Schwesterherz - Frieda Roth - E-Book

Schwesterherz E-Book

Frieda Roth

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Beschreibung

Meine fünf Geschwister und ich sind Halbwaisen. Wir stammen von verschiedenen Vätern ab, unsere Mutter ist chronisch abwesend und wir sind in der Hölle aufgewachsen. Doch keine Sorge: So dramatisch wie es sich vielleicht anhören mag, ist es nicht. Jeder von uns hat seine Besonderheiten, seine Macken, vielleicht auch den einen oder anderen Knacks, einige davon durchaus ausbaufähig, jedoch nicht notweniger Weise therapiebedürftig. Schließlich: Was ist schon normal? Mein Name ist Nele. Ich lebe mit meinem ältesten Bruder Nils - einem exzentrischen Geschäftsmann - und meiner kleinsten Schwester Nina - verwöhnte Rotzgöre in der Pubertät - auf einem renovierten Bauernhof und bin Single aus Überzeugung - und gutem Grund. Neben Nils, Nico, Nala, Nick und Nina gibt es in meinem Leben nur noch einen Menschen, der mir wirklich wichtig ist: Meine Seelenschwester Lissy. Freundschaft ist Liebe ohne Sex. Bei Lissy und mir war es Liebe auf den ersten Blick. Eine mit Worten nicht zu beschreibende Verbundenheit schweißt uns auf Anhieb zusammen. Ich bin überzeugt, das Schicksal hat hier seine Hand im Spiel und zwei gebeutelte Kinderseelen zusammengebracht. Und dann gibt es da noch Leo, der in meiner Geschichte eine ganz besondere Bedeutung einnimmt. Welche? Das, liebe Leserinnen und Leser, müssen Sie schon selbst herausfinden.

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Familien und Verhältnisse Eine durchaus ausbaufähige Katastrophe

Meine fünf Geschwister und ich sind Halbwaisen. Wir stammen von verschiedenen Vätern ab, unsere Mutter ist chronisch abwesend und wir sind in der Hölle aufgewachsen. Doch keine Sorge: So dramatisch wie es sich vielleicht anhören mag, ist es nicht. Jeder von uns hat seine Besonderheiten, seine Macken, vielleicht auch den einen oder anderen Knacks, einige davon durchaus ausbaufähig, jedoch nicht notweniger Weise therapiebedürftig. Schließlich: Was ist schon normal?

Mein Name ist Nele. Ich lebe mit meinem ältesten Bruder Nils - einem exzentrischen Geschäftsmann - und meiner kleinsten Schwester Nina - verwöhnte Rotzgöre in der Pubertät - auf einem renovierten Bauernhof und bin Single aus Überzeugung - und gutem Grund.

Neben Nils, Nico, Nala, Nick und Nina gibt es in meinem Leben nur noch einen Menschen, der mir wirklich wichtig ist: Meine Seelenschwester Lissy. Freundschaft ist Liebe ohne Sex. Bei Lissy und mir war es Liebe auf den ersten Blick. Eine mit Worten nicht zu beschreibende Verbundenheit schweißt uns auf Anhieb zusammen. Ich bin überzeugt, das Schicksal hat hier seine Hand im Spiel und zwei gebeutelte Kinderseelen zusammengebracht.

Und dann gibt es da noch Leo, der in meiner Geschichte eine ganz besondere Bedeutung einnimmt. Welche? Das, liebe Leserinnen und Leser, müssen Sie schon selbst herausfinden.

Das Manuskript aus dem Jahr 2013 wurde 2023 ohne bedeutende Änderungen überarbeitet.

Frieda Roth. 1969 geboren, geschieden, in Vollzeit berufstätig und zweifache Mutter bereits erwachsener Söhne.

Das Schreiben begleitet die tätowierte Indie-Autorin seit ihrer frühen Jugend, beginnend mit kurzen, später längeren Texten auf einer uralten Triumph Adler.

In ihren Romanen verarbeitet sie Hoffnungen und Ängste auf eine ganz eigene, sehr persönliche Weise. Wichtig ist ihr, dass alle Geschichten mit einer satten Portion Humor versehen sind. Das Leben ist nämlich bunt.

Mit ihrer Heiligen Birma Emil lebt sie in Südhessen und twittert täglich unter dem Account @dietantefrieda.

Weitere Veröffentlichungen:

ZIMTZICKE (2004) FUNKENMARIE (2005) DORNRESCHEN (2005) MAMA MIA (2006) VOLLE LOTTE (2007) GLÜCKSKLEE (2008) HERZBLATT (2011)

Mitwirkende

Nele Immertreu Sachbearbeiterin im JobcenterAnneliese (Lissy) Schwarz Tätowiererin | Neles Seelenschwester

Leo (Poldi) Edel Sachbearbeiter

Nils Frisör | Neles erster Halbbruder | Inhaber des SechsundsiebzigNala Neles erste Halbschwester | verheiratet mit MikeNico Anwalt für Familienrecht | Neles zweiter HalbbruderNick Veterinärmediziner | Neles dritter HalbbruderNina Schülerin | Neles zweite Halbschwester

Penelope Mutter von Nele, Nils, Nala, Nico, Nick und NinaLukas fester Freund von NinaAlex Ander Barchef im Sechsundsiebzig

Swantje (Glücksklee, Herzblatt) Gastronomin | Besitzerin des KellerRay (Funkenmarie) Tattoo-ArtistBent Revisor | ehemaliger KollegeSusanne (Sanne) Mitarbeiterin im SechsundsiebzigThomas Müller NotarCaroline (Caro) Kundin im SechsundsiebzigBeata BrautLoredana Mutter der BrautChantal beste Freundin von NinaMike Pilot | verheiratet mit NalaEric Chemiker | früherer bester Freund von Leo

Die Junggesellenverabschieder:

Piet | Dario | Mücke | Jo | Marcel | Max | Felix | Steven | Ole

Kollegium im Jobcenter:

Britt | Georg Neles Teamleiter | Harald | Dirk | Marianne | Sofi

Außerdem mit dabei:

Päng ThaikatzeHugo und Erwin ChihuahuasBärbel French Bully

Für Alex. Meine Muse.

Ohne dich gäbe es nur leere Seiten. Immer wieder schön, mit dir zu träumen.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL eins

KAPITEL zwei

KAPITEL drei

KAPITEL vier

KAPITEL fünf

KAPITEL sechs

KAPITEL sieben

KAPITEL acht

KAPITEL neun

KAPITEL zehn

KAPITEL elf

KAPITEL zwölf

KAPITEL dreizehn

KAPITEL vierzehn

KAPITEL fünfzehn

KAPITEL sechzehn

KAPITEL siebzehn

KAPITEL achtzehn

KAPITEL neunzehn

KAPITEL zwanzig

KAPITEL einundzwanzig

KAPITEL zweiundzwanzig

KAPITEL dreiundzwanzig

KAPITEL vierundzwanzig

KAPITEL fünfundzwanzig

KAPITEL sechsundzwanzig

KAPITEL siebenundzwanzig

KAPITEL achtundzwanzig

KAPITEL neunundzwanzig

KAPITEL dreißig

KAPITEL einunddreißig

KAPITEL zweiunddreißig

KAPITEL dreiunddreißig

KAPITEL vierunddreißig

KAPITEL fünfunddreißig

KAPITEL sechsunddreißig

KAPITEL siebenunddreißig

KAPITEL achtunddreißig

KAPITEL neununddreißig

KAPITEL vierzig

KAPITEL einundvierzig

KAPITEL zweiundvierzig

KAPITEL dreiundvierzig

KAPITEL vierundvierzig

KAPITEL fünfundvierzig

KAPITEL sechsundvierzig

KAPITEL siebenundvierzig

KAPITEL achtundvierzig

KAPITEL neunundvierzig

KAPITEL fünfzig

KAPITEL einundfünfzig

KAPITEL zweiundfünfzig

KAPITEL dreiundfünfzig

KAPITEL vierundfünfzig

KAPITEL fünfundfünfzig

KAPITEL sechsundfünfzig

KAPITEL siebenundfünfzig

KAPITEL achtundfünfzig

KAPITEL neunundfünfzig

KAPITEL sechzig

Letztes KAPITEL

KAPITEL eins

„Müssen diese bescheuerten Groschenromane denn immer ein Happy End haben?“

„Natürlich müssen sie das“, murmele ich, ohne von meiner Arbeit aufzusehen. „Sonst wären es keine Groschenromane.“

Nina pfeffert ihren Kindle zwischen die Sofakissen. „Und was wären sie dann?“, nölt sie mit dem unverkennbaren Charme einer pubertären Rotzgöre.

