Pummelfee - Frieda Roth - E-Book

Pummelfee E-Book

Frieda Roth

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Beschreibung

Frieda Roth. 1969 geboren, geschieden, in Vollzeit berufstätig und zweifache Mutter bereits erwachsener Söhne. Das Schreiben begleitet die tätowierte Indie-Autorin seit ihrer frühen Jugend, beginnend mit kurzen, später längeren Texten auf einer uralten Triumph Adler. In ihren Romanen verarbeitet sie Hoffnungen und Ängste auf eine ganz eigene, sehr persönliche Weise. Wichtig ist ihr, dass alle Geschichten mit einer satten Portion Humor versehen sind. Das Leben ist nämlich bunt. Mit ihrer Heiligen Birma Emil lebt sie in Südhessen und twittert täglich unter dem Account @dietantefrieda.

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Seitenzahl: 325

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Wenn sich das Leben in Worte fassen ließe, bräuchte es keine Kameras

Mein Name ist Fee. Fee Jupiter. Ich gebe Ihnen genau dreißig Sekunden, um verhalten zu grinsen, laut schallend zu lachen oder mitleidig zu seufzen. Letzteres könnte ich forcieren, indem ich weitere Details zu meiner Person preisgebe, wie beispielsweise die wolfsweißen Korkenzieherlocken, das kleine zweite Kinn und eine Konfektionsgröße, die irgendwo jenseits der Sechsundvierzig angesiedelt ist. Die dazu passende üppige Oberweite habe ich leider nicht. Hatte ich noch nie. Den unbändigen Lockenkopf sowie eine leicht adipöse Veranlagung hingegen schon, wobei mein Hintern überraschenderweise keinen Anlass zur Klage und es sogar den Ansatz einer Taille gibt. Noch.

Ich verbrachte die letzten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens überwiegend mit Warten. Bis mein dänischer Geliebter und Vater meines einzigen Sohnes mir mitteilte, dass er sich zur Ruhe und mich sozusagen vor die Tür setzen würde. Mit einem Schlag verliere ich meinen Partner, meinen Job und meine Wohnung.

Zuflucht finde ich in einer nicht ganz gewöhnlichen WG. Fernab meiner Vergangenheit, nah bei meiner Zukunft. Das Leben verlangt von uns sehr oft, dass wir Dinge wegstecken, für die wir keine Tasche haben. Aber da gibt es Menschen, die uns beim Tragen helfen und plötzlich ganz neue Perspektiven eröffnen. Aus einer Einzelgängerin wird ein Rudelmitglied, und aus Nils... Ach, das lesen Sie doch bitte lieber selbst, ja?

Pummelfee schließt an die Geschehnisse des Romans Schwesterherz aus dem Jahr 2013 an.

Das Manuskript aus dem Jahr 2014 wurde 2023 ohne bedeutende Änderungen überarbeitet.

Frieda Roth. 1969 geboren, geschieden, in Vollzeit berufstätig und zweifache Mutter bereits erwachsener Söhne.

Das Schreiben begleitet die tätowierte Indie-Autorin seit ihrer frühen Jugend, beginnend mit kurzen, später längeren Texten auf einer uralten Triumph Adler.

In ihren Romanen verarbeitet sie Hoffnungen und Ängste auf eine ganz eigene, sehr persönliche Weise. Wichtig ist ihr, dass alle Geschichten mit einer satten Portion Humor versehen sind. Das Leben ist nämlich bunt.

Mit ihrer Heiligen Birma Emil lebt sie in Südhessen und twittert täglich unter dem Account @dietantefrieda.

Weitere Veröffentlichungen:

ZIMTZICKE (2004)

FUNKENMARIE (2005)

DORNRESCHEN (2005)

MAMA MIA (2006)

VOLLE LOTTE (2007)

GLÜCKSKLEE (2008)

HERZBLATT (2011)

SCHWESTERHERZ (2013)

Mitwirkende

Fee Jupiter Fotografin, Photoartist | Alexanders Mutter

Mikkel Hansen Fotograf | Inhaber des Fotostudios in Köln

Nils Merveilleux(Schwesterherz) Frisör | Inhaber des Sechsundsiebzig

Alexander Ander(Schwesterherz) Barchef im Sechsundsiebzig | Fees Sohn

Joe (die Nadel) Tätowierer | Fees bester Freund

Nele Immertreu(Schwesterherz) Nils‘ älteste Halbschwester | in einer

Beziehung mit Leo

Leo (Poldi) Edel(Schwesterherz) in einer Beziehung mit Nele

Nina(Schwesterherz) Schülerin | Nils‘ Halbschwester | Aushilfe im

Sechsundsiebzig

Eve Jupiter Fees verstorbene Mutter

Lærke Hansen Fotografin | verheiratet mit Mikkel

Anneliese (Lissy) Schwarz(Schwesterherz) Tätowiererin | Neles

Seelenschwester

Nico(Schwesterherz) Anwalt für Familienrecht | Neles zweiter Halbbruder

Liam Jorgensen Chemiker

Jessika Fees ehemalige Klassenkameradin

Leif Fees ehemaliger Schulkamerad

Daniel Fotograf | Fees Kollege im Kölner Fotostudio

Almuth Ludgera Rautgundis von Harreshausen Kundin im Kölner

Fotostudio

Aushilfsservicekräfte im Sechsundsiebzig:

Maike, Bastian und Patrick

Außerdem mit dabei:

Hugo und Erwin(Schwesterherz) Chihuahuas

Bärbel(Schwesterherz) French Bully

Päng(Schwesterherz) Thai-Kater

Übersetzungen

Et kütt wie et kütt.

Es kommt, wie es kommt.

Et jitt Saache, do jläuvs et nit.

Es gibt Sachen, du glaubst es nicht.

Wenn et nit ränt, dann dröpp et.

Wenn es nicht regnet, dann tröpfelt es.

Jode Morje, ming Hätzleevje.

Guten Morgen, mein Herzliebchen.

Isch han disch jän.

Ich habe dich lieb.

Mach et joot, ming Jung.

Mach’s gut, mein Junge.

Ren-Rus-Fädich- en-unger- drei-Minute.

Rein-Raus-Fertig- in-unter-drei-Minuten

Et geiht mir god.

Es geht mir gut.

Kanonestopper

kleine, gedrungene Person

Mi leever Jung.

Mein lieber Junge.

Jode Dach.

Guten Tag.

Et es wie et es.

Es ist wie es ist.

Unn et kütt wie et kütt.

Und es kommt, wie es kommt.

Jode Morje.

Guten Morgen.

Ich ben esu stolz op dich.

Ich bin so stolz auf dich.

