Funkenmarie - Frieda Roth - E-Book

Funkenmarie E-Book

Frieda Roth

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Beschreibung

Nach achtzehn Jahren kehren die naive Marie und ihr Mann David mit dem inzwischen fast erwachsenen Sohn Phil aus ihrem Exil in Hamburg, in das man sie nach Bekanntwerden ihrer frühen Schwangerschaft geschickt hatte, in ihre alte Heimat zurück. Während David in der Hansestadt Karriere machte, hütete Marie Kind und Haus und verlor nicht nur den Kontakt zu ihren alten Freunden, sondern auch dem Rest der Welt. Ein Klassentreffen und die damit verbundene Konfrontation mit ihrer Vergangenheit und den Furchtbaren Vier bringen Maries Gefühle in Aufruhr, denn sie erinnern sie an den Menschen, der sie einmal war. Marie flüchtet sich in die Anonymität eines Chatrooms, wo BigDaddy ihr Vertrauen gewinnt. Schritt für Schritt gewinnt sie ihr Selbstvertrauen zurück. Und Schritt für Schritt kommt sie BigDaddy näher. Näher als sie dachte...

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Deine Zukunft liegt im Geister deiner Vergangenheit

Nach achtzehn Jahren kehren die naive Marie und ihr Mann David mit dem inzwischen fast erwachsenen Sohn Phil aus ihrem Exil in Hamburg, in das man sie nach Bekanntwerden ihrer frühen Schwangerschaft geschickt hatte, in ihre alte Heimat zurück. Während David in der Hansestadt Karriere machte, hütete Marie Kind und Haus und verlor nicht nur den Kontakt zu ihren alten Freunden, sondern auch dem Rest der Welt.

Ein Klassentreffen und die damit verbundene Konfrontation mit ihrer Vergangenheit und den Furchtbaren Vier bringen Maries Gefühle in Aufruhr, denn sie erinnern sie an den Menschen, der sie einmal war.

Marie flüchtet sich in die Anonymität eines Chatrooms, wo BigDaddy ihr Vertrauen gewinnt. Schritt für Schritt gewinnt sie ihr Selbstvertrauen zurück. Und Schritt für Schritt kommt sie BigDaddy näher. Näher als sie dachte...

Das Manuskript aus dem Jahr 2005 wurde 2021 ohne bedeutende Änderungen überarbeitet.

Frieda Roth. 1969 geboren, geschieden, in Vollzeit berufstätig und Mutter von zwei bereits erwachsenen Söhnen.

Das Schreiben begleitet die tätowierte Indie-Autorin seit ihrer frühen Jugend, beginnend mit kurzen, später längeren Texten auf einer uralten Triumph Adler.

In ihren Romanen verarbeitet sie Hoffnungen und Ängste auf eine ganz eigene, sehr persönliche Weise. Wichtig ist ihr, dass alle Geschichten mit einer satten Portion Humor versehen sind. Das Leben ist nämlich bunt.

Mit ihren Heiligen Birmas Emil und Paul lebt sie in Südhessen und twittert täglich unter dem Account @dietantefrieda.

Weitere Veröffentlichungen:

ZIMTZICKE

Mitwirkende

Marie Claussen Erzieherhelferin | Mutter von Phil | verheiratet mit David

David Claussen Manager Bereich Software | Vater von Phil | verheiratet mit Marie

Phil Claussen Auszubildender | Sohn von Marie und David

Sanne Prinz Model | Zwillingsschwester von Oliver | beste Freundin von Marie

Oliver Prinz Moderator bei Radio Sonnenschein | Zwillingsbruder von Sanne

Gunter (Gunni) Visagist | in einer Beziehung mit Lance

Lotte Pensionärin | Großmutter von Marie

Rebecca Winter Ex-Freundin von David

Lance Frisör | in einer Beziehung mit Gunni

Hanne Schneider verheiratet mit Walter | Mutter von Julia und Lena

Lena Schneider Tochter von Hanne und Walter | in einer Beziehung mit Phil

Julia Schneider Tochter von Hanne und Walter | Mutter von Emilia

Ben Zeder Softwareentwickler | Mitarbeiter von David

Hansen Softwareentwickler | Mitarbeiter von David

Alfred Michelstätter Vorgesetzter von David | verheiratet mit Cora

Linda Erzieherin | ehemalige Kollegin in Hamburg | verheiratet mit Udo

Die 1986er Schulklasse:

Sascha

Kurt

Torben

Jaqueline

Bettina

Dirk

Ludwig

Hans

Petra

Michaela

Sabrina

u. v. m.

Für Alex. Meine weltbeste Beste.

Mein ganz besonderer Dank geht an Barbara [twitter.com/Seelenauftrag] und Heike für ihre Unterstützung bei der Überarbeitung.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Kapitel sechsunddreißig

Kapitel siebenunddreißig

Kapitel achtunddreißig

Kapitel neununddreißig

Kapitel vierzig

Kapitel einundvierzig

Funkenmarie [2005]

Die Zukunft liegt im Geist deiner Vergangenheit

KAPITEL eins

Beispielhaft unmotiviert saß ich zwischen unzähligen Umzugskartons und fischte träge eine Zigarette aus der bereits arg mitgenommenen Schachtel. Ich zündete sie an, inhalierte tief den Rauch und stieß ihn in kleinen Wolken wieder aus, während mein Blick gedankenverloren durch das Wohnzimmerfenster fiel. Ich hatte es unmittelbar nach dem Aufstehen geöffnet, um die frische, kühle Morgenluft, der noch ein Hauch von Ruhe und Besinnlichkeit der vergangenen Nacht anhaftete, ins Haus zu lassen. In weniger als einer Stunde würde die Sonne wieder alles daransetzen, jedes Zimmer bis ins Unerträgliche aufzuheizen.

Ich holte mit weit aufgerissenem Mund Luft, schloss ihn wieder, während ich gleichzeitig ausatmete, und unterdrückte einen Brummlaut. Gähnen ist ein stiller Schrei nach Kaffee. Bevor ich hier also auch nur einen Finger krumm machen konnte, brauchte ich einen Kaffee.

Die Maschine befand sich definitiv in einem der Kartons. Allerdings war ich zu müde und mir meines heutigen Arbeitspensums zu bewusst, als dass ich jetzt mit der Suche danach beginnen würde oder sollte. Der Papierstapel auf dem Küchentisch erinnerte mich schließlich an die Gratisprobe Cappuccino in einer Postwurfsendung.

Während ich auf das stärker werdende Gurgeln des Wasserkochers wartete, schweifte mein Blick abwesend über das Interieur. Ich war dankbar für den relativ zeitgemäßen Geschmack meiner Schwiegermutter. Zwar hatte das Haus nach ihrem Tod vor sechs Monaten eine intensive Reinigung nötig, dafür blieben größere Reparaturarbeiten aus. Erst vor drei Jahren wurde die Küche renoviert und das gesamte Mobiliar erneuert. Auch das Wohnzimmer war ansehnlich. Momentan zwar noch eingeschränkt, da sich dort unser kompletter Hamburger Hausstand stapelte. Aber das sollte sich schließlich heute ändern. Daher musste ich allmählich in die Gänge kommen.

Erfolglos sah ich mich nach einem Aschenbecher um. Die vertrockneten Orchideen auf der Fensterbank sahen so traurig aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, die heiße Glut in das Substrat aus Pinienrinde, Torf und Perlit zu rammen und ihnen dadurch womöglich den Todesstoß zu verpassen. Also löschte ich die Glut unter fließendem Wasser und kickte den Stummel zielsicher durchs Küchenfenster auf den Komposthaufen.

Wie heimelig hier alles war. Ganz anders als in der betriebsamen Hansestadt Hamburg, in der ich die letzten siebzehn Jahre lebte. Die Vögel trällerten aus voller Kehle, kaum ein Auto unterbrach den Gesang. Stress und Hektik schienen hier alle Tore verschlossen zu sein. Sanft wogten sich die Blätter des Kirschbaums im Wind und schickten mir eine kühle Brise. Ich war wieder zu Hause. Oder würde es zumindest irgendwann sein.

Ich rührte meinen Cappuccino auf und warf, während er abkühlte, einen Blick in den Vorratsraum. Ernas Sinn für Ordnung und Organisation war vorbildlich. Und so gab es nichts, das meine Schwiegermutter nicht nur nicht im Haus gehabt hätte. Alles stand auch an seinem vorgesehenen Platz. Herzlichen Dank für Lappen, Eimer, Schrubber und eine ganze Armee Putzmittel. Fehlte nur noch Motivation.

Diese wollte sich auch dann nicht einstellen, als mein Handy klingelte.

„Schon ausgepackt?“, drängte sich Davids Frage nervig in mein Ohr. Für einen körperlich so beeindruckenden Mann war seine Stimme ungewöhnlich hoch.

„Natürlich“, blaffte ich. „Rasen habe ich auch schon gemäht.“ Für wen hielt er mich denn? Schneewittchen und die sieben Zwerge? Am anderen Ende der Leitung war außer einem schwachen Schnauben nichts zu hören.

„Ich bin doch schon dabei“, lenkte ich rasch ein. „Aber es ist...“

„Ich wollte nur sagen, dass der Klempner vorbeikommt“, schnitt er mir harsch das Wort ab. „Heute Vormittag noch.“

Der scharfe Ton machte klar, dass ich wenigstens im Badezimmer für Ordnung sorgen sollte, wenn ich sonst schon nichts auf die Reihe bekam.

