Mama Mia - Frieda Roth - E-Book

Mama Mia E-Book

Frieda Roth

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Beschreibung

Träume werden manchmal wahr. Auch die schlechten. Und dann schickt dir das Schicksal einen Freund. Mia muss am eigenen Leib schmerzlich feststellen, dass Blut nicht immer dicker als Wasser ist und vieles anders als es scheint. Doch wer fällt, lernt wieder aufzustehen und sein Leben neu anzupacken. Das beginnt mit einem außergewöhnlichen Babysitter, geht über eine Veränderung im Job und hört beim Liebesleben der besten Freundin noch lange nicht auf. Dann ist da noch Arne, der Mias Gefühlswelt in ungeahnte Höhen und Tiefen treibt. Unbemerkt an ihrer Seite geht bereits der Mann fürs Leben...

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Eine schnodderschnauzige Erzählung über Liebe, Freundschaft und Verrat

Träume werden manchmal wahr. Auch die schlechten. Und dann schickt dir das Schicksal einen Freund.

Mia muss am eigenen Leib schmerzlich feststellen, dass Blut nicht immer dicker als Wasser ist und vieles anders als es scheint. Doch wer fällt, lernt wieder aufzustehen und sein Leben neu anzupacken.

Das beginnt mit einem außergewöhnlichen Babysitter, geht über eine Veränderung im Job und hört beim Liebesleben der besten Freundin noch lange nicht auf.

Dann ist da noch Arne, der Mias Gefühlswelt in ungeahnte Höhen und Tiefen treibt.

Unbemerkt an ihrer Seite geht bereits der Mann fürs Leben...

Das Manuskript aus dem Jahr 2006 wurde 2021 ohne bedeutende Änderungen überarbeitet.

Frieda Roth. 1969 geboren, geschieden, in Vollzeit berufstätig und zweifache Mutter bereits erwachsener Söhne.

Das Schreiben begleitet die tätowierte Indie-Autorin seit ihrer frühen Jugend, beginnend mit kurzen, später längeren Texten auf einer uralten Triumph Adler. In ihren Romanen verarbeitet sie Hoffnungen und Ängste auf eine ganz eigene, sehr persönliche Weise. Wichtig ist ihr, dass alle Geschichten mit einer satten Portion Humor versehen sind. Das Leben ist nämlich bunt.

Mit ihren Heiligen Birmas Emil und Paul lebt sie in Südhessen und twittert täglich unter dem Account @dietantefrieda.

Weitere Veröffentlichungen:

ZIMTZICKE

FUNKENMARIE

DORNRESCHEN

Mitwirkende

Mia Engel Mitarbeiterin im Zeichenbüro | verheiratet mit Florian Florian Engel Fachkraft für Heizung und Sanitär | verheiratet mit Mia Kimi und Finn Engel Söhne von Mia und Florian

Sam Erzieher und Tätowierer

Leandra Müller Autorin | verheiratet mit Boris

Philipp Schutz Manager | Sänger und Aushilfsgitarrist bei Die Butterblumen

Arne Mannhardt Designer bei GK Design & Marketing

Pia Teufel Schwester von Mia

Victor Vater von Mia und Pia

Lasse Schwarm von Leandra

Janne Zwillingsbruder von Lasse

Hakan Ex-Freund von Pia

Colin Ex-Lebensgefährte von Mia

Marina Nervensäge | Bekannte von Mia | verheiratet mit Sylvester | verliebt in Karl

Wolf-Claudius Engel Fachkraft für Heizung und Sanitär | Vater von Florian

Boris Müller verheiratet mit Leandra

Nicola und Zoé Müller Töchter von Leandra und Boris

Mara Zeichnerin | Ex-Kollegin von Mia

Das Kollegium:

Rainer Designer | Vorgesetzter von Mia

Friedrich Wilhelm Augustus Maria von Großkotz Gründer von GK Design & Marketing

Amalie Sorglos Geschäftsführerin GK Design & Marketing | Tochter von Friedrich

Sylwia Herrscher Chefsekretärin

Dieter Fertig Portier und Hausmeister

Barbara Projektbetreuung

Falk Designer

Angelina Designerin

Bastian Projektleiter

Udo

Manuel IT

Tanja Poststelle

Nathalie und Janina Kreativabteilung

Des Weiteren sind dabei:

Magdalena liiert mit Wolf-Claudius

Lance (Funkenmarie) Friseur

Ulf ehemaliger Klassenkamerad

Tom ehemaliger Klassenkamerad

Natascha alte Bekannte

Andrea alte Schulfreundin

Mika ehemaliger Klassenkamerad

Siggi (Zimtzicke) Bekannter aus Frankfurt

Lukas Beachpartybesucher

Silvia Nachbarin der Engels

Yannik Freund von Lasse

Tatjana Lebensgefährtin von Arne

Erna und Willi Leandras Eltern

Sophie Gutsbesitzerin | Tante von Phil

Chantal Tochter von Sophie | Patenkind von Phil

Für Alex.

Meine weltbeste Beste.

Mein ganz besonderer Dank geht an

Barbara [twitter.com/Seelenauftrag] und Heike

für ihre Unterstützung bei der Überarbeitung.

Inhaltsverzeichnis

Mama Mia [2006]

KAPITEL eins

KAPITEL zwei

KAPITEL drei

KAPITEL vier

KAPITEL fünf

KAPITEL sechs

KAPITEL sieben

KAPITEL acht

KAPITEL neun

KAPITEL zehn

KAPITEL elf

KAPITEL zwölf

KAPITEL dreizehn

KAPITEL vierzehn

KAPITEL fünfzehn

KAPITEL sechzehn

KAPITEL siebzehn

KAPITEL achtzehn

KAPITEL neunzehn

KAPITEL zwanzig

KAPITEL einundzwanzig

KAPITEL zweiundzwanzig

KAPITEL dreiundzwanzig

KAPITEL vierundzwanzig

KAPITEL fünfundzwanzig

KAPITEL sechsundzwanzig

KAPITEL siebenundzwanzig

KAPITEL achtundzwanzig

KAPITEL neunundzwanzig

KAPITEL dreißig

KAPITEL einunddreißig

KAPITEL zweiunddreißig

KAPITEL dreiunddreißig

KAPITEL vierunddreißig

KAPITEL fünfunddreißig

KAPITEL sechsunddreißig

KAPITEL achtunddreißig

KAPITEL neununddreißig

KAPITEL vierzig

KAPITEL einundvierzig

KAPITEL zweiundvierzig

KAPITEL dreiundvierzig

KAPITEL vierundvierzig

KAPITEL fünfundvierzig

KAPITEL sechsundvierzig

KAPITEL siebenundvierzig

KAPITEL achtundvierzig

KAPITEL neunundvierzig

KAPITEL fünfzig

KAPITEL einundfünfzig

KAPITEL zweiundfünfzig

KAPITEL dreiundfünfzig

KAPITEL vierundfünfzig

KAPITEL fünfundfünfzig

KAPITEL sechsundfünfzig

KAPITEL siebenundfünfzig

KAPITEL achtundfünfzig

KAPITEL neunundfünfzig

KAPITEL sechzig

KAPITEL einundsechzig

KAPITEL zweiundsechzig

KAPITEL dreiundsechzig

KAPITEL vierundsechzig

KAPITEL fünfundsechzig

KAPITEL sechsundsechzig

KAPITEL siebenundsechzig

KAPITEL achtundsechzig

KAPITEL neunundsechzig

KAPITEL siebzig

KAPITEL einundsiebzig

KAPITEL zweiundsiebzig

KAPITEL dreiundsiebzig

KAPITEL vierundsiebzig

KAPITEL fünfundsiebzig

KAPITEL sechsundsiebzig

KAPITEL siebenundsiebzig

KAPITEL achtundsiebzig

KAPITEL neunundsiebzig

KAPITEL achtzig

KAPITEL einundachtzig

KAPITEL zweiundachtzig

KAPITEL dreiundachtzig

KAPITEL vierundachtzig

KAPITEL fünfundachtzig

KAPITEL sechsundachtzig

KAPITEL siebenundachtzig

KAPITEL achtundachtzig

KAPITEL neunundachtzig

KAPITEL neunzig

KAPITEL einundneunzig

KAPITEL zweiundneunzig

Mama Mia [2006]

Eine schnodderschnauzige Erzählung über Liebe, Freundschaft und Verrat

Man stelle sich mal vor...

...ein lauer Sommertag. Warmer Wind bläst mir um die Nase und bringt die Blätter in den Bäumen zum Rascheln. Der nächtliche Regenschauer verhilft der Natur zu neuer Kraft. Die Sonne nimmt eine kleine Auszeit und legt sich hinter zarten Schäfchenwolken schlafen. Ich atme tief ein und genieße das aufgeweckte Gezwitscher der Jungvögel. Kurz gesagt: Nach wochenlanger Hitze tut es gut, zur Abwechslung mal nicht im eigenen Saft zu schmoren, sich dabei wie ein Grillhähnchen zu fühlen und sämtliche Energie über die Poren auszuscheiden.

Ich bin Mia. Pseudophilosophin (eine der übelsten Sorte), zweifache Mutter, Ehefrau, berufstätig, ehrenamtliche Psychotherapeutin – und gerade auf dem Weg zur Wohnung meiner Eltern, um noch einmal kurz durchzuwischen, bevor sie aus ihrem sechswöchigen Australienurlaub zurückkehren.

Noch einmal: Ich bin Mia. Tochter, Mutter, Ehefrau, Schwester.

Und Männer sind Schweine...

KAPITEL eins

Männer sind Schweine – Frauen aber auch. Um hier mal den ultimativen Frauenversteher Mario Barth zu zitieren. Ein repräsentatives Beispiel tummelt sich gerade im Gästebett meiner Eltern.

Ich stehe wie festgenagelt in der Diele und verfluche gedanklich die Schweißfüße meines Vaters. Warum, in Gottes Namen, haben sich bei mir nicht seine athletischen Gene durchgesetzt? Stattdessen neige ich zu Übergewicht und frühzeitig ergrautem Haar. Und Schwitzattacken unter den Fußsohlen...

