laptops.

Ich schnappte meine Mappe und stopfte noch das Journal mit der Schüler-Weihnachtsaktion hinein. Gut, dass meine Mutter die Sitzung erwähnt und mich daran erinnert hatte. Leicht vorwurfsvoll ruhten ihre grauen Augen auf mir. Bei Stress kriegt sie das, was ich ihren Wolkenblick nenne. Meine Augen sind vom selben Grauton, und ich verstehe es ebenfalls, meiner Umwelt düstere Blicke zuzuwerfen.

Hastig schlüpfte meine Mutter in ihre geliebte lapislazuliblaue Schulstrickjacke, die nun ihre gelbe Bluse verdeckte. Gelb ist unsere Schulfarbe. Lehrer wie Schüler laufen wie Schwedinnen und Schweden in gelb und blau herum und alle tragen wir unser Schullogo, die Pyramide, auf unserer Kleidung. Wir Schüler auf den Shirts, die Lehrkräfte auf Hemden und Blusen. Vorne auf dem Kragen ist der Schriftzug und hinten auf dem Rückenteil das Pyramidenlogo unserer Sponsorfirma Faraday Promise zu sehen. Faraday Promise, der weltweite Lieferant von gesunden Nahrungsmittelergänzungen. Gegründet nach den Virenepidemien im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts von unserem transatlantischen Retter Mister Faraday. Faraday Promise, ein Konzern, der überall seine Gebäude in Pyramidenform errichtete. Geradezu explosionsartig wurden alle Kontinente faradayisiert. Faraday Promise ist die Wirtschaftsmacht, die unser Leben beherrscht. Neben vielen anderen Schulen, Universitäten, Museen, Bibliotheken, Gedenkstätten, Sporthallen und Eventlocations gründete Faraday Promise auch unsere Internatsschule. Wie es bereits unsere Shirts lautlos in der Gegend herumschreien: Wir sind ein Puzzleteil des Faraday Promise-Universums.

Wie gewohnt waren wir spät dran an jenem düsteren Morgen. Ich hastete neben meiner Mutter zur Wendeltreppe. Sie keuchte wie immer. Schon mehrmals hatte ich sie darauf hingewiesen, bewusster zu atmen. Das müsste sie eigentlich selbst bemerken, wenn sie ihren Namen »Meta« rückwärts lesen würde: »Meta-Atem«. Gottlob habe ich den langen Atem meines Vaters geerbt, der übrigens den päpstlichen Namen »Benedikt« trägt.

Von unserer Wohnung in der dritten Ebene mussten wir hinunter auf die zweite. Dort befinden sich die Klassenräume.

Es war der übliche Amoklauf. Die faradayschen Hausschuhe aus Filz dämpften unsere eiligen Schritte.

Damit Sie ein Gefühl kriegen für die Faraday: Der kalte Betonboden ist genauso grau und trist wie ein Novembertag. Im Gegensatz dazu strahlen die gelben Wände Daueroptimismus aus. Alle paar Meter wird das unverschämt sonnige Farbgrinsen von Postern unterbrochen, auf denen sich glückliche Menschen Faraday-Produkten zuwenden. Die gerührt lächelnde Mutter, die ihrem Kind eine Früchtekapsel reicht. Das Baby, das die dicken Händchen nach einem Löffel Faraday-Brei ausstreckt. Der Geschäftsmann, der seinen Gemüseriegel schon mit den Augen verschlingt.

Wir ›wendelten‹, wie ich es nenne, die Treppe hinunter. Selbstverständlich gibt es in der Gebäudemitte einen Lift, aber die edle Glaskugel ist für Notfälle und Besucher reserviert.

Auf der zweiten Ebene angekommen, warf ich einen Blick durch eines der runden Fenster, die wie Bullaugen aussehen. Tatsächlich, der Nebel wogte um Mumpitz. Mumpitz ist die Kleinstadt, in welcher sich nicht nur unsere Schule, sondern logischerweise auch ein Werk der Faraday Promise befindet. Mit ihren reihenweisen Bullaugen-Fenstern erinnert unsere Schulpyramide witzigerweise ein wenig an ein Kreuzfahrtschiff, obwohl diese Dinger aus energietechnischen Gründen seit einiger Zeit verboten sind.

Zwei Minuten, bevor die faradaysche Klingelmelodie ertönte, trafen wir beim Klassenraum der 6a ein, meinem Schulzimmer und gleichzeitig dem Wirkungsort meiner Mutter und ihrer Lehrerteam-Partnerin. »Meta Wiesendanger« und »Caro Reminger« stand in der Mitte einer Früchtepyramide, die auf einem beleuchteten Schild neben der Türe prangte.

»Alter, wieder einmal die Nacht durchgelesen?«, begrüßte mich Silvan, genannt Silo, treuherzig. Wie ein aufrechter Bär stand er in der Türe und wartete auf mich. Seine massige Silhouette erinnert nicht nur an einen Bären, sondern auch an ein Silo, daher sein Spitzname. Mein bester und einziger Freund ist ein echter Brocken für einen Schüler der sechsten Grundschulklasse!

»Mmh, war nicht so schlimm …«, gab ich zurück und fuhr mir rasch durch die wirren Haare. Silos blaue Augen strahlten mich an. Ihn störten meine intellektuellen Ambitionen nicht, wie gewisse andere Mitschüler. Seine schwarzen Locken waren wie immer und in einem krassen Gegensatz zu meinem Wuschelkopf, mit Haargel bearbeitet. Überhaupt schien Silo jeden Morgen einem Stylingmagazin entstiegen zu sein. Wie ein Hotelier winkte er meine Mutter in den Klassenraum.