„Hmhm. Danke.“

„Ich weiß nicht, wann ich heute nach Hause komme.“

Dachte ich mir, dachte ich mir und antwortete mit einem unverfänglichen „Okay“.

KAPITEL zwei

Siebzehn Jahre waren David und ich verheiratet.

Als er mich an jenem Samstag auf einer dieser typisch ländlichen Discoparties abschleppte, wusste ich zwar, dass ich nicht mehr als ein frustrierender Ersatz war. Doch die Vorstellung, vom begehrtesten Jungen unseres Kaffs heute Nacht zur Frau gemacht zu werden, ließ mich jegliche Selbstachtung vergessen.

Zweifelsohne erfüllte es mich mit Stolz, dass seine Wahl auf mich fiel. Marie, das fünfzehnjährige Mauerblümchen, war ihm aufgefallen. Mir kam nicht eine einzige Sekunde in den Sinn, ich könne nur zufällig seinen Weg gekreuzt haben. Einen Weg des Frusts. Einen Weg der Wut und des Ärgers darüber, seine damalige Freundin am Abend zuvor in den Armen eines anderen gefunden zu haben.

David nahm meine Hand und ich folgte ihm mit vor Stolz gerecktem Kinn, vorbei an den neidischen Blicken der anderen Mädchen, nach Hause. Sein Zimmer im oberen Stock des elterlichen Wohnhauses war spärlich und mit unerträglich bunten Discolampen erleuchtet.

Ich verharrte steif am Eingang und beobachtete, gleichermaßen verängstigt wie hingerissen, wie David zuerst Schuhe und Socken abstreifte, dann das T-Shirt über den Kopf zog und anschließend den Verschluss der Jeans öffnete, die viel zu schnell von seinen Hüften glitt – bis er schließlich vor mir stand. Wie Gott ihn schuf. Nur mit Slip.

Ich schnappte nach Luft. Der Anblick seines – damals wie heute noch – makellosen Körpers versetzte meine Hormone in hellste Aufregung. Meine Nerven vibrierten.

David war fünf Jahre älter als ich und überragte mich mit Einsneunzig um mehr als zwanzig Zentimeter. Das kurze, kastanienbraune Haar stand wild und rebellisch in alle Richtungen ab. Er hatte eine flache, breite Stirn und tiefliegende, wundervoll geschwungene Augenbrauen, unter denen geheimnisvoll die tiefbrauen Augen hervorblitzten. Seine schmalen Lippen bewegten sich selbst beim Sprechen kaum. Aber er war ohnehin kein Mann vieler Worte.

Flachbrüstig und verzagt stand ich vor diesem Adonis und bekam vor Aufregung so furchtbar feuchte Hände, dass ich sie unauffällig unter meine Achseln klemmte.

David war zu schön, um wahr zu sein. Die Muskeln seiner breiten Schultern zuckten wie die Schenkel eines galoppierenden Pferdes, als er mit nur zwei Schritten bei mir war. Er neigte den Kopf nach vorn, nahm mein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen und legte die Lippen auf meine. Als sich seine Zunge in meinen Mund schob, durchströmte ein heißes Prickeln meinen Bauch.

Seine Hände legten sich fest auf meinen Po und pressten mich ruckartig an seinen Unterleib. Wieder schnappte ich nach Luft. Das Wissen um meine mangelnde Erfahrung ließ mich augenblicklich erstarren.

David seufzte. Wortlos schob er mich von sich und begann dann zügig, mir Top und Hose vom Körper zu streifen. Einem Körper, der mit der Pubertät nicht recht Schritt gehalten hatte. Die Enttäuschung darüber stand David ins Gesicht geschrieben.

Er nahm meine Hand und führte sie mit sanftem Nachdruck in seinen Slip. Erschrocken fuhr ich zusammen, als das warme, weiche Fleisch meine Haut berührte und zu zucken begann. Panisch ließ ich sämtliche Artikel der Dr. Sommer Rubrik aus der Jugendzeitschrift BRAVO in meinem Gedächtnis Revue passieren.

Reibe einfach, sagte die Stimme in meinem Kopf. Also umfasste ich mit der ganzen Hand das Geschlechtsorgan und rieb. Vor und zurück – die Geschwindigkeit proportional zur Größe steigernd, die es allmählich annahm.

Davids Atem beschleunigte sich. Ungeduldig schob er meinen Samstagsbaumwollschlüpfer nach unten und mich auf sein kleines Jugendzimmerbett.

Meine freudige Erwartung wich der Angst vor dem, was nun unweigerlich folgen würde. Ich dachte unvermittelt an meine beste Freundin Sanne, und die Scherze, die wir beim Anblick ihres halbnackten Zwillingsbruders Oliver gemacht hatten. Ich dachte auch an die Leserbriefe der BRAVO, in denen junge Mädchen ihre Ängste und Erfahrungen zum berühmten ersten Mal schilderten. Panik stieg in mir auf.

Bevor ich meiner Angst verbal Ausdruck verleihen konnte, drängte sich Davids Zunge erneut in meinen Mund. Seine Hand rieb über meine Scham, während er mit dem Ellenbogen meine Schenkel spreizte.

Jetzt. Jetzt würde es passieren. Und danach könnte ich voller Stolz meiner besten Freundin erzählen, dass ich in dieser Nacht zur Frau wurde.

Meine Hormone stimmten bereits die Fanfaren, als hartes Fleisch einen sehr trockenen Weg in meine Vagina zu finden suchte. David knurrte und rieb mit dem Daumen meine Klitoris, bearbeitete meine untere Region grob, doch mit erwünschtem Erfolg.

Wahrscheinlich passt er überhaupt nicht rein, dachte ich betrübt. Während ich mich fragte, ob es so etwas wie Normgrößen gab, durchfuhr mich jäh ein stechender Schmerz vom Unterleib bis in den Kopf, als David mit beinahe brachialer Gewalt in mich eindrang. Durch einen Tränenschleier erkannte ich Davids angespannte Miene. Er sah wütend aus.

Da musst du durch, redete ich mir während der nächsten fünf Stöße ein, von denen jeder einzelne mich wie ein Hammerschlag traf.

„Alles okay?“, keuchte David und nahm mein Gesicht in seine Hände. Die Arme stützte er links und rechts von meinem Kopf ab.

Ich bohrte meine Finger in seine breiten Schultern und nickt gequält, während er seine Hüfte kreisen ließ.

Gleich würde er kommen, der Höhepunkt, das ultimative Glücksgefühl. Ganz sicher.

In dieser Hoffnung hob ich David auffordernd mein Becken entgegen, er stieß noch fünfmal zu, um Sekunden später unter lautem Stöhnen auf mir zusammenzusinken.

Ich spürte ihn in mir pulsieren und war erleichtert, als er allmählich wieder klein und weich und damit weniger beängstigend wurde.

Danach richtete David sich wortlos auf und schlich über den Flur ins Badezimmer gegenüber. Er wirkte erleichtert und auf eine knurrige Weise zufrieden.

Alles was mir blieb, war ein anhaltender Schmerz im Unterbauch und diese klebrige Masse aus überflüssigen Spermien und Blut. Zitternd und reglos wartete ich auf Davids Rückkehr.

„Scheiße. Jungfrau“, raunte er und reichte mir Küchenpapier und eine Cola.

Das war sie also, die schönste Nebensache der Welt. Aha. Selbstverständlich schilderte ich meinen Freundinnen dieses sensationelle Ereignis in den schillerndsten Farben. Fantasie? Kann ich. Ich schmückte das erste Mal mit David so lange so großartig aus, bis ich es selbst glaubte. Wahrscheinlich, um mich darüber hinwegzutrösten, dass sich David und seine verflossene Liebe bereits am darauffolgenden Wochenende wieder annäherten. Zu einer vollständigen Aussöhnung sollte es jedoch nicht kommen – denn sechs Wochen später war klar, dass unsere nächtliche Exkursion in die Welt der körperlichen Liebe nicht ohne Folgen geblieben war.

KAPITEL drei

Das Piepen meines Handys kündigte eine Kurzmitteilung an. Moin Marie :o) Kartons schon ausgepackt? Wir wünschen dir erfolgreiche Umzugstage und vermissen dich bereits jetzt. Deine verlassenen Kolleginnen und Kinder, las ich und wurde augenblicklich von Wehmut ergriffen.

Als meine ungeplante Schwangerschaft bekannt wurde, setzte man alle Hebel in Bewegung und ließ sämtliche Kontakte spielen, um David eine qualifizierte Stelle weit außerhalb des heimischen Aufmerksamkeitsbereiches zu beschaffen. Fündig wurde man in Hamburg.

An meinem sechzehnten Geburtstag gaben David und ich uns auf dem Standesamt das Ja-Wort und unsere Eltern uns ein nicht unbeträchtliches Startkapital mit auf den Weg.

Damit waren wir und wenige Wochen später auch das Gerede aus der Welt. Familienfeiern und Besuche verlegte man entweder nach Hamburg oder lud uns unter dem Vorwand aus, dem kleinen Phil die lange Reise ersparen zu wollen. Noch immer schmerzte mich, dass man sich meinetwegen so sehr schämte, dass man mich und mein Kind verstieß. Kurz nach Phils Geburt brachen meine Eltern mit den Worten „Wie kann man nur so blöd sein?“ den Kontakt vollständig ab.

Ich konzentrierte mich also auf Haushalt und die Erziehung unseres Sohnes, um David den Rücken freizuhalten, der auf der Karriereleiter stetig nach oben kletterte.