Jode Ovend.

Guten Abend.

Bisse jeck?

Bist du verrückt?

Für Alex.

Meine weltbeste Beste und Muse.

Für meine treuen Leser*innen.

Mein Antrieb.

Pummelfee [2014] Wenn sich das Leben in Worte fassen ließe, bräuchte es keine Kameras

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL eins

KAPITEL zwei

KAPITEL drei

KAPITEL vier

KAPITEL fünf

KAPITEL sechs

KAPITEL sieben

KAPITEL acht

KAPITEL neun

KAPITEL zehn

KAPITEL elf

KAPITEL zwölf

KAPITEL dreizehn

KAPITEL vierzehn

KAPITEL fünfzehn

KAPITEL sechzehn

KAPITEL siebzehn

KAPITEL achtzehn

KAPITEL neunzehn

KAPITEL zwanzig

KAPITEL einundzwanzig

KAPITEL zweiundzwanzig

KAPITEL dreiundzwanzig

KAPITEL vierundzwanzig

KAPITEL fünfundzwanzig

KAPITEL sechsundzwanzig

KAPITEL siebenundzwanzig

KAPITEL achtundzwanzig

KAPITEL neunundzwanzig

KAPITEL dreißig

KAPITEL einunddreißig

KAPITEL zweiunddreißig

KAPITEL dreiunddreißig

KAPITEL vierunddreißig

KAPITEL fünfunddreißig

KAPITEL sechsunddreißig

KAPITEL siebenunddreißig

KAPITEL achtunddreißig

KAPITEL neununddreißig

KAPITEL vierzig

KAPITEL einundvierzig

KAPITEL zweiundvierzig

KAPITEL dreiundvierzig

KAPITEL vierundvierzig

KAPITEL fünfundvierzig

KAPITEL sechsundvierzig

KAPITEL siebenundvierzig

KAPITEL achtundvierzig

KAPITEL neunundvierzig

KAPITEL fünfzig

Letztes KAPITEL

KAPITEL eins

Et kütt wie et kütt, sagt der Kölner. Er hat vermutlich Recht. Denn anders würde sich die groteske Abfolge persönlicher Schicksalsschläge und Niederlagen der vergangenen Woche weder erklären noch ertragen lassen.

Mein Name ist Fee. Fee Jupiter. Ich gebe Ihnen genau dreißig Sekunden, um verhalten zu grinsen, laut schallend zu lachen oder mitleidig zu seufzen. Letzteres könnte ich forcieren, indem ich weitere Details zu meiner Person preisgebe, wie beispielsweise die wolfsweißen Korkenzieherlocken, das kleine zweite Kinn und eine Konfektionsgröße, die irgendwo jenseits der Sechsundvierzig angesiedelt ist. Die dazu passende üppige Oberweite habe ich leider nicht. Hatte ich noch nie. Den unbändigen Lockenkopf sowie eine leicht adipöse Veranlagung hingegen schon, wobei mein Hintern überraschenderweise keinen Anlass zur Klage und es sogar den Ansatz einer Taille gibt. Noch.

Für meinen Namen – wie Sie sich sicher denken können – kann ich auch nichts. Hier liegt die Schuld gänzlich bei meiner bekloppten Mutter. Der weibliche Vorname Fee ist eine Variante von Fe, welche wiederum eine Kurzform von Namen wie Felizitas, Feodora oder Felia ist. Es hätte also auch schlimmer kommen können, nicht wahr?

„Du bist einzigartig, kleine Fee.“ Die Stimme meines Vaters klingt nach zehn Jahren noch immer klar in meinen Ohren. Obgleich ich es besser weiß (jeder stolzer Vater hält sein Kind schließlich für etwas ganz Besonderes – und falls es nicht so ist, läuft da definitiv was schief), möchte ich ihm gerne glauben, wenn ich in den Spiegel schaue. Da gibt es ein winziges Merkmal, das mich beinahe unverwechselbar macht.

Ich kam mit einer Irisheterochromie zur Welt. So bezeichnet man die Verschiedenheit beider Regenbogenhäute durch eine Störung der Pigmentierung. Betroffene haben folglich zwei verschiedene Augenfarben, erklärt uns in diesem Fall Wikipedia und informiert weiter: Die Form der Heterochromie, die keinerlei Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes und der Sehschärfe zur Folge hat, tritt in etwa vier Fällen unter einer Million Personen auf. Einer Million! Außerdem kommt Heterochromie beim Menschen relativ selten vor.

Meine rechte Iris ist taubenblau, die linke olivgrün. Es ist sehr amüsant, wie verwirrt ein Gegenüber zuweilen reagiert, wenn er mir in die Augen schaut.

Dennoch verdanke ich Fee in Kombination mit meinem Erscheinungsbild den Spitznamen Pummelfee. Und das seit frühester Kindheit. Ein Wunder, dass ich keinen bleibenden psychischen Schaden davongetragen habe. Zumindest nicht offensichtlich. Kinder können grausam sein ist also nicht nur so daher gesagt. Außerdem sind sie sensibel. Es wird Tote geben war ein Tippfehler, der dafür sorgte, dass niemand zu meinem zwölften Geburtstag kam. An dieser Stelle weise ich auf meine Vorliebe zur Ironie hin und danke demnach meiner durchgeknallten Mutter, die nicht nur zu dusselig für eine einfache Einladungskarte war, sondern mich sowohl mit diesem Namen, als auch einem Übermaß an Aufmerksamkeit in Form von Kalorien- und Fettbomben bedacht hat. Ich wäre inzwischen sicher geplatzt, hätte sie nicht frühzeitig ihrem Leben und demzufolge auch dieser Mast ein Ende gesetzt.

Das mag sich nun tragisch anhören, viel verstörender ist jedoch das Geständnis in Form eines Briefes, den ich beinahe auf den Tag genau dreißig Jahre nach ihrem Tod ausgerechnet in einem Kochbuch finde.

Kommen Sie doch einfach mal auf einen Sprung mit mir in die vergangene Woche:

„Sieht man mal von der gefüllten Salatgurke ab…“

„Gefüllte Salatgurke?“, unterbricht Mikkel unser Gespräch, das ich vermutlich sowieso nur mit mir selbst führe, ohne von der Fachzeitschrift aufzuschauen. „Hört sich doch nun gar nicht so verrückt an?“

Ich seufze. „Schätzelein? Die Füllung besteht aus Nougatcreme, Erbsen und Sesam. Noch Fragen?“

Mikkel hebt den Kopf. „Ähm... nein.“

Ich habe bereits erwähnt, dass meine Mutter sehr speziell war. In Charakter, Wahrnehmung, Lebenseinstellung. Und Geschmack eben auch.