Vorsichtig sendet mein Hirn Signale an die Beinmuskulatur und löst den Bewegungsreflex aus: Den rechten Oberschenkel spannen, das dazu passende Knie Millimeter um Millimeter nach vorne ausrichten, bis sich die Sohle zaghaft vom Laminat löst. Rrrtsch! Es dröhnt in meinen Ohren, als ziehe man einen fabrikneuen Klettverschluss der Größe eines Bundesligaspielfelds von einem deutsch-demokratischen Polyesteranzug. Mein Knöchel knackt. Erschrocken halte ich die Luft an. So lange, bis ich rosa Schweinchen mit grünen Punkten Samba tanzen sehe. Mir wird schwindelig und ich stütze mich am Türrahmen ab.

„Was machst’n dich schon wieder so verrückt?“, würde mein Mann, seines Zeichens Fachkraft für Heizung und Sanitär, in dieser Situation sagen. „Jetzt wart’s doch erst mal ab!“

Ja. Genau das würde er jetzt sagen – wäre er nicht just in diesem Moment damit beschäftigt, sein Rohr zu verlegen. Im lilaseidenen, eicherustikalen Gästebett meiner Eltern. In meiner Schwester. Meiner kleinen Schwester Pia.

Ich koche auf allen Kesseln und will in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung ordentlich Dampf ablassen, als ich in den Raum trete und feststellen muss, dass meine Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Hallo? Außer mir noch jemand hier?

Starr richten sich meine Augen auf die beiden verschwitzten Körper, die sich schier in Ekstase vögeln. Meine Schwester wippt auf und ab, wirft immer wieder den Kopf in den Nacken und fächert ihr langes, blondes Haar mit beiden Händen über ihre makellosen Schultern.

Mein Ehemann brummt wie Bruno, der Bär, und gibt in regelmäßigen Abständen Laute von sich, als klemme ihm Speedy Gonzales zwischen den Arschbacken. Er wirft die Arme von sich und krallt seine Hände in die umliegenden Stofftiere, denen das blanke Entsetzen in den Knopfaugen geschrieben steht. Ich hoffe bloß, mir bleibt ein gekeuchtes Come on, baby, sit on my face and sing the La Bamba! erspart.

Doch das Glück ist mir nicht hold (was habe ich auch erwartet?). Ein traurig zerknautschter Plüschhund fliegt mir ins Gesicht, und noch bevor ich die Fussel und Staubflusen aus meiner Nase gekräuselt habe, klemmt der erhitzte Kopf meines Mannes zwischen Pias völlig orangenhautfreien Oberschenkeln.

Wie war das noch mal mit den beiden Jägern, von denen der eine sagte: „Wenn ich mal meine Frau beim Fremdgehen erwische, knalle ich ihr den Kopf weg. Und dem Typ das Gemächt!“, worauf der andere (den Blick durchs Fernglas auf eine Waldlichtung gerichtet) antwortet: „Wenn du dich beeilst, reicht ein Schuss!“?

Warum kann ich gerade jetzt nicht darüber lachen?

Ach ja!

Zwischen Ahhhs, Ohhhs und Jaaas vernehme ich immer wieder akuter Atemnot ähnelnde Hmmms und ein Geräusch, als würde sich ein Milchshake seinem vorbestimmten Ende nähern. Meine Brillengläser beschlagen beinahe bei ihrem Anblick. Ich bin weiß Gott nicht prüde. Und es liegt auch sicher nicht an den Praktiken, die mir zugegebenermaßen nicht fremd sind. Wobei... Nicht fremd heißt in diesem Fall, dass ich Sex dieser Art nicht täglich betreibe. Oder aber, dass ich Sex nicht täglich betreibe. Gut. Um es ganz genau zu sagen: Dass ich schon lange keinen Sex mehr betreibe.

Mir wird schlecht.

Gerade als Pia sich gewohnt grazil, anmutig und leicht wie eine Feder windet, um Florians Zollstock mit ihren permanenttätowierten Lippen zu verwöhnen, fällt ihr Blick auf die japsende Gestalt im Türrahmen.

„Miiiaaa!“, stößt sie beinahe hysterisch hervor.

„Mia?“, nuschelt die Stimme aus ihrem Genitalbereich.

„Mi-a!“, gibt sie dem Wort mit einem festen Schlag auf Florians stramme Waden Nachdruck.

„Mia!“, keucht dieser und sitzt nur Sekundenbruchteile später aufrecht im Bett.

Pias Beine liegen, nun sinn- und hilflos, auf seinen Schultern. Einen Moment fürchte ich, ihr Rückgrat könnte in dieser Position brechen und will instinktiv zu Hilfe eilen.

Hallo? Sie ist meine kleine Schwester! Da wird man sich ja wohl Sorgen machen dürfen.

Doch ich halte inne. Der Druck auf meiner Brust nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich atme tief ein, bin aber kaum mehr imstande, den Sauerstoff aus eigener Kraft wieder auszustoßen. Zittrig wühle ich in den Taschen meiner Jogginghose, Größe zweiundvierzig, nach dem Asthmaspray (der Himmel weiß, wieso ich es ausgerechnet heute eingesteckt habe).

Sag jetzt bloß nicht: Es ist nicht das, wonach es aussieht!

„Mia“, hebt Florian abwehrend die Hände. „Es ist nicht das, wonach es aussieht!“

Er hat es gesagt!

Mir ist, als falle nicht nur gleich meine Lunge, sondern auch ich selbst in mich zusammen.

Pffft! Ich nehme einen Hub des bronchienerweiternden Cortison-Sauerstoff-Gemisches, schließe die Augen und halte sieben Sekunden die Luft an, bevor ich langsam durch die Nase ausatme.

Nase. Meine Nase. Etwas knubbelig, nicht wirklich zu groß, halt auch nicht unbedingt klein. Florian zog mich schon zu Beginn unserer Beziehung gerne damit auf. „Stupsnäschen“ hatte meine Omi sie immer genannt und mir zärtlich mit dem nach Maiglöckchen und Streuselkuchenteig duftenden Zeigefinger auf das Riechorgan getippt. Ich freute mich. Damals. Denn meine Nase gehörte zu meinen Pausbäckchen und meinen kugelrunden, dunkelbraunen Augen mit den langen, dichten, schwarzen Wimpern. Und das fanden die Erwachsenen süüüß! Fünfzehn Jahre später habe ich noch immer Pausbäckchen und große, dunkelbraune Augen mit langen, dichten, schwarzen Wimpern. Doch mein olfaktorisches Sinnesorgan ist inzwischen zur „Kartoffelnase“ mutiert. Sagt zumindest Florian. Aber er ist eigentlich der Einzige, der das sagt.

Pia hat sich mit einer flinken Bewegung aus ihrer orthopädisch unvorteilhaften Position befreit und sitzt nun, die Beine angewinkelt und durch das zerwühlte Laken nur notdürftig bedeckt, dicht neben meinem Mann, ihrem Schwager. Ihre Haare sind zerzaust und auf den Schultern funkeln Schweißperlen wie Regentropfen auf feinstem Meißner Porzellan. Ohne es zu wollen, erinnert sie mich an das Bild in unserem Badezimmer:

Marilyn Monroe im weißen Ballerinakleid – wie sie mit der Kamera flirtet, den Verschluss am Rücken halb geöffnet, die Brust unauffällig mit Hilfe des rechten Unterarmes in eine ansehnliche Position gerückt. Die Träger krabbeln langsam, wie kleine Raupen auf frisch rasierter und mit hochkonzentrierter Pflegecreme behandelter Haut, über ihre Schultern...

Zugegeben: Hier ist viel Fantasie im Spiel. Aber wer kann, der kann.

Zwei große, blaue Augen blicken um Verständnis heischend zu mir auf.

Mein Gesicht nimmt Züge an, die ich selbst nicht definieren kann. Ich vermeide es grundsätzlich, in solchen Augenblicken in den Spiegel zu schauen. Und das nicht nur wegen des blöden Gesichtsausdruckes.

Die Bilder, die zusammengesetzt wie ein Daumenkino zu kleinen Filmen mutieren und durch meinen Kopf huschen, sind oft mehr als Mensch zu sehen vermag. Just blendet sich folgender Spot ein:

„Pfff.“ Ich atme scharf aus und sehe vorwurfsvoll auf sie herab.

Pia schiebt ihre Unterlippe nach vorn, ihr Kinn zittert. Sie presst eine Träne aus dem rechten Auge. Die wohlgeschwungenen Augenbrauen verformen sich dramatisch und ihre Stirn liegt in verzweifelten Falten. „Och, Mennooo...“

„Nein“, stampfe ich kurz mit dem Fuß auf und muss mich von ihr abwenden. „Nein, Pia. Dieses Mal nicht!“

„Miii-aaa“, schnurrt sie wie eine Katze vor der frisch gezapften Kuh.

Mein Herz krampft.

„Büddeee!“

„Nee!“

„Aber der gefällt mir doch so gut“, fleht sie und fügt leise hinzu: „Ich brauch den unbedingt!“

Ich seufzte.

„Kriegst ihn auch wieder zurück.“ Sie hat Blut geleckt. „Frisch gewaschen und ohne kaputt gemacht. Versprochen!“

Meine Schultern verdünnisieren sich und hängen nun jenseits von Gut und Böse.

Pia hat es geschafft. Sie hat es wieder einmal geschafft.

Aber hier geht es nicht um einen pinkfarbenen Angorapullover. Hier geht es um meinen Mann, dem Vater meiner Kinder. Es geht um Vertrauensbruch. Es geht um meine Schwester. Und es geht um...

Was, um alles in der Welt, haben die beiden mit der Bettwäsche gemacht?

„Was, um alles in der Welt, habt ihr mit der Bettwäsche gemacht?“

Ich hechte nach vorn, ganz zum Entsetzen des vermeintlichen Liebespaares, und inspiziere den zartlila Seidenstoff. Abgesehen von den vielen, ihre eigene Geschichte erzählenden Falten und verräterisch eingetrockneten sowie noch frischen Spermaflecken, zieht sich ein Riss durch das Gewebe, der etwa ein Drittel des gesamten Stoffes misst.

