Volle Lotte - Frieda Roth - E-Book

Volle Lotte E-Book

Frieda Roth

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Beschreibung

Als Lotte an diesem Tag nach Hause kommt, sind ihr Mann weg, ihr Job und ihre Wohnung. Doch wo Verlust ist, ist auch Gewinn. In Lottes Fall sind das ein Findelhund, ein eigenes Haus, wundervolle Nachbarn, ein alter Freund, eine schwangere Tochter und Verfolgungswahn. Oder wie sonst ist zu erklären, dass der geheimnisvolle Jogger nicht nur in ihren Träumen, sondern auch beim Frisör, im Yogakurs und sogar in ihrem Urlaub auftaucht? Plötzlich überschlagen sich in Lottes ehemals so langweiligem Leben die Ereignisse...

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Die besten Bücher schreibt immer noch das Leben

Als Lotte an diesem Tag nach Hause kommt, sind ihr Mann weg, ihr Job und ihre Wohnung.

Doch wo Verlust ist, ist auch Gewinn.

In Lottes Fall sind das ein Findelhund, ein eigenes Haus, wundervolle Nachbarn, ein alter Freund, eine schwangere Tochter und Verfolgungswahn. Oder wie sonst ist zu erklären, dass der geheimnisvolle Jogger nicht nur in ihren Träumen, sondern auch beim Frisör, im Yogakurs und sogar in ihrem Urlaub auftaucht?

Plötzlich überschlagen sich in Lottes ehemals so langweiligem Leben die Ereignisse...

Das Manuskript aus dem Jahr 2007 wurde 2022 ohne bedeutende Änderungen überarbeitet.

Frieda Roth. 1969 geboren, geschieden, in Vollzeit berufstätig und zweifache Mutter bereits erwachsener Söhne.

Das Schreiben begleitet die tätowierte Indie-Autorin seit ihrer frühen Jugend, beginnend mit kurzen, später längeren Texten auf einer uralten Triumph Adler.

In ihren Romanen verarbeitet sie Hoffnungen und Ängste auf eine ganz eigene, sehr persönliche Weise. Wichtig ist ihr, dass alle Geschichten mit einer satten Portion Humor versehen sind. Das Leben ist nämlich bunt.

Mit ihren Heiligen Birmas Emil und Paul lebt sie in Südhessen und twittert täglich unter dem Account @dietantefrieda.

Weitere Veröffentlichungen:

ZIMTZICKE (2004)

FUNKENMARIE (2005)

DORNRESCHEN (2005)

MAMA MIA (2006)

Mitwirkende

Charlotte (Lotte) Freund abgebrochene Ausbildung zur Polizeikommissaranwärterin, Aushilfe im Frisörsalon, ungelernte Kraft in einer Drogerie, Hobbyautorin

Tillmann Bübchen Hausmann | Lebensgefährte von Lotte

Lilli und Paul Freund Kinder von Lotte und Tillmann

Miro Stahl Manager

Tim Schreiner | in einer Beziehung mit Lilli

Marleen (Leni) Schuster-Kapoor Tagesmutter | Nachbarin

Yash Kapoor Softwareentwickler | Nachbar

Anjuli (Juli) Kapoor Tochter von Leni und Yash

Vivian Freundin und ehemalige Nachbarin von Lotte

Leo Freund Frisör | Lottes Bruder

Carla Designerin im Bereich Mode | Lottes beste Freundin

Sam[Mama Mia] Sozialpädagoge und Tätowierer | Lottes erste große Liebe

Aron Sommer Stellvertretender Geschäftsführer von MISTA-Book | Bruder von Marleen

Aisha Stahl Tochter von Miro

Helena Freund Lottes Mutter

Papa Polizeibeamter | Lottes Vater

Anne Wanne Filialleiterin | Lottes Vorgesetzte in der Drogerie

Herr Treudl Hausmeister und Vermieter

Amitabh Tankstellenpächter

Georg Schreiner | Vater von Tim

Sören Frisör | Angestellter bei Leo

Mara[Mama Mia] Tätowiererin | in einer Beziehung mit Sam

Frau Hugenbeck Kundin in der Drogerie

Doktor Helge Schnieder Lottes behandelnder Arzt

Ludwig von Bloomenthal Verleger

Charlotte von Bloomenthal verheiratet mit Ludwig

Ben Yogi

Außerdem dabei:

Otto Labrador

Princess Königspudel

Übersetzungen

- am Ende der Geschichte -

Für Alex.

Mein ganz besonderer Dank geht an

Barbara [ twitter.com/Seelenauftrag ] und Heike für ihre Unterstützung bei der Überarbeitung

sowie

Andreas Schwarzrock [ twitter.com/anaurath, schwarzrock.media] für die Übersetzung der Texte von Herrn Treudl ins Berlinerische

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL eins

KAPITEL zwei

KAPITEL drei

KAPITEL vier

KAPITEL fünf

KAPITEL sechs

KAPITEL sieben

KAPITEL acht

KAPITEL neun

KAPITEL zehn

KAPITEL elf

KAPITEL zwölf

KAPITEL dreizehn

KAPITEL vierzehn

KAPITEL fünfzehn

KAPITEL sechzehn

KAPITEL siebzehn

KAPITEL achtzehn

KAPITEL neunzehn

KAPITEL zwanzig

KAPITEL einundzwanzig

KAPITEL zweiundzwanzig

KAPITEL dreiundzwanzig

KAPITEL vierundzwanzig

KAPITEL fünfundzwanzig

KAPITEL sechsundzwanzig

KAPITEL siebenundzwanzig

KAPITEL achtundzwanzig

KAPITEL neunundzwanzig

KAPITEL dreißig

KAPITEL einunddreißig

KAPITEL zweiunddreißig

KAPITEL dreiunddreißig

KAPITEL vierunddreißig

KAPITEL fünfunddreißig

KAPITEL sechsunddreißig

KAPITEL siebenunddreißig

KAPITEL achtunddreißig

KAPITEL neununddreißig

KAPITEL vierzig

KAPITEL einundvierzig

KAPITEL zweiundvierzig

KAPITEL dreiundvierzig

KAPITEL vierundvierzig

KAPITEL fünfundvierzig

KAPITEL sechsundvierzig

KAPITEL siebenundvierzig

KAPITEL achtundvierzig

KAPITEL neunundvierzig

KAPITEL fünfzig

KAPITEL einundfünfzig

KAPITEL zweiundfünfzig

KAPITEL dreiundfünfzig

KAPITEL vierundfünfzig

KAPITEL fünfundfünzig

KAPITEL sechsundfünfzig

KAPITEL siebenundfünfzig

KAPITEL achtundfünfzig

KAPITEL neunundfünfzig

KAPITEL sechzig

KAPITEL einundsechzig

Volle Lotte [2007] Die besten Bücher schreibt immer noch das Leben

KAPITEL eins

Kalle ist weg.

Diese elende Mistratte!

Ich könnte heulen vor Wut. Zornig presse ich die Kiefer aufeinander, spanne die Bauchmuskeln an und balle meine Hände zu Fäusten, bis die Fingernägel tief ins Fleisch schneiden. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich ziehe feuchte Luft durch die Nase und wische mit dem Handrücken nach. Nicht gerade ladylike. Aber ich bin keine Lady und habe auch nicht den Ehrgeiz, eine zu werden. Also: Warum muss mir das passieren? War der Tag nicht schon beschissen genug?

Jetzt halte mal den Ball flach, Charlotte, fordert meine innere Stimme, sooo schlimm ist das nun auch wieder nicht – hässlich wie der ist! Pfff... die hat gut reden! Ich weiß ja selbst, dass Kalle keine Schönheit ist. Mit Piercing im Ohr und Tattoo auf dem Arsch. Zugegeben, schon irgendwie bescheuert... aber eben das, was ihn ausmacht. Meinen Kalle, dessen Existenz ich zwar für möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich gehalten habe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Vor genau einem Jahr. Ausgerechnet in einem Buchfachhandel. Wie geil ist das denn? Meine innere Stimme schüttelt seufzend den Kopf.

Mein Gott, was tu ich nur ohne Kalle? Resigniert lasse ich mich auf den Drehstuhl sinken. Mein Blick schweift zunächst ins Leere. Doch dann... unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen. Sein dünner rosa Schwanz ragt zwischen zwei Kosmetikdisplays hervor, die ich erst am Nachmittag im Büro zwischengelagert habe. „Du elende, stinkende Mistratte“, stoße ich fluchend aus und greife nach dem Lümmel. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Seufzend presse ich Kalle an mich.