Es war unsere Nachbarin Barbara, die mir vor etwa zwei Jahren unvermittelt Anerkennung in Bezug auf meinen Umgang mit kleinen Kindern aussprach. Ich war überrascht, befand sich Phil doch gerade im Anfangsstadium der Pubertät. Außerdem hatte ich mich mit den Jahren immer mehr zurückgezogen, also nur selten Umgang mit großen sowie kleinen Menschen.

Dennoch kamen wir ins Gespräch, in dessen Verlauf mir Barbara einen Job im Kindergarten anbot.

Nach anfänglichem Befremden über mein Vorhaben, stundenweise in einer Kindertagesstätte zu arbeiten, hieß David meine neue Freizeitbeschäftigung, wie er es geringschätzig nannte, mit den Worten „Dann hast du endlich etwas zu tun und bringst Geld in die Familienkasse!“ gut.

Es interessierte es ihn nicht die Bohne, was ich tagsüber trieb. Solange ich das Haus sauber hielt und dafür sorgte, dass seine Kleidung gewaschen und gebügelt und der Tisch stets gedeckt war. Er selbst fand Bestätigung in seinem Job, der unser Bankkonto regelmäßig und beruhigend gut füllte. Und in den Blicken der Frauen, die ihm hinterher gafften, wenn er aus dem Fitnessstudio kam oder in seinem Maßanzug durch Hamburg flanierte.

Neben der Tatsache, durch nun selbständig verdientes Geld – auch wenn ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte – womöglich unabhängiger von David zu sein, waren es doch eigentlich nur die Kinder, die mir wichtig waren. Der Abschied von meinen Kolleginnen fiel mir schwer, der von den Kindern brach mir fast das Herz. Das eigens für mich mit Liebe und sichtbarer Hingabe gebastelte Abschiedsgeschenk in Form eines Albums aus achtundzwanzig Kinderhandabdrücken hütete ich wie einen Schatz.

Ich hing noch immer meinen Gedanken nach, als mich das schrille Läuten der Türklingel zusammenfahren ließ. Verdammt! Schon kurz vor acht, stellte ich erschrocken fest und eilte zum Hauseingang.

Am Garderobenspiegel hielt ich kurz inne, richtete mein T-Shirt und ordnete meine Haare. Selbst wenn ich nie Wert auf Äußerlichkeiten – auf mein Äußeres – gelegt habe, sollte man nicht den Eindruck gewinnen, ist sei gerade erst aus dem Bett gefallen.

Das matte Spiegelglas zeigte eine überraschend jung wirkende Dreiunddreißigjährige mit katzengrünen Augen und langen, dichten Wimpern. Das mittelbraune Haar war wie immer zu einem strengen Zopf gebunden. Nur ab und an bahnten sich ein paar vorwitzige Strähnen ihren Weg in die Freiheit und kitzelten die Stupsnase. Selbst in schlabberigen Jeans und viel zu großem T-Shirt machte ich eine gute Figur. Auch wenn ich die nie zeigen mochte.

Es schien, als würde mir mein gespiegeltes Gegenüber ein verächtliches Grinsen zuwerfen. Ich schüttelte den Kopf und öffnete eilig die Tür. Das aufgeregte Gezwitscher, das mich nun empfing, war offenkundig dem Jagdtrieb einer umherschleichenden Katze zuzurechnen. Die Sonne streckte ihre Fühler aus und erwärmte bereits die Stufen des Treppenaufgangs.

„Guten Morgen.“

Im Gegenlicht konnte ich die Gestalt schwer ausmachen, verließ mich jedoch darauf, dass es der Klempner war. „Guten Morgen“, antwortete ich höflich. „Sie sind aber früh.“

„So ist das nun mal auf dem Land“, lachte er und kam vergnügt auf mich zu. „Da kann man sich noch auf seine Leute verlassen. Anders als in der Großstadt, vermute ich.“

Die schwarze Katze pirschte sich lautlos an den Ursprung des panischen Gezwitschers heran. Mit der gesamten Länge ihres Unterbauches tastete sie sich Millimeter um Millimeter nach vorn. Ich beobachtete die Situation und scheuchte sich kurz vorm Absprung mit einem Zischen davon.

Der mutmaßliche Klempner stand nun direkt vor mir und musterte mich ungeniert. Dabei grinste er und seine Augen funkelten keck. Auf meinen irritierten Blick fragte er schließlich: „Kennst du mich denn nicht mehr?“

Ich glotzte ihn nur ratlos an.

Er knuffte mir sanft gegen die Schulter und platzte beinahe vorwurfsvoll heraus: „Ich bin es. Sascha.“

Sascha. Aha.

„Oh, Marie.“ Er zog eine betroffene Schute. „Du altes Hasenhirn.“

Das war es.

„Sascha!“, rief ich ehrlich erfreut und tätschelte sachte seinen linken Oberarm. „Das freut mich aber.“

Wieder machte sich meine schüchterne Zurückhaltung bemerkbar. Das war nicht immer so. Ich war nicht immer so. Im Gegenteil. Als Teenager war ich geradezu extrovertiert. Die frühe Schwangerschaft jedoch und der abrupte Umzug in diese große, unbekannte Stadt mit ihren anonymen Einwohnern sowie meine Abhängigkeit von David – seinem Wissen, seinem Geld und der Tatsache, dass er neben Phil der einzige Mensch war, den ich hier überhaupt kannte, hatte einen dichten, schwarzen Vorhang über mein Selbstbewusstsein gelegt, weshalb ich irgendwann nach all den Jahren wie ein Vampir das Sonnenlicht mied.

„Ich habe dich beinahe nicht erkannt.“

Ich erinnerte mich an den dünnen und zu klein geratenen Jungen mit den mausgrauen Augen, der mir Nachhilfe in Geschichte und Erdkunde gegeben und zu dem ich Vertrauen und damals ein gutes Verhältnis hatte. Jetzt sah ich einen erwachsenen, wenn auch immer noch kleinen Mann vor mir stehen, der mit den Jahren an Haarpracht verloren, dafür an Gewicht gewonnen hatte – doch seine mausgrauen Augen funkelten wie vor zwanzig Jahren.

„Ich dachte erst, ich habe mich verlesen, als Nadja mir den Auftrag hingelegt hat“, sprudelte es aus ihm heraus. „David Claussen.“ Sascha runzelte die Stirn. „Und ich dachte, der ist für immer verschollen.“ Seine Miene hellte sich plötzlich auf. „Und dann sehe ich dich.“

Die Katze schlich erneut über den Hof und hielt Ausschau nach der nur unwesentlich ruhiger gewordenen Vogelwohngemeinschaft. Ich behielt die Situation unauffällig im Auge.

„Ehrlich. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr tatsächlich so lange zusammenbleibt.“

Saschas direkte Art war wie nach wie vor erfrischend.

Tatsächlich. Ich hätte das ebenfalls nicht gedacht, musste ich zähneknirschend eingestehen. Ich war ein Versehen mit unerwünschten Folgen. Beide hatten wir David einen fetten Strich durch die Lebensplanung gemacht. David liebte unseren Sohn. Für mich empfand er jedoch nie mehr als freundschaftliche Zuneigung. Das wurde mir trotz der naiven Schwärmerei schnell klar. Im Laufe der Jahre und mit stetig wachsender Lebenserfahrung erkannte ich, dass unsere Ehe nur eine Zweckgemeinschaft war. Ein höfliches nebeneinanderher leben, inklusive regelmäßiger Ausübung ehelicher Pflichten. Genau wie unsere Beziehung war auch der Akt – jeden Mittwoch zehn Minuten – leidenschafts- und fantasielos.

Ich rang mir ein Lächeln ab und verscheuchte die hungrige Katze ein weiteres Mal mit einem energischen Zischen, bevor ich Sascha in die Wohnung bat.

„Mist!“, entfuhr es mir Sekunden später. „Ich habe keine Ahnung, in welcher Kiste unsere Kaffeemaschine steckt.“

Sascha warf einen Blick ins Wohnzimmer, tätschelte mitfühlend meine Schulter und zog eine Thermoskanne aus seinem Rucksack. „Keine Sorge, Marie. Ich habe immer etwas dabei.“

Er reichte mir die Kanne und stellte den Sack im Badezimmer ab.

„Sascha? Wie ist es dir denn in den letzten Jahren so ergangen?“, fragte ich, bevor er mich fragen konnte. „Bist du verheiratet?“

„Ja“, antwortete er, als hätte er nur darauf gewartet. „Mit Nadja.“

Während ich im Küchenschrank nach zwei Tassen suchte, fündig wurde und sie rasch unter heißem Wasser vom angesammelten Staub befreite, konnte ich seinen Stolz fast körperlich spüren.

„Nadja?“ Ich drehte mich um, schob die Reinigungsutensilien auf dem Tisch beiseite und platzierte die Tassen an ihrer Stelle. „Die Nadja?“

Sascha nickte hektisch und seine Wangen färbten sich rosa.

Ich schloss die Augen und sah einen dreizehnjährigen Engel vor mir. Goldblonde Locken wippten bei jeder Bewegung auf und ab. Nadja besaß bereits damals die Grazie einer Diva.

„Unsere Tochter“, fügte Sascha an und schob ein an den Ecken ziemlich lädiertes und mit unsichtbaren Fingerabdrücken übersätes Foto über den Tisch.

Das Bild zeigte Nadja – erwachsener geworden, jedoch noch immer engelsgleich – und ihre Tochter, die bedauerlicherweise größere Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte.