„Spinnt ihr?“

Pias Hand streckt sich nach meiner aus. Sie sendet flehentliche Signale. „Bitte, Mia, lass dir erklären...“

Doch mein Geist ist keinesfalls auf Empfang gestellt. „Ihr habt sie wohl nicht mehr alle“, brause ich auf und habe nur einen einzigen Gedanken: „Die habe ich Mama und Papa zum zweiunddreißigsten Hochzeitstag geschenkt! Wisst ihr eigentlich, wie teuer das Bettzeug war? Beim Exquisite Couché zahlst du ja allein für den Namen schon fünfzig Euro!“

„Mia?“ Florians Augen richten sich irritiert an Pia.

Doch auch sie sieht mich nur ratlos an.

„Hm.“ Ich schnaube fest aus und verlasse entschlossen den Tatort.

KAPITEL zwei

In diesem Zusammenhang fällt mir ein Witz ein. Man beachte die Doppeldeutigkeit – zumindest in meiner Situation:

Ein Paar, beide achtundsiebzig, beim Sextherapeuten. Der Arzt fragt, was er denn für sie tun könne. Opi antwortet: „Würden Sie uns beim Sex zuschauen?“, worauf der Arzt etwas verdutzt dreinschaut, jedoch zustimmt. Nachdem das Paar seinen Liebesakt beendet hat, erklärt der Arzt: „Es ist nichts Außergewöhnliches bei Ihrer Art Sex festzustellen“ und verlangt fünfzig Euro für die Sitzung. In den darauffolgenden Wochen vereinbart das Paar weitere Termine, hat Sex ohne Probleme, zahlt und geht. Irgendwann fragt der Arzt: „Was genau versuchen Sie eigentlich bei mir herauszufinden?“ und der Mann antwortet: „Wir versuchen gar nichts herauszufinden. Sie ist verheiratet und wir können nicht zu ihr. Ich bin verheiratet, also können wir auch nicht zu mir. Das Holiday Inn nimmt neunzig Euro für ein Zimmer, das Kempinski hundertundacht Euro. Wir machen es bei Ihnen für fünfzig Euro und bekommen siebzehn Euro Zuschuss von der AOK.“

Ich sollte meine Krankenkasse wechseln. Haha! Ich lach mich tot...

Die nachfolgenden Minuten bin ich nicht mehr in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Das ist ein Traum! Das ist alles nur ein böser Traum. Aber einer, den ich schon mal geträumt habe. Vor ein paar Wochen erst stand ein Adonis ohne Gesicht vor mir. Schlank, durchtrainiert und an den passenden Stellen tätowiert. Er liebte die kleinen (oder großen, ist doch alles Ansichtssache) Speckrollen um meinen Bauch und ließ seine Finger sanft durch mein Haar gleiten. Die einzelnen, weißen Strähnen auf meinem Kopf, die frech in alle Himmelsrichtungen standen, als hätte ein Spatz sein Nest darin gebaut, zauberten ein Schmunzeln auf seine Lippen.

Die Tatsache, dass ein Adonis ohne Gesicht in meinem Traum wundervolle Lippen hat, lassen wir hier mal außen vor.

Zärtlich küsste er – und das ist enorm wichtig! – meine Nase, bevor er mir mit sanfter Gewalt die Kleider vom Leib riss.

Moooment! Das waren Kleider, keine sündhaft teure, zartlila Seidenbettwäsche.

Verdammt!

Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Wie kann Florian mir das nur antun? Wie kann Pia, meine Schwester, mir das nur antun?

Endlich marschieren die Gedanken an ramponierte, zartlila Bettwäsche aus meinem Großhirn und machen Platz für jene, die von nackten Tatsachen geprägt sind. Ich schließe und öffne meine Augen im Rhythmus des Sekundenzeigers. Doch nichts lässt die Bilder verschwinden. Sie rauschen durch meinen Schädel, ziehen schmerzhaft übers Herz und lassen sich in meinen Gliedern nieder. Dort mutieren sie zu Selbstzweifeln.

Was habe ich falsch gemacht? Ich war doch immer für sie da?

Als Florian und ich uns kennenlernten, war ich bereits seit fünf Jahren in einer langweiligen, aber gefestigten Beziehung.

Colin.

Grundsolide, souverän und vorausschauend. Ein Einsneunzig-Hühne, stattlich gebaut (bis in die untersten Regionen) und auch sonst ziemlich ansehnlich. Im Job hatte er es bereits weit gebracht, mit Ehrgeiz, Sachlichkeit und einem IQ, der mir ständig das Gefühl gab, beim Kreuzworträtsel weniger Punkte als Verona Poth zu erreichen. Colin war Mannschaftskapitän und führte jedes Spiel mit eiserner Disziplin an. Und die machte sich bezahlt. Die Elf war erfolgreich wie nie, die Jungs auf dem Höhenflug – und die Mädels mit. Gleichwohl war mein Colin auch ein richtiger Mister Charming. Wie demütigend muss es für ihn gewesen sein, wegen eines Greenhorns das Feld zu räumen...

Florian.

Ich erinnere mich noch genau an unsere allererste Begegnung:

Es war an einem Tripple-L-Day: Labern, Lästern, Läppern. Auf gut Deutsch: Sonntag auf dem Sportplatz. Während der männliche Teil unserer Lebensgemeinschaften ihrem Spieltrieb nachgibt und auf dem Platz Muskelfaser-, Bänder- oder Kreuzbandriss riskiert, stehen die Weiber an der Bande und untermauern das Klischee der typischen Rollenverteilung: Sie kommunizieren. Kein Gerücht, das nicht genauestens auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, keine noch so unrelevante Lebenserfahrung, die nicht wichtiggeredet, keine Beziehungskrise, die nicht konkretisiert und diskutiert wird, und keine Neuerscheinung, die nicht kollektiv inspiziert, beurteilt und bestenfalls verbal zerrissen wird. Was den Herren der Schöpfung ihr Stammtisch, ist uns Frauen der Sportplatz. Denn wenn diese nach dem Spiel (wie ging’s eigentlich aus?) unter die Dusche staksen, haben wir bereits die erste (na, mindestens!) Runde Cola-Rotwein hinter uns. Während meiner aktiven Fußballerfrauenzeit vermied ich es stets, wichtige Termine, wie ärztliche Untersuchungen oder Familienbesuche, auf einen Montag zu legen.

An jenem Sonntag schließe ich mich recht übellaunig dem Pulk Lästerschwestern an. Kurz zuvor befand ich mich noch in einer hitzigen Diskussion mit meiner Mutter, weil ich nicht gewillt war, Pia meinen brandneuen VW Golf für eine Spritztour nach Berlin zu borgen. Ich kenne meine Schwester. Gerade mal achtzehn. Ihrer Ansicht nach benutzt man den Innenspiegel zum Nachschminken, den linken Außenspiegel zur Kontaktaufnahme mit dem Hintermann und am Schaltknüppel lässt sich hervorragend die laszive Feinmotorik trainieren.

„Na? Was’n mit dir los? Warum ziehst’n so’n Gesicht?“, werde ich schnatternd begrüßt.

„Guten Morgen auch“, knurre ich und krame in der Tasche nach meinen Zigaretten. Mist! Die liegen in meinem Auto – und das ist gerade unterwegs nach Berlin. „Muss mir erst Kippen holen“, entschuldige ich mich und stakse zurück zum Eingang.

Und genau dort kommt mir ein junger Mann, Typ David Beckham (nur weniger metrosexuell), freundlich lächelnd entgegen. Er hat seine Sporttasche geschultert und ich spüre, wie sein Blick mich fixiert. „Hi!“

„H-h-hi!“, holpere ich. Ein kräftiger Energiestrom geht von ihm auf mich über, als er beim Vorbeigehen meine Schulter streift. Verwirrt sehe ich ihm nach.

Das üblicherweise unterhaltsame „Weißt du schon?“ und „Haste nicht gesehen?“ interessiert mich plötzlich nicht mehr die Bohne. Ich habe nur noch Augen für den durchtrainierten, blonden Stürmer. In diesem Moment hat er mein Herz im Sturm erobert. Was dann folgt, ist jedoch eher ein Tsunami der Gefühle. Ein ganzes Jahr lang verzehre ich mich nach ihm, träume mich in seine Arme und verfluche meine Sehnsucht nach dem Mann, der neun Jahre jünger ist als ich.

Mein emotionaler Zustand bleibt natürlich auch Colin nicht verborgen. Wir streiten immer häufiger. Mehrere Versuche, unsere Beziehung zu kitten, scheitern kläglich. So verliert selbst er irgendwann die Geduld und resigniert. Nach einem weiteren, verbalen Schlagabtausch löst er mit den Worten „Bis morgen Abend bist du ausgezogen!“ die Verlobung.

Unsere Trennung breitet sich dank Colins überraschenderweise wenig solidem, dafür umso frustrierteren Mitteilungsdrang auf der Kirmes aus wie ein Lauffeuer. An diesem Abend suche ich Trost und finde ihn. Zunächst im Kreise meiner Freunde und reichlich Alkohol. Später in Florians Armen und anschließend seinem Bett.

Das war der Beginn unserer Beziehung...