„Wird’s dann bald mal?“, tönt es unfreundlich vom Verkaufsraum zu mir herüber und Anne wuchtet ihren dicken Hintern ins Büro. Sie war auf dem Klo und zieht eine unverkennbare Duftnote hinter sich her. Anne macht gerade Kohlsuppendiät. Bäh! Wie ein Schwertransporter nimmt sie Fahrt auf. „Mein, Gott! So ein Gedöns um... um...?“ Anne grabscht nach Kalle und beäugt ihn kritisch. „Igitt, ist der hässlich.“

Das musst du gerade sagen, denke ich und runzele verärgert die Stirn.

Anne fällt weder unter die Kategorie Wuchtbrumme noch Walküre. Damit hätte sie sich nämlich glücklich schätzen können. Anne ist dermaßen unförmig, dass man meinen könnte, der Schöpfer hätte Knete gespielt und sich nicht zwischen Giraffe und Walross entscheiden können. Dazu kommt ein Gesichtsausdruck, der unweigerlich an Zahnschmerzen erinnert. Mit ihrer chronisch schlechten Laune kontaminiert sie die Luft und ich frage mich allmorgendlich, warum, um alles in der Welt, ich mir das hier antue.

„So“, sagt Anne und presst Kalle unwirsch an meine Brust, „und jetzt sieh zu, dass du endlich Land gewinnst. Ich will auch mal Feierabend machen.“

Ich nicke erleichtert und husche durch den Personaleingang nach draußen.

„Und morgen werden die Displays aufgestellt. Aber ordentlich!“

„Geht klar“, verspreche ich und füge leise hinzu: „Olle Sklaventreiberin.“

„WAS?“, plärrt Anne und hält sich die Hand hinters Ohr.

„Daaa sind tolle Faaarben driiin!“ Ich öffne hastig die Tür meines neunundsechziger VW Käfers. Wir haben dasselbe Baujahr. Der Käfer und ich. Er tuckert allerdings wesentlich munterer durch die Welt. Zumindest heute.

„Jaja“, plärrt Anne, was so viel heißt wie mir doch scheißegal, ich muss den Mist ja nicht machen und pfriemelt weiter am Sicherheitsschloss des Drogeriemarkts. „Und du besorgst dir mal ’nen Neuen. Der da ist ja echt abartig.“ Damit meint sie Kalle.

Stimmt. Ich betrachte Kalle, der jetzt noch schmuddeliger ausschaut als zuvor. Aber mir gefällt er. So wie er ist. Die graue Plüschratte mit Ring im Ohr und eingesticktem Arschgeweih. Der schönste Schlüsselanhänger, den ich je gesehen habe. So einfach ist das.

Ich drehe mich noch einmal um. Eine blöde Eigenschaft. Eine saublöde Eigenschaft, obgleich auch nur in Zusammenhang mit Anne. „Sag mal, brauchst du vielleicht Hilfe?“

Meine Chefin gibt undefinierbare Laute von sich.

Wider besseren Wissens schließe ich die Wagentür und gehe zurück zum Drogerieeingang. „Klemmt es wieder?“

Annes Gesicht ist inzwischen rot und die Anstrengung treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn. „Was denn sonst?“, knurrt sie und zerrt am Schlüssel.

„Du solltest nicht einfach nur nach hinten ziehen“, rate ich ungefragt und bereue es schon, während ich es sage, „sondern ein klein wenig dabei ruckeln. Das kenn ich von Fri... meinem Käfer.“

Anne hält einen Moment inne und dreht dann langsam ihren Kopf in meine Richtung. „Hat deine Schrottkarre etwa auch einen Namen?“

Mir steigt das Blut in den Kopf. Er heißt Fritzi. Aber das werde ich Anne jetzt ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. „Ähm... ich wollte nur behilflich sein.“

„Na“, sagt Anne und schiebt ihren Hintern beiseite. „Dann mach mal, du Besserwisserin.“

Ich seufze leise. Anne ist nicht gerade das, was man umgänglich nennen würde. Sie ist unzufrieden und launisch. Sie ist ungerecht, herrschsüchtig und liebt es, mich vor den Kunden bloßzustellen. Ich bin überzeugt, selbst der Dalai Lama wäre ihr schon an die Gurgel gesprungen. Seit fünf Jahren arbeite ich in der kleinen Drogerie, die Anne von ihrem Vater übernommen hat. Und in diesen fünf Jahren hat sie keinen Tag ausgelassen, um mich zu schikanieren.

Ich gehe in die Hocke und sondiere zunächst die Lage. Dann justiere ich den Schlüssel.

„Wird das noch was?“, raunt Anne ungeduldig.

„Immer mit der Ruhe“, erkläre ich und rüttele unter vorsichtigen Ziehbewegungen am Schlüssel. „Sonst bricht...“

„Red nicht und lass mich mal!“

Aus dem Augenwinkel sehe ich Annes breiten Hintern in rasanter Geschwindigkeit auf mich zukommen und fürchte fast, zwischen ihren Arschbacken zu verschwinden. Beinahe zeitgleich spüre ich den Aufprall. Mein Fuß knickt um, ich strauchle zur Seite und lande mit Wucht auf meiner Handtasche, in der es verdächtig knackt. „Oh!“

Annes Blick fällt zunächst aufs Schloss, dann auf das Metallstück in meiner Hand. „Der ist abgebrochen“, schlussfolgert sie.

„Jepp“, schlucke ich und erwarte ein Donnerwetter.

Doch Anne räuspert sich nur und kramt in ihrer Tasche nach dem Handy. Mit speckigen Fingern wählt sie die Nummer des Schlüsseldienstes. „Wanne hiiieeer“, flötet sie ins Telefon, das fast vollständig unter ihrem Doppelkinn verschwindet. „Friiiedje, mein Bester, wir haben einen kleinen Notfall...“ Sie fährt sich immer wieder durchs Haar und sieht versonnen in den dunklen Januarhimmel. „Charlotte, meine Angestellte... ... Hat man immer Ärger mit. ... Jaaa. ... Hat den Schlüssel vom Haupteingang abgebrochen. ... Ach, ungeschickt. ... Wie sie eben so ist. ... Hmhm.“

Ich erhebe mich langsam. Die schmutzigen Hände wische ich an meiner Hose ab und lausche dem Telefonat, das sich wie der letzte Versuch einer notgeilen Mitvierzigerin anhört – und wahrscheinlich auch ist.

„So, meine Liebe.“ Anne verzieht das Gesicht zu einer Fratze und lässt das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden. „Mach dir keine Sorgen“, säuselt sie schmallippig. „Wendelin Junior schaut gleich noch vorbei und richtet das Malheur. Du kannst nach Hause gehen.“

„Ähm, soll ich nicht... ich meine...?“ Das stinkt. Das stinkt gewaltig. Ganz gewaltig!

Annes Gesicht leuchtet wie eine überreife Tomate. Ich tippe der Einfachheit halber auf eine hormonelle Ausfallerscheinung. Aber angelächelt – und das soll es wohl sein, was sie da mit ihren Gesichtsmuskeln veranstaltet – hat sie mich noch nie.

Anne winkt mit erhobenen Händen ab. „Nein, nein. Geh du nur. Die Rechnung werfe ich dir dann in den Briefkasten.“

Hab ich’s nicht gesagt? Nickend wende ich mich zum Gehen.

„Ach, Charlotte?“

Ich bleibe stehen. Was denn noch?

„Du bist zum ersten April gekündigt.“

KAPITEL zwei

Als ich Fritzi zehn Minuten später am Straßenrand parke, habe ich Annes Worte noch immer nicht verinnerlicht. Gekündigt? Das kann doch nicht sein! Schließlich bin ich Alleinverdienerin. Nur aus diesem Grund schufte ich für einen Hungerlohn fünf Tage in der Woche von acht bis sieben in Annes inzwischen schon schwer heruntergewirtschafteten Drogerie. Und gerade jetzt, wo im nahegelegenen Industriepark Drogerien, Supermärkte und Boutiquen wie Pilze aus dem Boden schießen, ist noch mehr Einsatz gefordert – den ich ohne Zögern ableiste. Ich bin ein Arbeitstier.

Tillmann, mein langjähriger Lebensgefährte und Vater meiner beiden Kinder, widmet sich seit Abschluss seines Soziologiestudiums voll und ganz der Erziehung unserer Sprösslinge. Ich bin stolz auf seine Leistung. Was den Haushalt betrifft, hat er zwar ein weniger gutes Händchen. Aber auch das nehme ich gelassen hin. Wussten Sie eigentlich, wie entspannend Mitternachtsbügeln sein kann? Oder wie viel Kalorien man beim Fensterputzen verbraucht? Und dass das richtige Spülmittel tatsächlich zarte Hände macht? Verheiratet sind Tillmann und ich nicht. Wieso auch? Die Einzige, die Anstoß daran nimmt, ist meine Mutter. Und selbst sie hat sich nach achtzehn Jahren wohl daran gewöhnt. Nur dass Tillmann weder behördlich noch notariell die Vaterschaft von Lilli und Paul anerkannt hat, ist ihr nach wie vor ein Dorn im Auge. Mir macht das nichts aus. Ich liebe Tillmann und Tillmann liebt mich.