»Dankeschön, Silvan«, verkündete sie in gekünstelt frohem Ton und steuerte auf ihr Pult zu. Das heißt, auf den aufgeräumten Teil ihres Pultes, denn derjenige von Caro sah an diesem Morgen so chaotisch aus wie immer.

»Die Jackenfarbe steht Ihnen ausgezeichnet, Frau Wiesendanger.« Das war Brandon (ohne Übernamen, er ist schon penetrant genug), der meine Mutter zu provozieren versuchte.

Die Mädchen kicherten unisono. Ihr Liebling Brandon liebte seine Auftritte. Meine Mutter blieb tough - auch wenn ihr diese Selbstbeherrschung seit einiger Zeit offensichtlich schwer fiel. Sie ging gleich zur Tagesordnung über und zeigte mit ihrem Lockenkopf, der noch kürzer geschoren war als meiner, zur Kuschelecke hinüber. Es war Zeit für das Morgenritual.

Rasch warf ich das Journal mit der Weihnachtsaktion auf meinen Tisch. Vierzehn Schüler fläzten sich wie üblich in einer sich spontan ergebenden Konstellation in die blau-gelb gestreiften Sitzsäcke der Kuschelecke. Es gab ja einmal einen kleinen Aufstand meinerseits in Sachen Schulfarben. Ich wies darauf hin, dass die dauernde Präsenz von Blau und Gelb eine Gefahr für unsere Farbsichtigkeit darstelle. Wie leicht könnten die Gene für das Rot-Grün-Sehen verkümmern! Aber mein Einwand fand weder bei der Lehrerschaft noch bei meinen Mitschülern Gehör. Nur Silo bewunderte mich für meine biologischen Kenntnisse.

Nun saßen wir im Sitzsackkreis und schlossen achtsam unsere Augen. Nach drei Minuten Beruhigungsmusik mit Vogelgezwitscher und Blätterrauschen im Hintergrund, durften wir wieder die Augen öffnen. Nun war unsere Übung in positivem Denken fällig, die jeden Morgen aus einer Klasse eine Gemeinschaft machen sollte. Jeder teilte reihum dem Sitznachbarn etwas Positives mit. Natürlich stammte diese Übung von unserer Esoterikfachfrau Frau Caro Reminger, die sicher in ihrem nächsten Leben Alternativtherapeutin oder Naturheilärztin wird.

Wie jedes Mal wurde einer von uns aufgefordert, den ganzen psychologischen Schnickschnack zu starten.

»Matias! Beginne doch du und gib deiner linken Sitznachbarin einen positiven Impuls in den Tag.« Der arme Matias, der kleinste unserer Gruppe, schluckte vor Aufregung seine Fruchtgummis herunter (die faradaysche Multivitamin-Mischung).

Wieder kicherten die Mädchen. Matias schnüffelte und wurde seinem Übernamen »Matihas« gerecht. Links neben ihm, dem armen Häschen, saß ausgerechnet die stolze Ashley.

Matias wirkt mindestens drei Jahre jünger als sie. Wenn man die beiden nebeneinander sieht, hat man das Gefühl, sich in einer altersdurchmischten Mehrklassenschule zu befinden. Ashley, die Frau mit Stil, bessert zudem ihre Schuluniform, bestehend aus dunkelblauer Hose und gelbem Shirt, immer mit irgendwelchen Details auf. Am 25. November trug sie ein Batikband um den Kopf gewunden, das ihrem Profil einen orientalischen Anstrich verlieh. Zusammen mit ihren zu gefühlten 100 Zöpfchen geflochtenen Haaren und ihrem winzigen Nasenpiercing sah sie exotischer aus denn je. Irgendwie passt das zum Beruf ihrer Mutter, die Ägyptologin ist. In einer Pyramide scheint Ashley gut aufgehoben, vor allem, weil ihre Eltern dauernd unterwegs sind. Ihre Mutter reist von Fachkongress zu Fachkongress und ihr Vater ist ein Finanzberater mit weltweiten Connections. Ashley, die Großartige und gleichzeitig Nüchterne, legte eins ihrer schlaksigen Beine übers andere und wartete, als wenn sie alle Zeit der Welt hätte.

Matihas schluckte leer und starrte nach oben, zur ›Queen of Style‹ der Klasse.

»D … du bist …«, stotterte er, »wie immer die Ru …Ruhe in Person.« Dem konnte niemand widersprechen.

Ashley hatte es nicht so einfach und errötete unerwartet rasch, denn links von ihr saß Schul-Star Brandon. Nun, es schien ein offenes Geheimnis zu sein, dass sie Brandon überdurchschnittlich anhimmelte. Kein Wunder, denn Brandon ist nicht nur wortgewandt, sondern auch ziemlich gut gebaut.