Sicher war es damals nicht einfach: Florian, inzwischen leichtsinnige zwanzig Lenze, studiert gerade im fünftausendsten Semester, oder so. Und hat mindestens genauso viele Fächer belegt. Wirtschaftswissenschaft, zum Beispiel. Das hat sich richtig gelohnt. Jedenfalls weiß er noch heute, in welcher Wirtschaft es das süffigste Weizenbier gibt. Oder Psychologie. Muss. Schließlich sollte man auf jeden Kunden vorbereitet sein. Der Himmel weiß, welch perverser Psychopath mit Mutterkomplex dein Geschäft aufsucht, um ein Bidet zu erwerben, in welchem er seinen vorzugsweise weiblichen Elternteil nach einer hitzigen Diskussion um die Größe der Kidneybohnen im freitäglichen Eintopf in einer Nacht- und Nebelaktion ertränken kann? Mal ganz zu schweigen von diesen vielen Norman Bates’, die sich mit undurchdringlichem Blick bei der Azubine nach reißfesten Duschvorhängen erkundigen. Nicht auszudenken, wenn man hier keine Menschenkenntnis besitzt. Marketing war nicht ganz so Florians Stärke. Noch heute argumentiert er mit verkniffenem „Ich habe lesen gelernt, lern du mal schreiben“, um sich vor dem Einkauf zu drücken. Ich ging sogar schon so weit, sämtliche Lebensmittel in unserem Haushalt abzulichten. Auf unserem Küchentisch ging es zu wie auf einem Catwalk. Da tummelten sich WC-Steine zwischen Orangen-Universal-Reiniger und Kölln Schoko Müsli. Der Würfelzucker sah richtig süß aus zwischen all den Fruchtzwergen und Kinder-Riegeln. Und die Funny Chips – Mann, waren die scharf! Nur das Essig blickte etwas sauer drein. Dank moderner Technologie und mithilfe eines illegal runtergeladenen Fotobearbeitungsprogramms, besaß ich bald schon kistenweise Lebensmittel in Papierform, ausgestattet mit Anzahl und ungefährem bis teilweise detailliertem Standort im Supermarkt unseres Vertrauens. Meines Vertrauens. Denn Florian hat ihn bis heute nicht einmal von außen gesehen. „Mensch, musst du Zeit haben“, beäugte er abschätzig die Einkaufshilfe. Seither findet meine Kreation seine Verwendung im Kinderzimmer, als kommerzielles Memory. Für Biologie konnte er schon erheblich mehr Begeisterung aufbringen. Hat ja im weitesten Sinne auch mit Sanitär zu tun. Finde ich. Das, was letztendlich – oder in manchen Fällen auch hoffentlich – im Klo landet, muss ja schließlich auch irgendwo herkommen, nicht wahr?

Florians Vater ist selbständiger Dienstleister im Sanitärbereich. Röööhrich. Gass. Wasser. Scheisä. Auf jeden Fall verdient er damit schon seit fast einem halben Jahrhundert sein Geld. Gekackt wird schließlich immer. So ließ er sich den Wissensdurst seines einzigen Sohnes auch etwas kosten. Wolf-Claudius entspricht meines Erachtens sowieso nicht dem üblichen Naturell eines ehrgeizigen Geschäftsmannes. Obwohl ich manchmal den Verdacht hege, er treibt gerade wegen seiner charmanten Zurückhaltung die Kaufkraft seiner Kunden in die Höhe. Auf jeden Fall nahm er gelassen hin, dass Florian mich, gerade mal ein Dreivierteljahr nach der Kirmes, vor den Altar schleppte. Bereits im vierten Monat mit den Zwillingen schwanger. „Doppelt gemoppelt hält eben besser“, flüsterte er mir zu fortgeschrittener Stunde und ungewohnt hohem Alkoholkonsum beim Wiener Walzer opavorfreudig ins Ohr. Er lächelte sogar noch, als ich ihm Sekunden später Spaghetti Bolognese mit Vanillesoße auf die Schulter kotzte.

Die ersten Monate unserer Beziehung waren aufregend. Richtig, richtig aufregend! Sex, Drugs and Rock 'n' Roll. Na ja, nicht ganz so heftig. Dafür Feten, Sex und pures Leben. Bei uns ging dermaßen die Post ab, dass selbst der abgeklärteste Briefträger rot wurde. Und dass ich neun Jahre älter bin als er, schien Florian auch nie zu stören. Im Gegenteil, es machte ihn richtig an. Er profitierte von meiner Erfahrung (in wirklich allen Bereichen) und ließ sich nur allzu gerne bemuttern. Dabei ruhte er sich stets auf meiner Nachsicht aus. Nach Kimi und Finns Geburt habe ich mein Bedürfnis nach Freiheit und Feiern zu ihren Gunsten zurückgestellt, Florian dieses Vergnügen weiterhin gegönnt.

War das schon der Anfang vom Ende?

KAPITEL drei

Mein Hirn ist gerade im Begriff, noch tiefer in die Welt der Erinnerungen abzudriften, als das Tosen vier wild gewordener Kinderfüße mich in das Hier und Jetzt zurückholt.

Zwillinge ante portas. Im Schlepptau ihren glücklich erschöpften Opa. „Mia, mein Engel“, winkt er mir lächelnd zu, „du bist schon zu Hause?“

Ich reibe mir mit den Handflächen übers Gesicht, still hoffend, Wolf bemerkt meine verheulten Augen nicht. „Ach, Wolf“, gebe ich einen Gähnen vor und strecke alle Viere von mir, „ich hatte solche Kopfschmerzen und... Uff!“

„Mmm-Mamaaa!“ Wie zwei hungrige Tiger springen meine Söhne mich an. Unter ihrer Last breche nicht nur ich, sondern auch der Friedje, der IKEA-Gartenstuhl, unter mir zusammen. Mit dumpfem Schlag haben wir im Nu Bodenkontakt. Nun ja, eigentlich nur ich. Finn und Kimi landen sanft wie Fliegen auf zimmerwarmer Butter.

Warum Wehen Wehen heißen, weiß ich ja schon lange. Jetzt bin jedoch um die Bedeutung der Schrecksekunde um einiges weiser. Die dauert nämlich tatsächlich nicht lange.

Meine Jungs springen lachend von Mutters Brust und begutachten ihre Schandtat mit wachsender Begeisterung.

„Mia? Ist dir was passiert?” Wolfs Besorgnis geht in einem nicht mehr zu unterdrückenden Prusten unter. „Hast du dir wehgetan? Bist du verletzt?“

Mein Herz schreit: JA! Ich bin verletzt! Viel mehr als mein Arsch es aushalten kann! Als meine Seele erträgt. „Nein, nein“, rappele ich mich auf. „Alles okay.“

„Das musste ja mal so kommen“, murrt Wolf. Kopfschüttelnd steht er vor Friedjes Überresten. „Ich habe euch schon so oft...“

„Wooo-holf!“, seufze ich laut. „Und wir haben dir schon so oft gesagt, dass wir nicht auf deine Kosten leben wollen.“

Mein Schwiegervater schüttelt weiterhin verständnislos den Kopf. Ich fürchte, wenn er so weitermacht, erleidet er noch ein Schädel-Hirn-Trauma. „Magst’n Kaffee?“, frage ich deshalb und befinde mich schon auf halbem Weg in die Küche.

Nur fünf Minuten später bin ich mit zwei Tassen frisch gebrühtem Senseo und vier Capri-Sonnen zurück auf der Terrasse. Ich schiebe die Trümmer beiseite und nehme vorsichtig auf Friedjes gleichnamigem Bruder Platz.

„Wo ist denn Florian? Mal wieder“, Wolf macht eine ausladende Handbewegung und zieht abschätzig eine Augenbraue nach oben, „einlochen?“

Umständlich malträtiere ich eine Sonnen-Tüte mit dem Strohhalm. „Denk schon.“

Erneut schüttelt Wolf den Kopf. Ob ich ihm sagen soll, wie gefährlich das mitunter sein kann?

„Ich kann einfach nicht verstehen, dass er sich mit diesem... diesem Sport abgibt. Das ist doch was für Snobs!“, spöttelt er.

„Golf ist ein Sport für Geschäftsleute.“

„Und Fußball ist ein Sport für Männer“, setzt mein Schwiegervater nach.

Ich nicke schwach.

„Und?“, fragt Wolf und wippt nervös mit dem Fuß auf und ab. „Gibt’s was Neues?“

Ja, könnte ich jetzt sagen. Dein Sohn ist ein selbstsüchtiger Macho, aber das weißt du ja, lieber Schwiegervater. Nur heute, heute hat er den Bogen überspannt. Er vögelt sich im Bett meiner Eltern gerade in den siebten Himmel. Mit seiner Schwägerin, musst du wissen. Und genau deshalb werde ich mich scheiden lassen. Macht aber nix. Du kannst trotzdem weiterhin zu Besuch kommen. Vorausgesetzt, ich wohne dann noch hier. Vielleicht ziehe ich ja auch in eine Weiber-WG. Du, die gibt’s kostenlos für Frauen wie mich, zahlt alles der Staat. Dort kann ich mich für zehn bis fünfzehn Jahre einmieten. Oder, was meinst du, kriegt man für Mord? „Nööö, nicht dass ich wüsste...“, antworte ich deshalb.

„Ach“, seufzt Wolf und blickt verstohlen auf seine Enkelkinder, die sich mit Tesafilm an die Reparatur des IKEA-Stuhls gemacht haben.

„Wooolf?“, frage ich gedehnt. Irgendetwas rüttelt an meinem Gehirn. Ich kenne meinen Schwiegervater nun schon einige Jahre. Ich kenne jede Regung an ihm. Doch heute hat sein Gesichtsausdruck etwas... etwas... Wörterbuch hilf! Er schaut verklärt, melancholisch, wehmütig, hoffnungsfroh, glücklich, mit sich zufrieden. Und das alles auf einmal.

„Mia?“

„Jaaa?“

„Mia, ich liebe dich...“

„Hä?“ Oh! Mein! Gott! Mir fällt alles aus dem Gesicht. Ich starre meinen Schwiegervater an und bin nicht in der Lage, ein Wort mit mehr als zwei Buchstaben, geschweige denn einen vollständigen Satz zu bilden. Mir dreht sich der Magen um. „Hä?“, wiederhole ich deshalb.

Ein sanftes Lächeln huscht über sein Gesicht und seine Augen glänzen. „Mia, ich liebe dich. Und ich liebe die Kinder...“

O weh! Will er mich heiraten und seine Enkel adoptieren? Soll ich mich sofort scheiden lassen oder bringen wir seinen Sohn gemeinsam um die Ecke? Haha, Letzteres wäre aus meiner Sicht eindeutig die bessere Alternative. „Ähä...“ Während ich noch überlege, mit welchen Methoden man vorgehen könnte (vom Ertränken im geschäftseigenen Bidet will doch lieber absehen), suche ich anschließend gedanklich nach dem passenden Plätzchen in unserem Garten. Einsachtzig müssen ja auch irgendwo verscharrt werden. Den Nachbarn würde bald auffallen, wenn plötzlich zwei auf einen Meter Rasenfläche verschwunden wären. Allerdings möchte ich auch kein einziges meiner Blumenbeete opfern. Die schönen Hortensien!