Zu meiner Verwunderung ist gerade jetzt kein einziges Mitglied meiner heißgeliebten Familie zugegen. Auch gut. Ich benötige dringend und vorrangig eine bewusstseinserweiternde Droge. Diese gönne ich mir in Form eines selbst aufgebrühten Mokkas und einer Kippe in der Küche. Dazu reiße ich die beiden mickrigen Flügelfenster über Spüle und Arbeitsplatte auf, damit nicht zu viel Qualm in der Wohnung steht, wenn meine Familie nach Hause kommt. Sie wird mich formvollendet bedauern, weil Anne heute eindeutig den Bogen überspannt hat. Das werde ich ihnen kläglich berichten.

Gefeuert. Anne hat mich gefeuert. Langsam brennt sich diese Tatsache in mein Bewusstsein ein und mir wird klar, welche Konsequenzen das auf unsere Zukunft hat. Ich sehe mich schon beim Arbeitsamt sitzen und Stunden in den Fluren des Sozialamts verbringen. Meine Kinder muss ich in die Suppenküche schicken, damit sie wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag bekommen, Tillmann werden die Haare vor Kummer ausgehen und irgendwann sterben wir alle an Magersucht oder verfallen dem Suff. Wobei wir uns Letzteres gar nicht leisten können.

Schnell schüttele ich diese Gedanken ab. Jetzt übertreibst du aber, schimpft mich meine innere Stimme. Und sie hat Recht. Ich rufe Tillmann an, um unseren Familienrat einzuberufen. In meiner Tasche krame ich nach dem Handy. „Autsch!“ Irgendwas hat mich gestochen. Ich schütte den kompletten Inhalt auf den Küchentisch und mein Handy kommt zum Vorschein. Oder das, was davon noch übrig ist. Das Display hat’s zerlegt. Mit voller Wucht. Die kleinen Splitter zerstreuen sich über die ganze Fläche. Zwei Teile stecken in meinem Zeigefinger. Na, klasse. Aber noch ein Grund mehr, mich ausgiebig bedauern zu lassen.

Dann eben übers Festnetz. „Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar“, klärt mich eine freundliche Stimme auf und wiederholt selbiges in Englisch. Mensch, Tillmann, wo treibst du dich nur rum? Nicht einmal das Abendessen hat er mir vorbereitet. Gähnende Leere im Kühlschrank. Ich schmolle mit meinem durch Abwesenheit glänzenden Liebsten und beschließe, zunächst unter die Dusche zu springen und mir dann eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben.

Ich habe mich gerade aus meinen Klamotten geschält, als unsere Wohnungsklingel hektisch kreischt. Sicher hat Lilli ihren Haustürschlüssel vergessen. Rasch wickle ich mich in ein Badetuch und eile zur Tür.

„Tachin, Frau Freund“, begrüßt mich der olle Herr Treudl, unser Vermieter, und bekommt angesichts meiner freizügigen Erscheinung Stielaugen. „Ick hab hier Ihre Kisten.“

„Kisten?“, frage ich nach einem kurzen Moment der Verwirrung. „Welche Kisten denn?“ Die Verwirrung hält immer noch an. Aha.

„Sum Umsien“, nuschelt er und stiert ungeniert auf meine nackten Schenkel. „Zwanzeh Dingers.“

Ich kann diesen Typen nicht leiden. Und jetzt, nachdem ihm vor vier Wochen seine blutjunge und zugegeben über die Maßen attraktive Ehefrau völlig überraschend weggelaufen ist, schon gar nicht mehr. Völlig testosterongesteuert stiert er jedem Wesen nach, das auch nur ansatzweise weiblich ist oder sein könnte.

„Herr Treudl, ich verstehe Sie nicht. Tut mir leid.“

„Uuum-siiieeen!“, wiederholt er, als sei ich geistig minderbemittelt. „Sach-chen rein-tun.“

Ich kapiere immer noch nicht. „Welche Sachen denn?“

Treudl schüttelt mitleidig den Kopf. „Hier“, reicht er mir einen zerknitterten Brief, „ick hab’s ooch noch mal schriftleh. Für die janz Doofen. Tschüss denn.“ Damit lässt er mich, nicht ohne noch einen letzten, lüsternen Blick auf meinen Busen zu werfen, stehen.

Unverschämter Pappsack! Ich ignoriere die zwanzig gefalteten Kartons, die den halben Flur blockieren, und ziehe mich mit dem von Kaffee- und Fettflecken übersäten Brief in die Küche zurück. Sehr geehrter Herr Bübchen, lese ich, wie Ihnen bereits mündlich mitgeteilt, kündigen wir das bestehende Mietverhältnis der Wohnung wegen Eigenbedarfs zum einunddreißigsten Januar. Hä? Ich stutze. Nee, so einfach geht das nicht! Da gibt es Fristen! Ich werfe einen erneuten Blick auf das Schreiben. Datiert vom Mai letzten Jahres. Ich lese den Brief ein zweites und ein drittes Mal. Doch auch beim vierten Lesen ändert sich nichts am Inhalt – und der Tatsache, dass Tillmann, mein geliebter Partner und Vater meiner Kinder, von der Wohnungskündigung gewusst haben muss. Na, der kann heute Abend was erleben!

Verdammt, wo bleibt er nur? Wo steckt er überhaupt? Und wo sind meine Kinder? Erneut wähle ich Tillmanns Nummer. Und erneut erklärt mir die nette Dame am anderen Ende der Leitung gleich zweisprachig, dass mein gewünschter Teilnehmer, zum Teufel noch mal, gerade nicht zu erreichen ist! Wäre es jetzt nicht an der Zeit, nervös zu werden? Ich schiele zur Uhr. Gleich halb acht. Ja, es ist an der Zeit, nervös zu werden.

Ich schlüpfe ungeduscht in meinen Hausanzug, setze mich wieder in die Küche und trommle mit den Fingern auf die Tischplatte. Aber bringt ja auch nichts. Definitiv. Also werfe ich einen Blick in meine Mokkatasse, die umgestülpt auf dem Unterteller dümpelt. Von meiner Oma habe ich das Lesen im Kaffeesatz gelernt. Ich kneife die Augen zusammen und betrachte konzentriert die verrotzte, braune Masse, die sich malerisch über das Tasseninnere ergießt. Ich sehe einen Mann mit Koffer oder ähnlichem, und noch eine weitere Person, dicht daneben. Sind das der schmierige Treudl mit seinen blöden Umzugskartons und sein bescheuerter Neffe, der sich zurzeit ständig hier rumtreibt? Auf der gegenüberliegenden Seite zwei Häuser. Unverkennbar. Mittig vier Menschen, gefolgt von zwei undefinierbaren Pünktchen, die im Entenmarsch von einem zum anderen wandern. Was soll das denn sein?

Ich wähle ein letztes Mal Tillmanns Nummer. Wie erwartet, erfolglos. Hilft nix. Jetzt rufe ich Mama an. Doch auch hier nimmt niemand ab und allmählich macht sich Panik in mir breit. Als es klingelt, schrecke ich hoch. Dabei fällt die Mokkatasse zu Boden und zerspringt in zwei Teile. Zu meinen Füßen landet das Teil mit den beiden Wanderern. Jetzt klingelt es Sturm und ich haste in den Flur. Kein Kunststück, wenn man in einer Wohnung lebt, die die Größe eines Schuhkartons hat. Meine Wangen glühen, als ich die Tür aufreiße.

„Mama?“

Meine Mutter nickt und schiebt sich mit einem rotbäckigen, rotznasigen Paul in die Wohnung. „Na, Kind?“

„Hallo, mein Schatz“, gehe ich vor Paul in die Hocke und betrachte ihn besorgt. „Was ist denn mit dir los?“ Ich streichle über sein warmes Gesicht. „Dir geht’s nicht gut?“

Paul nickt und ich presse ihn sanft an mich.