»Braaaaaandon …«, Ashley dehnte seinen Namen, wahrscheinlich um Zeit zu gewinnen, und wäre sie nicht immer so zickig zu mir gewesen, hätte ich beinahe Mitleid mit ihr empfunden. Doch rasch fuhr sie fort und nuschelte wie immer in ihren Kragen. »Gestern hast du immerhin nur einundzwanzig Mal den Unterricht mit Bemerkungen unterbrochen.«

Mmh, Ashley hatte Humor. Doch dass sie den Unterricht damit verbrachte, Brandons Bemerkungen zu zählen, war ein starkes Stück. Es machte das Offensichtliche noch offensichtlicher. Wahrscheinlich bemerkte sie es selbst, denn ihre Wangen flammten auf, wie wenn sie zusätzlich zum Lipgloss noch Rouge aufgelegt hätte. Mir fiel einmal mehr auf, dass die beiden Gestylten doch recht gut zusammenpassen würden!

Unglücklicherweise saß ich links von Brandon, dem Meister der Beleidigung in Form von Komplimenten. »Forti, Forti, Forti«, sagte er in wichtigem Ton. So wie er meinen Namen aussprach, klang es wie »fort, fort, fort«. Bösartig war er nicht, aber er hatte doch Mühe, anderen auf gleicher Höhe zu begegnen.

Brandon rückte seine stylische Brille zurecht, bevor er rasch zu meiner Mutter hinüberspähte. Auch ich bemerkte sofort, dass sie leicht unaufmerksam und in sich versunken dasaß. Zufrieden lächelnd fuhr Brandon fort: »Ich bin sicher, du wirst bald einen neuen platonischen Körper finden.« Demonstrativ sah er nun zu Ashley hinüber. Brandon wusste, dass ich nicht nur ein Flair für geometrische Körper mit vielen Flächen, sondern auch für Ashley mit den vielen Zöpfen hatte.

Nun ja, auf dem Sitzsack links neben mir befand sich zum guten Glück die schmächtige Emmi, überall geschätzte Zulieferantin von Hausaufgaben und meine weibliche intellektuelle Herausforderung in der Klasse. Sie ist mit Ashley gut befreundet und das Objekt von Silos Bewunderung, die sich vor allem in zarten und ritterlichen Anwandlungen zeigt.

Ein Kompliment für Emmi zu finden, war einfach. Ich lobte sie für ihre Hilfsbereitschaft. Danach kamen Felix, Bonjour (Abkürzung für Bonifatius Touré aus Senegal), Rinaldo (unklar, warum Renato Todaro plötzlich Rinaldo hieß, vielleicht wegen seines Fußballticks und in Erinnerung an einen Fußballstar mit ähnlichem Namen) und der oft etwas schläfrig wirkende Thomas, genannt »Tomtom«, in bunter Mischung mit den Mädchen Tery, Nicci, la Paloma und Lalula an die Reihe.

Nicci ist echt beliebt, schafft die Schule mit links und will einmal Ärztin werden. Am liebsten in einem Entwicklungsland in Afrika, darum hat sie vielleicht schon präventiv ein Auge auf Bonjour, unseren dunkelhäutigen Quotenschüler, geworfen.

Tery gilt als seltsame Mischung aus widerspenstig und unauffällig und ist immer wieder für eine Überraschung bereit.

La Paloma, eigentlich Paula, bekannt für ihre Tränenausbrüche, setzt sich für Harmonie in unserer Klasse ein. Eine echte Friedenstaube.

Am auffälligsten ist die Bezeichnung Lalula. Denken Sie nur kurz nach, dann fällt Ihnen sicher sofort der Name »Christian Morgenstern« ein. Genau! Der Dichter, der auf extreme Art mit der Sprache spielte.

Als Lara Carbovsky, die größte der Klasse, vor einiger Zeit zur Rezitierbühne unseres Klassenraums stolperte, um zum Vortrag des Gedichtes »das große Lalula« von Morgenstern anzusetzen und sich dann immer wieder verhedderte, war es um uns geschehen. Wir konnten uns kaum mehr beruhigen und ihren Zweitnamen wurde sie nicht mehr los.

Doch zurück zu diesem bedeutungsvollen 25. November. Nach dem Morgenritual begann der eigentliche Unterricht in rasantem Tempo. Ich setzte mich brav hin und studierte mit den anderen die Unterlagen für die Weihnachtsaktion. Ein dumpfes Hupen und ein wandernder Lichtstrahl zeigten das Ende der stillen Tätigkeit an. Wie man bereits aus der Schmückung unserer Klotür vermuten kann, liebt meine Mutter Leuchttürme. Ein Modell davon steht bis heute auf dem Pult und ist ein verkappter Timer. Irgendwann hatte sie herausgefunden, dass die Schüler und auch Caro auf solchen Krimskrams standen und seither ist unser Unterricht von akustischen und optischen Signalen gelenkt.

»So, nun habt ihr eure Journale studiert. Gibt es noch Fragen zur Weihnachtsaktion?« Das war eine rhetorische Frage meiner Mutter. Stille im Klassenraum. Was sollten wir sagen? Wir alle kannten das Journal, das uns erwartete . Die hellblauen Seiten mit den abgebildeten Stiften und dem Begleittext: »Hier darfst du selbst gestalten.« Wir kannten den Weihnachtsmann auf dem Coverblatt, dem in einer Sprechblase ein »Hohoho« entwich.

Anfangs, in den ersten Jahren an der Faraday Promise hatten wir es noch amüsant gefunden, unter jedes Datum Dinge über unsere Lehrer und ihren Unterricht zu schreiben. Das Ganze war auch eine verkappte Übung, um unsere Handschrift zu trainieren. Bei all dem Tippen auf den faradayschen top modernen Laptops gab es bekannterweise Kids, die kaum mehr schreiben konnten. Doch mit der Zeit belastete uns die Aufgabe des weihnachtlichen Bewertungsjournals immer mehr.