„...Liebe meines Lebens... Alles aufgeben... Ganz neu anfangen...“, dringen Wortfetzen in mein Ohr. Ich schlucke fest. „Ich... ich bin... ich bin völlig überrascht“, stammele ich. „Das... das wusste ich gar nicht... ich meine... puuuh!“

„Ich habe bereits eine kleine Finka auf Mallorca gekauft. Wunderschön. Direkt am Meer.“

Mallorca? Wieso, im Himmels Willen, ausgerechnet Mallorca? Ich kann doch noch nicht einmal Spanisch? Gut, Kinder lernen schnell, aber...

„Das Geschäft übernimmt Florian“, fährt Wolf fort.

Florian? Wieso Florian? Den bringen wir doch um die Ecke?

„Ich habe die Unterlagen dabei. Florian sollte heute unterschreiben. Wo bleibt der Bengel nur?“

„Nun gut, wenn das so ist. Dann bleiben wenigstens meine Blumenbeete so wie sie sind. Aber, Wolf, eine Scheidung geht nicht so schnell durch. Mit der Adoption würde es dann halt auch etwas länger dauern.“ Habe ich das gerade gesagt?

Wolf räuspert sich. „Ich weiß, Mia. Aber an Adoption hatte ich jetzt eigentlich nicht mehr gedacht. Ich meine, wegen des Alters...“

Mir ist, als trifft mich ein Messer mitten in die Brust. „Wieso?“, krächze ich, „Du bist doch gerade mal sechsundfünfzig?“

„Ja“, lenkt er ein, „aber die Kinder sind doch schon neunzehn und vierundzwanzig. Meinst du wirklich, die lassen sich noch so einfach adoptieren?“ Er tippt mit dem Finger an seine Schläfe.

„Hä?“ Mein Blick saust zu Kimi und Finn. Hab ich da was verpasst? Bin ich heute irgendwie verhaltensblond?

„Ich habe einen Sohn. Einen großartigen Sohn.“

Großartig! Ja. Und wie...

„Und der reicht mir.“

Ja, mir reicht er auch...

„Die Scheidungspapiere liegen übrigens schon beim Anwalt.“

„Häää?“ Ich bin völlig überfordert.

„Aber jetzt kommt das Beste!“ Wolf wühlt in seiner Jackettasche und zieht zwei One-Way-Tickets hervor. „Es tut mir nur so schrecklich weh, vor allem Kimi und Finn zurückzulassen.“

Bitte, lieber Gott, lass auch diesen Gartenstuhl unter mir zusammenbrechen, damit wenigstens irgendetwas geschieht, das von diesem Gespräch ablenkt.

„Wie bitte?“, heule ich auf.

Wolf nimmt meine Hand und streichelt sie zärtlich. „Und dich natürlich auch.“ Seufzend lehnt er sich zurück. Sein Stuhl knarzt verdächtig. „Ich hätte wirklich nie geglaubt, jemals wieder eine Frau so sehr lieben zu können wie Florians Mutter. Doch Magdalena... Es hat eingeschlagen wie ein Blitz!“ Betrübt senkt er den Kopf. „Das Donnerwetter ist nun der Abschied von hier. Von euch. Dir, Florian, den Kindern. Meiner Heimat und meinem Geschäft.“

Magdalena? Wer, zum Teufel, ist Magdalena?

„Wer, zum Teufel, ist Magdalena?“ Mir rauscht das Blut in den Ohren, als Wolf mit einer Vehemenz an Enthusiasmus mit seinen Erzählungen beginnt. Von der Leere, die er empfand, nachdem seine Frau vor zwölf Jahren starb. Und das ist jetzt kein Witz: Schuld daran war ein längliches Becken zur Reinigung des Intimbereichs. Roselinde stürzte beim Putzen und schlug unglücklich (was ist das nur für eine bescheuerte Bezeichnung?) mit dem Kopf auf dem Bidet auf. Dieser tragische Unfall stand damals in allen regionalen Zeitungen und ein Großteil der ortsansässigen Bevölkerung konnte nicht begreifen, dass Wolf allem zum Trotz sein Sanitärgeschäft weiter betrieb. Doch genau ein solches Bidet war es auch, welches Magdalena vor sechs Monaten in sein Leben und sein Herz spülte.

KAPITEL vier

Ich höre gar nicht mehr zu und komme mir vor, als befinde ich mich mitten in einer Nahtod-Erfahrung. Ich schließe die Augen, geblendet von gleißendem Licht. Mir ist, als würde ich schweben. Meine Haut brennt wie Feuer und aus der Ferne vernehme ich Stimmen, die immer näherkommen.

„Mensch, Mia!“, kreischt es mir ins Ohr.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein.“ Florian? „Ich sage jetzt besser nichts.“ Florian! Er schnaubt und macht eine abwinkende Handbewegung.

„Du hast sie wohl nicht mehr alle“, wettert Pia lautstark. „Wir rackern uns ab und du liegst hier faul in der Sonne! Wo sind überhaupt die Jungs? Hast du die abgedrückt, um dir ’nen schönen Lenz zu machen?“

Was? Wieso? Die Kinder sind doch hier? Und Wolf. Wolf, der übermorgen mit Magdalena auf Mallorca auswandern will. Und überhaupt! Was bilden die sich denn ein?

„Na?“, zische ich und mein Puls schnellt beim Anblick ihrer verschwitzten Körper rasant in die Höhe. „Habt ihr euch gut amüsiert?“

„Amüsiert?“, empört sich Pia. „Sag mal, hast du ’nen Vogel?“

Das geht jetzt eindeutig zu weit! Meine Schwester und mein Mann vögeln sich im Gästebett meiner Eltern in Grund und Boden und sind blöd genug, sich dabei von mir erwischen zu lassen. Und jetzt das? Entrüstet springe ich auf. Ich soll mir von ihnen Vorhaltungen machen lassen, weil ich mich in unserem Garten sonne?

Moment mal! Ich sonne? In unserem Garten? Aber eben noch...?

Erneut vernehme ich ein verdächtiges Knarzen und Sekunden später bricht Smörebröd (wie nicht anders zu erwarten, unsere IKEA-Liege) unter mir zusammen. Mit dem Aufprall dringt auch die Realität in mein Bewusstsein durch.

Das war alles nur ein Traum! Alles nur ein Traum...

Kein Ehebruch, kein Vertrauensbruch, kein Wolf, der mit einer Magdalena auswandern will, keine Leiche im Garten. Alles nur ein Traum...

„Sag mal, wie siehst du überhaupt aus?“ Florian beugt sich zu mir hinab. Ich rieche den Schweiß von harter, körperlicher Arbeit, vermischt mit dem Duft von Zedernholz und Moschus.

„Was? Wieso?“ Erleichtert atme ich auf und reibe mit der Handfläche über meine Stirn. Autsch! Das tut weh! Ein Blick auf meine Oberarme lässt mir kalten Schweiß aus allen Poren fließen. Das kann ja eine heiße Nacht werden...

„Du bist total verbrannt.“ Mit dem Fingernagel zieht er eine glühende Spur über meine linke Schulter und stakst kopfschüttelnd ins Haus.

„Geschieht dir Recht!“, keift Pia und reicht mir die Hand. „Mich so hängen zu lassen...“

Dank der Ziehkraft komme ich ächzend auf die Beine.

„Für jeden anderen bist du da. Und wenn ich dich mal brauche...“

Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Verdammt! Was war da noch?

„Hakan...“ Hakan! Natürlich! Die aktuellste Liebe ihres Lebens. Ein krass-cooler Türke, frisiert, rasiert und kastriert. Oder nennt man das beschnitten? Beschnitten ist eindeutig sein IQ. „Ey, Schwesta. Guckstdu. Habisch krass Nikotinpflaster!“ „Mensch, Hakan. Klasse“, heuchle ich Interesse, „du willst mit dem Rauchen aufhören?“ Hakan baut sich rappend vor mir auf und sieht mich verständnislos an. „Nä!“, blökt er. „Is konkret für Na-haaachts!“ Ah. Krass, Altaaa... Doch selbst wenn Hakan (meiner Ansicht nach) mit nicht wirklich viel Hirn ausgestattet ist, reichen Aufnahme- und Urteilsfähigkeit dennoch aus, Pia nach ihrer Aussage, Hakans kleine Schwester Ayfer kleide sich nicht nur wie ein kleines Flittchen, sie benehme sich auch so, hochkant aus seinem Vier-Generationen-Heim zu werfen. Auf Nimmerwiedersehen.

„Hakan ist verständlicherweise noch immer tief verletzt“, sagt Pia mit weinerlicher Stimme, „dass ich ihn verlassen habe. Und du weißt ja, wie Türken sind, wenn man ihren Stolz...“

„Nein“, unterbreche ich Pia. Was soll diese vollkommen idiotische Selbsttäuschung? „Weiß ich nicht.“

Sie ignoriert meinen Einwurf und wirft ihr Haar zurück. „Gut, dass mir wenigstens Florian den Rücken freigehalten hat.“

Will sie mir nun ein schlechtes Gewissen einreden?

„Ohne ihn hätte ich den Nachmittag nicht überstanden. Ich hätte dich wirklich gebraucht.“

Ja, sie will mir ein schlechtes Gewissen einreden.

„Pia, Süße. Es tut mir leid...“

„Nein, nein. Ist schon gut! Hakan hat mich ja nicht geschlagen oder so. Die ganzen Kisten haben wir alle in den Golf reingekriegt. Obwohl es bei dieser Gluthitze erheblich leichter gewesen wäre, du wärst uns mit deinem Sharan zu Hilfe gekommen. Ich hätte halt vor allem deine moralische Unterstützung gebraucht.“ Sie sieht mich anklagend an. „Na ja, wenigstens war Flo da.“

Ich lege besänftigend meinen Arm um Pias Schultern. „Süße, es tut mir echt leid. Die Jungs sind heute bei Leandra. Da dachte ich, könnte ich mich auch mal in die Sonne legen, nur für ein Stündchen. Es tut mir wirklich, wirklich leid“, entschuldige ich mich besseren Wissens.

Ich sehe einen Hauch Genugtuung über Pias Gesicht huschen. „Aber wolltet ihr mich nicht eigentlich abholen?“

„Wer hat denn das gesagt?“, räuspert sie sich empört.

„Na, du!“

„Quatsch! Hast dir wohl das Hirn verbrannt“, knurrt Pia und wendet sich ab.