„Aber hier ist etwas, das könnte durchaus... huch?“ Beim Durchblättern der weit über hundert handbeschriebenen Seiten rutscht ein Papier aus dem großen, alten Rezeptbuch, das dort nicht hineingehört. „Was ist denn das?“

„Hm?“

Ich lege das Buch zur Seite und streiche vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Tinte des Blatts. „Der ist von meiner Mutter.“

„Hmhm.“ Ich bezweifle, dass Mikkel mir überhaupt zuhört.

„Ein Brief.“

„Hmhmm.“

Ich taste im Regal nach meiner Lesebrille. „Der ist“, kneife ich die Augen zusammen, „der ist von ihrem Todestag.“

„Hmhmmm“, brummt Mikkel abwesend.

Seufzend stehe ich auf und gehe in den kleinen Wintergarten. An Kölns Himmel hängen dicke Schneewolken mit der Verheißung auf weiße Weihnachten. Leere Versprechen, wie so viel in meinem Leben, hämmert es in meinem Kopf und verstummt augenblicklich, als Mikkel mir folgt.

„Darling?“ Sanft streicht er mir über die Wange. „Was ist los?“

„Dieser Brief ist von Eve, meiner Mutter.“ Mit zittrigen Fingern reiche ich ihm das Stück Papier und lache humorlos auf. „Sie hat mal wieder vergessen, ihn mir zu geben. Sie hat ständig irgendetwas vergessen. Das Geld für die Klassenfahrt zu überweisen, mich vom Turnen abzuholen, einen Weihnachtsbaum zu kaufen, meinen Geburtstag…“

Mikkel legt seinen Arm um meine Schultern. Mit zusammengezogenen Augenbrauen liest er vor: „Liebste Tochter, kleine Fee…“

Liebste Tochter, kleine Fee,

sicher wunderst du dich, dass ich dir schreibe, schließlich bin ich ja schon tot.

„Oh. Mein. Gott.“ Stöhnend lasse ich mich in den Korbsessel fallen. Der Brief ist dreißig Jahre alt. Ich war zu diesem Zeitpunkt fast fünfzehn. Trotzdem sprach, respektive schrieb meine Mutter mir wie einem Kleinkind.

Mikkel räuspert sich und fragt stumm, ob er weiterlesen soll.

Ich nicke.

Du warst mein größtes Geschenk. Das Geschenk deines Vaters, der uns vor so vielen Jahren verlassen hat.

Ich weiß ja, dass meine Mutter einen an der Klatsche hatte. Aber so schlimm? Unwillkürlich schüttele ich den Kopf und lausche weiter Mikkels Stimme.

Vielleicht sollte ich dir das erklären.

„Könnte hilfreich sein“, knurre ich. Doch Mikkels Gesichtsausdruck verfinstert sich und ich sinke tiefer in den Sessel.

Vielleicht sollte ich es aber auch lassen.

Ich stöhne und habe im Grunde jetzt schon genug von ihrem gestörten Monolog aus der Vergangenheit. Dennoch reiße ich mich zusammen.

Es würde ohnehin nur wie eine billige Ausrede klingen. Du bist jetzt fast fünfzehn und hast bereits deinen eigenen Kopf. Einen sehr hübschen noch dazu. Das muss ich dir sagen. Denn du ähnelst von Tag zu Tag mehr deinem Vater. Seiner weichen, sanften Seite.

Fee, mein Kind, der Name deines leiblichen Vaters ist Ever Faithful. Er war Leadsänger einer Rockband und hat mich verlassen, bevor ich ihm sagen konnte, dass du unterwegs bist. Er hat mich verlassen, weil eine andere Frau von ihm schwanger war. Auch er ist schon tot und ich bin nun bei ihm. Aber du hast noch irgendwo einen Halbbruder oder eine Halbschwester, der oder die auch Halbwaise ist. Obwohl du, genau genommen, inzwischen ja Vollwaise bist.

Wie dem auch sei: Claus wird sich um dich kümmern, so wie er es all die Jahre getan hat, obwohl er wusste, dass du nicht seine leibliche Tochter bist.

Ich liebe dich, mein Kind, und werde dich immer lieben. Auch wenn ich jetzt tot bin.

Frage nicht nach dem Grund. Mir war einfach danach.

Wir sehen uns irgendwann im Himmel wieder, Mama

Mein Kopf ist wie leergefegt.

„Mir war einfach danach?“ Mikkel überfliegt die Zeile mehrmals und schüttelt fassungslos den Kopf. „Deine Mutter hat sich nicht wirklich aus einer Laune heraus“, er betont die letzten Worte, „das Leben genommen? Das kann ich nicht glauben.“

„Doch“, widerspreche ich. „Kannst du. Das passt zu ihr. Eve hat mal aus einer Laune heraus Heiligabend gefeiert. Mit Baum und Geschenken und Festbeleuchtung. Im April. Brauchst du noch mehr Beispiele?“

„Danke, nein.“

„Et jitt Saache, do jläuvs et nit“, sage ich und meine damit, dass es Dinge gibt, die man nicht glauben kann. Oder möchte. So wie ich gerade. Mein Vater ein Rocksänger, der zwei Frauen gleichzeitig geschwängert hat? Und Claus wusste es die ganze Zeit?

Bitter enttäuscht von dem Mann, den ich fast fünfundvierzig Jahre für meinen Vater hielt, und völlig überfordert mit der Information über meine wahre Herkunft, sinke ich in mich zusammen.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragt Mikkel nach einer langen Weile.

Den Kopf in den Händen vergraben, schiele ich mit meinem grünen Auge durch Zeige- und Ringfinger. „Was soll ich schon tun? Alle, die etwas damit zu tun haben, sind tot. Soll ich auf ihr Grab pinkeln?“

„Nun werde nicht gleich wieder so vulgär.“

Ich rolle hinter vorgehaltenen Händen mit den Augen.

„Du brauchst auch nicht mit den Augen zu rollen“, tadelt Mikkel.

„Tu ich doch gar nicht.“

„Tust du wohl! Also? Was ist mit dem Rest deiner Familie?“, lässt er nicht locker. „Wirst du es wenigstens deinem Sohn sagen?“

Sofort straffen sich meine Schultern und die rechte Augenbraue schnellt nach oben. Ein Reflex meines Körpers, mit dem mein Geist im Grunde nichts zu tun hat. „Es ist auch dein Sohn, Mikkel. Und ich weiß nicht, was er damit zu tun hat“, erhebe ich die Stimme. „Alexander hat seinen Opa... hat Claus fünf Mal gesehen. Das ist bereits fünf Mal mehr als er jemandem aus deiner Familie begegnet ist.“

„Fee, das ist jetzt nicht Thema“, grollt Mikkel. „Darüber können wir gerne ein anderes Mal sprechen.“

Manche Gespräche sind so zielführend wie zwei Tage Kreisverkehr. Wie jene, in denen es um Mikkel und Alexander geht. Um Lærke und um mich. Gespräche, die ihren Anfang bereits vor fünfundzwanzig Jahren genommen haben und bei denen wir noch immer auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen sind.