Ich mache mir nicht Mühe, sie darauf aufmerksam zu machen, dass Päng sich gerade an ihrem hundert Euro teuren Tablet zu schaffen macht, weil das Gerät bei seinem Flug nur knapp den Kopf des Thai verfehlt und ihn unsanft aus seinem Nachmittagsschlaf gerissen hat. Das mag der Kater gar nicht leiden.

„Weltliteratur“, sage ich. „Oder mein Leben.“ Ich hoffe, nicht wehmütig zu klingen. Aber ich halte meine Sorge für unbegründet. Die Aufmerksamkeitsspanne eines Teenagers ist bekanntlich mit der einer Fruchtfliege vergleichbar.

Zu meiner Überraschung hebt Nina eine Augenbraue und starrt mich an. „Boah! Bist du depri?“

Ich lasse ebenfalls eine Augenbraue nach oben schnellen und starre unverwandt zurück. „Boah! Bist du sensibel?“

Wir starren beide.

Und starren.

Und starren.

„Wieso sensibel?“

Bevor ich antworten kann, furzt Ninas Smartphone. Mein Mund verzieht sich, in der Gewissheit, dass unser visuelles Kräftemessen zu meinen Gunsten ausfallen wird, zu einem hämischen Grinsen.

Doch Nina starrt unbeirrt weiter. Bis zum nächsten Furz. Das linke Augenlid beginnt zu flattern und nur Sekunden später schnellt ihre Hand nach links. Mit einer gekonnten Wischbewegung des Daumens entsperrt sie das Gerät und schielt aufs Display.

„Unter Sensibilität versteht man übrigens in der Physiologie den sogenannten fünften Sinn“, plappere ich deshalb munter drauf los, „das Fühlen.“

Nina runzelt ihre porzellangleiche Stirn. Mehr Aufmerksamkeit schenkt sie mir jedoch nicht mehr.

„Anders als bei den vier anderen Sinnen“, referiere ich unbeirrt weiter, „hat die Sensibilität kein ausgezeichnetes Sinnesorgan, sondern bezieht ihre Informationen aus einer Vielzahl von Rezeptor-Typen und freien Nervenendigungen, die über den ganzen Körper verteilt sind.“

„Was?“

Ich lächle überlegen. Klugscheißen macht solchen Spaß! „Der Rezeptor ist das erste Glied unserer Sinne. Jeder Rezeptor ist auf einen speziellen Reiz ausgelegt, und zwar nur auf diesen, also einen adäquaten…“

„Beziehungsstatus: Es ist kompliziert?“, fällt Nina mir entrüstet ins Wort. „Kompliziert? Kom-pli-ziert?“

So viel zur Aufmerksamkeitsspanne.

„Was, bitte, soll das heißen?“, schnaubt sie und bedenkt ihr Smartphone mit einem Blick, der jedem Tiger die Streifen aus dem Fell gezogen hätte. „Beziehungsstatus: kompliziert?“

Ich hatte schon Freunde, bevor es Facebook gab. Auch feste, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da wurde der Beziehungsstatus noch in Klotüren geritzt oder auf Schultische gekritzelt, und nicht im Internet gepostet. Kompliziert war da auch keiner.

Nina sinkt in sich zusammen und haucht mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden: „Was hat das zu bedeuten?“

Meine kleine Dramaqueen, denke ich rührig und antworte: „Möglicherweise hat Lukas zwei Wochen Hausarrest bekommen?“

„Das ist nicht witzig, Nele. Echt nicht! Wir haben uns gestern voll gestritten.“

Ich seufze. Ich kann Paare nicht leiden, die nach jedem kleinen Streit sofort auf Facebook ihren Beziehungsstatus auf Single ändern. Ich meine, ich streite mich auch mit meiner Mutter und ändere nicht auf Waisenkind. Aber gut, bei Nina und Lukas ist es schließlich kompli-ziert.

„Also“, frage ich unter Aufbietung größtmöglichen Verständnisses, sowohl für die Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung, als auch für Ninas Stimmungsschwankungen. „Warum habt ihr euch gestritten?“

„Keine Ahnung. Weiß nicht mehr. Und überhaupt: Ich will nicht drüber reden. Schon gar nicht mit dir!“, höre ich, bevor die Zimmertür hinter ihr zuknallt.

Ich zucke mit den Schultern und wende mich wieder meiner Arbeit zu. „Na, gut. Dann nicht.“ Auch wenn ich es besser weiß, trifft mich ihre Antwort.

Nicht mit mir? Ihrer großen Schwester, besten Freundin und Vertrauten?

Bevor ich mir darüber – einmal mehr ohne Sinn und Ergebnis – den Kopf zerbrechen kann, erinnert mich das kollektive Brummen unserer beiden Chihuahuas Hugo und Erwin daran, dass ich noch etwas zu erledigen habe.

Ich lege letzte Hand an Ninas neuen Sommerrock aus feinstem rot-rosa Chevron, fische ihren Kindle zwischen den Sofakissen hervor und deponiere beides ordentlich auf dem knallbunten, aus Obstkisten gebauten Regal neben ihrer Zimmertür.

KAPITEL zwei

„Schwesterherz, du wusstest bereits vor sieben Jahren, was auf dich zukommen wird.“

Okay. Ich habe ich kein Mitleid von Nils zu erwarten.

„Schließlich gab es vor Nina schon Nala und Nico und Nick.“

„Und dich“, merke ich mit heraus gestreckter Zunge an. „Du warst der Schlimmste!“

„Pah!“ Nils dreht theatralisch den Kopf in eine andere Richtung. „Gar nicht!“

Ich nehme Susanne dankend die Flasche Evian ab und fülle damit den Trinknapf für Hugo und Erwin.

Ich darf an dieser Stelle anmerken: Evian ist ein Mineralwasser ohne Kohlensäure aus dem in den französischen Alpen gelegenen Ort Évian-les-Bains und somit definitiv teurer als das Leitungswasser, das ich ihnen gebe, wenn Nils gerade nicht hinschaut.

Nils ist ein bisschen exzentrisch. Besonders. Eigen eben. Und mein Halbbruder. Einer von Dreien, zuzüglich zweier Halbschwestern. Ich bin die Älteste. Wir alle hatten verschiedene Väter. Richtig gelesen: Hatten. Neben unserer Mutter gibt es nämlich nur eine einzige weitere Gemeinsamkeit: Wir alle sind Halbwaisen. Na ja, fast alle.

Kurze Einführung in die Familiengeschichte gefällig? Bitte schön:

In den sechziger Jahren durchlief unsere Gesellschaft einen tiefgreifenden Wandel, der Einstellung, Lebensgefühl und Wertesystem veränderte. Mode wurde zum politischen Programm, begleitet von Studentenrevolte, Emanzipationsbewegung und sexueller Revolution. Musikalische Aufbruchstimmung, wilde Konzerte, ganz klassisch Sex, Drugs & Rock'n'Roll also.

Wie soll es anders sein? Ich bin ein Kind der freien Liebe. Gezeugt während eines über Tage dauernden Flower Power Festivals, auf dem mehr nackte Haut dargeboten wurde als im Playboy. Eine rebellische, minderjährige Schülerin und ein drogenabhängiger Leadsänger einer seinerzeit recht erfolgreichen Band. Rums, da war ich.

Sein Laster bereitete meinem Vater nicht nur außergewöhnlich viel Lust, sondern auch einen außergewöhnlich frühen Tod. Er starb mit einem Lächeln auf den Lippen an meinem ersten Geburtstag und hinterließ mir den Resthof, den ich heute mit Nils und Nina bewohne.