Sie kann es nicht ab! Sie kann es einfach nicht ab, im Unrecht zu sein. Genauso wenig, wie sie einen Fehler eingestehen könnte. Pia hat immer Recht. Sie dreht und wendet jeden Satz, jedes Wort und, wenn nötig, jeden Buchstaben, um die Richtigkeit ihrer Aussagen und ihres Handelns zu untermauern. Wüsste ich es nicht besser, ich würde sagen, sie ist die direkte Stellvertreterin Gottes.

Ich bücke mich und wühle in Smörebröds Überresten, unter denen ungeduldig mein Handy zuckt und lärmt, als hätte es etwas Wichtiges zu verkünden. „Engel“, autsche ich gereizt hinein und beäuge kritisch die Knöchel meiner rechten Hand, welche nun leider nicht mehr im Vollbesitz ihrer Behäutung sind.

„Ey, Mia“, plärrt es in mein Ohr. „Is krasse Sache. Weißisch, Alde.“

„Hakan“, flöte ich und schiele zu meiner Schwester.

Pia wirft ihren Kopf in den Nacken und stemmt die Hände in die Hüften. „Der braucht sich nicht einbilden, ich geh wieder zu ihm zurück“, keift sie selbstbewusst.

„Ey, Schwesta“, knatscht Hakan mir derweil ins Ohr. „Bist du konkret coole Frau. Aber Pia, Alde, kann sich Hakan krass in den Hindärn schieben! Is fett genug. Weißdu?“

Pia verpasst mir einen Knuff in die Seite. „Der soll endlich aufhören zu betteln!“

„Ey, sagsdu dein Schwesta, soll nischmehr komme vor Augen von Hakan!“

„Klar doch, Hakan. Mach ich.“ Toll. Warum hat er ihr das nicht einfach selbst gesagt? Dass sie manchmal eine ganz schreckliche Zicke sein kann? Dass sie Menschen beleidigt, ohne auch nur einen Gedanken an deren Gefühle zu verschwenden? Und dass ihr Hintern (bei genauerer Betrachtung) auch nicht mehr das ist, was er mal war? Eine klitzekleine Spur von Genugtuung überkommt mich. Nun gut, dann werde ich es ihr wohl sagen müssen. Pia sieht mich erwartungsvoll an. „Es tut ihm leid. Er wünscht dir noch alles Gute für dein weiteres Leben.“

„Gott! Wie sülzig“, raunt sie und schiebt mir eine Zigarette in den Mund. „Das ist ja sowas von typisch für ihn.“

Ich stelle mich auf eine längeres Gespräch ein und halte unauffällig Ausschau nach einer Sitzgelegenheit.

„Aber egal. Mir geht es gut. Richtig gut.“ Verklärt schaut sie gen Himmel.

Hä? Was ist los? Keine Tränen? Kein Wutausbruch? Keine wüsten Beschimpfungen? Kein Wühlen in Erinnerungen? Kein Ausbaldowern sämtlicher Begebenheiten? Keine Analyse der Gesamtsituation? Irritiert versuche ich, ihren Blick einzufangen.

„Mir geht’s gut. Echt“, versichert mir Pia und bläst gedankenverloren den Rauch aus.

„Alles klar?“ Florian steht frisch geduscht und anziehend duftend vor uns. Von seinem blonden Haar perlen vereinzelt ein paar Tropfen auf die Stirn.

„Klar“, grinst Pia und verabschiedet sich schnell mit Küsschen.

Ich sehe ihr ratlos nach und wende mich dann mitteilungsbedürftig an Florian. „Du, ich hatte ja so einen besch...“

„War Papa schon da?“, unterbricht er mich wirsch und ich bemerke erst jetzt die Blässe, die sich über sein Gesicht gelegt hat.

„Nein, nicht dass ich wüsste. Aber ich habe von ihm...“

„Dann fahr ich schnell hin. Bin gleich wieder da.“ Er haucht mir einen Kuss auf die Wange und ist schon durch das Gartentor verschwunden, bevor ich die Situation überhaupt erfasst habe.

KAPITEL fünf

Als Florian gegen acht nach Hause kommt, hänge ich am Handy. Ich hänge immer irgendwie am Handy. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Würde ich mal richtig Urlaub machen wollen, bräuchte ich das Ding einfach nur auszuschalten. Es singt oder piept ständig. Vorwiegend zur Abendzeit. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal die Nachrichten gesehen habe? Da war der dicke Kohl noch Bundeskanzler. Und Der Preis ist heiß. Läuft das eigentlich noch?

„Du hast es nicht nötig, dich weiterhin demütigen zu lassen. Das ist der erste Schritt in dein neues Leben, Marina“, tröste ich ins Handy und flüstere Florian zu: „Du sollst noch mal zu den Kindern kommen.“ Dann fahre ich konzentriert mit meiner Seelsorge fort.

„Oh Gott“, stöhne ich eine Stunde später und lasse mich erschöpft aufs Sofa fallen. „Aber ich bin sicher, dieses Mal schafft Marina es. Sie hat Sylvester heute um die Scheidung gebeten.“

„Wird ja auch mal Zeit“, knurrt Florian, ohne aufzublicken.

„Und? Was wollte dein Vater eigentlich von dir?“

„Geschäftlich“, antwortet er knapp.

„Geschäftlich. Aha. Und was genau?“

Florian stöhnt, als sei es eine Zumutung, ihm nach einem anstrengenden Arbeitstag Fragen zu stellen – und tatsächlich eine Antwort zu erwarten.

„Flooo-riii-aaan?“

„Hm?”

Nach dem nervenzehrenden Telefonat mit Marina ist meine Geduld in einem nicht mehr ganz so jungfräulichen Zustand. „Sagst du mir jetzt vielleicht mal bitte, was los ist?“

„Is nix.“ „Was?“

„Es. Ist. Nichts.“ Florian gibt jedem einzelnen Wort so viel Nachdruck, dass ich nicht weiterfrage. Beleidigt ziehe ich mich mit einer Zigarette auf die Terrasse zurück.

Ich beobachte den aufsteigenden Rauch und überlege, wann Florian und ich das letzte Mal wirklich ausführlich miteinander gesprochen haben? Nach acht Ehejahren beschränken sich unsere Unterhaltungen auf die Wahl des Abendessens oder die Planung des Familienurlaubs. Meinen Berichten über die schulischen Leistungen oder sonstigen Aktivitäten der Kinder lauscht er zwar, kommentiert sie jedoch nur noch mit einem gelassenen „Hmhm“. Selbst im Bett beschränken wir uns auf das Notwendigste. Aber das ist in Ordnung so. Für mich und auch für Florian. Als selbständiger Unternehmer arbeitet Florian hart. Sechs Tage die Woche. Wenn er, meist spätabends, nach Hause kommt, ist er völlig erledigt. Mir käme gar nicht in den Sinn, ihn mit Belanglosigkeiten zu behelligen. Er soll es gut haben bei mir. Unser Leben ist konstant harmonisch, geordnet und ereignislos. Mir selbst ist es recht. Das Chaos der Gefühle und die ehelichen Reibereien meiner vielen Bekannten, denen ich ständig seelisch und moralisch unterstützend unter die Arme greife, lasten mich völlig aus. Als Teenager war ich ein ziemlich wilder Feger. Keine Party, keinen Flirt, kein Beziehungschaos, kein Highlight (und leider auch keinen Ärger) habe ich ausgelassen. Doch diese Zeiten sind vorbei. Erleichtert und um diese Lebenserfahrungen reicher, kann ich nun gelassen darauf zurückblicken und fühle mich in meiner Funktion als Seelentrösterin um einiges kompetenter. Insgeheim bin ich ja auch stolz auf mich. Nicht wenige Beziehungen habe ich gerettet und weitaus mehr schon gescheiterte Existenzen vor einem zerstörerischen Fortgang bewahrt. Ich bin gut. Ich bin wirklich gut!

Und dennoch werde ich Tag für Tag, kaum merklich, jedoch unaufhaltsam wachsend, von einem beklemmenden Gefühl begleitet, das ich mir nicht erklären kann oder will...

Dieses Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst

Als ob da im Magen der Teufel los ist

Dieses Kribbeln im Bauch, das kennst du doch auch?

Wenn man glaubt, fast überzuschäumen vor Glück

Dieses Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst

Wie wenn man zu viel Brausestäbchen isst

Dieses Kribbeln im Bauch vermisst Du doch auch?

Einfach überzusprudeln vor Glück

Mit dieser Gewissheit schlüpfe ich wenige Minuten später zu Florian ins Bett. Er schläft bereits und sieht dabei so zufrieden aus, gleich, als würde er in sich selbst ruhen. Ich drücke die Schlummertaste meines Radioweckers. Unter leiser Beschallung schlafe ich immer noch am besten und vor allem schnellsten ein. Hm. Pe Werner und ihre olle Kamelle aus den Achtzigern. Nach wie vor einer meiner Lieblingshits. Damit verscheuche ich meinen kurz aufflackernden Ärger darüber, dass Florian mir nicht einmal Gute Nacht! gesagt hat, stütze meinen Kopf in die Hand und beobachte ihn. Auf seiner Stirn haben sich kleine Schweißperlen gebildet. Sein Körper ruht auf der Bettdecke und glänzt im Schein des sich durchs Schlafzimmerfenster stehlenden Mondlichts. Der Jahresbeitrag im Fitnessstudio, das er seit zwei Jahren dreimal wöchentlich besucht, macht sich also bezahlt. Langsam lasse ich meine Finger über Florians nackte Brust gleiten. Seine geschlossenen Augen flackern und zaubern ein seliges Lächeln auf seine Lippen. Wovon er wohl gerade träumt?

Während ich so überlege, kommen mir Zweifel. Da fehlt doch was? Verlangen. Lüsternes, wildes Verlangen? Müsste mich dieser Anblick jetzt nicht in einen Zustand prickelnder Begierde versetzen?