Entschuldigen Sie bitte. Ein paar Fußnoten wären an dieser Stelle sicher angebracht, damit Sie mir folgen können. Also mal aufgepasst:

Nach meiner Ausbildung zur Fotografin fand ich Ende der achtziger Jahre prompt eine gut bezahlte Anstellung in einem Fotostudio, das sich in Kölns Villensiedlung Marienburg schnell etabliert hatte, und zog um. Inhaber des Studios war der enorm ehrgeizige und zudem verdammt gutaussehende Däne Mikkel Hansen. Seine Frau Lærke erwartete bereits ihr zweites Kind und fiel demnach erneut als Mitarbeiterin aus. So kam meine Bewerbung genau zur rechten Zeit, wenn auch nicht von ungefähr. Achtung! Es folgt ein Schachtelsatz: Mikkel erkannte mein naturgegebenes Talent und finanzierte mir Ende der Neunziger sogar eine dreijährige Ausbildung zum Photoartist an der Photoacademy in Berlin, während derer mir innerhalb der Unterrichtsfächer das theoretische und praktische Wissen sowie neben dem handwerklichen Fotografieren in verschiedenen Bereichen auch wirtschaftliches Denken und kreatives Gestalten am Computer vermittelt wurde. Fertig! Mikkel, zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens bereits Ende dreißig, setzte gezielt seinen Charme ein und hatte mich, damals gerade neunzehn geworden, spielend um den Finger gewickelt. So wurde ich die Mätresse meines Arbeitgebers und nur wenige Wochen später von selbigem schwanger. Noch zwei Tage vor der Entbindung und bereits drei Monate danach stand ich im Studio. Unseren Sohn Alexander stets an der Seite.

Mikkel fand inzwischen einen Alibivater, um unser Verhältnis nicht auffliegen zu lassen. Beenden wollte er es keinesfalls. Seine Ehe allerdings auch nicht. Der Chauffeur der Familie, Per Ander, galt offiziell als Alexanders Erzeuger, wurde als solcher eingetragen und mager abgefunden. Viel hatte er sowieso nicht davon, da er den gesamten Betrag in einen Porsche 928 investierte, mit dem er nur wenige Tage später verunglückte.

Lange Rede, kurzer Sinn. Ich führe seit fünfundzwanzig Jahren eine Beziehung mit meinem Chef, von der niemand etwas weiß. Außer uns und unserem gemeinsamen Sohn, der gerade zweihundertdreißig Kilometer entfernt als Barchef arbeitet.

Eine ganze Weile schweigen Mikkel und ich. Dann räuspert er sich, was ich mit einem verkniffenen Blick kommentiere.

„Darling“, haucht er und tastet nach meiner Hand. „Wann gibt es Essen?“

Zwanzig Minuten später stelle ich seinen Teller scheppernd auf dem Wohnzimmertisch ab. Mir selbst ist der Appetit vergangen. Auch nicht das Schlechteste, wenn man ohnehin schon zu viel auf den Rippen hat.

„Darling“, räuspert sich Mikkel erneut und ich bin versucht, ihm ein Hustenbonbon in den Rachen zu schießen. Mit einer Zwille. Aus fünf Zentimetern Entfernung. „Darling, was ist das?“

„Das?“ Völlig unbeteiligt werfe ich einen kurzen Blick auf den Teller. „Das ist Brät vom Schwein mit Stäbchen von der Kartoffel an Tomaten-Curry-Jus.“

„Bitte, was?“ Mikkel rümpft die Nase und sieht mich scharf an. „Das ist nicht dein Ernst, Fee.“

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Nein. Das ist deine Currywurst mit Pommes. Mikkel.“

Widerwillig nimmt er Messer und Gabel zur Hand. „Und du? Isst du nichts?“

„Nein.“

„Und warum nicht?“

Was für eine blöde Frage. Selbst ein Emotionslegastheniker würde wissen, dass mir die Offenbarung meiner Mutter gerade schwer im Magen liegt.

Ich werde wütend. Das ist so ein Prozess, den kann ich einfach nicht steuern. Bis ich bemerke, dass ich wütend bin, platzt mir bereits der Kragen. Außenstehende stellen den aufkeimenden Zorn früher fest – an den roten Flecken auf meiner Stirn.

Und genau die fallen Mikkel just in diesem Moment auch auf. „Du bist sauer, Darling. Das sehe ich dir an.“

„Ich? Sauer?“ Ich schüttele trotzig den Kopf „Überhaupt nicht. Ich habe so gute Laune, ich könnte glatt Pflastersteine werfen.“

Er seufzt, schiebt den Teller von sich und steht auf. „Ich denke, Darling, ich werde jetzt besser gehen.“

„Denke ich auch“, stimme ich tonlos zu.

KAPITEL zwei

Wenn et nit ränt, dann dröpp et, sagt der Kölner und hat wohl auch damit Recht. Selbst wenn ich persönlich diese Lebenseinstellung für übertrieben pessimistisch halte. Nicht immer läuft im Hintergrund bereits etwas schief, während wir uns an der Front noch in niemals enden wollender Glückseligkeit wähnen. Aber manchmal...

Nachdem ich gestern Abend meinen Frust mit einer Flasche Rotwein hinuntergespült und heute Morgen mit zusammengekniffenen Augen einen Blick in den Spiegel geworfen habe, beschließe ich, den Samstag im Bett zu verbringen. Zumindest überwiegend und nicht ganz allein.

Auf dem Weg vom Bad zurück ins Schlafzimmer klemme ich mir mein MacBook unter den Arm und versorge mich gleich mit einer Regentonne Milchkaffee. Die Unordnung des gestrigen Tages ignoriere ich. Stört schließlich niemanden. Mikkel wird frühestens in zwei Tagen wieder hier auflaufen. Oder drei. Oder vier. Oder fünf. Und ich werde da sein. Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich in einer Warteschleife.

Das Gehirn ist eines der bedeutendsten Organe. Es arbeitet vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Vom Beginn deines Lebens bis zum Augenblick, in dem du dich verliebst. Wollte ich nur mal gesagt haben.