„Zauberhaft. Wirklich“, sagte ich ehrlich und freute mich über Saschas sonniges Grinsen.

Wir klönten schon eine Weile, als mich ein beiläufiger Blick auf die Uhr aufschrecken ließ. „Oh weh. Schon so spät“, sprang ich von meinem Stuhl. „Ich habe so viel zu tun und noch nicht einmal angefangen. Und du“, tadelte ich ihn augenzwinkernd, „auch nicht. Handwerker. Und dann die Zeit auf die Rechnung setzen. Tzetzetze.“

„Natürlich“, unkte er zurück. „Du weißt doch, wie gewissenhaft Handwerker sind.“

„Ja“, grinste ich. „Kaffee ist alle.“

Die Sonne blinzelte neugierig durch das Küchenfester und ich sah, wie sich der schwarze Vogeljäger auf der Fensterbank reckte. Seine grünen Augen blickten mich erwartungsvoll an.

Ja, sagte ich stumm. Ich werde dir nachher eine Dose Futter kaufen. Weil ich dir heute zweimal das Frühstück verscheucht habe. Fürs Erste bot ich ihm ein Schälchen Wasser an, wofür er mir schnurrend dankte.

Sascha erledigte seine Arbeit schnell und gewissenhaft. Und ich erhöhte mein Arbeitstempo, um die verlorengegangene Stunde aufzuholen. Schweißperlen rannen meinen Rücken hinab und versickerten im Bund meiner Jeans. Doch das Ergebnis entlohnte für all die Mühe. Übermütig richtete ich die Sprühflasche mit dem Glasreiniger wie eine Schusswaffe auf das Fernsehgerät.

„Ich bin jetzt fertig“, raunte Sascha mir ins Ohr.

Ich erschrak so sehr, dass sich ein imaginärer Schuss aus meiner imaginären Pistole löste und das Reinigungsmittel in einer kleinen Wolke auf meine Füße rieselte. Vereinzelt tropften Perlen aus der Flaschenöffnung nach.

„Himmel“, japste ich. „Du kannst mich doch nicht so erschrecken.“

„Doch. Kann ich. Haste gesehen.“ Er grinste schadenfroh und trat auf der Stelle. „Hast du denn schon die anderen getroffen?“

Die anderen. Damit waren alle meine alten Bekannten und Schulkameraden gemeint.

Ich schüttelte den Kopf und hob entschuldigend beide Hände. „Wir sind am Wochenende umgezogen und das ohne Pauken und Trompeten und Hallo-wir-sind-wieder-hier.“

Sascha nickt nachsichtig und sein Gesicht hellte sich auf. „Schon klar. Aber immerhin bist du pünktlich zum Klassentreffen angekommen. Das ist nämlich am kommenden Freitag.“ Er wippte beschwingt von einem Fuß auf den anderen. „Na, die werden Augen machen.“

KAPITEL vier

Es war früher Nachmittag, als ich in frische Jeans und T-Shirt schlüpfte. Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch Zeit für einen Großeinkauf hatte, bevor ich an den Bahnhof fahren würde, um Phil abzuholen.

Er hatte dieses Wochenende in Hamburg verbracht. Ihm fiel der Abschied besonders schwer. In Hamburg war er aufgewachsen, dort lebten alle seine Freunde. Mit Davids und meinem Heimatort verband ihn nichts. Abgesehen von seiner Urgroßmutter, mit der wir all die Jahre immerhin telefonisch in Verbindung geblieben waren.

Lotte war meine Großmutter väterlicherseits und verurteilte die elterliche Einstellung mir gegenüber aufs Schärfste. Zu Beginn der Differenzen aufgrund meiner frühen Schwangerschaft hatte sie mehrmals erfolglos zu vermitteln versucht. Doch irgendwann resignierte sie und steckte ihre Energie in noch mehr warmherzige Aufmerksamkeit Phil und mir gegenüber.

„Mariechen“, sagte Lotte stets. „Freunde kannst du dir immer aussuchen. Verwandtschaft hast du schlicht am Hals.“

Wie Recht sie doch hat, murmelte ich zu mir selbst und dachte an den Vormittag mit Sascha.

Dennoch zog ich es vor, zum Einkauf in die nächstgelegene Stadt zu fahren. Ich war noch nicht so weit, alte Bekannte zu treffen. Oder vergessene Freunde.

Die Sonne brannte und auf meinen Schuhen lag bereits eine dünne Staubschicht, als ich meinen Ford Ka aus der angenehm kühlen Garage manövrierte, die direkt an den gekiesten Hofeingang mündete.

Als ich das Garagentor schloss, spürte ich ein sanftes Streicheln an meinen Beinen, dem ein klagendes Miau! folgte. Der Vogeljäger schlich um mich herum, rieb dabei genüsslich seinen grazilen Körper an mir und schlang den Schwanz um meine linke Wade.

„Na, du heimatloser Räuber“, sagte ich sanft und ging in die Hocke.

Der Schwarze trug kein Halsband und sah ziemlich abgemagert aus.

Ich ließ meine Hand sachte über das stumpfe Fell gleiten. „Hast du denn kein Zuhause?“

Die grünen Augen blickten erwartungsvoll zu mir auf.

„Ich bringe dir etwas zu Essen mit“, versprach ich und kraulte ihn ein letztes Mal hinterm Ohr, bevor ich die Wagentür öffnete. Die Zeit drängte inzwischen.

Doch bevor ich einen Fuß hineinsetzen konnte, war der Schwarze bereits mit einem Sprung im Wagen und rollte sich auf dem Beifahrersitz ein.

„Äh...“ Kurz war ich geneigt, ihn aus dem Auto zu scheuchen. Aber da er vermutlich sowieso heimatlos und ziemlich einsam war, stieg ich neben ihm auf den Fahrersitz und startete den Motor.

Der Bahnhof lag abgelegen und zwischen den beiden Ortsteilen. Doch ich erreichte ihn pünktlich und mit vollbeladenem Kofferraum. Ich stellte den Wagen nahe der Gleise ab. Das Fenster kurbelte ich herunter, um dem schwarzen Vogelfänger sowohl Sauerstoff als auch eine Möglichkeit zur Flucht zu bieten. Auf Letztere schien er keinen Anspruch zu erheben. Er lag noch immer zufrieden schnurrend auf dem Beifahrersitz.

Ich stand im Schatten einer der vielen großen Birkenbäume, die den provisorisch aufgebaut wirkenden Bahnhof säumten. Er war mindestens doppelt so alt wie ich. Als ich das Geräusch eines näherkommenden Zuges vernahm, begann mein Herz sofort schneller zu schlagen und ich spürte das freudige Vibrieren in meinem Bauch.

Phil und ich waren ein Team. Nicht nur blutsverwandt, sondern auch in Geist und Seele eng miteinander verbunden.

Optisch glich Phil seinem Vater aufs Haar. Aber sein Herz war das eines Löwen. Wild und unberechenbar, vorsichtig gegenüber Menschen, die er nicht kannte. Dennoch hatte er in Hamburg einen ansehnlichen Freundeskreis und war überall sehr beliebt. Nun gab es nur noch uns beide. Zwei, die sich gegenseitig die familiäre Wärme gaben, die David uns versagte.

Der Zug kam unter lautem Getöse direkt vor meiner Nase zum Stehen. Eine Schar Vögel flog hektisch auf, um in den Kronen der Birkenbäume Schutz vor dem stählernen Monstrum zu suchen, das nun zusätzlich enorme Hitze ausstrahlte. Eine Handvoll Feierabendpassagiere stieg abgeschlagen und verschwitzt aus einem der Wagons. Phil folgte einem Mittfünfziger, dessen Jackett lässig über dem Arm hing. Er blickte sich suchend um, entdeckte mich bald und schlenderte auf mich zu. Er sah müde aus. Und traurig.

Der Abschied war noch schwerer als befürchtet, dachte ich und nickte verständnisvoll. Viel schwerer, las ich in Phils Augen.

„Hallo, Mama“, begrüßte er mich dennoch lächelnd und küsste mich.

Seine Lippen waren so weich wie die seines Vaters. Doch in seinem Kuss steckte Wärme und Zuneigung. Davids Küsse waren weder leidenschaftlich noch liebevoll. Sie waren kalt und fordernd. Aber auch daran hatte ich mich in den vergangenen Jahren gewöhnt.

Arm in Arm schlenderten wir den staubigen Weg zum Auto zurück. Wusste man es nicht besser, würde man uns für ein kurioses Liebespaar halten.

„Hast du dir hier schon einen Verehrer gesucht?“ Phil blickte überrascht auf den Schwarzen, der ihn aus seinen grünen Augen misstrauisch anfunkelte.

Zunächst irritiert, fiel mir mein Einkaufsbegleiter wieder ein, der sich nun ausgiebig streckte und beim Gähnen seine Schnauze so weit aufriss, dass neben der rosa Zunge die bedrohlich spitzen Reißzähne zum Vorschein kamen.

„Ich habe ihm heute zwei Mal das Frühstück vergrämt“, erklärte ich milde. „Daher habe ich ihm Katzenfutter versprochen. Schätze, er ist eingestiegen, um sicherzugehen, dass ich auch das Richtige kaufe.“

Phil zupfte den Kater behutsam vom Sitz und setzte ihn sich auf den Schoß. „Seit wann bist du so kontaktfreudig?“, feixte er.