Wir haben uns so aneinander gewöhnt

Uns bringt nichts und niemand aus der Ruhe

Die Zeit hat uns die Leidenschaft abgewöhnt

Sie steht wie das schwarze Paar Schuhe

Irgendwo unten im Kellerregal, wartet auf ein Begräbnis

Und wir tun so, als wär das normal

Unsre Liebe steht ab und wird schal

Er ist mein Mann. Da ist nichts, was uns irgendeine Zurückhaltung auferlegt hat. Ich könnte meine Finger auf Wanderschaft schicken. Über seine Brust, seine Hüften. Dabei würden meine Lippen seine Schultern mit Küssen benetzen, voller Sehnsucht, bis er sanft aus dem Schlaf gleitet und mich atemlos nimmt, sobald er bemerkt, wie meine Hand sein edelstes Teil bereits verkehrstauglich gemacht hat. Aber es fehlt etwas...

Dieses Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst

Wie wenn man zu viel Brausestäbchen isst

Dieses Kribbeln im Bauch vermisst du doch auch?

Einfach überzusprudeln vor Glück

Wir haben uns so aneinander gewöhnt

Und daran, uns kurz zu fassen

Die Zeit hat uns die Leidenschaft abgewöhnt

Wir haben es durchgehen lassen

Die Gefühle für dich sind nicht einfach verpufft

Liebe löst sich nicht einfach auf

Aber unser Gefrierpunkt ist schon länger in Sicht

Bloß daran gewöhn ich mich nicht

Trotzdem oder gerade deswegen drehe ich mich traurig um und falle kurze Zeit später in einen traumlosen Schlaf.

KAPITEL sechs

„Sag mal, wo bleibst du denn?“, raune ich am anderen Morgen ins Telefon. „Ich warte hier schon seit einer halben Stunde.“

„Ich habe wieder solche Kopfschmerzen“, antwortet Pia mit weinerlicher Stimme und meine Laune nähert sich einem tiefen Abgrund. „Tut mir leid, aber ich kann heute echt nicht“, schickt sie ein jämmerliches Stöhnen hinterher.

Es gibt da etwas, das sich ‚Aspirin’ nennt, will ich jetzt gerne erwidern, weiß jedoch, dass das unausweichlich zu einer längeren Diskussion über geschwisterliche Anteil- und Rücksichtnahme führen würde. „Na ja“, sage ich deshalb matt, „wird schon gehen. Die Kinder hatten sich zwar auf den Ausflug ins Schwimmbad gefreut, aber ich will dir ja nicht zu viel zumuten. Dann nehme ich sie eben mit. So ein Ausflug in den Baumarkt kann ja mitunter für Achtjährige auch ganz unterhaltsam sein.“ Vor allem bei diesen Temperaturen.

Minuten später stehe ich schwitzend mit zwei nörgelnden Kindern auf dem Parkplatz des Baumarktes und halte Ausschau nach Florian. „Papa müsste jeden Moment kommen“, besänftige ich sie, „dann können wir nachher noch ein Eis essen gehen.“

„Ich seh den Papa aber nicht“, lamentiert Kimi.

„Ich sagte ja auch, er kommt gleich.“

„Nein, hast du nicht“, widerspricht er mir patzig und verschränkt die Arme vor seiner Brust.

„Hab ich doch.“

„Hast du nicht“, schmollt er. „Du hast gesagt, ‚jeden Moment’.“

„,Gleich’ heißt so viel wie ‚jeden Moment’.“

„Und warum sagst du’s dann nicht so?“

Ich verdrehe leicht genervt die Augen.

„Mama“, ereifert sich nun auch Finn, „so verirrst du uns nur!“

„Tu ich nicht“, verteidige ich mich. „Wenn, dann ver-wirre ich euch, nicht ver-irre.“

„Ha!“, kreischen sie gemeinschaftlich auf. „Du gibst es also zu?“

„Ich...“ Im selben Moment vibriert das Handy in meiner Hosentasche. Das Display kündigt mir Florian an.

„Gibst du’s nun zu?“, krähen Kimi und Finn. „Maaa-maaa?“

„Flo!“, keuche ich ins Telefon und bemühe mich, vier zerrende Hände von meinen T-Shirt zu zupfen. „Wo bleibst du denn?“

„Mia, Schatz“, tschilpt er, „ich bin noch zu einem Kunden gerufen worden. Tut mir leid. Das dauert jetzt etwas länger.“

„Waaas?“, brülle ich den Hörer und setze zu einem wütenden Redeschwall an. Doch Florian unterbricht mich jäh.

„...schaffst das ja auch alleine. Bis heute Abend!“

„Ja, klar“, wettere ich. „Ist gar kein Problem, vier Bierzeltgarnituren in ein Auto zu packen, in dem zwei Kinder ihren Platz behaupten. Und das alles ohne Anhänger!“ Doch das kann Florian schon nicht mehr hören. Er hat bereits aufgelegt.

„Gibt’s denn jetzt kein Eis?“

„Ich will aber Eis!“

„Na, prima“, verzage ich. Morgen will ich meinen sechsunddreißigsten Geburtstag feiern und kann das Buffet wahrscheinlich ameisenfreundlich auf Picknickdecken servieren, weil ich die Bierzeltgarnituren entweder aufgrund eines Schwächeanfalls nicht in den Wagen hieven kann und auf dem Parkplatz zurücklassen muss oder weil ich sie mangels Anhänger nur halbwegs zulässig in den Kofferraum meines Sharan wuchte (dafür müsste ich jedoch meine Kinder auf dem Parkplatz zurücklassen) oder weil sie, sollte ich noch länger über meine missliche Lage nachdenken, längst ausverkauft sind.

Hoffnung tut sich mit dem Brüllen eines lecken Auspuffs auf. Direkt neben uns hält ein konkret tiefergelegter Golf, an dessen Rückspiegel die Miniaturausgabe des Koran baumelt.

„Ey, Mia! Krasse Zufall“, johlt es mir aus dem Wageninneren entgegen.

„Hakan!“ Zum ersten Mal freue ich mich wirklich, ihn zu sehen (alle anderen Male bescherten mir immer ein nervöses Zucken in der Oberlippe). „Dich schickt mir der liebe Gott!“

„Ey“, wehrt er sofort mit erhobenen Händen ab und steigt aus seiner fahrenden Dönerbude. „Schickt misch Allah! Was gibt?“

Ich erkläre ihm kurz die Situation und bin schon im Begriff, ihn einzuhaken und in den Baumarkt zu schleppen, als ich den Widerstand seines ganzen Körpers spüre. „Ey, Mia. Helf isch disch gern. Abba...“

Meine Hoffnungen auf einen reibungslosen Fortgang des Vorhabens zerschlagen sich beim Anblick seines peinlich berührten Gesichtsausdrucks. „Was ist denn los?“

„Bass auf, ey“, murrt Hakan schuldbeladen. „War isch letztens bei OBI, wollt isch konkret Lampe für Dusche haben.“ Er stockt.

„Ja, und? Die kaufen wir auch gleich. Ich bezahle sie dir sogar“, flehe ich.

„Ey, bin isch gegangen zu Infotusse, hab isch gesagt: Duschlampe? Jetzt konkret hab isch Hausverbot.“

Herr, lass Hirn vom Himmel fallen!

„Das kann doch wohl echt nicht wahr sein!“, fluche ich und stehe kurz davor, diesen Gehirnakrobaten mit einer seiner unzähligen Goldkettchen zu erdrosseln. Um meinen Kindern ein schweres Trauma und damit einhergehend den kostenintensiven Psychotherapeuten zu ersparen, sehe ich schnell von diesem Vorhaben ab. „Weißt du was, Hakan?“, schlage ich stattdessen vor. „Ich geh da jetzt allein rein, in der Hoffnung, fünfhundert andere Idioten haben nicht die gleiche Idee, und kaufe vier Bierzeltgarnituren.“

„Oookaaayyy“, stimmt er gedehnt zu und blickt mich erwartungsvoll an.

„Du passt in der Zwischenzeit auf die Jungs auf. Verstanden?“

„Oookaaayyy.“

„Geh mit ihnen da rüber“, ich klemme sein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen meiner linken und zeige mit der rechten Hand auf das Eiscafé in unmittelbarer Nähe des Baumarkts, „und kaufst ihnen, was sie wollen.“

Hakan nickt – zu meiner Überraschung – begeistert. Er nimmt Kimi und Finn an den Händen und trabt los. „Ey, bin isch konkret jetzt euer Papa.“

„HAAA-KAAAN!“, brülle ich ihm nach. „Du bist nicht ihr Papa! Du sollst, verdammt noch mal, einfach nur auf sie aufpassen!“

Hakan hat zwar krass einen an der Waffel, aber ich kenne ihn lange und gut genug, um zu wissen, dass man sich konkret auf ihn verlassen kann.

Eine Sorge weniger, stapfe ich auf den Eingang von OBI zu. Dabei überlege ich fieberhaft, wie man vier Bierzeltgarnituren aus dem Baumarkt schaffen und in mein Auto verfrachten kann. Die Zeit drängt und ich ignoriere geflissentlich die penetranten „Hallo? Moment mal, junge Frau!“-Rufe hinter mir. Genau so lange, bis ich eine Hand mit starkem Griff auf meiner linken Schulter spüre, die mich ausbremst und in seine Richtung manövriert. „Was denn?“, fauche ich mein Gegenüber an.

„Du hast ein Problem?“

„Was?“

„Ich habe da... auf dem Parkplatz...“

„Was wollen Sie von mir?“

Er legt die Hand in den Nacken und lächelt beinahe verlegen. „Hey, ich will mich nicht aufdrängen. Aber ich habe das eben mitgekriegt und...“

„Was?“, frage ich erneut und zwischenzeitlich ziemlich gereizt.

„Sieht ganz so aus, als bräuchtest du einen Anhänger? Und jemanden, der zupacken kann?“

Ich weiche einen Schritt zurück und sehe ihn verwirrt an. Dass er zupacken kann, steht für mich auf den ersten Blick außer Frage. Mein Gegenüber ist ein kahlköpfiger, durchtrainierter, junger Mann, der allem Anschein nach keine Angst vor Schmerzen hat. Zumindest schließe ich das aus den zahlreichen Tattoos und Piercings, mit denen er seinen sonst makellosen Körper ziert.

„Sind Sie ein Abzocker, oder was? Oder einfach nur ein Menschenfreund?“

„Sam“, reicht er mir seine überraschend filigrane Hand. „Und ich bin einfach nur hilfsbereit und nett“, fügt er zwinkernd hinzu und lächelt spitzbübisch.