Die ganze Aktion wirkte manchmal wie ein Witz! Doch wir alle beugten uns dem Diktat der Faraday Promise. Das Schlimmste waren nicht die Eintragungen, sondern die Sterne selbst, die wir kurz vor Weihnachten zu vergeben hatten. Es war das gleiche Prinzip wie in der Wirtschaft: Unsere Lehrer wurden wie Hotels, Restaurants, Bücher oder Filme bewertet. »Warum auch nicht?«, dachte sich wohl die Faraday Promise. Sie war eine Privatschule und ihre Schüler Kunden …

Praktisch sieht das bis heute so aus: Jeder Schüler führt vom ersten bis zum 23. Dezember eine Art Tagebuch über seine Lehrer und deren Unterricht. Am Ende des Journals warten auf jede Lehrperson fünf dunkle Felder zum Freirubbeln. Und unter jedem Feld ist ein Stern verborgen. Wie viele Sterne die Schüler freirubbeln und damit vergeben, wird aber erst am 24. Dezember während der Weihnachtsfeier verkündet.

Eben als ich überlegte, dass auch meine Mutter dieses Weihnachtsjournal hasste, unterbrach ein lautes Klopfen die Stille. Bonjour fasste sich zuerst. »Bestimmt der Weihnachtsmann himself«, grinste er. Meine Mutter bat uns die erste Journalseite mit den persönlichen Daten auszufüllen und ging zur Tür.

»Ah, Bruno!« Sie wirkte überrascht bis erschrocken. Es war definitiv nicht der Weihnachtsmann, sondern die gedrungene Gestalt unseres Hauswarts Bruno Peter. Für die Lehrerschaft ist er Bruno, wir Schüler nennen ihn »Herrn Peter«, wobei es seltsam ist, wenn ein Name aus zwei Vornamen besteht. Irgendwie erwartet man immer, wenn man Bruno Peter hört, dass noch ein richtiger Nachname folgt.

»Leider ist Caro verunfallt.« Herr Peters Stimme klang sorgenvoll. »Als sie mit einer Bücherspende der Faraday für die offizielle Mumpitzer Stadtbücherei unterwegs war.«

»Hoffentlich nichts Schlimmes?!«, rief meine Mutter aus.

»Leider doch. Sie fiel vom Fahrrad, als sie im Nebel einem entgegenkommenden Fahrzeug auswich und dabei das Gleichgewicht verlor. Du weißt ja, wie sie fährt, dazu mit mehreren Taschen beladen. Sie musste ins Spital zur Abklärung.«

»Warum war sie überhaupt mit dem Fahrrad unterwegs?« Meine Mutter konnte sich nicht einkriegen, dabei wusste sie doch, dass Caro jede Gelegenheit ergriff, ein wenig von ihren Pfunden abzustrampeln. Zum Gepäck kam noch ihr grauenhafter Fahrstil dazu. Ich schloss die Augen, doch die Vorstellung der schwankenden Bücher- und Taschenfetischistin Caro wurde nur noch deutlicher.

»Ich muss sofort nach der Lehrersitzung zu ihr.« Die Stimme meiner Mutter ließ keinen Widerspruch zu und holte mich aus meinen Schreckensszenarien zurück. Meine Mutter sorgte sich noch viel stärker als ich, denn Caro war nicht nur ihre Teampartnerin, sondern auch privat ihre beste Freundin.

Die ganze Klasse war mäuschenstill geworden und wollte nichts von diesem Dialog verpassen. Brunos – oder besser gesagt Herrn Peters Geruch – erfüllte unseren Klassenraum. Eine Mischung von faradayschen Pfefferminz-Vitamindrops, Schweiß und einem schweren Männerparfüm. Das war immer so, unseren Hauswart konnte man zehn Schritte gegen den Wind oder besser gegen die Klimaanlage der Schule riechen.

Inmitten dieser Geruchswolke flogen uns nun die Infos um die Ohren.

Rechtes Bein, vielleicht gebrochen, Hand verstaucht, Prellungen … Eines war klar: Caro hatte Glück, wenn sie bald in ihre Lehrerwohnung zurückkehren konnte.

Dienstag, 26. November 2041

Caro war aber erst am nächsten Tag wieder da. Leider schrieben wir genau dann, als das Spitaltaxi vorfuhr, die letzte große Klassenarbeit in Mathe. Auch wenn wir viel an unseren Laptops arbeiteten, schrieben wir solche Arbeiten immer mit Füllfeder auf Papier.

Mathe war ein Klacks für mich, aber eine Herausforderung für alle rund um mich, die von mir auf irgendeine Art Infos erhalten wollten. Mit Silo hatte ich im Vorfeld gepaukt, dennoch gab er mir mit Augenzwinkern und Fingerzeichen zu verstehen, dass er gerne eine Auskunft hätte. Doch die Aufsicht meiner Mutter war gnadenlos. Die Handys hatte sie wie immer eingesammelt. Auch Papierballtransfer war unmöglich.

Ich hatte Silos Problemaufgabe erkannt und zeichnete ganz nebenbei mit der linken Hand eine Formel auf die Tischfläche. Sofort fiel der Sperberblick meiner Mutter auf mich, und ich tat so, als wenn ich einen Fleck entdeckt hätte, den ich wegwischen wollte. Bedauernd zuckte ich mit den Schultern.