Ich zog es vor, nicht darauf zu antworten und langte über meine linke Schulter nach dem Gurt. „Ich werde später mit ihm beim Tierarzt vorbeischauen und dort nachfragen, ob ihn irgendjemand vermisst.“

„Und? Hast du schon einige alte Bekannte und so getroffen?“, fragte Phil bemüht beiläufig.

Die Betonung, die er auf und so legte, war unüberhörbar. Er wusste von Rebecca, Davids damaliger Freundin. Noch heute stand sie wie ein Geist zwischen uns. Sie war seine große Liebe und würde es vermutlich immer bleiben. Den Kampf gegen sie hatte ich bereits vor langer Zeit aufgegeben. Ich würde niemals ihren Platz in Davids Herzen einnehmen können.

„Nein“, erwiderte ich schnell, nur um gleich revidieren. „Doch. Natürlich. Sascha war heute bei uns. Er war in meiner Klasse. Damals. Und jetzt ist er unser Klempner.“

„Ah.“ Phil hatte sich nunmehr völlig auf das schwarze Knäuel in seinem Schoß konzentriert. „Kann ich mit dem Kleinen zum Arzt gehen? Ich frage auch nach, ob er jemandem gehört. Und auf dem Heimweg gehe ich bei Oma Lottchen vorbei.“ Er strahlte bei seinem Vorschlag.

Natürlich stimmte ich zu und setzte die beiden wenig später vor der Tierarztpraxis ab.

Dank der Weitsicht meiner Schwiegermutter hatte ich die Einkäufe schnell in der großzügigen Abstellkammer der Küche verstaut. Die Kammer lag platzsparend und beinahe unsichtbar hinter einer schmalen Tür zwischen zwei Arbeitsplatten versteckt und war leicht zugänglich.

Der Rest der Wohnung war inzwischen ebenfalls recht wohnlich. David bestand darauf, das Mobiliar seiner Eltern zu behalten. Meine Begeisterung darüber lag in etwa bei null. Dennoch widersprach ich nicht, befreite die Möbel vom Staub und räumte lediglich die kleinen Dinge ein, die wir aus Hamburg mitgebracht hatten.

Nur Phils Zimmer war leer. Er übernahm sowohl Einrichtung als auch die Herstellung eben dieser komplett in Eigeninitiative. Unser Sohn hatte eine außerordentliche Begabung im Bereich des Handwerks und es schien wie eine Fügung des Schicksals, dass er einen Ausbildungsplatz in einer angesehenen Schreinerei ganz in unserer Nähe erhielt, die sich auf die Herstellung von Sonderanfertigungen spezialisierte.

Während ich den Salat putzte, schweifte mein Blick aus dem Fenster. Mein Schwiegervater legte immer Wert auf einen gepflegten Garten. Akkurat, würde ich sagen. Jeden verdammten Samstag mähte er Rasen, schnitt Hecken und Rosen in fast militärische Form. Erna führte diese fragwürdige Tradition nach seinem Tod fort. Im letzten halben Jahr war der Rasen erst explodiert und dann flächendeckend verdurstet. Sogar Unkraut wagte sich nun vor und schien sich mit steigender Vehemenz auszubreiten.

Mir war das gleichgültig. Diese passgenaue, aufgezwungene Anordnung der Natur war mir schon immer zuwider. Wild wuchernde Wiesen mit bunten Blumen, in denen man toben, sich fallen lassen, träumen und mit kindlichem Gemüt Käfern bei der Arbeit zusehen konnte – das war meine Vorstellung von einem Garten.

Völlig in Gedanken versunken rührte ich das Dressing an, weshalb mir vor Schreck auch fast das Herz stehen blieb, als plötzlich ein schwarzer Schatten an mir vorbeiflog und der Kater sicher auf der Arbeitsfläche landete.

„Schwarzer!“, quiekte ich und warf die Hände vor die Brust. „Hast du mich erschreckt!“

Er miaute entschuldigend und rieb den Kopf an meinem Bauch.

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen, Mama.“ Phil schob sich in meinen Rücken, lunzte über meine Schulter und tauchte den Zeigefinger ins Dressing. „Der Kater ist etwa sechs Monate alt und gehörte auf den Hof von Bauer Wendel. Dem wäre es sehr recht, wenn er ihn los wäre. Also können wir ihn behalten. Hat Doktor Scheuermann gesagt.“

Ich blies die Wangen auf und lies die darin gesammelte Luft langsam ab.

„Er hat den Kater untersucht und auch gleich geimpft. Er ist völlig in Ordnung. Nur ein wenig unterernährt. Aber das wirst du sicher ganz schnell ändern“, zwinkerte Phil mir zu.

Nein. Eigentlich musste ich gar nicht über das Für und Wider nachdenken. „Gut, Schwarzer. Dann brauchen wir jetzt nur noch einen Namen für dich.“

„Dann mach dir darüber Gedanken, während du mir schleunigst ein eiskaltes Bier besorgst“, brüllte es eindrucksvoll aus dem Flur. „Ich habe schließlich ein paar Leben weniger als dieser Kater.“

Mein Herz machte beim Klang ihrer Stimme einen freudigen Hüpfer. Ich tat es ihm nach und fiel meiner Großmutter Lotte stürmisch um den Hals.

„Wenn du nicht zu mir kommst“, knurrte sie liebevoll, „komme ich eben zu dir.“

Lotte war eine kleine, stämmige und unglaublich faltige Frau. Jede dieser Falten erzählt eine Geschichte, erklärte sie mir einmal. Ihr Haar fiel noch immer in dichten, weichen Wellen und das Blond war nur vereinzelt starrsinnigen, weißen Strähnen gewichen. Sie hatte volle Lippen und funkelnde, grüne Augen. Es war kaum zu übersehen, wem aus der Familie ich ähnelte.

Lottes Gesicht färbte sich von der Hitze puterrot und ich führte sie mit sanftem Nachdruck in die Küche. Unauffällig schob ich einen Stuhl unter die voluminösen Pobacken. Oma Lotte war liebenswert und herzlich, konnte jedoch zur Furie werden, wenn sie sich bevormundet oder verhätschelt fühlte.

„Schwarzer“, raunte sie unvermittelt.

„Was?“ Skeptisch betrachtete ich die Flasche Kölsch, die nach ihrem Aufenthalt im heißen Wagen noch immer die Temperatur von Kinderpipi haben dürfte.

„Schwarzer“, wiederholt Oma Lotte. „So habe ich deinen Opa auch immer genannt.“ Ihr Kinn zitterte schwach.

Ich hatte leider keine Erinnerung an meinen Großvater. Nur wenige Monate vor der Geburt meines Vaters fiel er im Krieg. Das einzige Bild, das meine Großmutter von ihm besaß, war kaum drei Zentimeter groß. Sie trug es in einem Amulett um ihren Hals. Die stark verblasste Schwarzweißaufnahme zeigte einen bildschönen Mann mit kurz geschorenem Haar und ebenmäßigen Gesichtszügen. Die großen, dunklen Augen blickten unsicher in die Kamera. Großvater kam als US-Soldat nach Deutschland, lerne Lotte kennen und lieben und erfuhr schriftlich, dass er Vater werden würde. Der Skandal war groß, als das Kind schließlich unehelich geboren wurde. Zudem ließ der nussbraune Teint auf die Hautfarbe des Erzeugers schließen. Ein Kind von einem Neger, echauffierte man sich und zeigte mit dem Finger auf sie. Das ganze Ort war in Aufruhr. Doch Oma Lotte zeigte Rückgrat. Trotzig und voller Stolz zog sie ihr Kind ganz allein groß. Geheiratet hatte sie nie.

„Du bist spät“, sagte ich zu David, als er gegen zwanzig Uhr endlich nach Hause kam und holte die Teller aus dem Hängeschrank. „Es gibt Salat und Wurstplatte.“

David hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Eher aus Gewohnheit, denn aus Zuneigung. „Ich habe mich nach einem Fitnessstudio umgesehen“, erklärte er mit glühenden Wangen. Hatte er bereits eine Trainingsstunde hinter sich?

„Fündig geworden?“ Ich goss den Salat ab und füllte ihn in eine große Glasschüssel.

„Ja“, antwortete er knapp.

Ich öffnete den Kühlschrank und holte die vorbereitete Platte hervor. „Oma Lotte war heute Nachmittag hier.“

„Aha.“

„Ist erst vor zehn Minuten gegangen.“

„Oh.“

Nach einer Pause fragte David: „Geht es ihr gut?“ Es interessierte ihn eigentlich nicht Bohne.

„Ja.“ Ich reichte ihm ein Bier und nahm am Tisch Platz.

Im Flur hörte man Schritte. Phil hatte seine Urgroßmutter wohlbehalten nach Hause gebracht. „Hi“, begrüßte er seinen Vater, ohne ihn anzusehen, und schaufelte noch im Stehen Wurst auf einen Teller.

Wir schwiegen, während sich jeder von uns aufmerksam seinem Abendbrot widmete.

Man konnte die Situation nicht unbedingt als unangenehm bezeichnen. Es war Gewohnheit. Seit siebzehn langen Jahren.

Als ich eine Stunde später auf die Terrasse trat, streichelte ein angenehm kühler Wind meine nackten Oberarme. Es roch nach Gras, nach Land, nach Natur, nach Leben. Ich strich mit der flachen Hand Staub von einem Plastikstuhl und ließ mich träge darauf nieder.

Eine Motte flatterte aufgeregt um das künstliche UV-Licht einer Lampe im hinteren Bereich der Überdachung. Wie eine Vibration schlugen ihre Flügel auf und ab. Sie verlor schier den Verstand, bis sie es zu ihrem Pech endlich schaffte, durch das Gitter zu gelangen, um mit einem kurzen Knzz! im Licht zu Staub zu zerfallen.