Mit drei Jahren gab meine Mutter mich in die Obhut ihrer Mutter und reiste, gerade mal zwanzig, quer durch Frankreich, wo man sie letztlich als Model entdeckte. Drei lange Jahre, während derer ich der Willkür einer Frau ausgesetzt war, die ihre eigene Tochter beneidete wie die böse Königin das Schneewittchen. Ich schwöre euch, als Gott meine Großmutter schuf, lächelte er und sagte zum Teufel: Das ist jetzt dein Problem. Ich bin überzeugt, der Teufel weint immer noch.

Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland war meine Mutter bereits mit Nils schwanger. Maurice, der Vater und aufstrebender Modedesigner aus – wie sollte es anders sein – Paris war nur wenige Wochen zuvor bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. Ein lukratives Jobangebot zog meine Mutter nur ein Jahr nach Nils‘ Geburt nach Monaco. Nun waren wir beide dem großmütterlichen Drachen ausgeliefert, einer bildschönen, aber mit sich selbst und der Welt chronisch unzufriedenen Frau.

Möchten Sie raten? Gerne. Nach Monaco kam Nala. Ihr Vater erlag einem Infarkt, kaum dass sie drei Jahre alt war. Nicos Erzeuger, ein Staatsanwalt aus Rom, wurde während eines Prozesses im Gerichtssaal erschossen. Meine Mutter war hochschwanger und kehrte erneut nach Deutschland zurück. Zu mir. Zu Nils. Zu Nala. Und ihrer tyrannischen Mutter. Die verkuppelte sie mit einem wohlhabenden Arzt aus Basel, der unsere Mutter nach Nicos Geburt nicht nur erneut schwängerte, sondern fast unmittelbar nach der Niederkunft optisch in ihren Ursprungszustand zurückversetzte, während wir wieder einmal in der Obhut der Hölle waren. Meine Mutter hat der Karriere wegen mit ihrem Körper Dinge anstellen lassen – dafür wäre jeder Gebrauchtwagenhändler in den Knast gegangen. Und wahrscheinlich ist sogar etwas dran an dieser Vermutung, denn nur fünf Monate nach Nicks Geburt erhängte sich der Chirurg in seiner Baseler Privatklinik und unsere Mutter kehrte zum wiederholten Mal zu uns zurück.

Wieder ein bisschen reicher. An Geld. An Erfahrung. Um einen verstorbenen Ehemann und ein weiteres Kind eines weiteren Mannes. Vielleicht hat sie zu diesem Zeitpunkt dann aber endlich auch mal etwas von Geburtenkontrolle gehört. Weitere Geschwister kommen seither nämlich nicht mehr nach. Nur noch Männer.

Von Ninas Erzeuger fehlt bis heute jede Spur. Von unserer gemeinsamen Mutter die meiste Zeit auch. Mit einundsechzig macht sie noch immer eine verdammt gute Figur, und sollte in einem von uns überraschend das Bedürfnis nach ihrer Nähe aufwallen, blättern wir diverse Modezeitschriften der gehobenen Klasse durch, was aber eher selten bis gar nicht der Fall ist. Ab und an erreicht uns eine Postkarte von irgendwo auf der Welt, oder ein Anruf, ansonsten erinnern nur die Unterhaltszahlungen für Nina an ihre Existenz.

Habe ich sie erschreckt? Wenn ja, tut es mir leid. Denn keine Sorge: So dramatisch wie es sich vielleicht anhören mag, ist es nicht. Jeder von uns hat seine Besonderheiten, seine Macken, vielleicht auch den einen oder anderen Knacks, einige davon durchaus ausbaufähig, jedoch nicht notweniger Weise therapiebedürftig. Schließlich: Was ist schon normal?

„Su-Darling? Machst du uns bitte zwei Ügo?“

Ich verdrehe die Augen. Ügo ist Hugo, ein Cocktail aus Prosecco, Holunderblüten-Sirup, frischer Minze, Limette und Sodawasser. Nils spricht es französisch aus, weil er überzeugt ist, es könnte Hugo, unseren Chihuahua, nachhaltig traumatisieren, höre er seinen Namen ständig in falschem Zusammenhang. Ich bin überzeugt, dem Hund ist das scheißegal.

Su-Darling heißt eigentlich Susanne, ist die gute Seele des Sechsundsiebzig und das geduldigste Geschöpf der Galaxie. Anders kann ich mir nicht erklären, wie sie seit beinahe zwanzig Jahren gemeinsam mit meinem exzentrischen Halbbruder den Laden am Laufen hält und sich noch bester geistiger Gesundheit erfreut.

Ursprünglich war das Sechsundsiebzig ein Kaufhaus – mit großer Glasfront, einem Lager, Aufenthaltsraum und Büro. Nils schloss eine Marktlücke, indem er den alten Laden renoviert und so umgebaut hat, dass sich nun in vorderster Front ein Café mit Bar befindet, während der Lagerraum zum Frisörsalon und der Aufenthaltsraum zu einem Kosmetikstudio umgewandelt wurde. All das hatte in unserer ländlichen Gegend bis dato gefehlt und schlug ein wie eine Bombe. Ein ganz ähnliches Konzept hat man sich deshalb wohl auch für eine Vorabendsoap aus Köln abgeguckt.

„Und was willst du jetzt tun, Schwesterherz?“

Ich zucke mit den Schultern. „Was ich immer tue. Sie in Ruhe lassen und warten, bis unsere Fledermaus wieder handzahm ist.“

„Fledermaus?“ Susanne runzelt amüsiert-irritiert die Stirn.

„Fledermaus“, nicke ich grinsend. „So nennen wir sie, wenn sie nicht hinhört. Und das tut sie ohnehin selten. Sind wir mal ehrlich, Susanne. Teenager und Fledermäuse haben doch viel gemeinsam: Sie antworten ungern, wenn man sie anspricht, hausen in unaufgeräumten, hygienisch fragwürdigen Räumen, ernähren sich von Sachen, die uns ekelhaft vorkommen, tauchen oft im Pulk auf und hängen die meiste Zeit nur rum. Stimmt’s oder stimmt’s?“

Sie lacht und zeigt mit dem Daumen nach oben. „Stimmt.“

Nils trübt unsere Stimmung, indem er anmerkt: „Du gibst also wieder klein bei? Ja? Lässt dir weiterhin von der kleinen Rotzgöre auf der Nase herumtanzen?“

„Hallo?“, echauffiere ich mich. „Sie ist unsere Schwester!“

„Das ändert nichts daran, dass sie ein ganz ausgebufftes Luder ist.“ Beschwichtigend nimmt Nils mich in den Arm, küsst meine Stirn und fährt sanft mit dem Daumen über meine Wange. „Mein Hase, ich liebe Nina nicht weniger als du. Aber ich habe Recht. Und du weißt das.“

„Hör mal, Nele“, schaltet sich nun auch Susanne ein. „Du solltest Nina wirklich nicht alles durchgehen lassen. Auch sie hat sich an Regeln zu halten. Du tust ihr einen Gefallen, wenn du Grenzen ziehst. Aber nicht, wenn du dich von deinem schlechten Gewissen unter Druck setzen lässt. Du bist nicht ihre Mutter.“

„Das weiß ich doch“, schnaufe ich angepisst. „Das müsst ihr mir nicht dauernd sagen.“

Susanne und Nils werfen sich unmissverständliche Blicke zu.

Nils zieht seine rechte Augenbraue nach oben – das liegt in der Familie – und näselt: „Wir wissen, dass du das weißt, mein Hase. Du vergisst es nur manchmal.“

KAPITEL drei

Es ist gleich sieben, als ich mit Hugo und Erwin auf den Hof schlendere und mich wundere, dass alles dunkel und still ist.

„Nina?“

Nur Päng antwortet. Mit zutiefst beleidigtem Miauen. Ich streichle ihm über den Kopf und er verweigert mir demonstrativ das Schnurren. Nun gut, denke ich, darf Frauchen sich heute also über keine halbtote Maus im Schlafzimmer freuen. Ich werd‘s verkraften.

„Nina?“, rufe ich noch einmal und steuere ihr Zimmer an.