Aber auch ich selbst war aus lauter Sorge um Caro nicht so schnell wie gewohnt und konnte meine Blätter erst eine Viertelstunde vor den anderen abgeben. Die restlichen Minuten der Stunde las ich im Timaios und versuchte die Seufzer rund um mich zu ignorieren. Ehrlich gesagt hatte ich den andern genug geholfen während des Schuljahres. Irgendwann kam jedenfalls die Stunde der Wahrheit, in der man sich selbst beweisen musste. Ohne Hilfe.

Zu Beginn der Mittagspause erzählte mir meine Mutter von der Rückkehr Caros. Das Essen in unserer kleinen Wohnungsküche fiel aus. Meine Mutter wollte unbedingt noch auf einen Sprung bei ihrer Freundin vorbeischauen, bevor die wichtige Weihnachtssitzung im Lehrerzimmer begann. Ich war wieder einmal dazu verdammt, mit den anderen Schülern in der Cafeteria zu essen.

Dann stapfte Silo neben mir die Wendeltreppe hoch und schnaufte laut dabei. Er war nur wenig fitter als meine Mutter. Sport vor jeder Mahlzeit ist garantiert an der Faraday, denn die Cafeteria liegt in der Pyramidenspitze und gewährt einen wundervollen Ausblick auf Mumpitz.

Oben angekommen, schielte Silo gleich zu den Mädchen der 6a hinüber, die neben den Tablets ihre Schminksets zum Vergleichen und Tauschen bereitgelegt hatten.

Erst als er Emmi entdeckt hatte, trottete er mir nach zur Essensausgabe. Wir stellten uns hinten an, die Reihe der Hungrigen war zum Glück noch nicht so lang! Ich hasste solch stereotype Abläufe, wie das Warten in einer Schlange.

Man konnte weder lesen noch meditieren und sich schon gar nicht richtig unterhalten. Als ich endlich beim Büffet angekommen war, wählte ich wie oft das vegetarische Menü. An diesem Tag war es ein Gemüsesteak mit Salatdeko. Silo nahm sich einen Teller mit dem Fleischmenü.

Am Jungenstisch der 6a war es lärmig wie üblich. Allen voran machten sich Bonjour und Brandon über die Weihnachtsaktion lustig und erfanden immer absurdere Beurteilungen für alle möglichen Lehrpersonen der Faraday.

Das war mir eben recht, denn Silo und ich wurden nicht groß beachtet, als wir uns dazusetzten. Ich stocherte lustlos im Gemüse herum, während Silo im Schnellzugtempo seine Spaghetti Bolognese hineinschaufelte. Dabei erklärte ich ihm, wie wichtig es sei, ein wenig zu spionieren und beim Lehrerzimmer eine Lauschrunde einzuschalten.

Zwei Nussrollen noch als Nachspeise, dann war es soweit, und wir verließen die Cafeteria. Rein zufällig schlenderten Silo und ich auf der zweiten Ebene der Faraday Promise im Kreis herum, als wollten wir den Aufgabenraum der Grundschüler aufsuchen. Kamen wir in die Nähe der Wendeltreppe, taten wir so, als wenn wir auf dem Weg in die Bibliothek im Untergeschoss wären. In der Faraday Promise war das Belauschen von anderen Gesprächen schwer verpönt. ›Vertrauen‹ war unser Credo.

Vertrauen ist gut, doch Kontrolle ist besser. In dieser Hinsicht stimmte ich vollkommen mit meiner Mutter überein.

Einige der Bullaugen-Fenster im Gebäude waren offen. Es roch nach nassem Laub und den kleinen verbotenen Feuern in den Familiengärten von Mumpitz. Zwischen unseren Runden, die Silo und ich auf Ebene zwei drehten, blieben wir immer wieder rein zufällig vor der Tür des Lehrerzimmers stehen und studierten das Lehrerzimmersymbol, bestehend aus einem Kreis lächelnder Emoticons rund um eine Pyramide. Wir horchten angestrengt, denn das, was besprochen wurde, drang nur gedämpft an unsere Ohren. Scheinbar mussten noch andere Dinge diskutiert werden, bevor die Sprache auf Caros Unfall kam. Doch dann wurde es drinnen lauter. Immer wieder riss Alex Berchtold, unser Schulleiter, das Wort an sich. Er sprach eindringlich und mit metallischem Unterton. Dazwischen unsicher und eher schrill die Stimme meine Mutter. Es waren nicht viele Gesprächsfetzen, die ich vernahm, aber sie reichten, um erraten zu können, worüber die Erwachsenen sprachen.

»Es muss eine Stellvertretung her. Caro … entlasten …«

»Auf keinen Fall … keine Zeit einzuarbeiten …«

»Ich habe Kompetenz … als Schulleiter … anordnen. … sicher nette weibliche Lehrkraft finden.«

»Ich weigere mich … genug Arbeit als Klassenlehrerin … Zusatzstress mit neuer Lehrperson ist untragbar.«

»Es ist nur für einige Wochen. Du musst … durchbeißen …«

So ging das hin und her. Meine Mutter wollte scheinbar keine Stellvertretung und mit Caros Hilfe im Rücken alles allein durchziehen. Silo und ich brachten noch einige Runden auf Ebene zwei hinter uns, ehe meine Mutter einzuknicken schien.