Armes Viech, dachte ich, als just der völlig verdreckte Kater auf meinen Schoß sprang. „Schwarzer? Warst du auf Safari?“

Das zufriedene Miau! sagte mir, dass er einen erfolg- und erfahrungsreichen Nachmittag hinter sich gebracht haben musste.

Ich zündete mir eine Zigarette an und achtete darauf, den Rauch nicht in Schwarzers Richtung zu blasen, während mein Blick über die Umgebung wanderte. Meine Augen blieben schließlich am inzwischen dunkelblauen Sternenhimmel hängen. Es war Mitte September. Der lange, heiße Hochsommer würde sich bald verabschieden und dem Herbst mit seinen stürmischen Regentagen Platz machen.

Die Terrasse grenzte direkt ans Wohnzimmer. Durch die offene Tür hörte ich die Kollegen Taube und Schatz aus der Krimiserie SK Kölsch hitzig diskutieren. Das Licht des Fernsehers flackerte unregelmäßig und ließ die Tonfiguren vor mir irgendwie gespenstisch erscheinen. Schwarzer beäugte sie aufmerksam. Als ich wenige Minuten später ins Wohnzimmer trat, folgte er mir.

David bemerkte den Kater erst, als ich mich aufs Sofa setzte und er sich auf meinem Schoß einrollte.

„Was zum Teufel ist das?“, fragte er entgeistert.

Ich verdrehte – von David unbemerkt – die Augen und antwortete schnippisch: „Das nennt man im Allgemeinen Kater. Er ist“, fügte ich etwas friedfertiger hinzu, „ab heute unser neuer Mitbewohner.“

„Wie bitte?“, bellte er und warf mir und dem Kater einen wütenden Blick zu. „Wie kommst du dazu?“

„Er saß heute Früh auf unserer Fensterbank.“

„Und da dachtest du, behältst du ihn einfach? Marie?“ Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern schüttelte fassungslos den Kopf und widmete sich wieder dem Fernsehprogramm.

Ich spürte diesen unbändigen Drang in mir, auf der Stelle laut loszuheulen, und kämpfte ihn mühsam nieder. So war es immer. Immer gewesen. Unsere Gespräche beschränkten sich auf das Notwendigste, zumal David ohnehin jedes Mal das letzte Wort hatte. Zum Streit kam es nie. Dem ging er stets aus dem Weg. Und ich selbst brachte weder Mut noch Kraft auf, meinen Mann etwas entgegenzusetzen. So war auch jetzt davon auszugehen, dass David in den kommenden zwei Tagen lediglich noch weniger mit mir sprechen würde als ohnehin schon, um seinem Ärger über Schwarzers Einzug Ausdruck zu verleihen. Danach war für ihn diese Angelegenheit erledigt.

„Der kommt nicht ins Bett“, knurrte David missgestimmt, während ich eine Stunde später noch einmal im Badezimmer verschwand.

„Der kommt nicht ins Bett“, äffte ich ihn vor dem Spiegel nach und zog eine Grimasse. Ich zog das Zopfband aus dem Haar, drehte die kleine Sanduhr, die noch aus Phils Kinderzeiten stammte, auf der Spiegelarmatur um hundertachtzig Grad und putzte die Zähne. Danach öffnete ich den Wasserhahn und ließ das kühle Nass eine Weile meine Handinnenflächen hinabrinnen. Ein paar Tropfen spritzte ich mir ins Gesicht.

Von intensiver oder aufwändiger Schönheitspflege hatte ich nie viel gehalten. Dank der Gene meines Großvaters war meine Haut von Natur aus feinporig und nougatbraun. Ich musste mich nie in der Sonne oder unter Solarien quälen, um im kurzen Rock nicht auszusehen, als trüge ich Thrombosestrümpfe. Nun ja. Ich trug auch keine kurzen Röcke. Aber mir blieben auch die markanten Abzeichnungen eines Bikinis erspart. Der dunkle Teint stand in äußerst interessantem Kontrast zu meinen grünen Augen. Wahrscheinlich war das der einzige Grund, weshalb David vor achtzehn Jahren den Entschluss fasste, mich für seinen Frustfick mit nach Hause zu nehmen.

Als ich schließlich unter meine Decke schlüpfte, bemerkte ich Davids verdrießliche Miene. Schwarzer blieb davon gänzlich unbeeindruckt und rollte sich am Fußteil meines Bettes ein. Ich hielt den Atem an.

Doch David sagte nichts und drehte sich mit einem gemurmelten „Nacht!“ zur anderen Seite.

KAPITEL fünf

Saschas Anruf, in dem er mich über Ort und Uhrzeit des Klassentreffens informierte und sich noch einmal versicherte, dass ich auch wirklich teilnehmen würde, veranlasste mich an diesem Freitagmorgen, das alte Klassenfoto aus der Kiste im Schlafzimmer hervorzuholen.

Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Schwarzer machte es sich auf der Sofalehne bequem und beobachtete mich. Ich ließ mich im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden nieder und hangelte nach meiner Kaffeetasse, die ich zuvor unweit auf dem Tisch abgestellt hatte.

Wir waren eine ungewöhnlich kleine Klasse. Achtzehn Schülerinnen und Schüler, von denen drei jedoch bereits aus dem Leben gerissen wurden. Diese traurige Information war sogar bis zu mir nach Hamburg durchgedrungen.

Ich legte das Bild mit der in goldenen Lettern gestanzten Aufschrift Abschlussklasse 1986 auf mein rechtes Knie und studierte nacheinander jedes Gesicht.

Links außen, in der hintersten Reihe und gegen einen übermächtigen Blumenkübel gelehnt, stand Kurt. Er war der Klassenbeau. Ein blonder Schönling mit braunen Rehaugen und einer gut trainierten Figur. Seinem Charme war beinahe jedes Mädchen erlegen. Er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen. Und tat es auch. Dennoch vernachlässigte er nie den Unterricht und machte einen außerordentlich guten Abschluss.

Direkt neben Kurt stand Torben und lehnte lässig an dessen Schulter. Torbens Nationalität war ziemlich undurchsichtig. Sein Teint war ähnlich dem meinen. Doch seine Augen waren leuchtend blau. Torben hatte die Rolle des Klassenkaspers übernommen.

Die schwarzhaarige Jaqueline und die blonde Bettina gab es nur im Doppelpack. Bereits ihre Mütter und deren Mütter und wiederum deren Mütter waren beste Freundinnen. Sie waren die Popper unseres Jahrgangs und damals beinahe jedem Modetrend voraus.

Neben ihnen präsentierten sich in der hinteren Reihe Melinda, auffallend durch Größe und Mundwerk, und Dörthe, eine rothaarige Giftspritze. Die beiden Freundinnen kamen vor fünf Jahren während einer gemeinsamen Urlaubsreise ums Leben. Die Umstände ihres Todes blieben mysteriös.

In der mittleren Reihe tummelten sich unauffälligere Klassenkameraden, wie der schlaksige Dirk, der immer etwas streng riechende Ludwig und der undurchschaubare Hans. Sie waren ebensolche Mitläufer wie die ständig schnatternde Petra und die Sportasse Michaela und Sabrina, die man im letzten Schuljahr in den Stand der Klassengrazien erhoben hatte.

Beim Anblick der vorderen, völlig chaotisch aufgestellten Reihe durchflutete ein Kribbeln meinen ganzen Körper. Das war einmal meine Clique. Sascha saß links außen in der Hocke. Neben ihm fuchtelte Arne wie wild mit den Händen. Ein lebensbejahender, junger Mann, der mit kaum einundzwanzig Jahren in Paris seinem Krebsleiden erlag. Meine Augen verharrten einige Minuten auf seinem strahlenden Gesicht.

Und da stand sie. Sanne. Meine allerallerbeste Freundin seit dem dritten Lebensjahr. Ihr haselnussbraunes, langes Haar stand in wilden Locken zu allen Seiten. Sie sah aus wie Ronja Räubertochter. Ihre Augen funkelten in einem Blau, so tief, als könne man darin ertrinken. Die Oberlippe war um die Hälfte schmaler als die sanft geschwungene Unterlippe. Es hatte immer etwas Rebellisches, wenn sie lächelte. Markant waren die ausgeprägten Kieferknochen im Verhältnis zu ihrem schmalen Gesicht mit der ebenso schmalen und wohlproportionierten Nase, um die ich sie beneidete. Stolz und selbstbewusst schaute sie in die Kamera und ich wurde geradezu überwältigt von einer unermesslichen Sehnsucht nach ihrer Nähe.

Das Gefühl steigerte sich noch beim Anblick des jungen Burschen, den Sanne fest in ihrem Arm hielt und der der Kamera stolz die beiden erhobenen Finger, das Zeichen für Victory, zeigte. Der Bursche mit dem rabenschwarzen Haar, den dunklen Augen und langen Wimpern, war Gunter. Bildhübsch, ein bisschen feminin. Zu jedem Spaß bereit. Mit ihm konnte man genauso gut lachen wie weinen. Gunter hatte stets ein offenes Ohr, eine helfende Hand und ging für seine Freunde durchs Feuer. Neben ihm sah Oliver schüchtern in die Kamera. Es war beinahe wie doppelt sehen. Er war seiner Zwillingsschwester Sanne wie aus dem Gesicht geschnitten, allerdings mit kurzem, lockigem Haar und leider auch nur geringfügig männlicheren Zügen. Himmel! Sanne und ich hatten oft Stunden damit zugebracht, ihn ausgehfein zu machen, indem wir ihm tonnenweise Gel in seine widerspenstige Lockenpracht schmierten. Seine feste Zahnspange schreckte die Mädchen meist von einem ersten intensiven Gespräch ab. Dabei war Oliver ein Freund, wie man ihn besser gar nicht hätte haben können. Schüchtern und zurückhaltend zwar. Doch für Menschen, die ihm am Herzen lagen, sprang er sofort und mit lautem Geschrei in die Bresche. Außerdem war nirgendwo ein Geheimnis sicherer aufgehoben als bei ihm.