„Er hat sich erkältet, Charlotte. Mehr nicht.“ Mama tätschelt mir beruhigend die Schulter. „Ich war heute früh mit ihm beim Doktor, und etwas gegen sein Fieber hat er auch schon bekommen. Ach, und hier“, sie kramt in ihrer Tasche, „ist seine Krankenkassenkarte.“

Ich nehme ihr das Chipkärtchen ab und bin leicht irritiert. „Wieso war Tillmann nicht mit ihm beim Arzt?“

Mama seufzt und zieht die Schultern nach oben. „Er brachte mir Paul heute Morgen vorbei und sagte, er habe noch etwas zu erledigen. Ich möchte ihn um halb acht nach Hause bringen.“

„Was hatte er denn so Wichtiges zu erledigen?“, frage ich gereizt. Einerseits, weil ich von nichts weiß und andererseits, weil er mein krankes Kind bei der Oma geparkt und mich nicht darüber informiert hat.

Wieder antwortet meine Mutter mit einem Schulterzucken. „Kann ich dir nicht sagen, Lottchen. Tillmann war ziemlich in Eile. Ist er denn nicht schon wieder zu Hause?“

„Nee“, knurre ich.

„Alles in Ordnung zwischen euch?“ Sie legt mir fürsorglich die Hand auf die Wange.

Eigentlich dachte ich, ja. Aber nachdem ich das Kündigungsschreiben für unsere Wohnung gelesen habe, kommen mir gerade berechtigte Zweifel. Sollte ich meiner Mutter...?

„Gehst du bitte schon mal ins Bad und machst dich bettfertig, Paul?“

Mein Sohn nickt schwächlich. Er ist jetzt zehn Jahre und außerordentlich selbständig. Doch wenn sie kränkeln, sind alle Männer gleich.

„Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst. Ich bin mit Oma in der Küche.“

Meine Mutter versteht und geht voran.

„Guck mal“, sage ich und schiebe Treudls Brief über den Tisch.

Sie liest den Wisch, runzelt die Stirn und sieht zu mir auf. Dann liest sie ihn ein zweites Mal und schüttelt den Kopf. Nach dem dritten Lesen grübelt sie. „Vielleicht... vielleicht hat er ja einen Termin mit einem Makler und... und...“

„Und hat ein idyllisches Häuschen im Grünen gefunden?“ Ich zünde mir eine Zigarette an. „Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“

Mama hustet gekünstelt. „Bäh, das stinkt.“

Ich weiß, das stinkt gewaltig. Genauso wie Annes Lächeln vor ein paar Stunden. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

„Deine Zigarette! Muss das sein?“ Mutter fuchtelt wild vor ihrem Gesicht herum.

„Mama“, ignoriere ich ihre wilden Gesten, „Anne hat mir zum ersten April gekündigt.“

Ich sehe, wie meiner Mutter mit einem Schlag die Farbe aus dem Gesicht weicht. „Mit so etwas macht man keine Scherze, Charlotte.“

Ich schlucke den Klos in meinem Hals hinunter und nehme einen kräftigen Zug aus meiner Zigarette. „Sieht Anne wie ein Witzbold aus?“

Sie schlägt die Hand vor den Mund. „Oh, nein...“

Ich höre einen Schlüssel knacken. Tillmann!

„Wo warst du, verdammt noch mal?“, raune ich, noch bevor die Tür zurück ins Schloss gefallen ist, und springe auf.

„Bei Lea.“ Lillis Stimme klingt belegt. Ihre Augen sind rot und verquollen.

Ich erschrecke. „Schatz“, streiche ich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Was ist los?“

Meine siebzehnjährige Tochter schüttelt den Kopf, während sich ihre Augen mit Tränen füllen.

Sanft fahre ich mit der Hand über ihre Wange. „Tim?“

Sie wirft ihre Arme um mich und bricht in erbärmliches Schluchzen aus. Ihre Fingernägel krallen sich tief in meinen Rücken. Sie zuckt am ganzen Leib.

Auch das noch! Ist heute ein sprichwörtlicher Verlierertag? Ich verliere meinen Job, unsere Familie verliert die Wohnung, Lilli verliert ihren Freund... verliere ich jetzt vielleicht auch bald meinen Verstand?

„Ich glaube, ich lasse euch jetzt lieber mal allein.“ Meine Mutter streichelt ihrer Enkelin übers Haar und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Wegen... wegen allem anderen reden wir morgen.“ An der Tür wirft sie noch einmal einen sorgenvollen Blick auf das Häufchen Elend, das Lilli und ich gerade darstellen. „Kannst mir Paul morgen früh gerne vorbeischicken, wenn er noch krank ist. Nur falls Tillmann... also... du weißt Bescheid.“

Ich nicke dankbar. Aber Bescheid weiß ich keineswegs. Mir schwirrt der Kopf.

KAPITEL drei

Ich wische meiner Tochter die Tränen vom Gesicht und biete ihr einen Mokka an. Situationsbedingt ist das das Synonym für Willst du mit mir darüber reden?

Lilli nickt.

„Ich komme gleich nach“, verspreche ich, „schau nur schnell noch nach Paul.“

Mein kleiner Patient hat es sich zwischenzeitlich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht. Seine großen, grünen Augen sind konzentriert auf den Fernseher gerichtet.

„Paulchen?“

„Pscht!“, legt er den Zeigefinger auf die Lippen, ohne seinen Blick abzuwenden. Michael Naseband steht unter Beschuss. Wir halten beide die Luft an. Naseband wurde getroffen! Er sackt an einer Mauer zusammen und hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Oberarm. Ein muskelbepackter Kerl, Typ Zuhälter, tritt mit verächtlichem Grinsen auf ihn zu. Der Lauf seiner Pistole presst sich an Nasebands Stirn. Mein Herz schlägt schneller und beruhigt sich erst wieder, als Michaels Kollegen, Alexandra Rietz und Gerrit Krass, die aufgeblasene Lederjacke stellen und überwältigen. Rettung in letzter Sekunde. Ist ja grad noch mal gut gegangen!

„Die vom K11 sind die allercoolsten überhaupt“, näselt Paul und sagt dann bestimmt: „Mama, ich werde auch mal Kriminaloberkommissar!“

„Klar, mein Sohn.“ Ich tätschele seine Schulter. „Aber nur unter der Voraussetzung, dass du deine Fälle im Fernsehen löst und dabei Platzpatronen benutzt.“

Paul verdreht genervt die Augen.

„Na los, du Superbulle“, ziehe ich ihm das Sofakissen unterm Hintern weg, „ab ins Bett jetzt.“

Murrend trottet Paul in sein Zimmer, nachdem er sich seinen Gutenachtkuss bei mir abgeholt hat. Darauf bin ich mächtig stolz. Viele seiner Freunde wehren sich inzwischen mit Händen und Füßen gegen jedwede Form elterlicher Zuwendung.

Lilli hat uns Mokka aufgebrüht und in zwei kleine Tassen geschenkt. Sie hat ein Händchen dafür. Er ist nie zu süß und nie zu stark. Einfach perfekt. Wie meine Tochter selbst. Sie gleicht ihrem Vater aufs Haar. Die markanten Merkmale, wie das energische Kinn und die aristokratische Nase, wirken durch die feinen Konturen ihres Gesichts unglaublich weiblich. Wohlgeschwungene Augenbrauen und dichte, lange Wimpern runden das Bild ab. Auch sie hat die grasgrünen Augen ihres Vaters, mit denen sie mich jetzt anfunkelt.

„Er geht fremd.“

„Soso“, erwidere ich skeptisch und zünde mir eine Zigarette an. „Und was bringt dich zu dieser Vermutung?“

Lillis Hand schlägt krachend auf dem Küchentisch auf. „Das ist keine Vermutung, Mama. Das ist eine Tatsache“, herrscht sie mich an. „Ich weiß es einfach.“

„Och“, bleibe ich dennoch gelassen. Ich glaube kaum, dass mich heute noch irgendetwas von den Socken hauen kann. „Hattest du die Hand dazwischen?“

Lilli schnaubt. „Mamaaa...“, knurrt sie und nippt beleidigt an ihrem Mokka. „Mach es mir doch nicht so verdammt schwer...“

Nachdenklich ziehe ich an meiner Zigarette und schaue meine Tochter besorgt an. „Was ist denn mit dir los, Lilli? So kenne ich dich gar nicht. Du explodierst doch sonst nicht so leicht?“

Ihr Handy klingelt. Sie wirft einen angewiderten Blick auf das Display und verpasst dann dem ahnungslosen Mobilfunkgerät einen groben Schubs. „Der kann mich mal!“

„Lilli!“ Meine Stimme hat nun einen leicht mahnenden Unterton. „Er hat es verdient, wenigstens angehört zu werden.“

„Hat er nicht!“

„Hat er doch!“

„Hat er nicht!“

„Hat er wohl! Lilli, verdammt noch mal!“ Ich bin lauter geworden, um das anhaltende Kreischen des Handys zu übertönen.