Irgendwie sieht er aus wie Vin Diesel...

„Irgendwie siehst du aus wie Vin Diesel...“ Kann ich nicht einmal leise denken?

Sam lacht und legt vertraut seine Hand auf meine Schulter. „Da hinten steht mein Auto.“ Er zeigt auf einen beeindruckenden BMW-Kombi mit Hänger. „Ich habe ihn gerade bei einem Kumpel abgeholt, der hier arbeitet“, bricht ein Redeschwall aus ihm heraus. „Da habe ich dich mit deinem Freund debattieren sehen, die zwei Jungs am Wickel... und ganz schön runter mit den Nerven sahst du mir auch aus. Da dachte ich...“

„...dass dir dein Pfadfinderkodex vorschreibt, jeden Tag eine gute Tat zu verrichten?“

„Nein.“ Sam verschränkt die Arme vor der Brust und grinst. „In meinem Horoskop steht, dass ich heute jemandem begegnen werde, der meine Hilfe braucht und mein Leben danach bereichern wird.“

Ich schüttele skeptisch den Kopf. „Soll das eine Anmache sein?“, gifte ich und wende mich zum Gehen.

„Ganz bestimmt nicht“, versichert er und folgt mir zum Eingang.

Meine Geduld findet langsam ein Ende. „Was soll der Scheiß?“

„Hey“, versucht er, mich zu besänftigen, „ich will dich ganz ehrlich nicht anmachen. Okay, das mit dem Horoskop war bescheuert. Aber ich finde dich sympathisch. Und ich würde dir wirklich gerne helfen. Und nur helfen.“

Seine treuen Augen sehen mich versöhnlich an und geben meinem Herzen einen Ruck. „Na, gut“, knurre ich und bin insgeheim dankbar für die unerwartete Hilfe.

KAPITEL sieben

Während wir eine Stunde später sechs Bierzeltgarnituren (die waren ja so günstig!) in Sams Anhänger verfrachten und meinen Kofferraum außerdem noch mit Lampions, zwei Stehtischen, Fackeln, Servietten, Girlanden und sonstigem Dekozeug beladen, erfahre ich von ihm, dass er Sozialpädagogik studiert und vier Jahre als Erzieher in einem Hamburger Kindergarten gearbeitet hat. Weitere vier Jahre unterrichtete er in einer Vorklasse für Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerung. Eine gescheiterte Beziehung (darüber hat er sich zu meinem Bedauern nicht weiter ausgelassen) führt ihn nun nach Südhessen – und direkt in ein neues Leben. Ganz neu, wie ich finde. Denn er hat vor, ein Tattoo- und Piercingstudio zu eröffnen, sucht derzeit allerdings noch nach geeigneten Räumlichkeiten.

„Tja“, murmele ich und wische mir den Schweiß zwischen Nase und Oberlippe weg, „und wir haben ein Haus, aus dem du glatt drei Wohnungen machen könntest. Das Leben ist doch ungerecht.“

Sam zieht interessiert die rechte Augenbraue nach oben und zuckt dann mit den Schultern. „Gehen wir jetzt mal deine Jungs holen?“

Mich fröstelt beim Anblick, der sich mir in der Eisdiele bietet. Kimi und Finn strahlen um die Wette, doch Hakan wirkt beängstigend blass um die Nase. „Was ist denn hier passiert?“

„Hasdu gesagt, soll isch Kimi und Finn kaufe, was sie wolle?“

„Jaaa“, erwidere ich erwartungsvoll.

„Hab isch konkret gemacht“, röchelt Hakan nun, „und mir auch.“ „Jaaa“, bemerke ich erneut gedehnt.

„Bin isch jetzt pleite...“

Ich räuspere mich und greife sofort nach meinem Portemonnaie. „Hakan. Ich zahle das alles natürlich.“

Er winkt mit einer Handbewegung ab. „Ey, brauchsdu nisch. Hab isch krass verlorn mein Wette. Mussisch nun gradestehn für wie eschte Türke!“

„Was habt ihr denn überhaupt gemacht?“ Fragend schaue ich meine noch immer strahlenden Kinder an.

„Zwei zu eins. Der Verlierer zahlt“, mischt Sam sich ein und ergänzt (wohl meinen doofen Gesichtsausdruck zum Anlass nehmend). „Hakan hat gewettet, dass er mehr Eis essen kann als deine Jungs zusammen.“

Bevor ich nachhaken kann, eilt Hakan an uns vorbei zum Herrenklo.

„Wer bist’n du?“, zupft Kimi Sam am T-Shirt. „Du bist ja barfuß auf dem Kopf!“ Seine meerblauen Augen schauen ehrfürchtig zu ihm auf.

„Ich bin Sam“, er klatscht ihn kumpelhaft ab. „Und wer hat dir die blauen Augen verpasst?“

Kimi lacht, wie er es immer tut, wenn er keine Antwort weiß. Sein Lachen kommt dann von ganz tief unten aus seinem Bauch und ist so herzhaft, dass man unweigerlich mitlachen muss. Darüber hinaus vergisst man die gestellte Frage oder Anweisung sofort. Eine kluge Taktik – doch leider von Mami schon längst durchschaut. Haha!

„Besser jetz“, kommt uns kurz darauf ein gequält lächelnder Hakan entgegen.

„Na? Alles wieder im grünen Bereich?“, fragt Sam und lässt sich dabei von Kimi die Glatze streicheln.

„Ey, konkret, Alder!“

Ich bin dennoch besorgt. „Soll ich dich nach Hause fahren, Hakan?“

Falsche Frage!

„Ey, bin isch Türke, oder was? BIN ISCH TÜRKE?“, plustert er sich vor mir auf. „Lass isch misch nicht zu Hause fahren von deutsches Frau!“

Bevor er sich noch mehr zum Hampelmann macht (die Gäste ringsum gucken schon), verpasse ich Hakan einen mehr oder weniger leichten Klaps auf den Hinterkopf (was soll schon kaputtgehen?). „Krieg dich mal wieder ein“, zische ich und halte beinahe im selben Moment die Luft an. Deutsches Frau schlägt türkisch Mann. Wenn das mal nicht eskaliert!

„Hast du wirklich gut gemacht, Hakan.“ Sam scheint die Situation ebenfalls erfasst zu haben und haut meinem Gegenüber kameradschaftlich anerkennend auf den Rücken.

Der Schlag löst erneut Hakans Brechreiz aus. Mit den Worten „Ey, mach isch gern widda“ sprintet er erneut zur Toilette.

„Lass dein Geld stecken und sieh zu, dass du mit den Jungs ins Auto kommst“, rät Sam und hält mir die Tür auf.

Wie abgemacht, folgt er mir mit den Garnituren im Anhänger nach Hause. Ich denke nicht eine Sekunde daran, dass er sich damit vielleicht unterwegs absetzen könnte.

„Scheiß die Wand an!“, platzt es Sam unvermittelt heraus, als er vor unserem Grundstück steht. „Das ist ja ein Prachtbau.“ Geschäftig sieht er sich um. „Und in allerbester Lage.“

Womit er wohl Recht hat. Mein Zuhause liegt direkt zwischen Kindergarten und Schule. Irgendwo dazwischen finden sich sowohl eine Apotheke, ein Kiosk, als auch eine kleine Bäckerei. Trotz allem herrscht hier kein übermäßiger Autoverkehr.

Sam schultert eine Bierzeltgarnitur und folgt mir beeindruckt in den Garten, Kimi und Finn mit Laternen und Lampions beladen, im Schlepptau. Ohne Brimborium beginnen wir gemeinsam mit dem Aufbau. Als wären wir uralte Freunde, die sich nach einer Ewigkeit wiedersehen, geben wir unserem Mitteilungsdrang nach und schnattern wie ein Stall voller Gänse unter Starkstrom. Kimi und Finn geben ein paar Anekdoten aus der Schule zum Besten und zeitweise müssen wir unsere Arbeit unterbrechen, weil wir lachend über den Tischen hängen. Gut zwei Stunden später sinken wir vier ins Gras, um unser Werk zu bewundern und uns selbst zu loben.

„Wir sind ein gutes Team. Was, Jungs?“, lacht Sam und bringt damit Frische in die glühende Sommerhitze.

„Darauf jetzt ein kühles Blondes?“ Mein Handy piept zum ichweißnichtwievielten Mal, als ich mich gerade auf den Weg zum Kühlwagen mache, den mein Schwiegervater organisiert und heute Vormittag noch in den Garten geschafft hat.

„Lass nur, ich mach schon.“ Sam streicht mir fürsorglich über den Rücken und steigt in die kühle Abstellkammer.

Sylvester hat eben seine Sachen geholt. Es tut so weh! Ich vermisse ihn! Ich bin so allein! Was soll ich denn jetzt nur tun?

Ich heule leise auf. Hastig tippe ich ein: Du wusstest, dass es schmerzhaft wird. Du weißt aber auch, dass es vergeht. Du hast dein Kind, also bist du auch nicht allein. Lache mit ihm, statt Sylvester nachzuheulen. Ich drücke auf Senden und entspanne ein wenig, als Sam mir eine kühle Flasche Bier an die Schläfe drückt.

„Und du bist quasi so was wie die Supernanny für Beziehungsgestörte?“

„Quatsch!“, widerspreche ich zaghaft. „Ich bin halt nur... Ich höre zu... und... und gebe mal den einen oder anderen Ratschlag. Aber das war’s dann auch schon.“

„War’s dann auch schon“, wiederholt Sam abschätzig. „Was ist mit der Zeit, die du anderen, schönen, nützlichen Dinge widmen könntest?“

„Zeit? Na, hör mal. Du sitzt doch schließlich hier und vergeudest deine kostbare Zeit für eine fremde Person. Und war das jetzt nicht nützlich?“ Die letzte Frage ist doof. Nützlich war es schließlich. Nur halt für mich.

Sam scheint meine Gedanken lesen zu können. „Ich kann dir versichern, dass es nützlich war. Für dich, weil du sonst immer noch auf dem OBI-Parkplatz rumstehen und langsam, aber sicher verzweifeln würdest. Und für mich, weil ich