Oliver stand Schulter an Schulter mit einem keck dreinblickenden Mädchen, das mit ihrem weiten T-Shirt den kleinen Bauch zu verdecken suchte, der sich trotz allem deutlich darunter abzeichnete. Ich.

Die Sonne schien nach dem gestrigen Tag an Kraft und Intensität verloren zu haben. Also packte ich den Gugelhupf, den ich am Morgen gebacken hatte, in einen Korb und ging zu Fuß zu Oma Lotte. Währenddessen dachte ich mit gemischten Gefühlen an das heutige Klassentreffen.

„Mariechen!“, rief Oma Lotte bereits, als ich das kleine, braune Gartentor quietschend öffnete. „Worüber denkst du denn so angestrengt nach?“

Lotte las in meinem Gesicht wie in einem offenen Buch. Sie wartete in ihrem kleinen, anschaulichen Gärtchen bereits ungeduldig auf mich und deutete meinen Gesichtsausdruck richtig.

Auf dem kleinen Bistrotisch stand das alte Kaffeegeschirr mit dem Blümchenmuster. Oma liebte Blumen. Und diese Liebe steckte sie in jeden einzelnen Quadratmeter, der ihr in dem kleinen Garten zur Verfügung stand.

„Hast du Kummer, mein Mädchen?“ Fürsorglich legte sie ihren Arm um meine Schulter.

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht mehr als andere auch.“

Der eindringliche Blick aus den grünen Augen genügte, um mich daran zu erinnern, dass es früher wie heute zwecklos war, ihr etwas vorzumachen.

Ich küsste Omas weichen Wangen und stellte den Gugelhupf ab. Während ich den Kuchen anschnitt, erklärte ich: „Wir haben heute Abend ein Klassentreffen. Und ich bin so unsicher. Einerseits freue ich mich drauf. Andererseits...“

„...hast du Angst, deine Freunde könnten dir völlig fremd geworden sein?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Ich nickte.

„Du bist da oben so menschenscheu geworden“, stellte Lotte seufzend fest. „Du hast dich damals in etwas hineintreiben lassen, das dir nicht guttat.“ Sie schüttelte betrübt den Kopf.

Ich füllte die nostalgischen Tassen mit Kaffee und schaufelte uns Gugelhupf auf die Teller. „Omi, ich bewundere dich dafür, dass du Papa ganz allein großgezogen hast. Gegen alle Vorurteile. Völlig ohne Hilfe oder Unterstützung deiner Eltern oder“, fügte ich vorsichtig hinzu, „Opa.“

„Ich weiß, mein Kind.“ Omi verteilte ihren mächtigen Hintern geschickt auf der Sitzfläche des viel zu kleinen Stuhls. „Aber aus meinem Sohn, deinem Vater, wurde letztlich auch kein besserer Mensch als meine Eltern waren.“

Ich zuckte bei ihren Worten nicht einmal mehr zusammen. Mit den Jahren wich der Kummer darüber, dass meine Eltern jeden Kontakt zu mir und Phil und leider auch zu Oma Lotte abgebrochen hatten, der Gleichgültigkeit. Vor über zehn Jahren wanderten sie nach Finnland aus, was mir nun das beruhigende Gefühl gab, ihnen hier nicht vielleicht zufällig über den Weg zu laufen.

„Wenigstens hatte ich Glück und konnte mein Kind gemeinsam mit dem Vater großziehen“, argumentierte ich leise.

Omi lächelte verhalten. „Das nennst du Glück?“ Sie nahm meine Hand und zeichnete mit dem Daumen kleine Kreise. „Ich will weiß Gott keine großen Reden schwingen, Mariechen. Ich bin zwar alt, aber dennoch nicht weise. Sei’s drum. Ich habe meine Erfahrungen im und mit dem Leben gemacht und daraus gelernt.“ Sie legte bewusst eine Pause ein. „Von deiner Jugend hattest du als blutjunge Mutter nicht viel. Diese Jugend bringt dir niemand wieder. Doch Phil ist inzwischen alt genug. Du, Mariechen, bist noch nicht alt. Dir bleibt noch alle Zeit der Welt, dein Leben zu genießen. Dein Leben zu leben.“

Ich sah meine Großmutter fragend an. Natürlich hatte ich ihr sehr aufmerksam zugehört. Dennoch war mir noch nicht klar, worauf sie letztlich hinauswollte.

Oma Lotte schob sich ein großzügiges Stück Kuchen in den Mund und spülte mit einem großen Schluck Kaffee nach. Schmatzend fuhr sie fort. „Du hast alles für deinen Sohn getan, Marie. Und das weiß Phil auch. Er ist ein sehr cleverer Junge und du kannst stolz auf ihn sein. Jetzt ist es an der Zeit, dass du wieder an dich denkst. Tue, was du schon immer tun wolltest. Du sollst nicht irgendwann da oben“, sie deutete mit dem Zeigefinger gen Himmel, „sitzen und bejammern, was du in deinem Leben alles verpasst hast.“ Omi beugte sich vor und tippte mir auf die Brust: „Du musst nur den ersten Schritt machen.“

Nachdenklich zerteilte ich meinen Kuchen. „Und du meinst, das Klassentreffen wäre dieser erste Schritt?“

Omi zuckte mit den Schultern. „Könnte sein? Wer weiß das schon?“ Sie stieß ein lautes Seufzen aus. „Jedenfalls wird sich nun viel ändern, Marie. Ihr seid nicht mehr in der fremden Großstadt. Ihr seid wieder zu Hause. Dort, wo der andere Teil deiner Vergangenheit lebt.“

Lottes Worte stimmten mich nachdenklich. Zwei Stunden später sann ich auf dem ganzen Heimweg darüber nach. Ich fühlte mich zwar noch immer unsicher. Doch ich hatte den festen Entschluss gefasst, am Klassentreffen teilzunehmen.

Ich bereitete ein deftiges Chili vor, das David sich später am Abend aufwärmen konnte. Das Klassentreffen sollte um achtzehn Uhr beginnen und es war nicht davon auszugehen, dass er bis dahin zu Hause war. Sein neuer Job nahm ihn noch mehr als früher in Anspruch.

Während ich duschte, saß Phil mit seiner Portion Chili auf dem Toilettendeckel. „Finde ich gut, dass du heute Abend zum Klassentreffen gehst“, nuschelte er zwischen zwei Löffeln. „Das wird sicher eine Gaudi, wenn du die alten Klassenkameraden nach beinahe achtzehn Jahren wiedersiehst.“

„Wird sich zeigen, Phil.“ Ich shampoonierte übertrieben sorgfältig mein Haar und massierte gründlich die Kopfhaut.

„Warum so negativ?“

„Bin ich doch gar nicht“, widersprach ich. „Ich weiß nur nicht... Wir haben uns doch alle irgendwie verändert. Wir sind einfach nicht mehr die Menschen, die wir noch vor achtzehn Jahren waren.“

„Nur weil man älter wird, wird man nicht zwangsläufig ein anderer Mensch.“

Ob du dich da mal nicht irrst, dachte ich und an mich selbst.

Ich war ein Teenager wie jeder andere auch. Über Olivers Schüchternheit hatten Sanne und ich oft gefeixt. Ich war neugierig, offen und mitunter auch ziemlich vorlaut. Alle diese Eigenschaften, ob positiv oder negativ, kamen mir im Laufe der Jahre irgendwie abhanden. Oder lagen sie da noch irgendwo? Tief in meinem Inneren? Ich musste sie nur wiederfinden. War es das, was Omi Lotte mir heute sagen wollte?

„Warum trägst du deine Haare denn nicht mal offen?“, riss Phil mich aus meinen Gedanken.

„Weil es deinem Vater nicht gefällt“, antwortete ich knapp und kniff die Augen zusammen, als sich die langen Haare in der Bürste verhedderten.

„Als ob...“ Phil zog die Brauen zusammen.

Schnell schaltete ich den Fön ein, um eine weitere Unterhaltung bezüglich meines Outfits zu verhindern. Die warme Luft trieb mir erneut den Schweiß ins Gesicht.

Als ich in Jeans, einem lässigen T-Shirt mit der Aufschrift no doubt und mit Pferdeschwanz aus dem Badezimmer trat, saß Phil mit einer Flasche Radler in der Küche. Er warf mir einen anerkennenden Blick zu.

„Weißt du, Mama?“ Auf seinen Lippen zeichnete sich ein verschmitztes Lächeln ab. „Du bist auch ohne Schminke die schönste Frau, die ich kenne.“

Das Kompliment tat meiner Seele gut. Ich wusste, es kam von Herzen und war grundehrlich. Ich küsste Phil und setzte mich kurz zu ihm. Zittrig zog ich eine Zigarette aus der Schachtel. „Ich habe noch ein bisschen Zeit“, seufzte ich und spürte, wie meine Nervosität allmählich wuchs.