»Das ist echte Demokratie«, zischte ich zu Silo hinüber, der sich auf eines der Bullaugen gestürzt hatte, um ein paar Atemzüge der spätherbstlichen Luft zu inhalieren.

»Bald kommt Schnee«, vermutete er wie aus dem Nichts, doch das war nicht, was ich hören wollte. Seit 16 Jahren hatte es nicht mehr geschneit im Flachland. Ich hatte in meinem ganzen Leben hier unten noch keine Schneeflocke gesehen. Wir leben nun mal in einer Zeit des beschleunigten Klimawandels.

Doch angesichts des Gespräches, das meine Mutter mit dem Direktor geführt hatte, runzelte ich besorgt die Stirn. »Wie soll das funktionieren mit der Zusatzarbeit, wenn meine Mutter schon jetzt depressiv ist? Häufig schlaflos? Kurz vor einem Burnout?«

»Nun male mal nicht den Teufel an die Wand«, grunzte Silo. »Immerhin hast du deine Mutter noch.«

Mit diesem Argument hatte er mich immer in der Tasche. Silos Mutter war mit seinen zwei Brüdern vor einigen Jahren verunfallt. Sein Vater, am Boden zerstört nach dem Verlust, hatte zusammen mit Geldzuschüssen der großen italienischstämmigen Verwandtschaft diese teure Privatschule ausgewählt, die sich um seinen Sohn kümmern sollte.

Immerhin gibt’s hier für Notfälle jederzeit eine psychologische Betreuung.

Silos Verwandtschaft war also vorhanden, aber nur theoretisch. Die einen hatten selbst schon genug mit ihren Kindern zu tun und die andern waren, wie auch Silos Vater, jobmäßig dauernd unterwegs. So blieb das Internat der Faraday Promise die beste Lösung. Und diese Geschichte ist, so kann ich versichern, typisch für die Faraday Promise. Wirklich jeder hier hatte es schon mal echt schwer im Leben.

Allerdings hatte es Silo so schlimm erwischt, dass er von Anfang an eine psychologische Begleitung benötigte. Diverse Möglichkeiten wurden ihm angeboten, von denen er schließlich das therapeutische Malen wählte. Seitdem sind die Wände seines Zimmers mit Bildern vollgekleistert und diverse Leihgaben schmücken unsere Wohnung. Silos Zeichenmotive waren immer dieselben. Er malte weder seine Mutter noch seine Brüder und auch nicht den Baum, gegen welchen das Auto damals knallte. Er malte das Meer und den Strand, Sonnenauf- und Untergänge. Vor allem aber das Meer bei allen möglichen Witterungen. Besonders interessant sind bis heute seine Nachtbilder, die ungeheuer beruhigend wirken. Und da meine Mutter eine Nachteule ist, hängt auch ein Silo-Bild mit dem Titel »Sternenmeer über dem Ozean« in ihrem Zimmer.

Ich verkniff es mir, zurückzugeben: »Und du hast immerhin einen Vater, den du regelmäßig siehst!« Wir wussten beide, dass man Schicksale nicht gegeneinander ausspielen sollte. »Gehen wir in unsere Wohnung«, schlug ich deshalb vor. Silos Augen leuchteten auf.

»Freu dich nicht zu früh, meine Mutter hat noch keine Plätzchen gebacken«, versuchte ich ihn vorzubereiten. Wir wussten aber beide, dass von vergangenen Abendsnacks immer ein paar Delikatessen im Kühlschrank auf uns warteten.

Ich schloss mit meiner Schlüsselkarte unsere Wohnungstür auf. Es roch seltsam nach Moder – die Klotür war noch nicht repariert! Das mussten wir unbedingt Bruno Peter melden. Sofort riss ich unsere Bullaugen-Fenster auf. Wir haben Glück mit unserer Eckwohnung, denn sie besitzt immerhin zwei Fensterfronten.

Die meisten Lehrerwohnungen verfügen über weniger Fenster und bei den Internatszimmern gibt es solche, die nur auf Kunstlicht und Klimaanlage angewiesen sind. Darum werden die Internatszimmer nach einem strengen Rotationsprinzip vergeben. Leider hatte Silo in diesem Quartal einen fensterlosen Innenraum erwischt. Ein Grund mehr für seine offensichtliche Anhänglichkeit.

Mein einziger und bester Freund steuerte sofort auf das Sofa zu und ließ sich auf das blassgelbe Blattmuster auf indigoblauem Hintergrund fallen. Das Sofa ächzte dezent.

Die Wohnungen in der Pyramide werden grundsätzlich möbliert zur Verfügung gestellt. Wie nicht anders zu erwarten, wiederholen sich die Faraday-Farben auch hier im ganzen Design.

Vom Sofa aus hatte Silo einen prima Blick auf die Vitrine mit Mutters Engelsammlung. Silo liebte den Anblick von Engeln – das kam bei ihm gleich nach seiner Faszination für das Meer.

Dann richtete er den Blick auf den Boden.

»Du könntest ein wenig aufräumen«, bemerkte er wie zu erwarten. Niemand hätte in Silos kolossaler Gestalt einen pingeligen Ordnungsliebhaber erwartet. Aber irgendwie verstand ich ihn. Er wollte mit der Ordnung in seinem Umfeld auch gleichzeitig in seinem Inneren Ruhe schaffen.