Zu laut. Paul steht in der Küche und reibt sich verschlafen die Augen. „Mamaaa...“

Schuldbewusst zucke ich zusammen. „Tut mir leid, mein Schatz. Ich wollte dich nicht wecken.“

Paul wischt sich mit seinem Schlafanzugärmel die Triefnase ab. „Papa schon da?“, nuschelt er und rückt damit Tillmanns Abwesenheit wieder in mein Bewusstsein.

„Noch nicht.“

Bevor ich zu weiteren Erklärungen ansetzen kann, gähnt er ausgiebig. Er reißt dabei sein Mäulchen auf wie ein Spatz vor der Mahlzeit. „Kann ich dann bei dir schlafen? Büddeee!“

Das Handy verstummt.

„Dann geh schon“, sage ich und nippe noch einmal an meinem inzwischen kalten Mokka, bevor ich die Tasse auf den Unterteller stülpe.

Paul drückt mir einen verrotzten Kuss auf Wange und flitzt ins Schlafzimmer.

„Und du?“, frage ich Lilli und deute mit einer Kopfbewegung auf ihre Mokkatasse.

„Mag nicht“, erwidert sie knapp.

„Du hast doch keine Angst vor der Wahrheit, oder?“

„Welche Wahrheit denn?“ Es klingt ungewohnt schnippisch.

Ich seufze. „Dass du dich täuschst und ihn zu Unrecht beschuldigt hast?“

Lilli holt tief Luft. Sie hat schon wieder Pippi in den Augen. „Ich hab’s gesehen, Mama.“

„Mamaaa“, kreischt Paul und steht Sekunden später erneut in der Küche. Er wedelt mit einem Umschlag. „Da steht dein Name drauf. Von wem ist der?“

Ich nehme ihm den Brief aus der Hand. Das ist Tillmanns Schrift. Mein Herz schlägt schneller und unerklärliches Unbehagen macht sich in mir breit. „Ich schau später. Und du gehst jetzt ins Bett, Paul. Du bist krank.“

„Aber...“

„Kein Aber“, unterbreche ich ihn mit erhobenem Zeigefinger. „Ab ins Bett.“

Widerwillig schlappt er zurück ins Elternschlafzimmer.

Ich schiebe den Brief zur Seite und versuche, den Faden wieder zu finden. „Also, was genau hast du gesehen, Lilli?“

Lilli hat die Hände ineinander gefaltet und sieht mich wortlos an.

„Was genau du gesehen hast, würde ich gerne wissen“, setze ich erneut an. Aber es scheint, als sei meine Tochter in eine tiefe Starre gefallen. „Lilli?“

Ihr Kinn vibriert. So aufgelöst habe ich meine Tochter noch nie gesehen. Sie steht ja völlig neben sich. „Lilli?“ Ich nehme das Handy und halte es ihr vor die Nase. „Du rufst Tim jetzt an und sagst ihm, dass ihr morgen wie zwei erwachsene Menschen über alles redet.“

Das ist diplomatisch, das ist gut. Ich bin zufrieden mit mir.

Doch meine Tochter reißt mir das Telefon aus der Hand und lässt es zurück auf den Tisch fallen. „Mama, es geht nicht um Tim“, schleudert sie mir ins Gesicht. „Es geht um Papa!“

„Was?“

„Papa! Mama...“

Mir ist schwindelig. Meine Gedanken sind plötzlich völlig desorientiert.

„Lese halt den Brief.“

Man kann regelrecht sehen, wie Lilli den dicken Klos in ihrem Hals herunterschluckt. Zögernd greife ich nach dem Umschlag, um ihn weiter von mir zu schieben. „Was weißt du, Lilli?“, frage ich mit belegter Stimme.

Meine Tochter schüttelt den Kopf. Sie sieht verzweifelt aus, verletzt. In ihren Augen spiegelt sich ein Weltbild wider, das in Trümmern liegt. Sie kann nicht. Selbst wenn sie wollte. Und so ziehe ich den Brief wieder herbei und öffne ihn mit zittrigen Fingern.

Meine liebstes Lottchen! Angesichts des in mir aufkeimenden Verdachts kommt mir diese Anrede wie blanker Hohn vor. Es fällt mir nicht leicht, dir diesen Brief zu schreiben. Ich ahne die Worte, die nun kommen werden. Ich habe schon zu viele Romane gelesen und fühle mich, als sei ich nun die Hauptfigur in einem dieser. Doch wenn es so wäre, würde ich keinen Cent dafür zahlen. Denn das, was meine Augen verschwommen wahrnehmen und an die kleinen grauen Zellen in meinem Hirn weitergeben, ist nichts als gequirlte Scheiße. Du und die Kinder seid ein Teil von mir, schreibt er, doch ich spüre tief in meinem Inneren, wie das Alter unaufhaltsam nach mir greift und daran muss ich etwas ändern, indem ich meinem Herzen folge und meinen inneren Frieden finde. Ich schüttele den Kopf, erst zaghaft, dann immer energischer. Seinen inneren Frieden? Haben wir Krieg und ich hab’s verpasst? Tillmann ist vierzig! Wovon redet er da nur? Und weshalb, wenn wir doch ein Teil von ihm sind, amputiert er uns dann? Ich versuche auf die Schnelle, dieses Paradoxon zu lösen und komme zu einem ernüchternden Schluss: „Euer Vater hat uns sitzen lassen.“

Lilli holt tief Luft. „Papa“, sagt sie dann, nicht ohne eine Spur schlechten Gewissens, „hat seit drei Jahren ein Verhältnis mit der Frau des Hausmeisters.“

„Soso“, bemerke ich trocken und so weit von der schmerzlichen Bewusstwerdung entfernt wie von einem Diplom in Quantenphysik. „Dann hört er wohl eher auf seinen Schwanz als auf sein Herz. Und seinen inneren Frieden findet er in Mexiko.“

„Norwegen“, hustet Lilli, „irgendwo.“

„Aha.“ Ich stecke mir eine Zigarette an und beobachte den aufsteigenden Rauch.

Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, sprudelt plötzlich alles aus ihr heraus. „Ich... also, ich hab Reiseführer und so’n Zeugs in der Küche gefunden. Vor einigen Wochen. Und dann hab ich Papa und die Treudl ein paar Mal im Wald gesehen, wenn ich mit Lea Joggen war. Und neulich... da waren sie... da haben sie... ich wollte es dir da schon sagen. Aber ich dachte, das war nur eine einmalige Sache, bis ich erfahren habe...“ Sie schluchzt.

Obwohl mir selbst zum Heulen ist, nehme ich meine Tochter in den Arm und streichle ihr tröstend über den Rücken. „Pscht, schon gut, meine Kleine. Schon gut.“

KAPITEL vier

Tillmann ist also weg.

Diese elende Mistratte!

Ich heule vor Wut. Wut, Enttäuschung und Unverständnis. Aber erst, nachdem Lilli sich müde und ziemlich angeschlagen in ihr Zimmer zurückgezogen hat. Es nagt an ihr. Sie wirft sich vor, mir gegenüber nicht loyal gewesen zu sein und ihren Vater viel zu lange gedeckt zu haben. Wir haben sehr ausgiebig darüber gesprochen. Aber solche Zweifel lassen sich nicht mit einer Handbewegung oder guten Worten wegwischen.

Was, zum Teufel, ist hier schiefgelaufen? Ich greife nach dem Zigarettenpäckchen. Leer. War ja klar. Kurzentschlossen schlüpfe ich in Jacke und Sneakers, schnappe mein Portemonnaie und schleiche mich aus der Wohnung. Nach nur fünf Minuten Fußweg bin ich an der nächstgelegenen Tankstelle. Vorausgesetzt, ich komme dort an. Im Flur stolpere ich über die Umzugskartons und schlage unsanft mit dem Knie auf. Verdammte Scheiße! Was ist das heute bloß für ein Tag?

Der scharfe Januarwind bläst mir um die Nase und kühlt mein erhitztes Gemüt etwas ab. Die Gedanken werden klarer. Tillmanns Erklärungen, warum er uns verlassen hat, ergießen sich über drei Seiten. Nachdem er in den ersten Absätzen noch auf der Suche nach seinem inneren Frieden ist, räumt er auf Seite zwei ein, diesen in Gestalt einer anderen Frau gefunden zu haben. Dass eben jene Frau zehn Jahre jünger ist als ich, schlank und faltenfrei, hat er jedoch völlig unerwähnt gelassen.