Ich habe mir mein Leben so nicht gewünscht, niemals vorstellen können. Im Grunde verachte ich es sogar. Tobe classified top secret. Mein Privatleben unterliegt seit beinahe einem Vierteljahrhundert höchster Geheimhaltungsstufe. Als ob Mikkel Präsident der Vereinigten Staaten wäre, oder so. Dabei ist er nichts weiter als ein Migrant, der es dank seines Talents und nicht minder seines Charmes zu einem gewissen Status in der Gesellschaft, hohem Ansehen und einem stattlichen Vermögen gebracht hat. In der Öffentlichkeit tritt er als treusorgender Ehemann und liebender Vater von sage und schreibe sieben Kindern auf und präsentiert sich und seine Familie mit Stolz.

Alexander und ich hingegen werden gehütet wie sein verborgener Schatz. Hinter den Mauern eines Zuhauses, das wie ein Turm anmutet. Der Fassade eines hochgeschätzten Dienstverhältnisses. Erst mit sechzehn klärten wir Alexander darüber auf, dass Mikkel – zu dem er bis dahin und heute eine ungefähr so enge Bindung hat wie ich zur Wurstverkäuferin des Supermarkts von nebenan – sein leiblicher Vater ist. Zu diesem Geständnis ließ Mikkel sich nur hinreißen, weil wir ohnehin nach außen völlig abgeschottet sind. Ich habe weder eine beste Freundin noch war ich jemals im Elternbeirat. Für Köln und den Rest der Welt existiere ich nur am Rande. Mein ganzes Leben besteht aus meinem Sohn, meiner Arbeit und dem Warten auf Mikkel.

Liebe macht blind. Und vermutlich auch blöd. Ich habe nie hinterfragt, warum ich dieses Leben führe. Weder Mikkel noch mich selbst. Ich bin den Weg des geringsten Widerstandes und der höchstmöglichen Bequemlichkeit gegangen, habe akzeptiert, resigniert und mir selbst eingestanden, meiner Mutter nicht ganz unähnlich zu sein: Auch wenn ich es mir bis heute nicht vorstellen kann, habe ich noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, irgendwann offiziell die Frau an Mikkels Seite zu sein. Das nenne ich echt bekloppt.

Als Alexander noch klein war, keimte manchmal das schlechte Gewissen in mir auf. Doch mein Sohn wischte es jedes Mal mit einem Lächeln und den Worten: „Mama, wir haben doch uns!“ beiseite. Selbst, als er mit sechzehn die Wahrheit erfuhr, nahm er es ganz gelassen hin. Er hatte mich und mehr brauchte er nicht.

Inzwischen ist aus meinem kleinen Sonnenschein ein wirklich possierliches Exemplar der Spezies Mann geworden. Das sage ich als Mutter natürlich nicht ohne Stolz. Hochgewachsen und von der Statur eines Personaltrainers. Er teilt meine Leidenschaft für Tattoos, und mit seinem kahl geschorenen Kopf, dem Dreitagebart und dem spitzbübischen Lächeln ist er eine gelungene Mischung aus Vin Diesel und Dwayne 'The Rock' Johnson. Alex’ Augen sind wie die seines Vaters in warmem, tiefem Schokoladenbraun und haben zu meinem Leidwesen bereits einige Frauenherzen zum Schmelzen gebracht. Ich fürchte, inzwischen sind es bereits weit mehr geworden.

Seit einem halben Jahr arbeitet Alexander im zweihundertdreißig Kilometer entfernten Sechsundsiebzig als Barchef und fühlt sich dort pudelwohl. Ursprünglich war das Sechsundsiebzig ein Kaufhaus – mit großer Glasfront, einem Lager, Aufenthaltsraum und Büro. Alexanders Chef schloss eine Marktlücke, indem er den alten Laden renoviert und so umgebaut hat, dass sich in vorderster Front ein Café mit Bar befindet, während der Lagerraum zum Frisörsalon und der Aufenthaltsraum zu einem Kosmetikstudio umgewandelt wurde. All das hatte in dieser ländlichen Gegend bis dato gefehlt und schlug ein wie eine Bombe. Der Laden läuft gut und Alexander verdient nicht schlecht, zumal er zusätzlich in einem Fitnessstudio arbeitet und ab und an als Türsteher aushilft. Er möchte sich orientieren und ausprobieren. Mit vierundzwanzig und einer geduldigen Mutter darf man das.

Aber wo war ich stehen geblieben? Ah! In der Küche bei meiner extragroßen Portion Kaffee, mit der ich nun zurück ins Schlafzimmer schlendere. Im Schneidersitz mache ich es mir auf meinem Bett bequem und schalte das MacBook ein.

Denken ist wie Googeln. Nur krasser. Ich habe mich gestern Abend nicht nur in Selbstmitleid gesuhlt und am Rotwein gelabt, sondern neben dem kompletten Rezeptbuch auch den Brief meiner Mutter im Ofen verbrannt. Jetzt versuche ich verzweifelt, mich an den Namen meines Erzeugers zu erinnern.

Die Rädchen in meinem Kopf ächzen, bevor sie sich in Bewegung setzen und nach einer gefühlten Ewigkeit einrasten. Gestern Abend noch habe ich die Beichte meiner Mutter als Ergebnis ihrer üblichen Hirngespinste und Fantasien abgetan. Heute jedoch tun sich leichte Zweifel auf. Warum auch immer. Bevor ich also endgültig einen Schlusspunkt hinter diese Angelegenheit setze, möchte ich die Herren Page und Brin befragen. Ich tippe Ever Faithful ins Googlesuchfeld und halte die Luft an. Doch alles was ich finde, ist der Titel eines Buches über Kuba im neunzehnten Jahrhundert sowie Amirelli Ever-Faithful, Bundesjugendsieger und Australien Terrier. Beide Ergebnisse führen definitiv nicht zu meinem Vater. Und sie führen weder dazu, mich von seiner einstigen Existenz zu überzeugen noch mit der ganzen Sache abzuschließen.

Bevor ich mir weiterhin meinen heute ohnehin angeschlagenen Kopf zerbrechen kann, geht ein Anruf über Skype ein.

„Jode Morje, ming Hätzleevje“, krächze ich.

„Mum?“ Alexander sitzt mit freiem Oberkörper vor seinem Laptop. „Bist du krank?“

Ich schüttele den Kopf. „Nur zu spät ins Bett gegangen.“

„Seit wann bist du heiser?“

„Keine Ahnung. Habe mich heute noch nicht mit mir unterhalten.“

Alex seufzt. „Mum, ich müsste mal... hmpf!“ Er wird von einer relativ sparsam bekleideten Dame Anfang Vierzig unterbrochen, die durchs Bild hüpft und ihn stürmisch küsst.