Bereits vor zwanzig Jahren begann ich mit der Grundsanierung und dem Umbau des alten Bauernhofs. Ermöglicht wurde das nur durch eine kräftige Finanzspritze meiner Großmutter, welcher vorrangig daran gelegen war, mich und Nils so schnell wie möglich aus ihrem Blick- und Lebensumfeld zu entfernen. In ihrer Dreiundzwanzig-Zimmer-Villa fühlte sie sich allmählich beengt.

Viele träumen davon, einen Resthof, also einen ehemaligen Bauernhof, der landwirtschaftlich außer Betrieb ist und zu dem keine Äcker oder Weiden mehr gehören, zu finden und sanieren zu können. Mir geht ging ähnlich. Schon als kleines Kind habe ich davon und mich aus der steifen Umgebung, in der ich aufwachsen musste, geträumt. Als mir meine Mutter an meinem achtzehnten Geburtstag mehr oder weniger feierlich das Erbe meines Vaters übergab („Hier, mein großes Mädchen. Neben der alten Gitarre ist das alles, was dir dein Erzeuger hinterlassen hat!“), war ich auf Anhieb verliebt. Marode, verfallen, von Unkraut überwuchert – einfach begehrenswert – lag er da, wie ein Rockstar. Und er schrie: Yeah! Gib’s mir, Baby!

Die Aussicht auf unseren baldigen Auszug ließ Mutters Mutter das Scheckbuch zücken und unter dem Deckmantel der Großzügigkeit ordentlich Kohle springen. So stand der Sanierung mit Umbau nichts mehr im Wege. Mit achtzehn war mein Drang, dieser Hölle, die sich mein Zuhause nannte, zu entkommen, größer als mein Stolz. Ich nahm das Geld dankend, wenn auch zähneknirschend an. Allerdings braucht eine Sanierung schon allein wegen der Größe einer solchen Immobilie Zeit. So waren erst nach einem Jahr die gröbsten Arbeiten durch, da ich den Um- und Ausbau überwiegend selbst oder zusammen mit Freunden durchführte. Das alles war nur nebenbei zu erledigen. Schließlich bin ich zu diesem Zeitpunkt bereits als Sachbearbeiterin in Vollzeit angestellt.

Solange noch kein einziger Raum auf dem Hof bewohnbar war, beauftragte und entlohnte die böse Königin die besten Fachfirmen und professionelle Handwerker für den Aufbau von Fachwerk und Reetdach, die Dämmung der alten Hauswände, die Rekonstruktion einer Zwischendecke, Umbau der Ställe in Wohnräume sowie Heizung, Sanitär und die Aufarbeitung der alten Dielen. Ihr finanzielles Engagement verebbte schlagartig mit meinem provisorischen Einzug auf dem Hof – mit nichts als einer Matratze, der alten Gitarre, einem kleinen Koffer und einem großen Traum. Die Inneneinrichtung des Hofes wuchs mit mir. Sieben Jahre später zog auch Nils auf den Hof.

Aber ich schweife ab.

Der Rock auf dem Obstkistenregal ist verschwunden. Stattdessen liegt dort ein Zettel:

Bin bei Lukas, um 8 zu Hause. Danke & HDL, Nina.

Ich seufze erleichtert. Beziehungsstatus: verliebt.

Chad Kroeger röhrt aus meinem iPhone. Ich fummele es aus der Jackentasche, schnappe meine Zigaretten von der Kommode und schlendere damit auf die Terrasse. Hugo und Erwin im Schlepptau, während Päng mich noch immer beleidigt mit Nichtachtung straft. „Wer stört?“

„Schwesterherz!“

Nico. Unser Mister Charmin’ und mit siebenundzwanzig bereits angesehener Scheidungsanwalt in Berlin. Das nenne ich Leistung.

„Na, du Rechtsverdreher? Wieder ein paar Klientinnen reich gestritten?“

„Selbstverständlich“, antwortet mein zweitjüngster Bruder. „Und jetzt bin ich müde vom Trösten und brauche unbedingt Erholung.“

Mein Herz macht einen Sprung. „Du kommst mich besuchen? Wirklich? Wann?“

Sein Lachen legt sich über mein Herz wie heiße Schokoladensoße. „Ich hoffe, ich überrumpele dich nicht, aber ich würde mich gerne schon übermorgen für zwei, drei Wochen bei dir einquartieren, wenn’s recht ist?“

„Wenn’s recht ist?“, frage ich empört. „Natürlich ist das recht. Ich warte seit drei Jahren auf dich. Aber der Herr hat ja so unglaublich viel im großen, tollen Berlin zu tun, dass er es nicht für nötig hält, bei seiner alten Schwester vorbeizuschauen.“

Ein arrogantes Lachen erklingt am anderen Ende der Leitung. „Seit du mich das letzte Mal in Berlin besucht hast, Schwesterherz, ist viel passiert. Vom Associate zum Juniorpartner.“

„Uuuhhh, ich bin beeindruckt!“

„Darfst du auch sein.“

„Und du darfst dir jetzt also allein die Juniortüte bei McDoof bestellen?“ Ich zünde mir eine Zigarette an. „Ich bin stolz auf dich.“

„Ich weiß“, kommt es lässig aus der Leitung.

„Ich freu mich schon so auf dich!“

„Ich weiß“, wiederholt er und fügt leise hinzu: „Ich freu mich auch auf dich.“

Wir sechs pflegen ein wunderbares Verhältnis miteinander. Die engste Bindung haben die Jungs und Mädels jedoch zu mir. Das mag zum einen daran liegen, dass ich die Älteste bin, zum anderen verdanke ich diesen Stellenwert natürlich der chronischen Abwesenheit unserer Mutter.

Nico und ich plaudern noch eine Weile. Ich spüre die Veränderung. Aus dem aufstrebenden, ambitionierten Junganwalt... Entschuldigung, Associate natürlich! ...ist ein selbstbewusster und ziemlich cooler Juniorpartner geworden. Oder nennt man das in diesem Berufszweig abgebrüht? Ganz egal, ich freue mir echt einen Wolf!

„Also, abgemacht“, halte ich abschließend fest. „Wenn du Mittwoch kommst, holst du den Schlüssel bei Nils im Sechsundsiebzig. Du kannst Hugo und Erwin auch gleich mitnehmen. Aber lasse sie zu Hause noch mal nach draußen. Ich komme gegen sechs.“

„Verstanden, Schwesterherz. Ich koche auch etwas Leckeres.“

„Oh, ich muss dich enttäuschen, Nico.“ Ich glaube kaum, dass sich die Kochkünste meines Bruders in den letzten sechsunddreißig Monaten erheblich entwickelt haben. „Fast Food Fung hat vor zwei Jahren dichtgemacht.“

„So ein Pech aber auch“, lacht er rau und schickt mir eine kleine Gänsehaut. „Dann eben Tiefkühlpizza. Und Donnerstag geht’s auf die Piste. Den Keller gibt es doch noch, oder?“

Der Keller ist die wohl angesagteste Kneipe im Umkreis, mit Karaokebar und dem wohl besten Jägerschnitzel der Welt.

„Natürlich. Immer noch.“ Nur war ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr dort. Ich seufze.

„Hast du gerade geseufzt?“

„Quatsch!“

„Du hast geseufzt!“

„Nein!“

„Immer noch solo?“

Ich schnaube wütend und stecke mir eine weitere Zigarette an. „Was soll das für ein Gespräch werden, Nico? Frage ich dich etwa über dein Liebesleben aus?“

„Du wirst es tun“, erklärt er überzeugt. „Spätestens, wenn ich bei dir bin.“

Verdammt, er hat ja Recht. Aber selbst, wenn er Recht hat, hat er nicht das Recht, mich über mein Liebesleben auszufragen. Basta!

„Ach, Nele.“ Jetzt ist es Nico, der seufzt. „Ich kann wirklich nicht verstehen, dass du immer noch Single bist. Ganz ehrlich? Ich würde dich vom Fleck weg heiraten, wenn du nicht meine Schwester wärst.“

Ich bin geschmeichelt, lehne aber dennoch dankend ab. „Brüderchen, ich fühle mich geehrt. Allerdings bin ich weder deine Gewichtsklasse noch kämen wir in nicht-geschwisterlicher Hinsicht auf einen Nenner. An Letzterem hat sich doch nichts geändert?“, hake ich ungeniert nach.