Wie kann Tillmann behaupten, er liebe uns? Klar, mit Lilli und Paul verbinden ihn die Gene. Sie sind sein Fleisch und Blut. Aber was verbindet ihn mit mir? Was hat ihn jemals mit mir verbunden – außer unseren Kindern? Achtzehn gemeinsame Jahre wohl nicht. Und – wie mir jetzt umso bewusster wird – weder meine äußere noch meine innere Schönheit. Stirbt Liebe schneller als sie wächst? Oder ist es über all die Zeit doch nur Freundschaft gewesen? Definiere Liebe... Eva, die attraktive Hausmeistergattin, ist alles, was ich nicht bin. Sie kann Nächte durchfeiern und sieht nach achtundvierzig Stunden Schlafentzug immer noch frisch und atemberaubend aus, während ich nach nur drei Feierabendbierchen morgens um halb sechs wie ein Zombie durch die Wohnung schleiche. Ein Anblick, der sogar die Fliegen an der Wand erschrecken und Reißaus nehmen lässt. Evas Haut ist rein und ebenmäßig. Wenn ich eine grüne Feuchtigkeitsmaske auflege, könnte ich damit sogar einkaufen gehen, ohne dass das jemandem auffallen würde. Jedenfalls nicht gleich. Evas Titten sehen aus wie Mandarinen in Tennissocken und sie hat so viel Silikon im Mund, damit könnte man die Fenster eines zwölfstöckigen Hauses abdichten. Angeblich sind das jedoch alles nur wohlgeformte Moleküle. Dennoch: die Frage, was sie wohl hat, das ich nicht habe, stellt sich gar nicht.

Als ich vor der Glastür der neondurchfluteten Tankstelle stehe, wird mir die Aussichtslosigkeit eines Kampfes umso bewusster. Mal vorausgesetzt, ich wolle den Kampf aufnehmen. Schau dich doch mal an, gähnt meine innere Stimme. So wie du aussiehst, ziehst du keine Wurst mehr vom Brot. Danke, weiß ich schon selbst.

Es ist nicht so, als hätte ich mich in den letzten Jahren gehen lassen. Aber zwei Schwangerschaften und der Zahn der Zeit hinterlassen ihre Spuren. Ist das eine angemessene Entschuldigung? Nein? Dann sage ich es mal so: Die meisten Menschen nehmen zwischen Weihnachten und Silvester zu. Bei mir ist das umgekehrt. Ich nehme zwischen Silvester und Weihnachten zu. Und leider gehöre ich auch zu der Sorte Mensch, die der festen Überzeugung ist, bei Sport handele es sich um eine Krankheit. Das war nicht immer so. Während meiner Ausbildung im Polizeidienst war ich beinahe süchtig nach körperlicher Ertüchtigung. Doch nun grinsen mich die Speckrollen auf meiner Hüfte hämisch an und über die Ausrede, ich sei einfach nur zu klein für mein Gewicht, kann ich schon lange nicht mehr lachen.

„Guten Abend, Lotte. Was treibt dich denn so spät noch hier her? Keine Kippen mehr?“ Amitabh grinst wissend und bleckt seine beigefarbenen Zähne.

Keine Kippen, keinen Mann, keinen Job und keine Wohnung mehr, will ich sagen. Aber ich verkneife es mir. Denn Bock auf Konversation habe ich auch keinen mehr. „Jepp“, antworte ich deshalb knapp und fühle mich unbehaglich. Nachts um halb zwölf sind mir Tankstellen nicht geheuer. Amitabh ist ein schmächtiger Inder, der sich schon am Tresen festhalten muss, wenn man ihn anhustet, nur um nicht umzufallen. Er vermittelt nicht das Gefühl von Sicherheit. Und auch die unzähligen Überwachungskameras zeichnen schließlich nur auf, wie grauenvoll wir zu Tode gekommen sind, falls denn irgendjemand beabsichtigt, die Tanke zu überfallen und jeden Zeugen aus dem Weg zu räumen.

Vorm Eingang bremst ein klappriger Kastenwagen. Mit laufendem Motor wird die Beifahrertür aufgerissen. Das ist jetzt nicht sehr vertrauenserweckend. Ich schließe die Augen. Gleich stürmt ein Maskierter mit gezückter Pistole herein und fordert den Inhalt der Kasse, dazu ein Dutzend Flaschen Schnaps und fünf Stangen Zigaretten. Mir dreht sich der Magen um. Gleich kotze ich übern Tresen. Heute ist einfach nicht mein Tag, ergibt sich mein Bewusstsein. Ich höre einen dumpfen Schlag, ein lautes Aufjaulen und spüre kalte Tropfen auf meiner Hand. Oh, mein Gott! Sie haben Amitabh erschossen! Schallgedämpft.

„Lotte! Lotte!“, rüttelt es an meinem Arm. „Hier ist ein Glas Wasser. Ist dir nicht gut?“

Ich öffne die Augen und schaue in Amitabhs besorgtes Gesicht. „Du bist ja ganz blass! Bist du krank?“

Es dauert einige Sekunden, bis ich mich wieder gefangen habe. Amitabh wurde nicht erschossen. Aber ein Blick zur Eingangstür zeigt, dass dort ein Bündel hinterlegt wurde. Eine Bombe?

Ich bin inzwischen nervlich völlig derangiert. Das bedeutet wieder jede Menge Falten und Dutzende graue Haare mehr. Außerdem vermute ich sowieso schon lange, dass sich mein Stoffwechselsystem in Stresssituationen intuitiv abschaltet und ich nach jeder Panikattacke gleich zwei Pfund mehr auf der Waage habe. Na, danke. Und das alles nur wegen ein paar Kippen...

„Lotte?“ Noch einmal rüttelt Amitabh an meinem Arm, um sich zu vergewissern, dass ich auch geistig anwesend bin. „Alles klar?“

„Jaja, geht schon“, mache ich mich los. Für einen so kleinen Kerl hat er einen ganz schön festen Händedruck. Ich reibe mir den Oberarm.

„Bist du sicher?“, fragt er und setzt dabei eine Miene auf, als hätte er es mit einem verschreckten Kleinkind zu tun.

„Sicher bin ich sicher“, meldet sich mein lang verschollenes Ego, „bin doch keine Heulsuse.“ Von Letzterem nach den vergangenen Stunden zwar nicht mehr ganz so überzeugt, stemme ich dennoch die Hände in die Hüften und stampfe nachdrücklich mit dem rechten Fuß auf.

„Gut“, packt Amitabh mich unterm Arm, „dann kannste mit mir jetzt auch mal nachschauen, was das für ein Päckchen da draußen ist.“

„Was? Ich? Wieso?“ Ich starre auf das verschnürte Bündel. Es bewegt sich. „Ruf doch die Polizei!“

„Bin ich Heulsuse, oder was?“, erwidert er brüsk und schleift mich mit sich.

Unschlüssig stehen wir im Eingang.

„Und jetzt?“, fragt Amitabh.

Ich zucke mit den Schultern. „Ja, mach halt auf.“

„Mach du doch auf!“

„Wieso ich?“

„Wieso nicht?“

Ich schnaube. Das wird mir jetzt alles zu doof. Ich gehe in die Hocke und öffne vorsichtig den Knoten. Es sieht aus wie ein baumwollener Kleidersack, den man mit zum Camping oder in den Urlaub nimmt.

„Und? Was ist drin?“

Ich äuge zu Amitabh. „Kann ich noch nicht sehen. Hab doch erst den Knoten...“

„Ja, dann zieh halt auf.“

Der ist gut! Wenn mich jetzt ein Alien anspringt und mit grüner, radioaktiver Säure anrotzt? Oder eine Klapperschlange, die mich beißt, bis ich selbst nicht mehr klappern kann? Mein Gott! Vielleicht ist aber auch ein Säugling drin? Hektisch zerre ich an der Schnur und öffne den Sack.

Amitabh tritt einen Schritt zurück und ich kippe auf mein Hinterteil.

„Das... das ist ja... ist das ein Hund?“, fragt Amitabh erschrocken.

Stirnrunzelnd schaue ich zu ihm auf. „Na, nach ’ner heiligen Kuh sieht das jetzt nicht aus.“ Dafür ernte ich einen bösen Blick.

Das kleine Fellbündel schaut uns mit großen, braunen Augen ängstlich an. Als ich meine Hand nach ihm ausstrecke, zieht er das Genick ein. „Schschsch“, flüstere ich, „brauchst keine Angst haben. Wir tun dir nichts.“

„Pah!“, kreischt Amitabh und gestikuliert wild. „Und wenn der uns was tut?“

Ich sehe ihn ungläubig an. „Was soll der kleine Kerl denn schon tun? Uns etwa totlutschen?“

Inzwischen wagt sich der Welpe ein Stück näher heran und schnuppert an meinen Schuhen. Er humpelt.