Ich seufze auch.

Alex fuchtelt mit den Armen, als würde er einen Schwarm Fliegen verscheuchen wollen, dann schnaubt er: „Frühstück war nicht inklusive.“

Im Hintergrund höre ich es zetern und scheppern. Dann knallt eine Tür.

Ich räuspere mich. „Das war nicht fein, ming Jung.“

„Mum, wir hatten Sex vereinbart. Von Übernachten war nicht die Rede.“ Er klingt tatsächlich entrüstet. „Ich bin ihr also schon entgegengekommen. Und jetzt erwartet sie auch noch Frühstück? Dreist, oder?“

„Selbstverständlich, Sohn. So geht das natürlich nicht.“ Meine Stimme trieft vor Ironie. Oder dem, was davon noch übrig ist. „Wo kämen wir denn hin, wenn jede Frau nach dem Sex noch kuscheln oder gar zum Frühstück bleiben würde?“

„Du sagst es“, zwinkert er schelmisch und wird dann ernst. „Mum, ich will mit dir reden. Ich habe eine nette kleine Eigentumswohnung gefunden. Hier.“

„Ah!“ Mir war ja klar, dass Alex irgendwann einmal ausziehen würde. So eng und innig unsere Bindung auch ist. Mein Sohn ist vierundzwanzig. Was soll ich sagen? „Das ist toll. Ich freue mich für dich.“

Oje, am liebsten würde ich mich an seine Beine klammern und heulen: Lass mich nicht allein, ming Jung! Aber weder tue ich das noch gebe ich es zu.

„Du freust dich?“ Alex runzelt die Stirn und fixiert mich durch die Webcam. „Mum? Du würdest dich doch jetzt am liebsten an meine Beine klammern und heulen: Lass mich nicht allein, ming Jung! Gib es zu.“

Ich schüttele den Kopf und schlucke den Klos in meinem Hals hinunter, der immer dicker wird. „Also bitte! Wo denkst du hin?“

„Mum?“

„Hm?“

„Isch han disch jän.“

„Ich liebe dich auch, Alexander“, schluchze ich und breche dann in Tränen aus.

KAPITEL drei

Ich glaube, ich bin jetzt doch krank. Alexander wird definitiv an der Bergstraße bleiben. So sehr ähnele ich meiner Mutter nun nicht, dass ich mir etwas anderes einreden könnte.

Seit meiner Anstellung in Mikkels exquisitem Fotostudio lebe ich (natürlich nicht offiziell) mietfrei in einer Mitarbeiterwohnung. Er hat zudem alle größeren Ausgaben für unseren Sohn übernommen. Ob das nun die Beiträge für den privaten Kindergarten oder die Privatschule waren, Klassenfahrten oder Führerschein. Nach Alexanders Geburt legte Mikkel ein Sparkonto an, das zu dessen fünfundzwanzigstem Geburtstag fällig wird. Und genau davon, vermute ich, wird Alexander die Eigentumswohnung bezahlen. Ich vermute weiter, dass Mikkel es keineswegs bedauert, seinen unehelichen Sohn so weit wie möglich entfernt zu wissen. Mir allerdings bricht es das Herz.

Nachdem Alexander gut zwanzig Minuten damit verbracht hat, meinen Tränenfluss verbal zu stoppen (es hat übrigens nicht funktioniert, meine Drüsen waren nur einfach irgendwann mal leer), verabschieden wir uns.

„Mach et joot, ming Jung.“

„Mache ich, Mum“, versichert er mir. „Und du versprichst mir, nicht mehr zu weinen.“

„Ja“, antworte ich und schüttele den Kopf.

Alexander seufzt betrübt, dann bricht unsere Verbindung ab.

Wieso habe ich in meinem Bett keinen Empfang, während Terroristen Videos aus Höhlen in Afghanistan hochladen können?

Zornig schalte ich das MacBook aus, krame in der Nachttischschublade nach einer Kopfschmerztablette, die ich mit Milchkaffee hinunterspüle, und vergrabe mich dann unter meiner Bettdecke.

Gegen halb vier werde ich von dem unangenehmen Gefühl geweckt, mich wund gelegen und einen vollen Tag meines Lebens verplempert zu haben. Ich hasse Nichtstun. Und ich habe es auch nie gelernt. Entweder musste ich die kleinen und mittleren Katastrophen meiner Mutter beseitigen oder... nun ja... eigentlich war ich bis zu ihrem Tod mit nichts anderem beschäftigt.

Ich schlüpfe in Fellstiefel und Daunenparka, schnappe meine Nikon und mache mich mit wachen Augen gemächlichen Schrittes auf den Weg zur Marienburg, so wie ich es früher oft mit Alexander getan habe. Die Marienburg ist eine Villa im Kölner Stadtteil Marienburg, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts errichtet wurde. Sie ist namensgebend und war Ausgangspunkt für die Entstehung dieses Stadtteils und Villenvorortes. Und sie liegt im äußersten Südosten inmitten einer Parkanlage, rund hundertachtzig Meter vom Rheinufer entfernt. Heute dient die Villa nach einer vollständigen Renovierung als Managerschule. Vor dem Haupteingang steht ein denkmalgeschützter Schalenbrunnen mit Putten, den ich bereits unzählige Male und aus allen erdenklichen Perspektiven fotografiert habe.

Auch jetzt stehe ich wieder davor, blicke auf die Marienburg und die Villen um mich herum und denke: Was tust du hier eigentlich, Fee? Keine Frage, ich habe Köln im Allgemeinen und Marienburg im Besonderen nach nunmehr fünfundzwanzig Jahren ins Herz geschlossen. Ich habe hier meinen Sohn geboren und großgezogen. Ich habe einen hervorragenden Job und eine hübsche kleine Wohnung. Aber habe ich ein Zuhause? Habe ich ein Leben? Oder richtet sich mein Dasein einzig nach Mikkels Bedürfnissen?

Gänzlich in trüben Gedanken versunken und nicht einmal die Schönheit des Rheinufers wahrnehmend, dringt ein Ruf in mein Ohr.

„Fee? Fee?“ Schritte knirschen. „Guten Abend. Hallo-hooo!“

Ich schaue auf. Mikkel und Lærke kommen Arm in Arm auf mich zu geschlendert. Tja. Was habe ich von einem gebrauchten Tag auch anderes erwartet?