Fünfzehn Minuten später warf ich einen letzten kritischen Blick in den inzwischen polierten Garderobenspiegel. Ich sah aus wie das unscheinbare Mädchen um die Ecke, deren spurloses Verschwinden niemandem, außer dem Finanzamt vielleicht, auffallen würde. Ein bisschen Make-up hätte mir bestimmt nicht geschadet. Aber ich hatte nicht einmal welches im Haus. Das Leben ist eben kein Ponyhof. Und auch keine Beautyfarm.

KAPITEL sechs

Ich war offenbar die Erste.

Also atmete ich ein letztes Mal tief durch und ging entschlossen die Treppen nach oben in die alte Bauernschänke. Ich hörte zwei Wagen auf den davor liegenden Parkplatz fahren, drehte mich jedoch nicht um. Durch die offene Tür der Kneipe schlugen mir Qualm und der Geruch von Küche entgegen. Einen Moment lauschte ich dem angeregten Stimmengewirr, dann trat ich ein.

„Entschuldigung.“ Sachte winkend machte ich die üppige Dame hinter dem Tresen auf mich aufmerksam. „Ich suche das Treffen der sechsundachtziger Abschlussklasse.“

Die Kellnerin blickte von ihrer Beschäftigung auf und deutete mit dem Kinn zu Hintertür. „Biergarten“, erwiderte sie knapp.

Ich nickte zum Dank und ging eilig an den neugierigen Blicken der Feierabendtrinker vorbei. Hier wurde jeder Neuankömmling gewissenhaft und ungeniert taxiert. Daher atmete ich auf, als ich den Absatz der Treppe erreichte, die hinunter in den gemütlichen Biergarten führte.

Ich war nicht die Erste.

Sascha saß bereits vor einem Glas Weizenbier und strahlte, als er mich sah.

„Marie“, winkte er mich herbei. „Du kannst dich zu mir setzen.“

Ein bereits vertrautes Gesicht. Erleichtert nahm ich neben Sascha Platz.

Seine Aufmerksamkeit richtete sich bereits wieder auf die Treppe. „Achtung“, grinste er. „Hier kommt Kurt.“

Ich sah in die Richtung, aus der ich gerade erst gekommen war, und schnappte erschrocken nach Luft. Himmel, gab Kurt eine traurige Gestalt ab.

Zweifelsfrei legte er noch immer größten Wert auf sein Aussehen. Doch seine Miene schien eigentümlich verzerrt. Das machte sich umso mehr bemerkbar, als er nur noch eine Armlänge von uns entfernt stand und zur Begrüßung maskenhaft lächelte. Seine Lippen hatten die Form von Schläuchen und die Augenbrauen klebten steif an seiner Stirn.

Ich fühlte mich in meiner Vermutung bestätigt, dass Kurt seinem Schönheitsideal mehr als einmal chirurgisch nachgeholfen hatte. Meine Güte, er war doch erst dreiunddreißig?

„Hallo.“ Kurt nahm anmutig neben Sascha Platz und richtete die unnatürlich weiten Augen auf mich. „Marie?“

Ich nickte und lächelte zurückhaltend.

„Marie. Dich hätte ich ja...“

Weiter kam er nicht, denn am Treppenaufgang machten bereits die nächsten Gäste unter lautem Hallo auf sich aufmerksam. Zwei Frauen mit nicht unbeträchtlicher Körperfülle stapften schwerfällig und schnaubend die Stufen hinab. Zwischen Doppelkinn und wulstigen Augenlidern erkannte ich unsere ehemaligen Sportasse Michaela und Sabrina. Sie nahmen neben Kurt Platz.

„Und du?“ Sabrinas speckiger Zeigefinger richtete sich auf mich.

Michaela streichelte ihr über die Wange und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Brinchen, das ist doch Marie. Die Kleine mit dem Baby.“

Wie nett. Ich war meinen Klassenkameraden immerhin als die schwangere Minderjährige in Erinnerung geblieben.

„Wie geht es dir, Marie?“

Bevor ich Michaela antworten konnte, brüllte jemand vom Treppenaufgang hinab: „Wer ist denn da?“

Sascha verdrehte die Augen. „Bettina nervt schon die ganze Zeit“, erklärt er mir leise. „Weil sie nicht mit Jaqueline an einem Tisch sitzen will.“

Ich runzelte die Stirn. „Wieso das denn? Sie waren doch immer Busenfreundinnen?“

Saschas Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen. „Ja. Das waren sie. Sie gingen sogar gemeinsam in Swingerclubs.“

Ich riss überrascht die Augen auf.

„Mit Partnertausch.“

„Sie haben ihre Männer getauscht?“

„Sozusagen.“ Saschas Augen huschten zu Bettina hinüber und er brachte seinen Mund näher an mein Ohr. „Die Männer. Nur die Männer. Und jetzt wirft die eine der anderen vor, deren Mann schwul gemacht zu haben.“

„Aha.“ Ich schielte zu Bettina. Wie wurde ein Mann bei einer so umwerfend schönen Frau schwul? Oder hatte das gar nichts damit zu tun? Konnte man überhaupt schwul werden? Oder war man das in dem Fall dann nicht irgendwie schon immer?

Bettina sank elegant auf den freien Stuhl neben Michaela. „Guten Abend“, näselte sie. „Ich sage euch gleich: Wenn die auftaucht, bin ich weg.“

Jeder am Tisch nickte verständig.

Die mürrische Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf. Wasser für mich, Cola für die ehemaligen Sportasse und eine Flasche Prosecco für die Beauties an unserem Tisch.

„Dirk und Ludwig werden nicht kommen“, teilte Sascha der kleinen Runde mit. „Sie meinten, Klassentreffen sei ihnen zu blöd. Und ich fürchte, Hans setzt sich gerade in irgendeinem Bahnhofsklo den nächsten Schuss.“

„Was?“ Ich schnappte entsetzt nach Luft. Natürlich. Hans war immer schon ein bisschen undurchschaubar, tranig und oft abwesend. Doch dass er drogenabhängig würde...

„Geht schon eine Weile“, schnarrte Kurt. „Der geht bald dabei drauf.“

„Und?“, platzte es mir heraus, „wann gehst du drauf?“

„Wenn die nächste OP schiefläuft“, prustete Sascha. „Oder eine Narkose.“

„Gott, seid ihr beschränkt“, schnaubte Kurt beleidigt durch die Nase.

„Tut mir leid.“ Ich knuffte ihm sanft gegen den Arm. „Wirklich. Mich hat einfach geärgert, dass du dich so abfällig geäußert hast.“

Kurt nickte einsichtig und nahm meine Entschuldigung an. Vermutete ich. So genau ließ das seine starre Miene nicht erkennen.

Die Kellnerin brachte unsere Getränke. Hinter ihr trat eine Frau die Treppen hinab, die von Kopf bis zu den lackierten Zehen gestylt war. Jaqueline, riet ich spontan. Angesichts der Zornesröte, die Bettina augenblicklich ins Gesicht stieg, lag ich goldrichtig.

Aufgeregtes Stimmengewirr vermischte sich mit der Musik, die zur gleichen Zeit aus den Lautsprechern neben dem Treppenaufgang zu uns in den Biergarten drang.

„Meine Güte!“, schimpfte Kurt und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Jetzt benehmt euch endlich mal wieder wie zwei erwachsene Menschen. Ihr nervt. Uns alle. Und zwar gewaltig.“

Jaqueline warf ein betont höfliches „Hallo!“ in die Runde, richtete ein Kopfnicken an Bettina und nahm dann demonstrativ ihr gegenüber Platz.

Zweifelsohne trafen sich die meisten der Anwesenden häufiger. Dennoch fühlte ich mich von Minute zu Minute wohler. In jedem Fall jedoch integriert. Vergessen war das Unbehagen und die Nervosität vor diesem Wiedersehen.

Stolz beantwortete ich Fragen zu Phil. Selbst erfuhr ich, dass Michaela und Sabrina seit fast zehn Jahren in einer gemeinsamen Beziehung waren. Kurt war, wie nicht anders zu erwarten, Model und ging in seinem Job buchstäblich auf.

Bettinas und Jaquelines hitzige Gemüter hatten sich endlich etwas beruhigt. Sie warfen sich nur noch stumme Blicke zu, statt zu keifen.

Es war bereits nach zwanzig Uhr, als Sascha johlend zum Treppenaufgang deutete. „Da kommt es ja endlich. Das Trio Infernale.“

Mir fiel fast das Wasserglas aus der Hand.

Ein bis aufs i-Tüpfelchen gestylter und immer noch verdammt gutaussehender junger Mann tänzelte selbstbewusst auf uns zu. Das rabenschwarze Haar mit den schrill bordeauxfarbenen Spitzen war mit Gel zu einem Hahnenkamm frisiert. Die Augenbrauen elegant geschwungen und in Form gezupft, die dunkle Farbe seiner Augen mit einem dünnen Lidstrich noch mehr hervorgehoben, schaute er unter langen, dichten Wimpern in die Runde. Er trug Lipgloss und spitzte nun überrascht die Lippen. „Marie?“

„Gu-gu-gunter? Gunni?“ Mir blieb der Mund offenstehen.

„Mariechen!“ Gunni riss mich mit einem Ruck vom Stuhl und direkt in seine Arme. Glücklich presste er mich an seine Brust, schob mich wieder von sich und küsste seufzend meine Wangen, bevor ich mich erneut an seiner Brust wiederfand. „Mariechen, Mariechen, Mariechen.“