Einen Moment ist es still in der Leitung. Ich erwähnte bereits, dass alle meine Geschwister eine besonders enge Bindung zu mir haben. So bin ich auch die Einzige, die von Nicos Vorliebe für Sex jenseits des spießigen Standards weiß – mit Leder, Latex und Lack sowie Augenbinden, Hand- und Fußfesseln und was weiß ich noch alles. Ich habe mich nie genauer damit beschäftigt. Es ist ja seine Vorliebe, nicht meine.

„Nein“, antwortet er selbstbewusst. „Wieso auch?“

Ich schüttele grinsend den Kopf. Gut, dass er mich nicht sehen kann. So locker nimmt er das nämlich gar nicht, muss er doch als Anwalt ganz solide seinen Mann stehen.

„Ich musste dich übrigens umquartieren“, fällt mir in diesem Zusammenhang ein. „Wir haben endlich angefangen, den Schrank zu renovieren. Konnte ja keiner wissen, dass du dich tatsächlich mal wieder blicken lässt“, füge ich bemüht vorwurfsvoll hinzu.

„Ich habe schon verstanden.“

„Du musst jetzt mit dem Kuhstall Vorlieb nehmen.“

„Ach?“, wundert sich Nico. „Hast du nicht mehr untervermietet?“

Ich schüttele den Kopf, bis mir einfällt, dass er das gar nicht sehen kann. „Madeleine ist vor einem halben Jahr zu ihrem Freund gezogen.“

Der Schrank ist unsere Bezeichnung für den ehemaligen Schweinestall, ein geräumiger Raum auf der rückwärtigen Seite des Hofes. Wir nennen ihn so, weil anstelle einer simplen Tür ein großer, mit Schnitzereien und Malereien aufwändig verzierter Bauernschrank ohne Rückwand den breiten Eingang bildet. Man betritt durch den Schrank die Wohnung dahinter.

Selbstverständlich beherbergt der Kuhstall auch schon lange kein Vieh mehr. Neben einem Wohn- und Schlafraum befindet sich darin ein kleines Badezimmer. Lange Zeit haben wir dort untervermietet, um die Ausgaben für weitere Renovierungen und die Instandhaltung des Hofes abzudecken.

„Ähm...“, beginnt Nico und klingt tatsächlich ein wenig verlegen.

„Deine Kiste habe ich schon im Kuhstall untergebracht“, helfe ich ihm aus seiner offensichtlichen Not. „Keine Sorge. Sie ist nach wie vor fest verschlossen.“

„Hey! Als ob ich damit ein Problem hätte. Pfff!“

Ich rolle mit den Augen. Natürlich hätte er das. Und er weiß, dass ich das weiß. Ich schweige. Wozu sind große Schwestern denn da?

Die Haustür fällt ins Schloss und ich werfe einen Blick auf die Uhr. Halb zehn. Ninas Interpretation von Pünktlichkeit gestaltet sich derzeit äußerst flexibel. „Nina ist gerade nach Hause gekommen“, informiere ich Nico. „Eineinhalb Stunden zu spät.“

„Sie hat viel von ihrer Mutter, was?“

Ich schnaufe und suche nach Worten. Dieses leidige Thema geht mir inzwischen sowas von auf die Nerven.

„Entschuldige, Schwesterherz. Ich wollte dir damit nicht auf die Nerven gehen.“

„Tust du nicht.“

„Tue ich doch.“

„...“

„Hey, ich bin Anwalt“, fällt Nico mir ins Wort. „Mir machst du nichts vor. Aber jetzt schau mal nach der Kleinen. Geh nicht zu hart mit ihr ins Gericht. Ich freue mich auf übermorgen. Du hast mir gefehlt. Ihr alle fehlt mir.“

Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. „Ich liebe dich, Brüderchen.“

„Ich weiß.“

Ich rauche meine Zigarette zu Ende und wappne mich für alle erdenklichen Ausreden, als ich auf Ninas Zimmer zusteuere. Na, die kann was erleben!

„Nele! Schau nur!“ Nina hüpft freudestrahlend auf mich zu und dreht dabei Pirouetten. „Das ist der schönste Rock überhaupt. Danke, danke, danke!“, fällt sie mir um den Hals. „Du bist die Allerallerbeste.“

Kleines Miststück!

„Schön, dass er dir gefällt. Aber...“

„Und mit Lukas und mir ist auch wieder alles okay. Es tut mir so leid, dass ich dich vorhin angeschnauzt habe.“

Vorhin? Sagte sie gerade vorhin? Das war vor fünf Stunden. Fünf! Und das ist immer noch eineinhalb Stunden später als...

„Bitte, bitte sei mir nicht böse, dass ich zu spät bin.“

Verdammt! Ich kann ihr doch gar nicht böse sein, wenn sie mich so anschaut.

„Lukas und ich haben gemeinsam gekocht.“ Und dann bricht ein Redeschwall aus ihr heraus, der mich schwindelig werden lässt. Ich sehe nur noch rosa Herzen und atme auf, als sie sich mit einem Kuss für die Nacht bei mir verabschiedet.

Und meine Standpauke? Die kann ich für heute wohl knicken. Seufzend ziehe ich mich wieder auf die Terrasse zurück und beobachte den heute rosa und hellblau schimmernden Sonnenuntergang.

KAPITEL vier

„Nico, der Nerd?“, gackert Lissy Mittwochnachmittag. „Supermegastaranwalt aus Berlin?“

Ich lache amüsiert auf. „Fast. Ganz so berühmt ist er noch nicht.“ Und inzwischen auch optisch weit vom Nerd entfernt. Aber das muss ich Lissy ja nicht gleich auf die Nase binden. „Du kommst also? Es wäre mir wirklich...“

„Schwesterherz! Ist doch gar keine Frage“, unterbricht sie mich. „Selbstverständlich komme ich. Morgen punkt Sieben im Keller. Schon gespeichert.“

Lissy. Meine Seelenschwester.

Kennengelernt haben wir uns auf einer Hochzeit. Entschuldigung, mir fällt gerade ein... Ich habe völlig vergessen zu erwähnen, dass ich mein dürftiges Angestelltengehalt mit Shootings aufbessere. Dazu kam ich wie die berühmte Jungfrau zum Kinde. Fotografie ist meine Leidenschaft und der lasse ich bei jeder sich bietenden Möglichkeit freien Lauf. So auch vor einigen Jahren auf einem von Ninas Schulausflügen. Die Fotos habe ich auf CDs gebrannt und Nina für ihre Klassenkameraden mitgegeben. Drei Tage später erhielt ich eine Anfrage: Könnte ich dich denn auch für unsere Taufe engagieren? Natürlich gegen Entgelt! Selbstverständlich! Man war zufrieden, empfahl mich weiter. Völlig unerwartet kam ich ins Geschäft: Schwangere, Babys, Kinder, Hunde, Katzen, Taufen, Firmungen, Hochzeiten, Akt- und Familienaufnahmen – vor mir und meiner SLR ist nichts sicher.

Lissy geht es ähnlich. Sie arbeitet hauptberuflich als Tätowiererin und verdient sich ab und an ein paar Euros dazu, indem sie als gelernte Maskenbildnerin aus einem hässlichen Entlein einen wunderschönen Schwan zaubert, der dann vor meiner Linse landet. Das war vor knapp drei Jahren.

Freundschaft ist Liebe ohne Sex. Bei Lissy und mir war es Liebe auf den ersten Blick. Eine mit Worten nicht zu beschreibende Verbundenheit schweißt uns auf Anhieb zusammen. Ich bin überzeugt, das Schicksal hat hier seine Hand im Spiel und zwei gebeutelte Kinderseelen zusammengebracht.

Wenn man Lissy sieht, kann man die Kraft, die sie ausstrahlt, beinahe mit Händen greifen. Das sind einsfünfundsechzig geballte Energie. Ein taffes Weibsstück mit lockerem Mundwerk und tomatenrotem Sidecut - einer asymmetrischen Frisur, bei der die Haare einseitig abrasiert werden. Kleidungsstil Marke Eigenwillig. Alles, um nur nicht der Norm zu entsprechen. Denn normal ist für Lissy ein Fremdwort.