Ich begann die zerschnittenen Milch- und Frühstücksflockenpakete zu sammeln, mit denen ich erfolglos versucht hatte, einen neuen platonischen Körper zu basteln. Wie bereits erwähnte, gibt es fünf davon, aber ein sechster ist noch zu entdecken. Und eines Tages würde ich ihn aus lauter deckungsgleichen Vielecken zusammensetzen! Während ich die Pappe-Überreste auftürmte, erklärte ich Silo das Ganze zum xten Mal.

Silo war kritisch. »Vor einem Jahr war es dieses Ding mit dem Kreis, und das hast du auch nicht geschafft.«

»Das war einmal. Gut, die Quadratur des Kreises ist mir nicht gelungen. Aber jetzt bin ich an einem neuen Projekt dran. Und man wächst mit seinen Aufgaben«, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Irgendwie hatten solche Projekte auf mich denselben Effekt, wie Meerbilder auf Silo.

Ich warf die ganze Pappe in eine Ecke meines Zimmers. Hier herrschte ein solches Durcheinander, dass ein bisschen zusätzliches Chaos keine Rolle mehr spielte.

Dann ging ich in die Küche und riss den Kühlschrank auf. Es war schon eine Weile vergangen seit dem Mittagessen und Silos armer Magen musste bereits wieder knurren. In einer Tupperdose befanden sich ein paar Teigtaschen und ein wenig Paprika mit Olivenöl und Kräutern. In einem keramischen Töpfchen daneben ein Häufchen Safranrisotto. Oliven, saure Gurken, gekochte Eier, diverse Käse- und Wurstarten, Tomaten, ein paar Ananasringe von einem mitternächtlichen Toast Hawaii.

Gut, ich muss gestehen, meine Mutter und ich sind Gourmets. Ein Glück für Silo, für den ich ein Tablett mit Leckereien zum Sofa balancierte und vorsichtig auf dem Couchtisch mit dem schönen blauen Mosaik abstellte.

»Warum wohl diese Engelschar?«, mampfte er, den Mund voller Risotto und den Blick wieder auf die Vitrine gerichtet.

»Ist doch klar«, meinte ich, »sie fühlt sich von all den Engeln beschützt. Je mehr Engel, desto größer der Schutz.«

»Handelt es sich hier nicht bereits um eine Engelneurose?«, bohrte Silo weiter.

»Vielleicht ist es Caros Einfluss. Du weißt, dass beide, so verschieden sie auch sind, an höhere Mächte glauben.«

»Wie du an Atlantis.« Dieser Nebenschauplatz meiner Studien hatte Silo offensichtlich beeindruckt!

»Du könntest ja mal Atlantis malen?«

Silo sah mich gedankenverloren an. »Wenn man es genau nimmt, denke ich nicht, wenn ich male. Meine Hand malt wie von selbst, und auf einmal ist alles auf dem Papier: Meer, Strand, Ebbe und Flut. Ich kann weder etwas dafür noch etwas dagegen tun.«

Ich schob eine Olive in den Mund. »Es ist schön für dich, wenn sich überhaupt etwas tut. Therapeutisch meine ich. Ehrlich gesagt mache ich mir vor allem Sorgen um meine Mutter. Sie schläft kaum, wandert nachts durch die Wohnung und dann ruft sie sogar hier an.« Ich zog eine Visitenkarte unter einem Stapel von Werbeflyern hervor. Der Stapel lag auf einem Teller mit wundervollen Ornamenten, dem letzten Geburtstagsgeschenk meines Vaters an meine Mutter.

Silos rundliche Hand ergriff die schwarze Karte mit den goldenen Sternen. »Nachttaxi.« Er blickte mich fragend an.

»Es ist eine Firma des Nachbarortes, welche vor allem nachts Einsätze fährt. Ich habe das Gefühl, es ist für sie wie eine Ersatzdroge.«

»Weil dein Vater Autoverkäufer war?«

Ich nickte. »Vielleicht will sie sich beweisen, dass Autos auch für andere Menschen im Zentrum ihres Lebens stehen. So verliert mein Vater ein wenig an Wichtigkeit.«

Silo und ich hatten unsere Familiengeschichten schon viele Male besprochen. Wir glaubten zu wissen, wer woran zu leiden schien. Wir hatten darüber debattiert, wie mit diesem Leiden umgegangen wurde. In meiner Mutter steckte ein Flüchtling, aber auch eine Kämpferin. Immerhin setzte sie sich dem Thema aus, welches sie verstörte. Doch die nächtlichen Fahrten mit dem Taxi mussten extrem teuer sein. Lange konnte das nicht mehr so weitergehen! Es war eine Zwangshandlung, die sie vor allen verstecken konnte, außer vor Caro und mir.

Überhaupt schien jemand in meinem Leben auf die Repeat-Taste gedrückt zu haben. Taxifahrt hin und zurück, Kühlschrank auf und zu, Wendeltreppe rauf und runter, zwischen denselben langweiligen Lektionen. Mein Leben glich dem Meer auf Silos Bildern: Ebbe und Flut wechselten sich ab, aber an der Szenerie wurde nichts verändert.