„Du, die haben den Kleinen hier ausgesetzt“, schlussfolgere ich entsetzt, „oder besser abgeworfen. Diese Mistbacken, diese elenden.“ Sofort ist mein mütterlicher Instinkt aktiviert und mein Herz bäumt sich auf, als das Hundebaby meine Hand ableckt. Vorsichtig nehme ich ihn auf den Arm. Als ich seinen rechten Hinterlauf berühre, fiept er leise. „Oje, und verletzt bist du auch noch, du armer Wurm.“

„Das ist kein Wurm, das ist ein Hund“, protestiert Amitabh lautstark, als ich Anstalten mache, ihn in den Verkaufsraum zu tragen. „Ich habe eine Allergie!“

Der Kleine zuckt angesichts der hohen Tonlage zusammen und ich werde stinkig. „Mir doch egal jetzt!“, blaffe ich Amitabh an. „Das arme Kerlchen braucht erst mal Wasser und etwas zu essen!“

Mein indischer Tankwart gibt Fersengas, hechtet zu einem der hinteren Regale, dann zurück zur Theke und schließlich auf mich zu. „Hier“, sagt er atemlos und hält mir mit ausgestrecktem Arm eine Plastiktüte vor die Nase. „Da sind fünf Packungen Hundefutter drin. Das kannst du ihm geben. ZU HAUSE!“

Ich starre ihn entgeistert an. „Aber...“

„Zigaretten habe ich dir auch reingetan. Zwei Päckchen sogar! Und jetzt verschwinde mit dem...“ Er schaut auf den Hund in meinem Arm und verzieht angewidert das Gesicht. „Bäh! Tschüss!“ Unwirsch drückt er mir die Plastiktüte in die Hand und schiebt uns zum Ausgang.

„Aber was soll ich denn...?“ Bevor ich ausreden kann, hat er die Tür hinter uns verschlossen und winkt mir noch einmal zu.

KAPITEL fünf

„Und nun?“ Das Kerlchen in meinem Arm zittert wie ein dieselbetriebener Vibrator. Ich öffne den Reißverschluss und verstaue den Welpen unter meiner Jacke. Er sieht mich dankbar an, gähnt und kuschelt sich an meine Brust.

Ich seufze. Es ist unglaublich. An einem Tag verliere ich Mann, Job und Wohnung – und da geh ich nur mal Kippen holen und finde einen Hund. Dass ich es nicht übers Herz bringen werde, ihn in ein Tierheim zu schaffen, ist mir jetzt schon klar. Wie ich das alles allerdings bewerkstelligen will, nicht.

Inzwischen ist es ein Uhr. Ich schleiche durch den Hausflur, ohne erneut über die Kartons zu stolpern, und öffne leise die Wohnungstür. Alles ruhig, atme ich auf. Immerhin hat diese Aktion länger gedauert als erwartet. Aber es ist ja schon so manch einer vom Kippenholen überhaupt nicht mehr zurückgekommen.

„Na, dann wollen wir mal“, sage ich zu meinem tierischen Jackenfutter und setze es vorsichtig auf dem Küchenboden ab. Aus dem Schrank krame ich eine Emailleschüssel, fülle sie mit frischem Wasser und stelle sie unserem neuen Familienmitglied einladend vor die Nase. Gierig schlabbert er daraus. Auf einem Teller matsche ich eine halbe Dose Hundefutter klein und platziere ihn daneben. Er schnüffelt kurz daran und lässt sich dann tollpatschig auf sein Hinterteil plumpsen. Immer wieder fallen ihm die Augen zu.

„Hm“, mache ich und krame dann im Dielenschrank einen alten Schlafsack hervor. „Was meinst du? Kannst du darauf nächtigen?“

Er kann. Kaum habe ich dieses Überbleibsel aus Tillmanns Bundeswehrzeiten ausgebreitet und zu einem Nestchen geformt, bettet er sich in die Mitte und döst beinahe umgehend weg.

Ich beobachte den Kleinen eine Weile, dann fische ich die Zigaretten aus der Tüte, hole mir Stift und Papier und setze mich wieder an den Küchentisch.

Ich brauche eine Liste mit allen Punkten, die jetzt erledigt werden müssen. Gleich morgen früh gehe ich mit dem Welpen zum Tierarzt und das Nötigste für ihn einkaufen. Nicht verkehrt wäre es, wenn er einen Namen hätte. Doch das ist das geringste Problem. Auch die Rasse kann ich nur erraten, es deutet aber alles auf einen Labrador hin. Was das allgemeine Haustierverbot angeht, schere ich mich einen Dreck darum. In drei Wochen müssen wir hier sowieso raus. Und genau bis dahin muss ich einen adäquaten Ersatz gefunden haben. Das allerdings ist ein Problem. Und leider nicht das einzige. Ich muss mein, unser, Leben allein finanzieren. Unterhalt ist nicht zu erwarten. Meine Mutter wird den Kopf schütteln. „Hab ich es dir nicht immer gesagt?“, wird sie mich fragen. Und ich muss nicken und mir selbst dafür in den Arsch beißen, dass ich in meinem jugendlichen Leichtsinn nicht darauf bestanden habe, zu heiraten. Oder Tillmann zumindest die Vaterschaft anerkennen zu lassen. Das nenne ich mal Pech. Wie ich neben des fehlenden Unterhalts auch noch ohne Lohn auskommen soll, bleibt mir ein Rätsel. Also muss neben einer Wohnung ebenfalls ein neuer Job her. Bei der heutigen Arbeitsmarktlage wohl das schwierigste Unterfangen. Und was ist mit Pauls Betreuung? Lilli kann ich diese Verantwortung nicht aufbürden, sie hat gerade genug mit ihrem Abitur – und dem heutigen Gefühlsausbruch nach zu urteilen – ihrem eigenen Leben zu tun.

Scheiße! Das schaffe ich alles nicht!

Die Verzweiflung schickt Gott uns nicht, um uns zu töten, er schickt sie uns, um ein neues Leben in uns zu wecken. Hermann Hesse

Ich nehme noch einmal Tillmanns Brief in die Hand. Inzwischen ist er so abgegriffen, dass man meinen könnte, es handelt sich um ein Schriftstück aus der Jahrhundertwende. Ungefähr so liest es sich auch. Du bist wie eine Dogge: unglaublich stark, aber weißt es nicht, lese ich. Ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Nun jedoch finde ich es auch unglaublich. Vergleicht er mich mit einem Hund! War ich zuvor noch das Objekt seiner sexuellen Begierde, die Erfüllung seines Lebens, bin ich inzwischen zum Haustier mutiert. Danke, Herr Bübchen, das baut mich jetzt richtig auf.

„Wuff!“, mache ich leise Richtung Schlafsack. Vielleicht versteht der Kleine mich ja?

Dogge. Wie kann er mich mit einer Dogge vergleichen? Seine neue Liebe sieht doch schließlich aus, als hätte sie mit einem Storch gepokert und die Beine gewonnen – nicht ich. Aber mein diplomierter Sozialpädagoge meint damit ja auch nur die inneren Werte! Die nützen mir allerdings nichts, wenn die äußeren Werte fehlen. Sofort setze ich auf die Liste: Kontostand überprüfen!

Aus dem Wohnzimmer hole ich den Laptop und checke via Onlinebanking die finanzielle Lage. Tillmann hat von seinem Sparbuch fünftausend Euro auf unser Konto überwiesen. Das war mal für ganz schlechte Zeiten gedacht. Die scheinen nun angebrochen. Aber immerhin. Das rettet mich vielleicht über die ersten Monate. Eine neue Wohnung hat er mir jedoch nicht dagelassen. Drecksack! Ich bin so wütend, so enttäuscht und zutiefst verletzt. Je länger ich über Tillmann, unsere Beziehung und seinen klanglosen, feigen Abgang nachdenke, desto größer wird mein Zorn. Ich muss mich zusammenreißen, damit ich nicht entmensche. Immer wieder frage ich mich: Warum? Was habe ich falsch gemacht? Was habe ich übersehen? Wann wurde aus unserer Liebe nur Freundschaft? Oder war es selbst das nicht mehr? Nur noch eine Zweckgemeinschaft?

Mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Prioritäten in meinem Leben haben sich verschoben. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich darüber nachdenke, wie ich Paul die Situation erkläre. Ich hoffe auf Lillis Hilfe. Und die des Kleinen. Der stupst mich just in diesem Augenblick an. „Pippi machen?“, frage ich und werfe einen Blick auf die Uhr. Kurz nach halb fünf. Ich werfe meine Strickjacke über, schlüpfe in meine Sneakers und eile mit dem Welpen auf dem Arm nach draußen in den Hof. Es ist keine Menschenseele zu sehen. Mein Vierbeiner tapst ungeschickt durch die wild wuchernden Grasbüschel an der gepflegten Hausmauer und findet rasch Erleichterung. „Fein gemacht“, lobe ich ihn und ernte ein freudiges Schwanzwedeln.