„Wie geht es Ihnen, Fee?“ Lærke reißt ihre meerblauen Augen so weit auf, dass die Wimpern fast an den Brauen kleben bleiben, und rubbelt fürsorglich über meinen Arm. „Hach, ist Ihnen nicht kalt?“

Ich schüttele befangen den Kopf. „Guten Abend, Lærke. Mikkel.“

Es ist nicht das erste Mal, dass ich Mikkel und Lærke gemeinsam begegne, ihnen und dieser vertrauten Zweisamkeit eines schon lange verheirateten Paares. Immer wieder schmerzt es aufs Neue. Heute jedoch rührt sich Groll statt Weh in meiner Brust. Nicht auf Lærke, weil sie den von mir so begehrten Platz einnimmt. Auch nicht auf Mikkel, der – seinem Gesichtsausdruck zu entnehmen, wurde es ihm gleichsam bewusst – ausgerechnet an unserem fünfundzwanzigsten Jahrestag seine Gattin schick zum Essen ausführt. Der Groll richtet sich gegen mich selbst.

Dass mein Leben nicht das ist, was ich mir gewünscht habe, weiß ich schon lange und habe es akzeptiert. Bis heute. Warum auch immer, wird mir just in diesem Moment bewusst, wie unzufrieden ich wirklich bin. Allerdings ist jetzt ein extrem ungünstiger Zeitpunkt für eine derartige Erkenntnis.

Während Lærke unermüdlich auf mich ein plappert, beginnt meine Unterlippe zu zittern. Ein Warnsignal, so subtil wie das erste Zittern der Kontrollanzeige eines Kernkraftwerks. Mikkel ist deutlich im Nachteil, weil die übliche Früherkennung eines Wutausbruchs meinerseits dieses Mal ausbleibt. Sie erinnern sich doch an die Rotfärbung meiner Stirn, oder?

Während Mikkel seinen Blick starr auf einen Punkt über meiner Schulter richtet, betrachte ich den Mann, den ich schon so lange begehre.

Begierde oder Begehren bezeichnet den seelischen Antrieb zur Behebung eines subjektiven Mangelerlebens mit einem damit verbundenen Aneignungswunsch eines Gegenstandes oder Zustandes, welcher geeignet erscheint, diesen Mangel zu beheben, erklärt mir Wikipedia.

Aha. Begehre ich Mikkel also nur, weil ich einsam bin? Forciert er dieses Gefühl schon immer und ganz bewusst, indem er mich beinahe vollständig von meinem sozialen Umfeld abschottet? Richtunggebend für den seelischen Antrieb sind beim Begehren schließlich die damit verbundenen geistigen Faktoren, also Emotionen, Fantasien und Wünsche, beziehungsweise die Erfüllung dieser Bedürfnisse. Ich warte, bis er kommt. Ich leide, wenn er geht. Und das Dazwischen gleicht nach all den Jahren einem Alltag, der nicht alltäglich ist. Gute Güte, ich glaube, ich zeige bereits Ansätze logischen Irrsinns!

Wortfetzen wie „...keine Verpflichtungen mehr...“ und „...wohlverdienter Ruhestand...“ sowie „...Dänemark...“ reißen mich jäh aus meinen Gedanken.

„Ich sagte zu Mikkel“, Lærke legt ihre mit edlem Peccaryleder behandschuhte Linke auf meinen Arm, „dass es doch eine hervorragende Idee wäre, wenn Sie das Geschäft in seinem Sinne weiterführen würden. Schließlich sind Sie seine intimste Mitarbeiterin.“

Ich blinzle verwirrt. Blöd, wenn man nicht aufpasst. Hätte ich das, wüsste ich zum einen, wovon Lærke verdammt noch mal spricht, und mir wäre zum anderen aufgefallen, dass Mikkel nervös die Fingerkuppen aneinander tippt.

„Unser Tisch wartet“, merkt er an und räuspert sich eindringlich.

Lærke stöhnt gespielt auf. Sie lächelt mich um Nachsicht bittend an. „Immer wartet irgendetwas oder irgendjemand auf ihn“, seufzt sie und streichelt seine Wange.

Mikkel lächelt gequält.

„Ja. So ist es wohl“, wiederholt Lærke. „Nicht wahr, Fee?“

Mikkel widerspricht und die beiden beginnen unvermittelt eine Diskussion, bei der ich völlig außen vor bleibe. Und auch bleiben will.

„Aber wenn es doch so ist“, beharrt Lærke. „Das sehen Sie doch genau so, Fee? Nicht wahr?“

An manchen Tagen wünsche ich mir, ich wäre noch im Kindergarten. Im Sandkasten. Zack! Schippe übern Kopf und Ruhe ist. Stattdessen nicke ich nur.

„Nun denn, das hat glücklicher Weise bald ein Ende. Wissen Sie, Fee?“

Ich kann sehen, wie Mikkel trotz Minusgraden wegen der ungebremsten Mitteilsamkeit seiner Gattin Schweißperlen auf die Stirn treten.

„In Dänemark“, klärt sie mich auf, „ticken die Uhren anders. Natürlich wird sich Mikkel erst einmal daran gewöhnen müssen, aber...“

„Darling“, fällt er ihr barsch ins Wort. „Wenn wir jetzt nicht gehen, können wir auch gleich den Pizzaservice kommen lassen. Und das wollen wir doch nicht, oder?“

Ich schaue von meinem Geliebten zu seiner Frau. Ich will schon. Exakt aus diesem Grund – wie ich mir erfolgreich einrede – verabschiede ich mich höflich, rufe noch auf dem Heimweg den italienischen Bringservice an und falle eine halbe Stunde später mit einer Hawaii aufs Sofa.

KAPITEL vier

„Guten Morgen, Mikkel.“ Mein Tonfall lässt erkennen, dass nach der gestrigen Begegnung und damit einhergehend neuer Erkenntnisse, ein unangenehmes Gespräch unumgänglich ist. „Wir müssen die Urlaubsplanung durchgehen.“

Er weiß genau, wovon ich rede, und schaut demonstrativ auf die Uhr. „Ich schlage vor, Fee, wir besprechen das zu einem späteren Zeitpunkt.“ Leiser fügt er hinzu: „Neunzehn Uhr.“

Widerstrebend stimme ich zu und tue, was ich am besten kann: Auf Mikkel warten.

Ohnehin habe ich heute einen prall gefüllten Terminkalender. Neun Familien möchten in vorweihnachtlicher Glückseligkeit abgelichtet werden, um unter der behängten Tanne Freude zu bereiten und den Eindruck einer heilen Welt vermitteln.