Lissy leidet unter Agliophobie, der Angst vor Schmerz. Als Kind musste sie mit ansehen, wie ihr alkoholkranker Vater immer wieder im Suff die Mutter auf bestialische Weise mit Nadeln traktierte. Doch in Lissy steckt eine Kriegerin. Sie kämpft gegen ihre Phobie und ihre panische Angst vor Nadeln, hängt den erlernten Beruf an den Nagel und beginnt eine Ausbildung im Bereich Tattoo und Piercing. Inzwischen bin ich ihr größtes lebendes Kunstwerk. Seit drei Jahren arbeitet sie sich mit Nadel und Farbe über meinen Körper – befreit ihre Seele von den bösen Erinnerungen und gibt mir mit jedem Stich das Gefühl, noch am Leben zu sein. Das kommt einer Symbiose doch sehr nah.

Oh! Ich schweife schon wieder ab.

„Moment mal! Morgen ist Donnerstag? Aaahhh!“, kreischt Lissy und mir fliegt fast das iPhone vom Ohr. „Kaaa-raaa-ooo-keee!“

Ich stöhne.

„Du musst.“

„Ich muss.“

„Das weißt du.“

„Ich weiß.“ Natürlich weiß ich das.

Während meine Geschwister großzügig mit Genen meiner Mutter versorgt wurden und durch die Bank weg Schönheiten sind, komme ich ausschließlich nach meinem Vater. Aber ich beschwere mich nicht. Jedenfalls nicht oft. Immerhin bin ich die Einzige in der Familie, die singen kann.

Ich schiele zur Uhr. „Schnecke, es ist gleich zwei.“ Ich möchte noch mal nach draußen zum Rauchen gehen, bevor die Menschenmasse zur offenen Sprechstunde in die Fluren drängt. Ich arbeite seit siebenundzwanzig Jahren in der Verwaltung, davon die letzten zehn im sozialen Bereich, sprich Jobcenter.

„Ah!“ Lissy versteht und trällert mit verstellter Stimme: „Dastin, nimm die Kopf aus die Juniortüte von der Marzel!“

„Zändhi, wenne jez nich hörs und bei die Mama komms, hat dein Föttchen Kirmes!“, kontere ich.

Diese Dialoge sind Kult, unser persönliches Ritual. Ein kleines Erinnermich an den ersten gemeinsamen Nachmittag. Wir sitzen am Brunnen im Ortskern und reden ununterbrochen – bis plötzlich eine Pause eintritt und wir fasziniert der ohrenbetäubenden Diskussion einer Touristengroßfamilie aus dem Pott lauschen. Als wir uns an diesem Abend voneinander verabschieden, haut jede von uns noch mal eines der gehörten Zitate raus. Unser Ritual ist geboren. Die einen sagen Tschüss!, wir sagen Änriko, isch hab Juck anne Rücken, mach ma Kratz!

Kurz nach fünf quäle ich mich durch den Feierabendverkehr in ein langes Wochenende. Die pure Gewohnheit führt mich am Sechsundsiebzig vorbei und ich will schon weiterfahren, als mir der protzige Mercedes mit Berliner Kennzeichen ins Auge fällt. Ich parke frech in der Einfahrt und schiele durchs Schaufenster ins Café. Da ist er, lässig an den Tresen gelehnt, und trinkt einen Espresso. Nur gut, dass wir letzten Monat noch via Facetime miteinander telefoniert haben, ich hätte Nico sonst nicht wiedererkannt. Nils scheint es genauso zu gehen. Er starrt unseren Halbbruder an, als käme der von einem anderen Stern.

„Bist du bescheuert?“, höre ich Nico raunen, als ich den Laden betreten will. „Ich dreh doch hier keine Pirouetten!“

„Nun stell dich mal nicht so an“, mault Nils. „Kannst doch zeigen, was du hast. Jetzt.“

„Finde ich auch“, seufzt Susanne und schüttelt erstaunt den Kopf. „Ich kann es gar nicht glauben. Was hast du nur gemacht, Nico? Oder hast du das machen lassen?“

„Ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts“, feixt Nico, lehnt sich über den Tresen und haucht Susanne einen Kuss auf die Wange.

Ihre Wangen färben sich knallrot, sie kommt tatsächlich ins Stottern. „Du... du bist so... du hast dich... meine Güte, bist du groß geworden, Nico! Kein Vergleich mehr zu damals, vor zehn Jahren, als du nach Berlin gegangen bist, um Jura zu studieren.“

Ich lehne noch immer grinsend und heimlich im Türrahmen.

Nico gleitet geschmeidig vom Barhocker und baut sich vor Susanne auf. Aus dem einstigen Pummelchen mit Nerdbrille ist ein gestandener Mann geworden. Er trägt noch immer mit Vorliebe Schwarz. Heute ein enganliegendes Langarmshirt, das die Tattoos gekonnt verbirgt und unter dem sich die Muskeln seiner breiten Schultern und der beneidenswert schmalen Taille deutlich abzeichnen. Die Brauen liegen so tief, dass sein Blick aus den eisblauen Augen alles durchdringt, was er ins Visier nimmt. Ausgeprägte Kieferknochen und das dominant hervortretende Kinn runden das Bild eines knallharten Anwalts ab. Googeln Sie mal Jason Lewis, träufeln Sie ein wenig Brad Pitt dazu und packen ihn in den Körper von David Beckham. Voilà, c‘est Nico! Dass diese knallharte äußere Hülle einen butterweichen Kern hat, mögen einige vermuten, doch nur sehr wenige zu sehen bekommen.

Susanne seufzt vernehmlich. „Darf ich dich mal anfassen? Nur einmal?“

Nils wirft ihr einen verächtlichen Blick zu. „Su-Darling! Ich bin empört!“

„Wieso das denn? Ich kenne Nico, seit er sooo“, sie macht eine Geste mit der Hand, „klein war. Was ist so schlimm daran, wenn ich ihn jetzt mal anfassen mag?“

„Ich mag auch so einige Kerle gerne mal anfassen, mit denen ich früher gemeinsam im Planschbecken gesessen bin“, deklamiert Nils. „Aber ich frag nicht gleich so unverschämt danach.“

Susanne kneift die Augen zusammen und sieht aus, als kaue sie auf einer Chilischote. „Ich fasse ihn ja auch nicht dort an, wo du hinpacken würdest.“

Gerne hätte ich mir diese Diskussion, von Nico gleichermaßen amüsiert verfolgt, noch länger angeschaut. Doch Hugo und Erwin sind auf mich aufmerksam geworden und steuern bereits laut bellend, zielsicher und mit fliegenden Ohren auf mich zu.

„Wenn’s hier Streit gibt...“, rufe ich deshalb und trete ein. „Ich kenne einen guten Anwalt.“

„Schwesterherz!“ Nico wirbelt herum.

„Weit bist du nicht gekommen, Brüderchen.“

Er nimmt meinen Kopf zwischen seine schlanken Hände und küsst mich mit der Zärtlichkeit eines liebenden Bruders. „Schön, dich endlich wiederzusehen.“

„Dito.“ Ich schlinge meine Arme um seine Taille und drücke ihn ganz fest, bevor ich Susanne und Nils mit Wangenküssen begrüße.

Hugo und Erwin haben mir in ihrer überschäumenden Freude inzwischen die Beine zerkratzt. Bevor mir das Fleisch noch in Fetzen von den Waden hängt, gehe ich vor den kleinen Wölfen in die Hocke und lasse ihnen die geforderte Aufmerksamkeit zukommen.

„Danke und bis zum nächsten Mal.“

Ein Paar Füße huscht so knapp an meinem tiefer gelegten Gesäß vorbei, dass ich beinahe nach hinten umkippe. Mein empörtes „Huch!“ hat der Übeltäter, von dem ich nur noch die Schuhe sehe, bevor er aus dem Laden verschwindet, überhaupt nicht gehört.

„Haha! Das war knapp“, merkt Nico überflüssigerweise an.

Ich starre böse zu ihm hoch.