Um von diesem unheimlichen Gedanken abzulenken, fragte ich Silo, welches denn seine geometrische Lieblingsfigur sei. Ich dachte an meine geliebten platonischen Körper und konnte mich dabei nicht entscheiden. Auch in Silos Kopf arbeitete es. Er musterte den Couchtisch vor sich und bückte sich. »Guck mal was ich gefunden habe, eine Spirale«, meinte er plötzlich, griff auf die Ablagefläche unter den blauen Kacheln des Tisches und zog eine kleine Versteinerung hervor, die beinahe in seiner Hand verschwand. (Kaum zu glauben, dass Silo mit einer solchen Pranke feine Schaumkronen auf die Wellen malen konnte!)

»Was zum Teufel …« Mein Mund blieb offen stehen. Mich überlief ein Kribbeln und die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf: Es war das Prunkstück meiner Steinsammlung. Der Ammonit mit seiner spiralförmigen Struktur, den ich vor vier Jahren im Jurakalk eines Steinbruchs gefunden hatte! Mein Gott, es konnte nicht sein! Ich hatte sogar einmal einen Vortrag über diese phantastischen und erdgeschichtlich wichtigen Lebewesen gehalten. Doch mit Vater war auf magische Weise auch mein Ammonit verschwunden. Ich hatte noch nicht gewagt, ihn danach zu fragen. Insgeheim hatte ich sogar gehofft, dass er die Versteinerung hatte mitgehen lassen, sozusagen als Erinnerungsstück an mich. Aber warum war dieser Stein jetzt plötzlich auf der Ablagefläche des Couchtisches gelandet? An einem Ort, den meine Mutter regelmäßig entstaubte?

Es blieb uns nicht viel Zeit zum Rätseln. Ich hörte erst, wie die Wohnungstür klickte, dann ein herzhaftes Gähnen. Meine Mutter steckte ihren Wuschelkopf ins Wohnzimmer herein. Ihre Augen leuchteten kurz auf, als sie mich sah, doch ihr Gesicht wirkte erschöpft. Zwei scharfe Falten hatten sich neben ihrem Mund gebildet. »Mahlzeit, ihr zwei. Ihr wisst aber, dass es bereits in zwei Stunden Abendbrot gibt. Und du, Silo hast dich sicher nicht abgemeldet in der Cafeteria?«

Ich sah meinen Freund an. Nein, hatte er nicht. Rasch schluckte Silo den letzten Bissen herunter.

»Zeig mal meiner Mutter, was du gefunden hast!«, forderte ich Silo auf. Er streckte meiner Mutter die Hand entgegen und entblößte den darin liegenden Ammoniten.

»Das kann nicht sein!« Meine Mutter trat näher. »Wo war denn Fortis Liebling?«

»Hier unten.« Silo deutete auf die untere Ablage des Couchtisches.

Meine Mutter guckte verwirrt. »Ich verstehe das nicht. Ich dachte, Fortis Vater hat ihn mitgenommen …«, murmelte sie vor sich hin, um dann sprunghaft das Thema zu wechseln. »Wir sind heute Abend bei Caro eingeladen. Pizzaabend zur Lagebesprechung. Möchtest du auch mitkommen, Silvan?«

Was für eine Frage! Sie löste sofort das typische Silo-Lächeln aus.

»Wenn ich darf, Frau Wiesendanger – Meta. Ich melde mich nur schnell in der Cafeteria ab.«

Meine Mutter hatte ihm schon lange das Du angeboten, aber Silo hatte immer noch seine Mühe damit, vom Siezen im Unterricht umzustellen.

Dienstag, 26. November 2041, abends

Als erstes fielen mir ihre blauen Haare auf. Sie musste sie kurz vor dem Unfall gefärbt haben. Vor zwei Tagen jedenfalls waren sie noch kastanienrot gewesen. Caro war vom Outfit her die schrillste Nummer unserer Schule. Aber auch die beliebteste Lehrerin. Ein Jammer, dass sie nun bis Neujahr ersetzt werden sollte.

Wir hatten es uns in ihrer Höhle bequem gemacht. Anders konnte man Caros urgemütliche Kleinwohnung nicht nennen.

Mein zweiter Blick galt ihrem Gipsbein. Dieses erstrahlte in grellem Grün. Das Grün wetteiferte mit dem katzenartigen Smaragdblick von Caro. Das linke Bein war es, welches im Gips steckte. Vorschriftsgemäß hatte sie es hochgelegt. Ihr Gesicht sah schrecklich aus: Blutergüsse unter dem rechten Auge und am Kinn. Sie streckte ihre rechte, ebenfalls leicht verbundene, Hand aus.

»Damit wollte ich mich abstützen, als ich ins Schlingern geriet.«

»Im Nebel, beinahe unsichtbar und mit diversen Taschen beladen. Caro, wie konntest du!«

Den Vorwurf hatte Caro sicher schon mehrmals gehört, meine Mutter neigt zu neurotischen Wiederholungen. Aber ich glaube, diesen Zug habe ich nicht geerbt. Vielleicht erwirbt man sich die neurotische Art auch eher im Laufe des Lebens. Ich musste das unbedingt einmal googeln.

Es klopfte an der Tür und ich stand auf, um Silo hereinzubitten. Sein Blick fiel ebenfalls auf den blauen Haarschopf und er stutzte einen Moment. Doch dann ging er sofort auf Caro zu. »Wie geht es Ihnen, Frau Reminger?«

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich selbst noch nicht nach ihrem Befinden gefragt hatte und hängte an: »Hast du noch Schmerzen?« Im Gegensatz zu Silo fiel mir das Duzen nicht schwer. Und genau in diesem Moment musste diese Problematik Caro ebenfalls aufgefallen sein.