Fotografie ist mein Leben. Ich fotografiere alles mit inniger Leidenschaft, höchstem Interesse, Inbrunst und dem Ehrgeiz, sowohl den perfekten Moment als auch die perfekte Perspektive zu erwischen. Vom Krabbelkäfer bis zum Riesensaurier, vom Säugling bis zum Greis, vom Big Apple bis zur Wüstenlandschaft, von den Slums bis zur Fashion Week. Im Moment jedoch wünsche ich mir nichts sehnlicher, als diesem Friedefreudeeierkuchen zu entkommen und ein ehrliches Shooting bei Joe zu machen.

Joe. Auch Joe, die Nadel genannt, macht seinen Job genau so wie ich meinen mache. Mit Herz und Seele. Im Unterschied zu mir sorgt er jedoch eigenhändig für Motive. Seit drei Jahrzehnten verdingt er sich als Tätowierer und macht einen verdammt guten Job. Sein Name ist über die Grenzen hinaus bekannt, seine Arbeit geschätzt. Bei ihm haben ein paar wenige, ausgesuchte Tätowierer das Handwerk gelernt und führen inzwischen eigene gutgehende Studios. Er selbst lebt und arbeitet in einem alten Fabrikgebäude. Die riesige, mehrstöckige Immobilie hat Joe in Wohn-, Arbeits- und Eventbereich aufgeteilt.

Joe und ich lernten uns 1999 durch einen gemeinsamen Kunden kennen und schätzen. Der bat um eine Fotoserie, die ihn als raubeinigen, coolen Typen in Szene setzen sollte – in halboffenen Jeans, freiem Oberkörper (er konnte es sich wahrlich leisten), unrasiert und mit zerzaustem Haar sowie einer beeindruckenden Maschine, für die er nicht einmal einen Führerschein besaß. Das Motorrad war eine freundliche Leihgabe von Joe. Genau wie die Kulisse. Ich fotografierte an diesem Tag mit einer D1, seinerzeit die erste von Nikon selbst entwickelte digitale Spiegelreflexkamera für professionelle Fotografen. Sie war gerade auf den Markt gekommen und ich stolz wie Bolle. Um Joe, den ich auf Anhieb mochte, ein wenig zu beeindrucken, setzte ich vor allem die Tattoos des Kunden geschickt in Szene – und hatte Erfolg. Wir wurden Geschäftspartner und enge Freunde. Ich bin seine offizielle Haus- und Hoffotografin, er ist die einzige Schulter, an der ich mich ausweinen kann.

Passen Sie mal auf:

„Wenn du alt bist und jemand fragt, wer deine größte Liebe war“, sagte Joe erst letzte Woche zu mir, „willst du doch nicht das Fotoalbum suchen, sondern dich umdrehen und sagen Da sitzt er. Oder?“

Ich sah zu Boden, weil er nicht merken sollte, dass in meinen Augen Tränen brannten. „Es gibt kein einziges gemeinsames Foto von Mikkel und mir“, erwiderte ich trotzig.

„Und deine größte Liebe ist er auch nicht.“

„Hhpp…“

„Ach, halte die Klappe, Fee“, schnauzte Joe und machte eine abweisende Geste. Dann klopfte er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Seit fünfundzwanzig Jahren redest du dir das ein. Meine Güte“, schimpfte er sich allmählich in Rage. „Du warst ein junges, dummes Mädel und er ein reifer, geiler Geldsack.“

Ich schoss vom Sessel hoch. „Du willst mir doch nicht ernsthaft unterstellen, ich hätte mich kaufen lassen?“

Joe schüttelte den Kopf. „Beeindrucken. Du hast dich beeindrucken und benutzen lassen. Und benutzen lässt du dich immer noch. Erst ging es um den Kleinen, jetzt ist es Gewohnheit.“ Als ich etwas einwenden wollte, nahm er meinen Wuschelkopf in seine vollständig tätowierten Hände und legte die Stirn gegen meine. Sein Ton wurde sanfter. „Du hast ein anderes Leben verdient, Fee. Du bist ein unglaublich begabter, kreativer, erfolgreicher Mensch. Wo ist dein Selbstwertgefühl? Dein Spaß am Leben?“

Ich befreite mich aus seinem Griff. „Mein Spaß am Leben? Mein? Spaß? Am Leben? Ich sage dir mal etwas, Joe.“ Mein erhobener Zeigefinger berührte seine Nasenspitze. „Wenn du eine bekloppte Mutter gehabt hättest, deren Irrsinn du tagtäglich beseitigen und vor deinen Klassenkameraden verheimlichen hättest müssen, und du deshalb nie eine beste Freundin, geschweige denn überhaupt Freunde hattest, dann wärst du sicher auch vorsichtiger geworden, was Spaß angeht. Der Grat zwischen Lustig und Verrückt ist nämlich ein ganz, ganz schmaler, sage ich dir!“

Joe wusste von meiner Mutter. Er wusste alles von mir. Und nickte verständnisvoll.

„Komm her, mein Lämmchen“, flüsterte Joe, bevor er mich fest in die Arme schloss. „Weine dich noch ein bisschen bei Papa Joe aus und denke dann bitte mal über meine Worte nach. Du weißt, dass ich es nur gut mit dir meine. Ich liebe dich.“

„Weiß“, schniefte ich. „Ich dich auch.“

Freundschaft ist Liebe ohne Sex.

Und damit zurück ins Hier und Jetzt.

„Bist du wirklich eine Fee?“ Der fünfjährige Titus starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Ich lächle und gehe in die Hocke. „Ich heiße so, ja.“

„Und bist du eine gute Fee?“

„Hm“, mache ich und tippe mir nachdenklich ans Kinn. „Ich glaube schon.“

„Die Beste“, schleimt der Chef im Vorbeigehen.

Sie merken schon, liebe Leserinnen und Leser, Mikkel kann bei mir heute wahrscheinlich keinen Blumentopf mehr gewinnen.

„Wo sind deine Flügel?“, will Titus wissen, nachdem er einmal um mich herum promeniert ist.

„Unter meinem Pullover“, flüstere ich.

„Und dein Zauberstab?“

Ich schnalze mit der Zunge. „Nanana, Titus! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, dem Zeitalter der Elektronik. Das hier ist der moderne Zauberstab.“

Skeptisch schaut er auf die Kamera in meiner Hand. „Willst du mich ver-aaarschen?“

„Sehe ich so aus?“

„Schon.“

„Dann wird was dran sein.“

„Hm.“ Der Hosenscheißer weiß also nicht mehr weiter.

Lächelnd zwinkere ich Titus zu und schicke ihn wieder vor die Kulisse.

Seine Eltern atmen erleichtert auf.

„Hat er das mit dem Zauberstab jetzt etwa geglaubt?“, fragt Titus‘ Vater konsterniert. „Oder warum tut er plötzlich, was er soll?“