„Watt issn dit?“, raunt mir Treudls durchdringendes Organ in den Ohren.

Ich zucke erschrocken zusammen. „Wonach sieht es denn aus?“, erwidere ich ergrimmt. „Guten Morgen, Herr Treudl.“

„Watt heißt hier Juten Morjen? Schaffen Se die Töle hier wech!“

Ich versuche es auf freundlicher Ebene. „Guten Morgen ist eine Begrüßungsfloskel, Herr Treudl. Sagt man so, wenn man eine gute Erziehung genossen hat.“

Er schaut mich an, als hätte er die Bedienungsanleitung eines koreanischen Videorekorders vor sich. „Watt ist los? Die Töle pinkelt hier allet voll!“

Tja, Leuten mit Vorschulabschluss ist halt einfach nicht zu helfen. „Herr Treudl“, ziehe ich die rechte Augenbraue nach oben und trete einen Schritt auf ihn zu, „wenn Sie nachts von Ihren Sauftouren heimkommen, pissen Sie doch auch regelmäßig gegen diese Hausmauer. Hab ich nicht recht?“

Allerdings! Treudl wird fahl. „Dit... dit...“, stottert er und tritt ebenfalls einen Schritt näher, „dit wissen aba doch die andern Nachbarn nich?“

„Noch nicht, nö“, bleibe ich völlig unbeeindruckt. „Herr Treudl“, füge ich dann versöhnlich an, „in drei Wochen sind wir hier sowieso draußen.“

Er räuspert sich und bietet mir eine Zigarette an. „Wissen Se, Frau Freund... wenn ick Ihnen mal watt unter uns Pfarrerstöchtern sajen darf, wa?“ Er zieht seinen Stiernacken ein und schaut sich vorsichtig um. Dann tritt er noch ein bisschen näher, igitt. „Ick hab ja so dit Jefühl, det meene Alte und Ihr Oller... also... dat da watt jelaufen iss.“

Ich nehme einen tiefen Zug aus der geschenkten Zigarette und schaue ihn bedauernd an. „Wie wahr, wie wahr. Da ist was gelaufen. Nämlich weg.“

„Hä? Watt?“

So blöd kann doch nicht mal der sein, oder? Eigentlich möchte ich ihn jetzt stehen lassen. Aber mein Welpe schnuppert sich gerade so begierig durch seine neu gewonnene Freiheit, dass ich Treudl über den Sachverhalt aufkläre.

„Und von die Kündigung hamm Se wirklej nüscht jewusst?“, fragt er, nachdem ich mit meinen Ausführungen abgeschlossen habe.

Ich schüttele den Kopf.

Er bietet mir eine weitere Zigarette an. „Wissen Se, watt?“

„Nee.“

„Na ja, die Wohnung kann ick Ihnen leida nich überlassen. Die hat sich meen Neffe jesichert jehabt. Und denn bekomm ick mächtich Ärjer, wenn ick... na ja... da iss nix zu löten.“

Was habe ich auch erwartet?

„Schon klar“, bemühe ich mich um einen gelassenen Tonfall.

Treudl schiebt sich den Zeigefinger ins rechte Nasenloch. Nachdem er gefunden, wonach er gesucht hat, rollt er den Popel zu einer Kugel und schnippt ihn über seine Schulter. „Ick jlobe, ick hätte da villeicht watt für Ihnen.“

„Bitte?“

Seine Mundwinkel zucken und zum ersten Mal sehe ich ihn lächeln. „Ne schöne Datsche im Jrünen. Müssn Se allerdings koofen. Aber ick könnte Ihnen ‘nen juten Preis machen, wa?“

„Ähm...“

Treudl winkt mit einer gönnerhaften Geste ab. „Überlegen Se erst ma. Ick kann Se ooch jerne später de Anschrift uffschreiben und die Schlüssl jeben, denn könnse ma kieken.“ Er verpasst mir einen freundschaftlichen Schubs mit dem Ellenbogen und deutet dann auf das tapsige schwarze Fellknäuel. „Wie heeßt denn der Kleene überhaupt?“

Ich bin völlig baff und muss erst mal meine grauen Zellen zur Arbeit auffordern. „Ähm, er hat noch keinen Namen. Ich habe ihn gestern Abend gefunden. Er ist an der Tankstelle ausgesetzt worden.“

„Ach, kiek mal an!“ Treudl geht keuchend in die Hocke. Bei seiner enormen Plauze sicher nicht einfach. „Da isser ooch so allene und unjeliebt wie wir zwee Hübsche, wa?“

Aha. Daher also die Freundlichkeit. Leidensgenossen wie wir müssen zusammenhalten, wa?

KAPITEL sechs

Zu meiner Überraschung klopft es gegen sechs an der Wohnungstür. Treudl überreicht mir Adresse und Preisvorstellung des angebotenen Anwesens. „Denn könnse vielleicht schon ma kieken...“, fügt er hinzu und tritt verlegen von einem auf den anderen Fuß.

Ich hadere einen Moment, dann siegt meine Höflichkeit und ich frage: „Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee, Herr Treudl?“

Sein Gesicht hellt sich schlagartig auf. „Jerne!“ Mit diesen Worten stapft er in die Küche.

„Oder lieber einen Mokka?“

„Mokka? Jerne, danke.“

Ich werfe den Wasserkocher an, was den Brühvorgang beschleunigt, und nehme schon wenige Minuten später ihm gegenüber Platz.

Treudl blickt verunsichert auf die kleine Tasse.

Ich beobachte ihn amüsiert. „Vorsicht, heiß“, warne ich. „Und nicht in großen Schlucken trinken, weil der Satz in der Tasse bleiben sollte. Knirscht sonst zwischen den Zähnen.“

Er grinst gequält. „Dit Haus wa einglich für meene Olle jedacht.“, presst er schließlich weinerlich heraus. „Sollte ’n Jeschenk sum Dreißigsten sein.“

Ich räuspere mich und stiere wortlos in das Innere meiner Mokkatasse, als ob darin die Lösung all meiner Probleme liegt.

Unaufgefordert schüttet mir Treudl sein Herz aus. Danach kann ich zwar nicht behaupten, dass ich es als angenehm empfinde, die vielen intimen Details seines Lebens und seiner Beziehung zu kennen. Aber unter diesem Aspekt tut er mir nun leid. Unendlich leid. Tag für Tag hat er sich den Arsch aufgerissen, um dann ebenso überraschend sitzen gelassen zu werden wie ich.

„Wissen Se“, meint er abschließend, „ick bin jetz durch damit und will die Hütte nur so schnell wie möglich ann Mann bringen. Verstehn Se dit?“

„Aber unbedingt“, schlucke ich und sehe auf, als sich die Schlafzimmertür öffnet.

Zerknautscht schlurft Paul in die Küche. „Morgen“, nuschelt er und lässt sich auf den nächstbesten Küchenstuhl sinken. Er stützt die Ellenbogen auf den Tisch, legt den Kopf in seine Hände und gähnt ausgiebig. Er realisiert weder Herrn Treudl noch den kleinen Hund, der langsam auf ihn zu tänzelt.

Ich stehe auf und küsse Pauls Stirn. „Mensch, Paul. Wieso bist du denn schon wach? Sind doch noch Ferien. Magst du Frühstück haben?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, hole ich Butter und Aufschnitt aus dem Kühlschrank. „Sie auch, Herr Treudl?“, frage ich wohlerzogen, aber dennoch hoffend, dass er ablehnt. Irgendwann ist ja mal gut.

Ich habe Glück. Treudl lehnt zu meiner Erleichterung ab und verabschiedet sich schnell. Den Kaffeesatz hat er allerdings doch mitgetrunken.

„War das eben der Treudl?“ Lilli blinzelt irritiert zur Wohnungstür. Sie sieht aus wie Betty Ford, bevor ihre Klinik errichtet wurde.

„Morgen, Kleine“, küsse ich auch ihre Stirn und mache mich wieder ans Frühstück. „Soll ich dir gleich etwas herrichten?“

Sie schüttelt schwach den Kopf und lässt sich erschöpft auf den Küchenstuhl neben Paul fallen. „Was wollte der denn?“, fragt sie mit neugierigem Blick auf die Unterlagen. „Was ist das denn?“

Mit einem Kopfnicken Richtung Paul bitte ich um Vertagung. „Können wir nach dem Frühstück darüber reden?“

„Nach dem Frühstück? Bist du denn zu Hause?“