„Wollen wir ihn verklagen?“

„Blödmann.“

Ich lasse mich zittrig auf meinen Hintern sinken. Vor Schreck und Erstaunen. Diese Stimme! Leck mich am Arsch, die ging durch und durch. Ein tiefer Bariton, der Vibrationen über meinen ganzen Körper jagt und direkt unter die Haut geht. Ich seufze beseelt.

„Ach, du liebes Bisschen“, stöhnt Nico betrübt. „Da ist wer schon viel zu lange Single.“

„Ey“, protestiere ich und rappele mich auf. „Ich bin gerne Single, verstanden? Ich kann kommen und gehen, wann ich will. Tun und lassen, was ich will. Besser geht’s nicht.“

„...das mit dem Kommen stimmt nicht mal“, kann ich Nils flüstern hören.

„Untervögelt also?“

Ich verpasse meinen beiden Halbbrüdern mit der flachen Hand jeweils einen Nackenschlag für diese Unverschämtheit. „Ich bin anwesend und kann euch hören. Also was soll das?“

Susanne lacht. „Das gibt eine Woche Hausarrest, Jungs!“

KAPITEL fünf

„Du bist spätestens um elf im Bett“, ermahne ich Nina am Donnerstagabend zum wiederholten Mal und zupfe meine graublonden, glatten Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zurecht. „Kann ich mich darauf verlassen?“

Ihre Antwort ist ein gemurmeltes Hmhm.

„Nina?“ Ich verschärfe meinen Tonfall. „Im Bett heißt auch: Fernseher aus, Laptop aus. Ruhe. Schlafen. Okay? Du hast morgen Schule.“

Als sie nicht reagiert, verpasst Nico ihr im Vorbeigehen einen leichten Schubs.

„Jaaa, ich hab’s verstanden.“

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben.

Endlich schaut Nina von ihrem Smartphone auf. „Versprochen, Nele.“

„Wir sind auch nicht lange weg.“

Aus dem Badezimmer höre ich Nils und Nico wiehern. Ich ignoriere sie.

„Sei so lieb und lasse um zehn Hugo und Erwin noch mal nach draußen. Ja? Und schau, dass Päng nach Hause kommt.“

„Geht klar.“ Nina gibt mir einen Kuss auf die Wange und steckt sich die Kopfhörer in die Ohren. „Viel Spaß schon mal!“ Mit diesen Worten rauscht sie in ihr Zimmer.

„Und? Mutti?“ Nico legt seinen Arm um meine Schulter. „Sind wir jetzt startklar?“

Gemeinsam schlendern wir zum Keller.

„Nala und Nick warten schon. Sie haben den besten Tisch bekommen“, teilt Nils mit und schiebt das Smartphone zurück in seine Gesäßtasche. „Direkt vor der Bühne.“

„Menno“, maule ich derweil mein iPhone an. „Lissy kommt später. Sie hat einen Kunden von ihrem Chef übernehmen müssen, weil der zu einem privaten Notfall gerufen wurde.“ Ich schaue zu Nico auf und heule: „Das hier ist auch ein privater Notfall!“ Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass Nico meine beste Freundin kennenlernt.

Er lacht nur.

Die Eingangstür des Kellers sieht aus wie aus dem Mittelalter. Wir steigen die wenigen Stufen hinab und gelangen direkt in ein Gewölbe. Sowohl Tische und Bänke, als auch die Theke sind aus massivem Holz und gezeichnet von der Zeit. Nur die Bildschirme für Karaoke in jeder Ecke des Raumes entsprechen einem hochmodernen Standard. Ich liebe diese Kneipe! Lange Zeit war Tine, eine gute Freundin der Wirtin Swantje, Publikumsmagnet in der Karaokebar. Aber auch wenn Tine nicht mehr singt, ist an diesem Donnerstag im Keller wieder der Teufel los. Zudem scheint er heute auch als Location für einen Junggesellenabschied gebucht.

Wir schieben uns langsam durch die Menge und ich bemerke sehr wohl die bewundernden Blicke, die uns folgen. Okay, sie folgen eigentlich nur Nico und Nils. Wäre ich nicht so bunt, hätte man mich glatt übersehen. So war das schon immer – und vielleicht auch der Grund, weshalb bereits mehr als ein Drittel meiner Haut tätowiert ist. Ich neide meinen Geschwistern ihre außergewöhnliche Schönheit nicht, ich bin stolz darauf. Wie eine Mutter auf ihre Kinder eben.

Nico habe ich ja bereits in aller Ausführlichkeit beschrieben. Möchten Sie sich rasch ein Bild vom Rest meiner Familie machen? Im Schnelldurchlauf? Gerne. Geht man vom Körperbau aus, stehen sich Nils und Nico inzwischen in nichts nach. Allerdings hat Nils auch den Kopf von David Beckham. Glücklicherweise nicht so hohl. In dieses Bild passt dann auch Nick, der dem jungen Matthew McConaughey optisch schon sehr, sehr nahekommt. Nina lässt sich mit der erwachseneren Miley Cyrus vergleichen, wohingegen Nala, meine älteste Schwester, aussieht wie die ewig junge Jessica Alba, nur in Blond.

Und ich? Wohl ein kläglicher Versuch der Natur, der Schönheit etwas schwarzen Humor abzugewinnen. Reden wir ein anderes Mal drüber. Einverstanden? Heute fühle ich mich nämlich nicht wie ein hässliches Entlein. Heute fühle ich mich richtig gut. Nico hat mich zu einem Oberteil überredet, das zwar viel Haut zeigt, aber die Speckrollen an den Hüften kaschiert. Dazu trage ich meine extreme used Lieblingsjeans. Okay, ich trage eigentlich immer Jeans. Nils hat mir ein kleines Make-up verpasst und meine Haare liegen prima. Was will ich mehr?

Das ohrenbetäubende Hallo, als wir mit Nico unseren Tisch erreichen, zieht erneut die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf uns. Außerdem habe ich den Verdacht, Nala und Nick haben bereits vorgeglüht.

„Nele-Schatz!“ Nala gibt mir zur Begrüßung einen furchtbar klebrigen Kuss auf die Wange. Bäh!

Nick begrüßt mich ebenfalls mit Kuss, dankenswerterweise trocken und zart. „Wir waren heute Früh Brunchen“, erklärt er mit Daumenzeig auf Nala, hat aber selbst auch schon ganz glasige Augen.

„Nur Brunchen? Aha.“ Ich schiele ahnungsvoll zu der Gruppe junger Männer hinüber, die mit einer Wagenladung Schnaps direkt auf unseren Tisch zuzusteuern scheint.

„Ähm...“, gesteht Nick verlegen grinsend. „Wir waren auch schon was früher hier und haben uns ein bisschen mit den Jungs da unterhalten.“

„Unterhalten? Soso.“

Nico schlingt seine Arme um meine Hüfte und beißt mir ins Ohr. „Na, Mutti? Hast du deine Kinder fest im Griff?“

Ich schüttele resigniert den Kopf. „Heute offensichtlich nicht.“

„Du bist die Chefin?“ Ein junger Mann salutiert erst und reicht mir dann die Hand. „Piet.“

Weitere Hände und weitere Namen folgen: Dario, Mücke, Jo, Marcel, Max, Felix, Steven und Ole.

„Und das ist Poldi“, deutet er hinter sich.

Als ich aufschaue, bleibt mir glatt die Spucke weg. Meine Halbbrüder verkörpern das Ideal eines Models, durchtrainiert, bildschön. Dieser Mann jedoch ist – so beschissen sein Name ist, das aber nur nebenbei bemerkt – mein persönlicher Adonis. Locker Einsfünfundneunzig und ein Paket aus wohldefinierten Muskeln, kantiges Gesicht, Dreitagebart und dunkelblonder Zauskopf. Soll ich wieder einen Vergleich anstellen? Werfen Sie Eric Dane und Henning Baum in eine Schüssel, vermengen Sie sie und backen den Mann offensichtlich nun meiner Träume. Kein Modelface, dafür überirdisches Charisma. Eine Ausstrahlung wie zwei Tonnen Plutonium. Meine Knie werden weich, als er mir höflich zunickt und ich in die blauesten lachenden Augen schaue, die Mutter Natur jemals geschaffen hat.

„Hallo?“ Nils stupst mir mit der Handoberfläche unters Kinn, sodass mein Kiefer scheppernd zuklappt. „Alles okay bei dir, mein Hase?“

Verdammt!

Habe ich diesen Kerl etwa die ganze Zeit mit offenem Mund angestarrt?

„Weißt du, dass du diesen Kerl die ganze Zeit mit offenem Mund anstarrst?“

Verdammt! Verdammt!

Ich schiele vorsichtig zu Poldi. Er zwinkert mir zu und lacht.

Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Wie peinlich ist das denn?

„Nele?“ Einer der jungen Männer, ich glaube, es ist Piet, hält mir fünfzehn Gläschen Ouzo unter die Nase. „Du bist die Chefin.“ Auffordernd nickt er aufs Tablett.

Ich nehme das erste davon weg und warte, bis jeder versorgt ist. „Prost, Kinder! Auf Nico. Auf uns. Auf heute Abend.“

Wir heben unsere Gläser und stoßen an.

Die Junggesellenverabschieder sind echt nette Typen. Steven hat es Nils offenkundig ganz besonders angetan, während Marcel sich ausnehmend gut mit Nala unterhält. Da fällt mir ein...

„Wo ist eigentlich Mike? Hat er einen Flug?“

Nick winkt ab. „Bitte frag deine Schwester nicht. Nicht heute.“

Was ist los?, forme ich lautlos mit den Lippen.

Mein kleinster Bruder formt ein T und deutet mit einer Kopfbewegung auf Nico. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ich verstehe. „Sie will sich sch...“

„Nicht dieses Wort!“, ruft Mücke aufgeregt. „Wir feiern hier gerade Junggesellenabschied. Das ist quasi der Vorläufer.“

Ich muss lachen. „Passt ja. Ihr feiert Junggesellenabschied mit einem Scheidungsanwalt. Wenn das mal kein böses Omen ist.“

KAPITEL sechs

„Nele! Süße!“ Swantje drückt mir einen Kuss auf die linke Wange, während sie die leeren durch volle Gläser ersetzt. „Schön, dich hier mal wieder zu sehen. Hab schon gehört.“

„’n Abend, Swantje. Ich mich auch. Was gehört?“ Warum frage ich überhaupt?

Sie dreht sich zur Bühne um. „Kannst auch gleich drauf.“

Augenblicklich habe ich einen Frosch im Hals. Ich fürchte, wenn mich jetzt jemand küsst, könnte ich womöglich an einem Prinzen ersticken.

„Was ist denn los mit dir?“ Nils zwickt mir ungeduldig in die Wange. „Muss man dich erst wach küssen?“

„Bloß nicht!“, antworte ich entsetzt.

„Na, dann...“ Er drängt mich zur Bühne. „Wollen wir mal!“

Ich bin dankbar für dieses Erbe meines Vaters. Ich liebe Musik! Und ich singe den halben Tag. Doch vor Publikum ist und bleibt das immer eine ganz andere Hausnummer. Erst recht, wenn... Oh, Gott! Poldi steht direkt vor der Bühne. Ich fürchte, das machen meine Nerven nicht mit.

„Seid ihr soweit?“ Swantje gibt dem DJ ein Zeichen, damit er unseren Titel einspielt.

Eigentlich ging ich davon aus, Nils mit Gewalt auf die Bühne zerren oder prügeln zu müssen. Jetzt schnappt er sich enthusiastisch das Mikro, pustet zweimal fest hinein und räuspert sich: „Einen wunderschönen, guten Abend, Publikum, liebe Gäste“, sagt er mit einer auslandenden Geste.

Meine flache Hand klatscht gegen die Stirn. Aber zumindest lenkt mein verrückter Bruder meine Aufmerksamkeit etwas von Poldi ab.

„Ich freue mich, dass ihr mit uns das Willkommen unseres Bruders aus Berlin feiert!“

Das Publikum grölt.

„Bist du wahnsinnig?“, fauche ich, entreiße ihm das Mikro und füge rasch hinzu: „Was aber nur heißt, dass der junge Mann hier eine einzige Lokalrunde schmeißt. Mehr nicht.“

„Ja, bist du denn wahnsinnig?“ Nils’ Augen sind schreckgeweitet. „Was hast du gemacht?“

„Schadensbegrenzung“, knurre ich. „Eine Runde Freibier kommt dich jedenfalls günstiger als den ganzen Abend für alle bezahlen. Du hast die Leute nämlich gerade zum Mitfeiern eingeladen. Auf deine Kosten.“

„Ups!“

„Ja. Ups.“ Ich schüttele genervt den Kopf.

„Hä-äm? Wärt ihr zwei dann mal soweit?“, ruft uns der DJ zu.

Ich nicke hastig und er spielt den gewünschten Titel von Glasperlenspiel ein. Natürlich kneift Nils, grinst nur dämlich ins Publikum, während ich mir ‘nen Wolf singe.

Ich hab euch so vermisst

Ihr habt mir so gefehlt

Hab euch lang nicht gesehen

Hab so viel zu erzählen

Und wie sich die Welt heute Nacht

Um uns dreht

Auf dass diese Freundschaft

Niemals vergeht

„Niemals vergeht“, stimmt Nico stattdessen ein und betritt die Bühne. „Niemals vergeht!“

„Niemals vergeht“, tönt es nun durch den ganzen Keller, während die Stimmung allmählich steigt. „Niemals vergeht!“

Ich schaue Nico an und denke, wie gut es ihm wohl tut, mal aus seiner Haut zu kommen. Nicht für lange. Vielleicht nur diesen einen Abend. Aber er scheint höllisch Spaß zu haben, als er die Hand fest ums Mikro legt, nachdem der DJ den nächsten Titel eingespielt.

An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit

An Tagen wie diesen haben wir noch ewig Zeit

In dieser Nacht der Nächte, die uns so viel verspricht

Erleben wir das Beste, kein Ende ist in Sicht

Ha! Besser kriegen’s die Toten Hosen auch nicht hin. Nico hat sich prima geschlagen. Deshalb gebe auch ich mich von den Zugaberufen bereitwillig geschlagen und haue noch zwei Songs raus, die im Publikum für tosenden Applaus sorgen. Adeles Rolling in the deep und Florence Welchs Sweet Nothing, letzteres lässt sogar Nala auf dem Tisch tanzen und das Publikum nach weiteren Zugaben verlangen. Der DJ spielt Für dich schlägt mein Herz von Silbermond ein. Hach, da werde ich fast ein wehmütig bei. Nun denn, wenn ich schon keine Schönheit bin, darf ich wenigstens mit meinem Gesang ein bisschen Bewunderung einheimsen.

Der Auftritt, die Begeisterung im Keller und die Stimmung unseres feierwütigen Grüppchens verpasst mir einen Adrenalinstoß, der einen Boxer umgehauen hätte. Ich schnappe mir ein halbvolles Bierglas und trinke es in einem Zug aus.

„Frollein?“, vibriert Poldis tiefe Stimme in meinem Ohr. „Das war mein Bier.“

Ich halte mich nur mit Mühe zurück, über den Rand des Bierglases zu lecken. „Oh! Entschuldigung!“

„Schon okay“, lächelt er nachsichtig und berührt kurz meine Hand, als er mir das Glas abnimmt. „Nachschub ist unterwegs.“

„Hm“, überlege ich. „Ist aber auch ziemlich leichtsinnig, hier sein Getränk unbeaufsichtigt zu lassen. Denkst du nicht auch?“

„Ach? Jetzt bin ich schuld, dass du mein Bier ausgetrunken hast?“

„Ja“, nicke ich und spüre, wie mir der Alkohol allmählich in den Kopf steigt.

Als Swantje eine weitere Bataillon Biergläser auf dem Tisch verteilt, beugt Poldi sich zu ihr hinab, redet und gestikuliert mit den Händen. Sie nickt und gibt ihm Stift und Papier. Ich versuche vergeblich, ihm über die Schulter zu schauen.

„So!“, sagt er zufrieden und dreht sich zu mir um.